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Full text of "Reden und Aufsätze"

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JOHN  M.  KELLY  LIBRARY 


Donated  by 

The  Redemptorists  of 
the  Toronto  Province 

from  the  Library  Collection  of 
Holy  Redeemer  College,  Windsor 


University  of 
St.  Michael's  College,  Toronto 


OUT  REDEEMER  L^ARY,  *!.„_. 

<f  W^3 


ADOLF  HAENACK 
REDEN  UND  AUFSATZE 

ERSTER  BAND 


REDEN  UND  AUFSiTZE 


VON 


ADOLF  HARNACK 


ERSTER  BAND 


ZWEITE  AUFLAGE 


ALFRED  TOPELMANN 

(VOE1ULS  J.  RICKEH'SCHE  VERLAGSBUCHHANDLUNG) 

GIESZEN  1906 


HOLY  REDEEMER  LIBRARY/ WINDSOR 


LIBRA 


Br  uck  von  C.  G.  Roder,  G.  m.  b.  IL,  Leipzig. 


MEINEM  SOHWAGER  UND  FKEUNDE 
HANS  DELBRtCK 


VORWORT 


In  diesen  beiden  Banden  habe  ich  solche  ,,Reden  uncl 
Aufsatze"  gesammelt,  die  sicli  an  einen  weiteren  Leserkreis 
wenden.  Sie  stammen  aus  einem  Zeitraum  von  mehr  als 
zwanzig  Jahren.  Obschon  ich.  jetzt  dieses  und  jenes  Thema 
etwas  anders  behandeln  wiirde,  glaubte  ich  doch  die  ein- 
zelnen  Stiicke  unverandert  in  der  Gestalt  aufnelimen  zu 
sollen,  in  welcher  sie  urspriinglich  erschienen  sind,  da  mir 
kein  einziges  in  seinen  Grand  gedanken  fremd  geworden  ist. 
Die  ,,Reden"  des  ersten  Bandes  sind  so  geordnet,  daft  sie 
einen  Gang  durch  die  Kirchengeschichte  darstelleii;  die 
des  zweiten  Bandes  beziehen  sich  vornelimlich  auf  wichtige 
kirchliche  Probleme  der  Gegenwart.  Einen  Aufsatz 
den  ersten  des  zweiten  Bandes  — ,  der  nur  in  englischer 
Ubersetzung  erschienen  ist,  habe  ich.  in  dieser  Sprache  aufs 
neue  zum  Abdruck  gebracht,  da  ich  das  dentsche  Manu- 
skript  nicht  mehr  besitze  und  eine  Ruckiibersetzung  sich 
nicht  empfahl.  Fortlassen  wollte  ich  das  Sttick  aber  nicht, 
da  es  die  Wendung,  welche  die  Geschichte  der  Erforschung 
des  Urchristentums  um  das  Jahr  1885  genomrnen  hat, 
widerspiegelt. 

September  1903 

Ausser  kleinen  stilistischen  Verbesserungen  habe  ich 
in  diesen  ,,Reden  und  Aufsatzen"  nichts  verandert. 

Ihre  freundliche  Aufnahme  verpflichtet  mich  zu  leb- 
haftem  Dank. 

Juli  1905 

ADOLF  HAENACK 


INHALTSVEEZEICHOTS  DES  EESTEN  BANDES 


ERSTE  ABTEILUNG:  REDEN 

Selto 

I.    Legenden  als  Geschichtsquellen  (1890) 1 

II.    Sokrates  und  die  alte  Kirche  (1900) 27 

III.  Augustins  Konfessionen  (1887) 49 

IV.  Das  Monchtum,  seine  Ideale  und  seine  Geschichte  (1880)  81 
V.    Martin   Luther,  in   seiner  Bedeutung  for   die  Geschichte 

der  Wissenschaft  und  der  Bildung  (1883) 141 

VI.    Philipp  Melanchthon  (1897) 171 

VII.    August  Neander  (1889) 193 

ZWEITE  ABTEILUNG:  AUFSATZE 

I.    Das  apostolische  Glaubensbekenntnis,  ein  geschichtlicher  Be- 

richt  nebst  einer  Einleitung  und  einem  Nachwort  (1892)  219 
IE.    Antwort  auf  die  Streitschrift  D.  Cremers:  Zum  Kampf 

urn  das  Apostolikum  (1892) 265 

HI.    Als  die  Zeit  erfullet  war.     Der  Heiland  (1899/1900)    .  299 
IV.    Uber   die  jiingsten   Entdeckungen    auf  dem   Gebiete   der 

altesten  Ku-chengeschichte  (1898) 313 


ADOLF  HARNACK  •  REDEN  UND  AUFSATZE 
ERSTER  BAND  .  ERSTE  ABTEILUNG 


REDEN:  I 
LEGENDEN  ALS  GESCHICHTSQUELLEN 


Vortrag 

geKalten  am  4.  II.  1890  in  der  Neuen  Kirche  zn  Berlin.    Erschienen 
im  Druck  in:  PreuB.  Jahrbiicher,  Band  65  (1890)  Heft  3. 


Luther  hat  als  Student  auf  der  Bibliothek  zu  Erfurt 
zum  erstenmal  eine  Bibel  gefunden  und  mit  freudigem  Er- 
staunen  das  unbekannte  Buch  aufgeschlagen.  —  Nach 
seinem  G-esprach  mit  dem  Kardinal  Cajetan  in  Augsburg 
ist  dieser  in  die  Worte  ausgebrochen:  7,ich  will  nicht  weiter 
mit  dieser  Bestie  reden;  denn  sie  hat  tiefe  Augen  und 
wundersame  Spekulationen  im  Kopfe".  --  Auf  der  Wart- 
burg  hat  Luther  das  Tintenfafi  nach  dem  Teufel,  der  inn 
bedrangte,  geworfen,  sodafi  der  Fleck  noch  heute  zu  sehen 
ist:  Wer  unter  uns  kennt  diese  Erzahlungen  iiber  Luther 
nicht  und  halt  sie  nicht  hoch?  Ahnliche  G-eschichten, 
Legenden,  sind  uns  von  vielen  groflen  Personen  berichtet, 
und  dariiber  hinaus  wunderbare  Ereignisse.  Die  Wunden- 
male  des  h.  Franziskus,  das  Rosenwunder  der  h.  Elisabeth, 
der  Kaiser  Karl  im  Untersberg,  der  Kaiser  Friedrich  im 
Kyffhauser,  die  reiche  Kaiserlegende  des  Mittelalters  iiber- 
haupt.  Dann  wiederum  unvergeflliche  Worte,  wie  jenes 
unerschiitterliche  Gralileis:  ,,Und  sie  bewegt  sich  dochu,  oder 
jenes  riihrende  des  greisen  Evangelisten  Johannes,  unab- 
lassig  wiederholt:  wKindlein,  liebet  euch  untereinander", 
oder  jenes  verzweifelte  Bekenntnis  Julians  des  Abtriinnigen, 
als  er  die  Todeswunde  empfing:  ^Du  hast  gesiegt,  G-alilaera. 

Von  alien  diesen  Erzahlungen  und  vielen  ahnlichen 
wissen  wir  heute,  dafi  sie  nicht  tatsachliche  Wahrheit 
wiedergeben  oder  mindestens  nicht  bewiesen  werden  konnen. 
Und  doch  erzahlen  wir  sie  weiter,  nicht  nur  den  Kindern, 
sondern  auch  den  Erwachsenen,  und  halten  es  fur  schlimmer, 
sie  nicht  zu  kennen  als  manche  Ziige  beglaubigter  Q-e- 
schichte.  Lassen  sie  sich  malerisch  darstellen,  so  begluck- 

1* 


4  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  I. 

wiinschen  wir  den  Kiinstler,  der  sich  solche  Stoffe  gewahlt 
hat.  Man  kann  nichts  Schoneres  sehen  als  die  Wunder 
des  h.  Franziskus,  gemalt  von  Giotto,  und  man  kann  nichts 
Eindrucksvolleres  und  Gewaltigeres  in  sich  anfnehmen,  als 
die  Propheten  und  Sibyllen  Michel  Angelos  in  der  Sixtina 

und  doch  sind  diese  Sibyllen  nur  Gestalten  der  Legende, 

und  die  Wunder  des  Franziskus  Stiicke  einer  Geschichte, 
die  sich  niemals  begeben  hat. 

Ich  meine,  es  verlohnt  sich  wohl  der  Miihe,  eine 
fliichtige  Stunde  dem  Nachdenken  dariiber  zu  widmen,  was 
denn  eigentlich  Legenden  sind,  warum  sie  uns  teuer  sind 
und  ob  sie  uns  teuer  bleiben  diirfen.  Wir  leben  in  einem 
Zeitalter,  das  vielleicht  nicht  geringeren  Selbsttauschungen 
ausgesetzt  ist,  als  die  vergangenen,  aber  doch  ernsthafter 
als  die  meisten  der  friiheren  sich  benmht,  der  wirklichen 
Geschichte  ins  Auge  zu  sehen.  Wir  sind  angstlich  besorgt, 
uns  vor  Tauschungen  zu  sichern.  Wenn  wir  manches  von 
dem  verloren  haben,  was  den  friiheren  Geschlechtern  als 
unantastbar  und  herrlich  gait,  so  wollen  wir  wenigstens 
den  herben  Trost  behalten,  dafiir  die  Wahrheit  zu  besitzen. 
Was  sollen  nun  noch  die  Legenden?  Sind  sie  nicht  das 
Uberbleibsel  einer  Epoche,  die  anders  empfand  und  anders 
urteilte  als  wir?  Konnen  sie  uns  denn  iiberhaupt  irgend 
etwas  lehren?  oder  haben  sie  nicht  vielmehr  die  Menschen 
stets  in  die  Irre  gefuhrt  und  halten  sie  noch  heute  mit 
Tauschungen  hin? 

Gewifl  —  die  Legende  ist  in  vieler  Hinsicht  die 
schlimmste,  nie  rastende  Feindin  der  wirklichen  G-eschichte. 
Man  kann  sie  der  Schlingpflanze  vergleichen,  die  aufwachst, 
wo  nur  immer  Geschichte  aufwachst.  Fast  gleichzeitig 
mit  dem  grofien  Ereignis  und  mit  dem  groJJen  Mann  strebt 
auch  die  Legende  auf.  Je  grofler  jene  werden,  um  so 
starker  wuchert  auch  sie.  Sie  umrankt  und  umklammert 
elementare  Ereignisse  ebenso  wie  gewaltige  Taten,  das 
Faktum  ebenso  wie  die  Person.  Sie  sendet  ihre  Ranken 


Legenden  als  Geschichtsquellen.  5 

von  Baum  zu  Baum;  je  hoher  der  Stamm,  um  so  dichter 
und  fester  umzieht  sie  ihn.  Zuletzt  1st  der  ganze  Wald 
in  ein  Gewirr  von  Ranken  und  Laub  geschlungen.  Ein 
Stamm  nach  dem  andern  ist  ausgesogen  und  verdorrt: 
nicht  mehr  die  natiirliche  Mannigfaltigkeit  der  verschie- 
denen  Baume  stellt  sich  dem  Beschauer  dar;  iiberall  er- 
scheint  das  einformige  Laub  der  Schlingpnanze ;  nur  das 
unbedeutende  Gestriipp  am  niederen  Waldboden  bleibt 
verschont. 

Das  ist  das  Bild,  welches  die  von  der  Legende  um- 
sponnene  Geschichte  bietet.  Bedarf  es  Beweise?  Was  haben 
die  Griechen,  was  die  Homer  von  ihrer  altesten  Geschichte 
gewuOt?  So  gut  wie  nichts  mehr,  weil  die  Legende  alles 
iiberwuchert  hatte.  Was  Livius  von  der  altesten  Geschichte 
Eoms  berichtet,  ist  mannigfaltig  genug;  aber  fast  nichts 
halt  vor  der  Kritik  Stich.  Man  wendet  ein,  das  lage  zu 
weit  zuruck;  denn  es  fuhre  in  das  Kindesalter  der  europa- 
ischen  Menschheit.  Nun  wohl,  blicken  wir  auf  das  Mittel- 
alter!  Was  hat  man  im  Mittelalter  von  der  altesten  Ge 
schichte  des  Christentums  gewufit,  von  der  Geschichte 
Jesu  Christi,  von  dem  apostolischen  Zeitalter,  von  den 
Christenverfolgungen ,  von  der  Entstehung  der  katho- 
lischen  Kirche  und  dem  Ursprung  des  Papsttums,  von 
dem  groBen  Umschwung  unter  Konstantin  und  der  Ent 
stehung  der  Staatskirche?  Ich  sage  nicht  zu  viel,  wenn 
ich  behaupte,  dafi  man  weniger  als  nichts  gewufit  hat; 
denn  nur  nebelhafte  und  unsichere  Erinnerungen  an  die 
Wirklichkeit  waren  vorhanden,  wahrend  ein  ungeheures 
Gestriipp  fortwuchernder  Legenden  alles  iiberzog.  Die  Le 
gende  herrschte  damals  ebenso  im  Abendland,  wie  im 
Morgenland.  Volkstumlich  und  nationalkirchlich  verschie- 
den  war  sie  ausgepragt;  in  ihren  Grundziigen  war  sie  die- 
selbe.  In  dem  weiten  Gebiete  der  romischen  Kirche  zeigte 
sie  sich  in  wesentlich  einforiniger  Gestalt.  Man  erzahlte 
sie  in  Spanien  ebenso  wie  in  England,  auf  Sizilien  nicht 


6  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  I. 

anders  als  in  Schweden;  denn  was  man  erzahlte,  war  die 
legendarische  tJberliefening  der  romischen  Kirche.  Noch 
schlimmer  herrschte  sie  bei  den  Christen  des  Orients.  Wie 
die  heiBe  Wustensonne  im  Hochsommer  alles  Griinende  ver- 
zehrt,  so  erscheint  z.  B.  in  der  koptischen  Kirche  alle  wirk- 
liche  Erinnerang  ausgebrannt  durch  die  Glut  der  Martyrer- 
und  Heiligen-Legenden. 

Lassen  Sie  mich  das  mittelalterliche  Q-eschichtsbild  in 
wenigen  Strichen  zeichnen.  Es  gehort  ja  leider  zum  ge- 
ringsten  Teile  der  Vergangenheit  an:  die  katholische  Kirche 
halt  noch  heute  das  meiste  aufrecht.  Und  viele  von  den 
Legenden,  die  sie  erzahlt,  gleichen  nicht  einmal  der  Schling- 
pflanze,  die  wenigstens  naturwiichsig  aufstrebt;  sie  gleichen 
vielmehr  der  weiBgrauen  Tiinche,  mit  der  ein  Barbar  die 
herrlichen  Freskogemalde  in  dem  Kreuzgang  einer  Kirche 
bedeckt.  Schon  hier  begegnet  tins  ein  bedeutungsvoller 
Unterschied  zwischen  Legende  und  Legende,  d.  h.  zwischen 
der  naiven  und  der  tendenziosen  Legende. 

"Wohl  warden  die  Evangelien  und  die  Apostelgeschichte 
im  Mittelalter  fort  und  fort  gelesen;  aber  viel  lebhafter  be- 
schaftigten  die  Phantasie  die  unzahligen  Legenden,  die  von 
Jesus  Christus,  der  Jungfrau  Maria  und  den  Aposteln  er 
zahlt  und  wie  das  Evangelium  geglaubt  wurden.  Joachim 
und  Anna  die  Eltern  der  Maria,  Maria  als  Nonne  im  Tempel 
erzogen,  Jesus  Christus  als  Kind  die  staunenswertesten 
Wunder  verrichtend:  man  hat  umfangreiche  Biicher  aus 
ihnen  zusammengestellt,  dafi  er  als  zartes  Kind  aus  Lehm 
Vogel  bildete  und  sie  dann  fliegen  liefi  und  vieles  ahnliche. 
Dann  Marias  Geschichte  als  Parallele  zur  Qeschichte  Christi, 
durchgefuhrt  bis  zur  Himmelfahrt.  Die  Apostel  samtlich 
nach  stronger  Monchsregel  lebend,  die  Wirksamkeit  jedes 
einzelnen  eine  Kette  erstaunlicher  Wunder;  in  Jerusalem 
halten  sie  ein  Konzil  ab  und  verteilen  die  Welt  unter  sich; 
dann  ziehen  sie  hinaus,  ein  jeder  zu  den  ihm  bestimmten 
Volkern;  schon  nach  einem  Menschenalter  ist  das  Christen- 


Legenden  als  Gesdrichtsquellen.  7 

turn  in  der  ganzen  Welt  verkiindet  worden.  Nach  England 
gent  Joseph  von  Arimathia  als  Missionar,  nach  Frankreich 
jener  Dionysius,  den  Paulus  zu  Athen  bekehrt  hatte.  Als 
Oberbischof  waltet  iiber  dem  ganzen  Abendlande  der  Apostel 
Petrus.  Inn  hat  Christus  zum  Papst  eingesetzt;  er  nahm 
daher  seinen  Sitz  in  Rom  nnd  hat  dort  25  Jahre  als  Bischof 
gewirkt.  Von  Rom  ans  hat  er  Bistumer  in  Italien,  Spanien, 
Frankreich  und  Deutschland  gegriindet,  indem  er  seine 
Schuler  ordinierte  und  als  Bischofe  iiberall  hinsandte,  z.  B. 
auch  nach  Koln,  Trier  und  Mainz.  Dann  kamen  die  Ver- 
folgungszeiten.  Fa-st  jeder  romische  Kaiser,  von  Nero  bis 
Konstantin,  wurde  als  wutender,  furchtbarer  Christenver- 
folger  dargestellt.  Dreihundert  Jahre  lang  sind  fort  und 
fort  Strome  von  Blut  geflossen;  alle  romischen  Bischofe  z.  B. 
sind  Martyrer  geworden.  Dann  auf  einmal,  ohne  Vorbe- 
reitung,  der  herrlichste  Umschwung!  Die  Sonne  strahlt  auf 
iiber  dem  Leichenfeld:  G-ott  erweckt  Konstantin  den  GroBen. 
Dieses  auserwahlte  Riistzeug  rottet  das  Heidentum  aus  und 
setzt  die  Kirche  auf  den  Thron.  Schon  beim  Antritt  seiner 
Herrschaft  lafit  er  sich  vom  romischen  Bischof  Sylvester 
taufen  und  schenkt  diesem  dafiir  Italien  und  die  Inseln 
d.  h.  nicht  weniger  als  alle  Inseln,  die  es  auf  der  Erde  gibt. 
Er  selbst  verlafit  Rom  und  schlagt  seinen  Herrschersitz  in 
Konstantinopel  auf;  denn  es  ziemte  ihm  nicht,  neben  dem 
Statthalter  Christi  in  derselben  Stadt  zu  regieren.  Dieser 
bleibt  in  Rom  und  iibertragt  spater  die  romische  Kaiserkrone 
kraft  eigener  Machtvollkommenheit  auf  Karl  den  Groflen. 
In  alien  diesen  Legenden  und  hundert  ahnlichen,  welche  die 
Geschichtsbetrachtung  und  Politik  des  Mittelalters  bestimmt 
haben,  ist  Waives  und  Tendenzioses  wundersam  gemischt. 
Aber  immer  starker  iiberwog  das  tendenziose  Element.  Wie 
vieles,  was  sich  auf  den  romischen  Bischof  bezieht,  ist  Ten- 
denzlegende!  Nachdem  im  8.  Jahrhundert  die  Geschichte 
von  der  Schenkung  Konstantins  erfunden  worden  war, 
folgte  im  9.  Jahrhundert  die  verhangnisvollste  Legenden- 


g  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  I. 

bildung,  die  in  der  Kirche  je  vorgekommen  ist  und  welche 
das  Andenken  an  die  wahre  Greschichte  fast  vollig  austilgte. 
In  einer  gef alschten  Briefsammlung  wurden  jedem  der  altesten 
romischen  Bischofe  von  Petrus  bis  zum  4.  Jahrhundert  Briefe 
beigelegt,  und  jeder  spricht  in  ihnen  wie  ein  Papst  des 
9.  Jahrhunderts.  Da  man  diese  Briefe  fur  echt  nahm,  so 
erlosch  das  Andenken  an  die  wirkliche  G-eschichte;  es  ist 
zu  den  Zeiten  des  heiligen  Petrus  und  seiner  nachsten 
Nachfolger  in  Rom  und  in  der  Kirche  alles  genau  so  ge- 
wesen,  wie  es  heute  dort  ist.  Diese  Annahme,  die  sich  wie 
ein  Leichentuch  auf  die  wirkliche  Q-eschichte  legte,  war 
die  notwendige  Folge  der  Legendenbildung,  und  sie  setzte 
sich  mit  erstaunlicher  Schnelligkeit  durch.  Seitdem  sah 
man  die  Vergangenheit  der  Kirche  wesentlich  nur  als  den 
Reflex  ihrer  Gregenwart. 

Die  Legende  hat  hier  ihr  Werk  wirklich  vollbracht.  Es 
handelte  sich  im  Mittelalter  nicht  nur  um  einzelne  unrichtige 
legendarische  Ziige  an  dem  Greschichtsbilde  der  Vergangen 
heit;  nein  —  dieses  Bild  selbst  wurde  ganz  und  gar  durch 
ein  anderes  ersetzt.  Allein  nicht  nur  im  Altertum  und  im 
Mittelalter  ist  das  geschehen.  Wenn  wir  heute  unsere  grofien 
Historiker,  welche  die  neueste  Greschichte  schreiben,  be- 
fragen,  welches  der  schwierigste  Teil  ihrer  Aufgabe  sei,  so 
antworten  sie  uns  einmiitig,  der  Kampf  wider  die  Legende. 
Sie  reden  von  einer  fridericianischen,  einer  napoleonischen, 
einer  koburgischen  Legende,  und  wiederum  von  einer  Le 
gende  des  Liberalismus,  der  Konservativen  usw.  Eine  jede 
politische  und  kirchliche  Partei  hat  ihre  Legenden,  und 
diese  Legenden,  sagen  sie,  lasten  mit  Zentnerschwere  auf 
der  Erkenntnis  der  Greschichte.  Sollen  wir  diese  Legenden, 
nur  weil  sie  keine  Wunder  und  Zeichen  enthalten,  von  den 
alten  Legenden  unterscheiden?  Ein  durchschlagender  Grund 
laflt  sich  nicht  linden.  Kernige  Zusammenfassungen  zu 
unwirklichen  Anekdoten  und  wiederum  pure  tendenziose 
Erfindungen  schlimmster  Art  finden  sich  hier  wie  dort.  Die 


Legenden  als  Geschicktsquellen.  9 

Unterschiede  kommen  lediglich  durch  die  Coulissen  der  Zeit 
und  der  allgemeinen  Kultur  zustande.  Aber  wo  hort  die 
Greschichte  auf,  und  wo  fangt  die  Legende  an,  wenn  wir 
dem  Worte  die  weiteste  Bedeutung  geben?  Die  Frage 
scheint  keine  ganz  einfache  zu  sein;  denn  wir  sehen  Manner 
von  erprobter  Wahrheitsliebe  heftig  iiber  sie  streiten.  Der 
eine  schreibt  ein  Greschichtswerk  und  meint  in  allem  der 
Wahrheit  die  Ehre  gegeben  zu  haben.  Aber  ein  anderer 
tritt  auf  und  erklart  diese  Darstellung  fiir  legendarisch. 
Gregen  ein  katholisches  Greschichtswerk  iiber  die  Reformation, 
das  vor  zwei  Jahrzehnten  erschienen  ist,  erhoben  sich  ein- 
hellig  die  protestantischen  Grelehrten  und  bezeichneten  die 
Darstellung  als  Tendenzlegende.  Das  ist  sie  auch.  Dennoch 
kann  man  dem  Verfasser  kaum  irgendwo  nachweisen,  daC 
er  dem  gefolgt  sei,  was  man  im  gemeinen  Sinn  „  Legenden" 
nennt.  Er  schrieb  seine  Greschichte  grofitenteils  aus  Quellen- 
stellen  zusammen,  und  doch  soil  sie  Legende  sein?  Bei 
dieser  paradoxen  Behauptung  konnen  wir  ankniipfen.  Wir 
miissen  uns  fragen:  Was  ist  denn  eigentlich  Legende? 
Tiber  ihren  Unwert  und  ihren  Wert  vermogen  wir  nur  zu 
urteilen,  wenn  wir  ihre  Natur  kennen  gelernt  haben.  Was 
ist  Legende?  Nun,  daU  sie  und  die  ihr  verwandte  rSage" 
etwas  anderes  ist  als  ein  Mythus  oder  als  ein  Marchen,  ist 
uns  unmittelbar  deutlich,  wenn  auch  nicht  wenige  Sagen 
aus  Legenden  und  Mythen  gemischt  sind.  Der  Mythus 
stammt  aus  der  religiosen  Naturbetrachtung  vergangener 
Zeiten:  der  Kampf  des  Zeus  mit  den  Titanen  ist  ein  Mythus. 
Das  Marchen  nimmt  seine  Stoffe,  wo  es  sie  findet  und  will 
lediglich  unterhalten.  Das  Reich  des  Marchens  ist  die 
schrankenlose,  unermefiliche  Phantasie.  Was  aber  will  die 
Legende?  Unser  Sprachgebrauch  scheint  auf  den  ersten 
Blick  keine  einfache  Antwort  zuzulassen.  Er  nennt  Wunder- 
geschichten  Legenden;  er  nennt  Greschichten ,  die  an  sich 
wahr  sein  konnten,  es  aber  nicht  sind,  auch  Legenden;  er 
nennt  fromme  Erzahlungen  so,  und  andererseits  bezeichnet 


JQ  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  I. 

er  umfassende  Geschichtsdarstellungen  unter  Umstanden  als 
legendarisch.  Wo  1st  hier  ein  G-emeinsames?  Ein  Gemein- 
sames  1st  dennoch  vorhanden,  und  man  kann  es  mit  einem 
Worte  ausdriicken:  die  Legende  will  die  G-eschichte  charak- 
terisieren.  Die  Legende  —  im  weitesten  Sinn  des  Wortes 
—  ist  Beurteilung  der  Geschichte  in  der  Form  der  Ge- 
schichtserzahlung.  In  den  Mitteln  for  solche  Beurteilung 
ist  sie  nicht  wahlerisch.  Sie  beurteilt  die  Geschichte  erst- 
lich,  indem  sie  in  einem  ungeheuren  wunderbaren  Ereignis 
den  ganzen  Eindruck  derselben  zusammenfafit:  Konstantin 
der  Grofle  hat  am  hellichten  Tage  ein  Kreuzeszeichen  am 
Himmel  geschaut  mit  der  Aufschrift:  ,,In  diesem  Zeichen 
wirst  du  siegen".  So  vollzog  sich  in  ihm  und  im  Reiche 
der  plotzliche  grofie  Umschwung.  Die  Legende  beurteilt 
die  G-eschichte  zweitens  aber,  indem  sie  in  einer  schlagen- 
den  Anekdote,  in  einem  kraftigen  Wort  den  Wert  und  die 
ganze  Bedeutung  einer  Person  zum  Ausdruck  zu  bringen 
sucht.  Wir  erinnern  uns  an  das  Galilei  in  den  Mund  ge- 
legte  Wort:  nUnd  sie  bewegt  sich  doch",  und  an  viele 
ahnliche.  Die  Legende  beurteilt  die  G-eschichte  endlich 
durch  Auswahl  und  Gruppierung  der  Tatsachen,  die  sie 
erzahlt.  Sie  braucht  nichts  hinzuzufugen,  und  sie  vermag 
doch  durch  das,  was  sie  erzahlt  und  was  sie  verschweigt, 
ein  solches  Bild  von  der  Greschichte  zu  schaffen,  wie  sie  es 
wiinscht.  Uberall  ist  ihr  Absehen  darauf  gerichtet,  ein  be- 
stimmtes  Urteil  iiber  die  Geschichte  geltend  zu  machen 
und  wirksam  einzupragen.  Dieses  Urteil,  projiziert  in  die 
Geschichte,  ist  die  Legende. 

In  dem  Moment,  wo  wir  dies  erkannt  haben,  offnet 
sich  uns  die  weiteste  Perspektive.  Wir  alle  leben  in  der 
Legende,  d.  h.  in  Urteilen  iiber  die  Geschichte.  Somit  leben 
wir  in  einer  doppelten  Geschichte:  in  der  Geschichte  der 
Tatsachen,  die  mit  elementarer  Macht  uns  bestimmen,  und 
in  der  Geschichte  der  Gedanken  iiber  die  Tatsachen.  An 
jener  Geschichte  vermogen  wir  nichts  zu  andern,  wenn  sie 


Legenden  als  Geschichtsquellen.  \\ 

sich  einmal  vollzogen  liat;  an  dieser  Q-eschichte  arbeiten 
wir  unaufhorlich  selbst  mit.  Wenn  eine  Hungersnot  oder 
Krankheit  oder  eine  wirtschaftliche  Krisis  iiber  ein  Land 
kommt,  wenn  eine  Nation  eine  Niederlage  im  Krieg  er- 
leidet,  wenn  furchtbare  Natur-Ereignisse  ganze  Stadte  zer- 
storen,  so  sind  das  Tatsachen,  deren  Folgen  kein  Beteiligter 
auszuweichen  vermag.  Er  mag  iiber  sie  denken  und  ur- 
teilen  wie  er  will:  er  kann  sich  der  elementaren  Gewalt 
dieser  Vorgange  zunachst  nicht  entziehen.  Deutschland  ist 
durch  den  dreifiigjahrigen  Krieg  verwiistet,  Preufien  ist 
durch.  die  Niederlage  bei  Jena  gebeugt,  die  Franzosen  sind 
bei  Sedan  geschlagen  worden  —  das  sind  Ereignisse,  deren 
natiirliche  Folgen  bestehen  bleiben,  mag  man  sie  nun  gelten 
lassen  oder  nicht,  sie  offen  bekennen  oder  vertuschen.  Allein 
nur  ihre  natiirlichen  Folgen  bleiben  bestehen ;  aber  sie  haben 
noch  andere  Folgen;  denn  sie  treffen,  indem  sie  den  Men- 
schen  treffen,  nicht  Holz  und  Stein,  sondern  den  lebendigen 
Q-eist.  Aus  der  Art  aber,  wie  der  lebendige  G-eist  sie  auf- 
fafit,  entsteht  eine  neue,  zweite  Greschichte.  Bleiben  wir 
bei  dem  Beispiel  der  Niederlage  von  Jena.  Alles  kam  dar- 
auf  an,  wie  man  damals  diese  Niederlage  deutete,  als  zu- 
falliges  Ereignis  oder  als  notwendiges  Greschick  oder  als 
verdiente  Strafe,  als  den  Anfang  des  Endes  oder  als  die 
letzte  furchtbare  Mahnung  an  das  Vaterland,  in  einmiitiger 
Kraft  sich  zu  erheben.  Die  Tatsache  selbst  ist  stumm  und 
brutal;  aber  der  G-eist  deutet  die  Tatsache,  und  je  nach 
dem  Ausfall  dieser  Deutung  bildet  er  eine  neue  Geschichte. 
So  wichtig  und  entscheidend  ist  diese  Deutung,  dafi  erst 
dann  alles  verloren  ist,  wenn  sie  falsch  ist,  wahrend  noch 
alles  zuriickgewonnen  werden  kann,  wenn  sie  richtig  ist. 
In  der  Tat:  die  Deutung  ist  oftmals  in  der  Geschichte  viel 
wichtiger  geworden  als  die  Sache  selbst.  DaJS  der  Papst 
am  Weihnachtsfest  des  Jahres  800  dem  Konig  Karl  die 
romische  Kaiserkrone  auf  das  Haupt  gesetzt  hat,  war  fak- 
tisch  bei  dem  ganzen  Vorgang  nicht  das  wichtigste  und 


j2  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  I. 

hatte  zunachst  auch  keine  besonderen  Wirkungen;  aber 
dafl  man  nachmals  diese  Kronung  als  Verleihung  der  Krone 
durch  den  Papst  deutete  —  diese  Legende  hat  unermeflliche 
Folgen  gehabt.  Der  Q-laube  an  die  Verleihung  hat  in  der 
Geschichte  dieselbe  Kraft  und  Bedentung  gewonnen,  als 
ware  sie  wirklich  geschehen.  Durch  die  Deutung  konnen 
die  natiirlichen  Folgen  eines  Ereignisses  geradezu  um- 
gebogen  und  in  ihr  Gregenteil  verwandelt  werden.  Wer 
auBeres  Leiden,  Kummer  und  Not  sich  als  Mahnungen  oder 
Priifungen  deutet,  der  vermag  Trauben  von  den  Dornen 
und  Feigen  von  den  Disteln  zu  sammeln.  Und  was  von 
dem  Leben  des  einzelnen  gilt,  das  gilt  auch  von  dem  Leben 
ganzer  Volker.  Mit  den  natiirlichen  Folgen  der  Tatsachen 
miissen  wir  alle  fertig  werden;  aber  der  Streit  hebt  an,  wo 
es  sich  urn  die  Beurteilung  der  Tatsachen  handelt.  Schon 
ein  Weiser  des  griechischen  Altertums  hat  gesagt:  „  Nicht 
die  Tatsachen  erschiittern  die  Menschen,  sondern  das,  was 
sie  iiber  die  Tatsachen  denken,  das  erschiittert  sie." 

Aber  gehen  wir  nicht  zu  weit,  wenn  wir  alles  das, 
was  man  iiber  die  Tatsachen  denkt  und  urteilt,  also  die 
ganze  Greschichtsbetrachtung,  in  die  Legende  hineinziehen? 
1st  es  wirklich  Legende,  wenn  ich  sage,  die  Niederlage  bei 
Jena  sei  ein  heilsames  Strafgericht  iiber  PreuBen  gewesen? 
1st  es  eine  Legende,  wenn  man  Luther  den  Reformator  der 
Christenheit  nennt?  1st  jedes  Urteil  iiber  die  Q-eschichte 
Legende?  Nun  an  dem  Worte  liegt  es  nicht,  und  wer  es 
vermeiden  will,  mag  es  lassen.  Der  Sprachgebrauch  nennt 
auch  nicht  alle  Urteile  iiber  die  Q-eschichte  Legenden.  Das 
zutreffende  geschichtliche  Urteil,  wenn  es  nicht  in  eine 
poetische  Form  gekleidet  wird,  nennen  wir  nicht  so.  Aber 
im  letzten  Grunde  ist  kein  Unterschied.  Denn  auch  das 
zutreffendste  Urteil  iiber  die  G-eschichte  lafit  sich  nicht 
rund  und  auflerlich  beweisen.  Niemand  bestreitet,  dafi 
Luther  im  Jahre  1517  die  Thesen  angeschlagen,  dafi  er 
im  Jahre  1521  vor  Kaiser  und  Reich  zu  Worms  gestanden 


Legenden  als  Geschichtsquellen.  13 

hat;  aber  dafi  er  der  Reformator  der  Kirche  gewesen  1st, 
bestreitet  die  Mehrzahl  der  Christen  aufs  heffcigste.  Es 
muB  sich  also  mit  diesem  Satze  ganz  anders  verhalten  als 
mit  jenen,  und  es  verhalt  sich  anders.  Jene  driicken  die 
einfache  Anerkennung  einer  Tatsache  aus;  dieser  stammt 
ans  dem  Eindruck,  dem  Anteil  und  der  "Uberzeugung. 

In  welchem  Lichte  erscheint  nns  nun  die  Legende; 
sie,  die  uns  im  Eingang  unserer  Betrachtungen  als  die  ge- 
fahrlichste  Feindin  der  G-eschichte  entgegengetreten  ist? 
Hier  offenbart  sie  sich  vielmehr  als  eine  zweite  G-eschichte, 
wichtiger  als  die  erste,  und  als  unsere  G-eschichte,  d.  h. 
als  die  Q-eschichte,  die  der  Greist  kraft  seiner  Freiheit  her- 
vorruft.  Dieselbe  Macht  scheint  hier  zugleich  zu  zerstoren 
und  zu  bauen.  Lassen  Sie  uns,  bevor  wir  auf  dieses  Pro 
blem  eingehen,  zuvor  die  Naturgeschichte  der  Legende  im 
engeren  Sinne  des  "Wortes  naher  betrachten.  Aus  ihr  wird 
sich  ergeben,  dafi  die  wahre  Legende  die  Wahrheit  und 
die  falsche  Legende  die  Luge  ist;  und  dafi  die  wahre 
Legende  der  Sonne  gleicht,  welche  mit  derselben  Kraft  das 
Blatt  welken  macht  und  die  Frucht  reift. 

Statt  eine  trockene  Ubersicht  zu  geben,  in  wie  ver- 
schiedener  und  mannigfaltiger  Weise  die  Legende  arbeitet, 
wollen  wir  uns  eine  Reihe  der  bekanntesten  Legenden 
naher  ansehen,  um  aus  ihnen  zu  lernen.  Wir  fassen  zu- 
erst  die  Gruppe  von  Legenden  ins  Auge,  die  sich  auf  ein- 
zelne  hervorragende  Personen  beziehen.  Was  die  Legende 
hier  bezweckt,  ist  unmittelbar  deutlich.  Sie  will  die  seelische 
Empfindung  fixieren,  die  der  Eindruck  der  Person  hervor- 
gerufen  hat.  Sie  will  die  geistige  Bedeutung  und  den 
Wert  einer  grofien  Personlichkeit  in  einem  Ausdruck  zu- 
sammenfassen.  Die  wirkliche  Greschichte  ist  selten  so  freund- 
lich,  dafi  sie  uns  den  bedeutenden  Mann  auf  dem  Hohe- 
punkt  seiner  Entwickelung  sozusagen  rein  darstellt.  Luther 
in  Worms  —  das  ist  ein  geschichtliches  Bild,  welches  an 
und  fur  sich  stark  genug  ist,  um  jede  Legende  uberfliissig 


j4  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  I. 

zu  machen.  Aber  wie  selten  liefert  uns  die  Geschichte 
solche  Bilder!  Da  hilft  dann  die  Legende  nach.  Und  nun 
gar,  wo  es  sich  urn  feine  seelische  Eindriicke  handelt!  Das 
Beste  am  Menschen,  sagt  Goethe,  ist  gestaltlos!  Wie  soil 
die  reine  Geschichtserzahlung  das  Gestaltlose  wiedergeben? 
Sie  kann  es  nicht;  aber  die  Legende  vermag  es.  Als  Attila 
vor  Rom  lag  und  der  Stadt  Verderben  drohte,  da  zog  der 
romische  Bischof  Leo  I.,  umgeben  von  seinen  Priestern, 
hinaus  zum  Hunnen-Konig,  um  ihn  zu  beschworen,  von 
der  Belagerung  abzulassen.  Wahrend  er  zu  Attila  redete, 
sah  dieser  die  Apostelfursten  Petrus  und  Paulus  mit  ge- 
zuckten  Schwertern  neben  dem  Papste  stehen.  Im  Tief- 
sten  erschreckt  gab  der  Barbar  den  Befehl  zum  Riickzug. 
Das  ist  gewift  eine  Legende;  aber  wer  die  wundersam  ge- 
waltige  Personlichkeit  Leos  des  Grofien  kennt,  der  weifi, 
daB  diese  Legende  eine  wahre  Legende  ist.  Nicht  in  dem 
gemeinen  niederen  Sinne;  aber  sie  bringt  in  uniibertreff- 
licher  Weise  zum  Ausdruck,  dafi  die  ganze  Kraft  Leos  des 
Grofien  der  Gedanke  gewesen  ist,  den  er  zeitlebens,  wie 
kein  anderer  romischer  Bischof,  geltend  gemacht  hat:  ich 
bin  der  Nachfolger  des  heiligen  Petrus.  Was  er  an  Maje- 
stat  und  imponierender  Wiirde  besafi,  das  flofi  ihm  aus 
dieser  felsenfesten  tJberzeugung.  Zugleich  zeigt  die  Legende 
das  moralische  tJbergewicht  der  romisch-christlichen  Kul- 
tur  iiber  einen  Barbarenkonig.  —  Man  erzahlt,  dafi  der 
gewaltigste  Papst  des  16.  Jahrhunderts,  Sixtus  V.,  an  dem 
Tage,  da  er  zum  Papst  gewahlt  wurde,  die  Kriicken,  deren 
«r  sich  bisher  bediente,  von  sich  geworfen  habe  und  frei 
gegangen  sei.  Das  ist  eine  Legende.  Aber  sie  zeigt,  durch 
welche  Eigenschaften  damals  nach  der  Volksmeinung  die 
dreifache  Krone  gewonnen  wurde,  und  sie  bringt  in  vor- 
ziiglicher  Weise  den  Kontrast  zum  Ausdruck  zwischen  dem 
Kardinal  und  dem  Papst.  Als  Kardinal  war  Sixtus  schmieg- 
sam,  zuriickhaltend,  vorsichtig,  als  Papst  selbstandig  und 
energisch.  -  -  Eine  sehr  alte  "Uberlieferung  berichtet,  der 


Legenden  als  G-eschichtsquellen.  15 

Apostel  Petrus  sei  in  der  Nacht  vor  seiner  Hinrichtung 
im  G-efangnis  von  Furcht  und  Kleinmut  iiberfallen  worden 
und  sei  deshalb  geflohen.  Da  sei  ihm  auf  der  Flucht  plotz- 
lich  Christus  erschienen  und  habe  auf  die  erstaunte  Frage 
des  Petrus:  ^Herr,  wohin  gehst  du?"  geantwortet  nnaeh 
Rom,  um  mich  abermals  kreuzigen  zu  lassen";  beschamt 
sei  Petrus  in  das  Grefangnis  zuriickgekelirt.  Gewifl  eina 
Legende;  aber  sie  ist  schon  im  2.  Jahrhundert  in  Rom  er- 
zahlt  worden,  wo  man  doch  sonst  den  Petrus  nur  verherr- 
lichte;  sie  pragt  also  den  Eindruck  aus,  dafi  Petrus  bis  zu 
seinem  Tode  den  leichtbeweglichen ,  vordrangenden  aber 
nicht  standhaften  Charakter  bewahrt  hat,  den  wir  aus  der 
evangelischen  G-eschichte  kennen.  —  Die  Meisten,  die  von 
dem  grofien  Kirchenvater  Augustin  gehort  haben,  kennen 
den  Wahlspruch,  der  ihm  in  den  Mund  gelegt  wird:  nln 
notwendigen  Dingen  Einheit,  in  zweifelhaften  Freiheit,  in 
alien  Dingen  Liebe."  Wir  wissen  jetzt,  daU  dieser  Spruch 
nicht  von  Augustin  herriihrt,  sondern  aus  viel  spaterer  Zeit 
stammt.  Allein  es  ist  noch  nicht  gelungen,  kiirzer  und 
besser  den  Menschen  und  den  Theologen  Augustin  zu  cha- 
rakterisieren  als  durch  diesen  legendarischen  Satz.  —  Dem 
heifiblutigen  afrikanischen  Kirchenvater  Tertullian  wird  das 
Wort  in  den  Mund  gelegt:  „ Credo,  quia  absurdum"  (Ich 
glaube  der  christlichen  Lehre,  weil  sie  absurd  ist).  Nie- 
mand  vermag  diese  schJimme  Paradoxie  in  den  Werken 
Tertullians  nachzuweisen;  aber  sie  charakterisiert  den  Theo 
logen,  der  trotzig  der  Vernunft  der  G-ebildeten  den  Fehde- 
handschuh  hinwarf.  —  Kaiser  Konstantin  der  GrroCe  soil 
auf  dem  Totenbett  die  Taufe  mit  den  Worten  begehrt 
haben:  nEs  schwinde  nun  alle  Zweideutigkeit."  Es  ist 
ganz  unglaublich,  dafi  er  das  wirklich  gesagt  hat.  Allein 
diese  Legende  bringt  in  uniibertrefflicher  Weise  zum  Aus- 
druck,  dafi  das  bisherige  Verhalten  Konstantins  gegeniiber 
dem  Christentum  und  dem  Heidentum  noch  nicht  ein 
vollig  entschiedenes  gewesen  ist.  —  Luther,  erzahlt  die 


jg  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  I. 

Legende,  hat  mit  dem  leibhaftigen  Teufel  zu  kampfen  ge- 
habt.  Aber  was  damit  gemeint  1st,  sagt  uns  der  Dichter 
uniibertrefflich: 

,,Er  tmg  den  Kampf  in  breiter  Brust  verhullt, 

Der  jetzt  der  Erde  halben  Kreis  erfiillt; 

Sein  G-eist  war  zweier  Zeiten  ScMachtgebiet : 

Mich  wundert's  nicht,  daJS  er  Damonen  sieht." 

Das  alles  sind  Legenden  im  engsten  Sinn  des  Wortes; 
aber  das  eben  Ausgefiihrte  gilt  auch  dort,  wo  es  sich  nm 
grofle  geschichtliche  Urteile  iiber  eine  Personlichkeit  han- 
delt,  die  im  niederen  Sinn  unrichtig,  in  einem  hoheren  richtig 
sind.  Wir  feiern  Gustav  Adolf  als  einen  deutschen  Helden. 
Nichts  ist  leichter  zu  beweisen,  als  dafi  er  Dentschland  soviel 
rauben  wollte,  als  er  bekommen  konnte,  dafi  er  keine 
dentsche,  sondern  schwedische  Politik  getrieben  hat.  Mit 
Hohn  weisen  daher  die  Katholiken  auf  diesen  angeblichen 
deutschen  Helden,  den  wir  riihmen.  Allein  Grustav  Adolf 
rettete  den  Protestantismus,  wenn  er  auch  Deutschland  zer- 
fleischen  half.  Die  E/ettung  des  Protestantismus  war  aber 
mittelbar  auch  die  Rettung  Deutschlands ,  ja  die  einzige 
Rettung;  denn  ein  spanisch-habsburgisches  katholisch.es 
Deutschland  ware  kein  Deutschland  mehr  gewesen.  So  mag 
man  mit  gutem  Gewissen  die  Legende  fortpflanzen,  dafl 
Gustav  Adolf  ein  deutscher  Held  gewesen  ist. 

Indem  die  Legende  ihre  Helden  charakterisiert,  ver- 
starkt  sie  oftmals  das  in  ungeschichtlicher  Weise,  was  ihnen 
eigentumlich  gewesen  ist.  Die  Legende  liebt  die  Ubertrei- 
bung.  Allein  das  ist  doch  nicht  einfach  als  Unwahrhaftig- 
keit  zu  beurteilen.  Sie  will  durch  Wort  und  Schilderung 
denselben  Eindruck  hervorrufen,  den  einst  die  Person  selbst 
gemacht  hat.  Aber  welches  Wort  ist  dazu  fahig?  So  bleibt 
ihr  nichts  iibrig,  als  die  iiberlieferten  Zuge  zu  verstarken. 
Sie  tut  das  oft  in  sehr  kindlicher  Weise,  und  an  der  Art 
der  Verstarkung  kann  man  feststeUen,  aus  welchen  Kreisen 
die  Legende  stammt.  Anders  erzahlen  die  Germanen  ihre 


Legenden  als  Geschichtsquellen.  17 

Heldengeschichten  und  anders  die  E/omanen.  Anders  haben 
die  Morgenlander  uns  die  Heiligen-  und  Martyrergeschichten 
iiberliefert  und  anders  die  Abendlander.  Die  frankischen 
Heiligenlegenden  des  friihen  Mittelalters  zeichnen  sieh  durch 
gemiitvolle  Schilderung  und  individuelle  Zeichnung  aus; 
die  Martyrergeschicliten  der  Orientalen  sind  starr  und 
einformig.  Aber  Eines  konnen  die  Biographen  gerade  heut- 
zutage  von  der  Legende  lernen,  dafi  es  nicht  Aufgabe  der 
Geschichtsschreibung  ist,  das  Kleinliche  und  Erbarmliche, 
was  in  jedem  Menschenleben  vorhanden  ist,  der  Nachwelt 
zu  uberliefern.  Eine  grofie  Personlichkeit,  welche  der  Ge- 
schichte  angehort,  gehort  ihr  doch  nur  in  dem  an,  was  sie 
ihr  bedeutet.  Das  bringt  die  Legende  unubertrefflich  zum 
Ausdruck.  Dagegen  sind  unsere  photographischen  Bio- 
graphien  ein  wahrer  Unfug.  Wir  haben  nicht  nur  das 
Eecht,  sondern  die  Pflicht,  das  Andenken  an  eine  grofie 
Personlichkeit,  die  in  der  G-eschichte  etwas  geleistet  hat  und 
fortwirkend  leistet,  rein  zu  erhalten.  Was  geht  es  uns  an, 
was  sie  sonst  noch  gewesen  ist,  wenn  sie  nur  das  wirklich 
gewesen  ist,  weshalb  wir  sie  feiern.  Allerdings  soweit  wie 
die  Legende  geht,  kann  der  Historiker  nicht  gehen.  Die 
Legende  bildet  den  Helden  zum  Typus  aus,  fordert  vom 
Himmel  die  schonsten  Sterne  fur  ihn  und  lafit  ihn  haufig 
nicht  einmal  sterben.  Sie  kann  sich  nicht  davon  iiberzeugen, 
dafi  auch  gewaltige  Q-eister  dem  allgemeinen  Menschenlose 
unterliegen.  Daher  lebt  Kaiser  Karl  im  Untersberg,  Kaiser 
Friedrich  im  Kyffhauser,  und  der  Grabhiigel  des  Evange- 
listen  Johannes  in  Ephesus  hebt  und  senkt  sich  mit  den 
Atemziigen  des  Schlummernden.  Aber  sie  gonnt  auch  den 
vollkommenen  Bosewichtern  die  Ruhe  des  Todes  nicht. 
Daher  ist  Nero  nicht  gestorben,  sondern  aufbehalten  zum 
G-ericht.  In  dieser  Art  der  Betrachtung  zeigt  sich  eine 
bemerkenswerte  TJbereinstinimung  in  der  Legendenbildung 
aller  Zeiten  und  Volker.  Indem  die  Legende,  wie  der 
Prophet,  die  Personen  deutet  und  wagt,  wird  sie  zum  Welt- 
Ham  a ck,  Reden  nnd  Anfsatze.  2.  Anfl.  L  2 


18 


Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  I. 


gericht  und  teilt  Belohnungen  und  Strafen  aus.  Was  ist 
Dantes  gottliche  Komodie  anderes  als  das  Qericht  eines 
Propheten  iiber  die  Weltgeschichte  in  der  Form  derLegende? 
Hierbei  zeigt  es  sich,  dafi  die  Phantasie  nicht  unerschopf- 
lich  ist.  Es  gibt  im  grofien  wie  im  kleinen  flatternde  Le- 
genden,  die  entweder  von  mehreren  Personen  gleichformig 
erzahlt  werden  oder  so  lange  unruhig  umherschweifen,  bis 
sie  den  richtigen  Platz  gefunden  haben.  Sie  alle  kennen 
hundert  Beispiele  fiir  jene  wandernden  Anekdoten,  die  lange 
Zeit  umgehen,  bald  dieses,  bald  jenes  Haupt  kronen  und 
den  Erzahler  oft  in  Verlegenheit  bringen,  wenn  er  sie  z.  B. 
vom  alten  Bliicher  berichtet  und  ihm  dann  entgegengehalten 
wird:  ganz  richtig;  aber  es  war  der  alte  Wrangel.  Was 
hier  im  kleinen  tagtaglich  begegnet,  wiederholt  sich.  auch 
im  grofien,  und  man  kann  daraus  nur  den  Schlufi  ziehen, 
dafi  jede  Anekdote,  jede  Legende  von  Rechts  wegen  dem 
gehort,  auf  den  sie  am  besten  pafit.  Aber  wir  machen  auch 
die  Beobachtung,  dafi  manche  Legenden  sich  ganzlich  ab- 
losen  von  ihrem  ursprunglichen  Inhaber,  dieser  in  voile 
Vergessenheit  gerat,  die  Legende  aber,  an  sich  vielleicht 
diirftig  und  niichtern,  von  einem  Poeten  aufgegriffen  und 
mit  bedeutendem  Inhalt  erfullt  wird.  Hier  erhalt  die  Le 
gende  ein  eigentiimliches  rein  poetisches  Leben.  So  sind 
die  Legenden  von  den  grofien  Magiern,  vom  Faust,  vom 
ewigen  Juden  u.  a.  allmahlich  entstanden.  Aus  harten 
Kieseln  hat  der  Stahl  des  Dichters  Funken  geschlagen  und 
die  Legende  zum  allgemein  Menschlichen  ausgestaltet.  Diese 
G-edichte  sind  der  hochste  Triumph  der  Legende,  das  Siegel 
der  Wahrheit  auf  den  Spruch:  ,,Was  sich  nie  und  nirgends 
hat  begeben,  das  allein  veraltet  nie" ;  aber  andererseits  hat 
in  dieser  Form  die  Legende  jeden  Zusammenhang  mit  der 
G-eschichte  aufgegeben  und  sich  zu  einer  neuen  Sphare 
emporgeschwungen. 

Wir  haben  bisher   nur  von   Legenden   gehandelt,    die 
sich  auf  Personen  beziehen.     Das  ist  auch  das  eigentliche 


Legenden  als  G-eschichtsquellen.  19 

Reich  der  Legende.  Allein  es  gibt  solche,  welche  den  Grang 
der  geschich.tlich.en  Entwickelung  zu  ihrem  Inhalte  haben, 
ich  mochte  sie  kulturgeschichtliche  Legenden  nennen.  Auch 
sie  sind  keineswegs  zu  verachten.  Die  Legende  schlagt 
Bracken  iiber  Abgriinde,  iiber  geschichtliche  Partien,  die 
dem  Historiker  noch  dunkel  sind.  Sie  verbindet  Zeitalter 
und  getrennte  Entwickelungen  und  weist  einen  einheitlichen 
Grang  der  Greschichte  nach,  wo  der  Geschichtsschreiber  es 
nicht  vermag.  Aber  wie  viel  wertvolle  Fingerzeige  gibt 
sie  ihm  doch!  Wie  oft  hat  sie  wirklich  geschichtliche  Er- 
innerungen  aufbewahrt!  Sie  alle  kennen  jene  Sagen  von 
Kadnms  und  anderen,  die  aus  Phonizien  und  dem  Orient 
nach  Griechenland  gekommen  sind  und  dort  die  Kultur 
begriindet  haben!  Von  Jugend  auf  haben  wir  gehort,  dafi 
der  fromme  Aeneas  aus  Troja  niichtend  iiber  Karthago 
nach  Italien  gekommen  ist;  wir  kennen  die  Greschichten 
von  Alba  Longa,  Romulus  und  Remus  und  von  der  Grun- 
dung  Roms.  Welche  Miihe  hat  man  sich  im  Mittelalter 
gegeben,  die  Franken  mit  den  Trojanern  in  Yerbindung 
zu  bringen  oder  deutsche  Furstenfamilien  auf  die  Heroen 
der  romischen  Greschichte  zuruckzufiihren.  Diese  Legenden 
waren  auch  dann  schon  wertvoll,  wenn  sie  nichts  anderes 
waren  als  der  lebhafte  Ausdruck  fur  die  Einsicht,  daB  alle 
Kultur  Uberlieferung  ist,  dafi  hier  nichts  wild  wachst, 
sondern  dafi  sich  Grlied  an  Grlied  reiht.  Allein  sehr  viele 
dieser  Legenden  enthalten  weit  mehr.  Sie  geben  wirklich 
bestimmte  Fingerzeige,  wie  Eines  aus  dem  Anderen  ge- 
worden  ist.  Vor  allem  ist  es  die  religiose  Uberlieferung 
der  Nationen,  welche  diese  Art  von  Greschichtsbetrachtung 
nicht  entbehren  kann.  Das  zeigt  sich  sogar  bei  den  poly- 
theistischen  Yolkern,  aber  in  ungleich  kraftigerer  Weise  bei 
den  monotheistischen.  Die  IJberzeugung,  dafi  ein  G-ott  sei 
und  dafi  dieser  Grott  die  Greschichte  leitet,  fordert  eine  ein- 
heitliche  Betrachtung  der  Weltgeschichte ;  ja  man  kann 
geradezu  sagen,  dafi  wir  an  eine  Weltgeschichte  glauben 


20 


Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  I. 


und  eine  einheitliche  Weltgeschichte  zu  sclireiben  versuchen, 
1st  eine  Folge  des  Monotheisnms.  Zu  den  altesten  "Welt- 
geschichtsschreibern  gehoren  die  alttestamentlichen  Pro- 
pheten.  Aber  wahrend  ihr  Auge  gen  Himmel  schaute, 
schrieb  ihre  Feder  kindliche  Ziige.  In  all  den  groflen  ge- 
schiclitliclienKonzeptionen  religioser  Art  von  den  Geschichts- 
bildern  der  altesten  jiidischen  Propheten  ab  bis  zn  jenem 
,,teste  David  cum  Sibylla"  steckt  mehr  Vernnnft,  als  die 
Schulweisheit  sich  traumen  lafit.  Sie  sind  als  geschicht- 
liche  Berichte  kindlich  und  unwahr,  aber  gewaltig  nnd 
wahrhaftig  als  Ausdruck  des  Urteils  iiber  den  Gang  der 
Geschichte  nnd  als  Anweisung,  wie  man  sich  zn  ihr  zu 
stellen  hat.  Hier  offenbart  sich  die  Legende  in  ihrer  ganzen 
Macht;  denn  indem  sie  die  Geschichte  dentet  nnd  durch 
erschiitternde  Propheten  diese  Deutnng  den  Zeitgenossen 
einpragt,  wird  sie  selbst  ein  wirksames  Element  in  der  Ge 
schichte,  wirft  sie  sich  dem  Strom  des  gemeinen  Geschehens 
entgegen,  sucht  ihn  aufzuhalten  oder  in  neue  Bahnen  zu 
leiten.  Der  Prophet,  der  die  Niederlage  Israels  als  Ziich- 
tigung  deutet,  der  sich  Assur  oder  Babel  entgegenstemmt, 
weil  er  an  ihren  definitiven  Sieg  trotz  des  Augenscheins 
nicht  glaubt,  ermutigt  und  rettet  durch  seine  paradoxe  Ge- 
schichtsdeutung  sein  Volk.  Er  bricht  die  Gewalt  der  Ge 
schichte  durch  die  Macht  der  Legende.  Man  sagt  wohl, 
solche  Geschichtsdeutung  sei  subjektiv.  Als  ob  es  nberhaupt 
eine  lehrreiche  Geschichtsschreibung  geben  konnte,  die  nicht 
subjektiv  ware!  Nur  dem  sehenden  Auge  und  dem  ur- 
teilenden  Geiste  erschliefit  sich  die  Geschichte.  Nur  darum 
kann  es  sich  handeln,  dafi  der  Geist  das  Wahrhaftige  und 
die  Kraft  erkennt,  und  dafi  er  die  Tatsachen  nicht  meistert. 
Neuere  deutsche  Geschichte  vom  preufiischen  Standpunkt 
zu  schreiben,  das  ist  die  wahre  Geschichte  Deutschlands ; 
Kirchengeschichte  vom  Standpunkt  der  Reformation  zu 
schreiben,  das  ist  die  wahre  Kirchengeschichte.  Hier  wie 
dort  ist  man  subjektiv  und  hat  den  Vorwurf  zu  gewartigen, 


Legenden  ala  Geschichtsquellen.  21 

dafl  man  Legenden  bilde.  Allein  man  schreibt  die  wahre 
Legende,  wenn  man  die  richtig  erkannten  Tatsachen  nach 
Maflgabe  ihrer  Krafte  gruppiert. 

Aber  nun  die  Kehrseite  zu  dem  Bilde!  Die  Legende 
tritt  auch  in  den  Dienst  der  Unwahrheit  und  Schwache 
statt  in  den  Dienst  der  Wahrheit  und  Kraft.  Die  unge- 
heuere  Macht,  welche  der  Mensch  besitzt,  aus  dem  natiir- 
lichen  G-eschehen,  indem  er  es  deutet,  eine  zweite  G-eschiehte 
zu  machen  —  diese  Macht  wird  ihm  auch  zum  UnheiL 
Das  ist  der  Jammer  der  Legende,  von  dem  wir  im  Eingang 
gesprochen  haben,  die  G-eschichtsliige,  welche  den  Tatsachen 
ihr  Mafl  nimmt,  sie  erstickt  oder  falscht.  Den  Tatsachen 
ihr  MaB  nimmt  —  nun  an  dieser  Art  Legendenbildung 
sind  wir  alle  jeden  Augenblick  beteiligt.  Je  nach  der 
Stimmung,  in  der  uns  eine  Tatsache  trifft,  heute  so  und 
morgen  so,  beurteilen  wir  sie  anders.  Wir  tauschen  mit 
unsern  Freunden  dieses  Urteil  aus  oder  schreiben  es  nieder, 
und  die  Legende  ist  fertig.  Heute  schreiben  wir,  dafi  die 
Welt  immer  schlechter  wird,  und  vielleicht  schreiben  wir 
morgen,  dafi  sie  besser  wird.  Heute  tadeln  wir  die  Politik, 
und  morgen  vielleicht  loben  wir  sie.  tiberall  trifft  die  Tat 
sache,  indem  sie  auf  Menschen  trifft,  auf  Stimmungen. 
Stimmungen  aber  sind  ein  unreiner  Spiegel.  Sie  werfen 
das  Bild  verzerrt  zuriick.  So  wird  den  Tatsachen  das  MaC 
genommen,  und  es  entstehen  Legenden.  Das  ist  die  haufigste, 
tausendfach  sich  taglich  wiederholende  Form  der  Legenden 
bildung.  Sie  ist  darum  die  lastigste,  aber  nicht  die  schlimmste. 

Ersticken  und  Falschen,  das  sind  die  beiden  Arten, 
in  denen  die  wahrhaft  unheilvolle  Legende  ihr  Werk  treibt, 
durch  welche  sie  den  Ernst  und  die  Grofle  der  Greschichte 
auszutilgen  versucht.  Sie  erstickt  die  Personen  und  die 
Tatsachen.  Braucht  es  Beweise  dafur?  Sind  wir  nicht 
auch  von  dieser  Legendenbildung  immerfort  umgeben? 
Nichts  liegt  uns  alien  naher,  als  das  naive  Vorurteil,  es 
mache  sich  alles  von  selbst,  oder  die  Losung  lautet:  ,,so  ist 


22  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  I. 

es  immer  gewesen",  und  jede  Partei,  jede  Denkweise  sucht 
sich  in  der  Vergangenheit  wiederzufinden.  Weil  man  fuhlt, 
welch  eine  Macht  die  Geschichte  ist,  und  well  es  unbequem 
ist,  eine  Neuerung  verteidigen  zu  miissen,  so  sucht  jeder 
sich  selbst  mit  der  Vergangenheit  zu  decken.  Das  grotes- 
keste  Beispiel  liefert  freilich  auch  hier  die  romische  Kirche. 
Sie  behauptet  es  als  ein  Glaubenssatz,  so  wie  sie  heute  sei, 
sei  sie  schon  vor  1800  Jahren  gewesen;  in  ihrer  Lehre, 
ihrer  Verfassung,  ihren  Ordnungen  habe  sich  wesentlich 
nichts  verandert.  Wir  Protestanten  weisen  diese  Tendenz- 
legende,  welche  alle  Tatsachen  der  Kirchengeschichte  er- 
stickt,  weit  von  uns;  aber  machen  wir  es  in  Kirche  und 
Staat  denn  wesentlich  anders?  Am  Ende  sind  wir  nur 
Dilettanten  und  sie  sind  Virtuosen  in  ein  und  derselben 
bosen  Sache.  Man  werfe  einen  Blick  auf  unsere  offent- 
lichen  Blatter,  auf  die  Geschichtsschreibung  unserer  Zei- 
tungen!  Die  Parteilegende  regiert  —  jene  Legende,  kraffc 
welcher  jede  Partei,  wie  sie  heute  ist,  sich  mit  ihrer  klas- 
sischen  Zeit  einfach  identifiziert,  die  Q-eschichte  fur  sich  in 
Anspruch  nimmt  und  die  Tatsachen  erstickt!  Und  wie  be- 
handelt  die  gemeine  Legende  den  wahrhaft  grofien  Mann, 
den  Genius?  So  lange  er  lebt,  wirkt  und  daher  unbequem 
ist,  ist  sie  unablassig  bemiiht,  ihn  auf  das  gemeine  Niveau 
herabzuziehen,  hundert  Geschichten  iiber  ihn  zu  erfinden, 
damit  sie  dem  groBen  Haufen  das  befriedigende  Bewufitsein 
verschaffe:  er  ist  doch  ganz  so  wie  wir.  Weil  die  Menge 
das  ewig  Gestrige  liebt,  sucht  sie  jedes  gewaltige  Heute  zu 
ersticken.  Und  doch  ist  auch  das  noch  nicht  die  schlimmste 
Form  der  Legendenbildung.  Wo  es  sich  um  das  Ersticken 
handelt,  da  wirkt  noch  unbewuflter  Trieb  mit.  Aber  es 
gibt  eine  bewufite  Legendenbildung  der  Luge,  die  wissend 
und  schauend  die  Geschichte  falscht  und  die  Tatsachen  in 
ihr  Gegenteil  zu  verwandeln  sucht  Auf  alien  Blattern  der 
Geschichte  sind  solche  bewuCte  Liigenlegenden  zu  finden, 
und  sie  haben  unsagliches  Unheil  angerichtet.  Ich  erinnere 


Legenden  als  Geschichtsquellen.  23 

micli  einmal  das  "Wort  gelesen  zu  haben:  wman  mufi  den 
Tatsachen  die  Zahne  ausbrechen",  und  ein  anderes:  ,,man 
mufl  die  Geschichte  durch  das  Dogma  uberwinden".  Hier 
haben  Sie  die  Arznei  und  das  furchtbare  Gift  der  Legende 
in  Eins,  je  nach  der  Dentung  dieser  "Worte.  Die  Arznei  — 
denn  gewiG,  es  gibt  niehts  Grofieres  und  Segensreicheres 
als  die  Uberwindung  des  gemeinen  G-eschehens  durch  die 
wahrhaffcige  Deutung  desselben,  durch  die  Freiheit  des 
G-eistes,  durch  die  Kraft  des  Gottvertrauens.  Das  Gift; 
denn  wenn  jenes  "Wort  besagen  soil,  man  miisse  die  Ge- 
schichte  ersticken  und  falschen  durch  raffinierte  Tendenz- 
dichtungen,  dann  wird  die  Legende  zur  Mutter  der  Luge. 
In  diesem  Sinn  gilt  das  Urteil:  die  wahre  Legende  ist  in 
der  Geschichte  die  Wahrheit  und  die  falsche  Legende  ist 
die  Luge. 

Darf  ich  nun  zusammenfassen,  was  wir  aus  dieser  Uber- 
sicht  iiber  die  Naturgeschichte  der  Legende  lernen  konnen? 
Die  Frage,  die  wir  stellen  miissen,  lautet:  Sind  Legenden 
Geschichtsquellen?  Wir  antworten:  Nein:  sie  sind  es  zu- 
nachst  in  keinem  Sinn;  denn  da  sie  samtlich,  die  wahren 
und  die  falschen,  aus  dem  Eindruck  und  dem  Urteil  ge- 
flossen  sind,  so  bieten  sie  keine  Gewahr  dafiir,  dafi  die  Tat- 
sachen  richtig  wiedergegeben  sind.  Mit  der  Feststellung 
der  Tatsachen  hat  es  aber  der  Historiker  vor  allem  zu  tun. 
Die  Wahrheit  der  Tatsachen  zu  ermitteln,  ist  seine  heiligste 
Pflicht.  Wehe  dem  Geschichtsschreiber,  der  diese  Aufgabe 
gering  achtet  oder  falscht!  Es  gibt  hier  keine  Ent- 
schuldigung :  er  ist  ein  Verrater  seines  heiligen  Berufs.  Wer 
die  Tatsachen  ermitteln  will,  mufi  bei  den  Institutionen 
einsetzen;  sie  sind  das  B/iickgrat  der  Geschichte.  Hier  sind 
Tauschungen  am  wenigsten  zu  erwarten.  Erst  wenn  aus 
dem  tatsachlichen  Material  die  Kette  der  Erscheinungen 
hergestellt  ist,  darf  sich  der  Historiker  nach  den  Stimmungs- 
berichten  und  Legenden  umsehen.  Selbst  die  Stimmungs- 
berichte  von  Augenzeugen  sind  schlechte  Quellen;  denn  die 


24  Erster  Band,  erste  Abteilung.    Eeden:  I. 

Legenden  bilden  sich  oft  im  Augenblick.  Dafi  es  nicht 
schwer  1st,  z.  B.  aus  Stimmungsberichten  der  Reformatoren 
ein  verachtliches  Urteil  iiber  die  Reformation  abzuleiten, 
ist  uns  jiingst  gezeigt  worden.  Und  wie  haben  die  Roman- 
tiker  die  Geschichte  iibermalt,  weil  sie  mit  Vorliebe  Legen 
den  ihrer  Darstellung  zu  Grunde  legten!  So  sind  die  einst 
vielbewunderten  kirchenhistorischen  Darstellungen  des  groflen 
Eomantikers  Chateaubriand  nichts  anderes  als  Legenden 
aus  Legenden.  Aber  wenn  die  Kette  der  Erscheinungen 
sicher  hergestellt  ist,  dann  hat  der  Greschichtsschreiber  nicht 
nur  das  Recht,  sondern  die  Pflicht,  die  Legenden  kritisch 
zu  benutzen;  denn  wenn  er  das  personliche  Element  in  der 
Greschichte  schatzen  und  zur  Darstellung  bringen  will,  so 
mufi  er  naeh  ihnen  greifen.  Die  gewaltige  Personlichkeit 
spiegelt  sich  niemals  vollkommen  in  den  Tatsachen;  sie 
spiegelt  sich  nur  in  den  Kopfen  und  Herzen  derer,  die  sie 
entziindet  und  entflammt  hat.  Darf  ich  gleich  das  Hochste 
zum  Beweise  anfuhren?  Wie  unvollkommen  ware  unsere 
Kenntnis  von  Jesus  Christus,  wenn  wir  nur  seine  Worte 
hatten  und  nur  seine  aufiere  G-eschichte  kennten!  Erst  da- 
durch,  daB  wir  die  Legende  von  ibm  besitzen  —  das  Wort 
hier  im  weitesten  Sinn  —  d.  h.  den  Eindruck,  den  er  auf 
seine  Jiinger  gemacht,  leuchtet  uns  das  ganze  Bild  seiner 
Herrlichkeit  auf.  Ich  rechne  hierzu  auch  alles  das,  was 
schon  in  altester  Zeit  von  eigentlichen  Legenden  iiber  ihn 
erzahlt  worden  ist.  Wir  miihen  uns  ab,  festzustellen,  was 
hier  tatsachlich  ist  und  was  nicht,  und  miissen  uns  abmuhen, 
sonst  waren  wir  Mietlinge.  Aber  hoch  iiber  jeder  Frage 
und  aller  Rritik  steht  die  Tatsache,  die  sich  fast  in  jeder 
Legende  iiber  ihn  spiegelt,  dafi  er  die  hochste  Gewalt  be- 
sessen  hat,  die  iiberhaupt  besessen  werden  kann,  die  Gewalt 
iiber  sich  selber,  und  dafi  er  durch  Demut  und  Liebe  die 
Herzen  bezwungen  hat.  Was  hier  im  Grofien  gilt,  das  gilt 
auch  im  Kleineren.  Die  Tatsachen  allein  bringen  uns  nie 
einer  entschwundenen  Person  naher.  Aus  dem  Eindruck, 


Legenden  als  Geschiclitsquellen.  25 

den  sie  auf  die  Gemiiter  kinterlassen,  wird  sie  selbst  er- 
kannt  nnd  geliebt:  so  entziindet  sick  eine  Fackel  an  der 
anderen.  Nickt  nur  fiir  die  Zeit,  aus  welcker  sie  stammen, 
sondern  auch  fiir  die  Person  und  das  Ereignis,  von  welcken 
sie  Zeugnis  ablegen,  konnen  die  Legenden  somit  vom  kock- 
sten  Werte  werden.  Die  Gesckicktssckreibung  des  18.  Jakr- 
kunderts  ist  darum  so  diirftig  und  ungeniigend  gewesen, 
weil  sie  die  Bedeutung  der  Legende  verkannt  hat.  Die 
Kritik  allein  vermag  so  wenig  Gesckickte  zu  sckreiben  wie 
die  Romantik. 

Aber,  was  wir  keute  fordern  miissen,  ist,  dafl  iiberall 
wo  die  Legende  sick  als  tatsacklicke  G-esckickte  gibt,  dieser 
Sckein  zerstort  wird.  Wir  leben  in  einem  Zeitalter,  das 
den  lickten  Nebel  nickt  mekr  vertragt,  in  welckem  Ge- 
sckickte  und  Legende  —  das  "Wort  im  engeren  Sinn  ge- 
nommen  —  vermisckt  werden.  Es  ist  freilick  leickter,  oder 
es  sckeint  dock  so,  an  Zweck  und  Ziel,  Kraft  und  Herr- 
lickkeit  der  Gesckickte  zu  glauben,  wenn  sckone  Legenden 
sie  durckzieken.  Es  ist  leickter  auf  die  gottlicke  Leitung 
der  Gesckickte  zu  vertrauen,  wenn  man  den  Finger  Gottes 
sicktbar  sckaut.  Und  gewifi  soil  man  sckonend  verfakren, 
wo  eine  Legende  den  Halt  bildet  fur  eine  sittlicke  Erkennt- 
nis,  eingedenk  des  tiefen  Spruckes:  ?,Krafte  und  Kriicken 
kommen  aus  einer  Hand."  Aber  immer  gekt  die  Wakrkeit 
iiber  alles,  und  scklieBlick  ist  in  der  wirklicken  Gesckickte 
Erkebung  und  Kraft  genug  zu  finden,  wakrend  man  nickt 
ungestraft  unter  den  Palmen  der  erfundenen  Legenden 
wandelt. 

Hier  liegt  eine  Aufgabe,  welcke  den  keutigen  und  den 
zukiinftigen  Historikern  gestellt  ist.  Aber  wenn  es  wirklick 
eine  doppelte  Gesckickte  gibt,  eine  Gesckickte  der  Tatsacken 
und  eine  Gesckickte  der  Gedanken  iiber  die  Tatsacken,  so 
ist  es  offenbar,  dafi  wir  alle  an  dieser  zweiten  Gesckickte 
mitarbeiten.  Wie  groC  ist  die  Verantwortung,  die  wir  da- 
mit  tragen!  Wie  wir  urteilen  und  was  wir  sprecken,  das 


2(5  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  I. 

schlagt  sich  nieder.  Ein  SancLkorn  kommt  zum  anderen, 
und  so  bilden  sich  "Uberlieferungen,  offentliche  Meinungen, 
die  selbst  wieder  zu  Elementen  der  Greschichte  werden. 
Deshalb  miissen  wir  Eechenschafb  geben  iiber  jedes  unniitze 
Wort,  well  auch  die  unniitzen  Worte  nicht  nnwirksam 
sind.  Es  gilt,  die  Zunge  im  Zaum  zu  halten,  der  falschen 
Legende  kraftig  entgegenzutreten  und  mitzuarbeiten  an  der 
TJberlieferung  der  "Wahrheit  und  der  Kraft,  an  der  Uber- 
lieferung  der  wahren  Legende! 


ADOLF  HARNACK  •  REDEN  UND  AUFSATZE 
ERSTER  BAND  -  ERSTE  ABTEILUNG 


REDEN:  II 
SOKRATES  UND  DIE  ALTE  KIRCHE 


Rektoratsrede 

gehalten  in  der  Aula   der  Ktfniglichen  Friedricb.  Wilhelms-Universitat 

in  Berlin  am  15.  Oktober  1900.     Erschienen  im  Druck  bei  Alfred  TOpel- 

mann  (vormals  J.  Ricker'sche  Verlagsbuchhandlung)  in  G-iessen. 


Die  akademisclie  Sitte  weist  den  Rektor  an,  das  neue 
Studienjahr  mit  der  Betrachtung  eines  wissenschaftlichen 
Problems  von  allgemeiner  Bedeutung  zn  eroffhen.  Indem 
ich  dieser  Sitte  folge,  lade  ich  Sie  ein,  sich  mit  mir  in  ein 
entferntes  Zeitalter  zu  begeben.  Fiirchten  Sie  aber  nicht, 
dafl  ich  Sie  aus  dem  hellen  Tag,  der  uns  strahlt,  in  ein 
unfreundliches  Dunkel  fiihre.  Nur  die  Geschichte,  die  noch 
nicht  vergangen  ist,  die  ein  Teil  unserer  G-egenwart  ist 
und  bleibt,  hat  Anspruch  darauf,  von  alien  gekannt  zu 
werden,  und  fur  eine  Episode  aus  dieser  Greschichte  erbitte 
ich  mir  Ihre  Teilnahme. 

"Wie  sich  die  christliche  Religion  und  die  griechische 
Philosophie,  oder  dafi  ich  besser  sage:  die  griechische 
Kultur,  gefunden  und  mit  welchen  Augen  sie  sich  be- 
trachtet  haben  in  dem  Momente,  als  eine  der  anderen  zu- 
erst  auf leuchtete ,  wie  sie  dann  ihre  Schatze  verglichen 
haben  und  Einiges  nun  in  doppeltem  Lichte  strahlte, 
Anderes  aber  erlosch  —  das  ist  ein  Schauspiel,  das  zuriick- 
zurufen  der  Betrachtende  nie  miide  werden  kann.  Aber 
nicht  nur  wie  ein  Schauspiel  steht  es  vor  seinen  Augen. 
Die  Werte,  die  ihn  bewegen  in  Gtefuhl  und  Tat,  in  der 
tiefsten  Empfindung  und  in  der  hochsten  Anspannung  des 
Eigenlebens,  und  wiederum  in  Familie  und  Beruf,  in  Kirche 
und  Staat  —  alle  die  Werte,  die  den  eigentlichen  Sinn  des 
Lebens  ausmachen,  sind  gepragt  worden  in  jenem  wider- 
spruchsvollen  Bunde,  der  in  dem  zweiten  und  dritten  Jahr- 
hundert  zwischen  Griechentum  und  Christentum  geschlossen 
worden  ist. 


30 


Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  II. 


In  der  Tat  eine  concordia  discors,  denn  von  beiden 
Seiten  empfand  man  Gemeinsames  und  bemerkte  doch 
Trennendes.  Das  Gemeinsame  waren  Giiter,  ans  dem 
Trennenden  entwickelten  sich  Aufgaben:  so  sind  die 
Spannungen  nicht  minder  wirksam  und  segensreich  ge- 
worden  als  der  doppelt  versicherte  Besitz. 

Dort  wie  hier  aber  war  es  je  eine  Personlichkeit,  in 
der  alles  Hohe  zusammengefaflt,  begriindet  und  verwirklicht 
erschien.  Fur  das  Christentum  ist  das  ohne  weiteres  klar: 
in  der  Person  Christi  wurde  das  neue  Leben  mit  alien 
seinen  Giitern  angeschaut.  Aber  auch  das  Griechentum, 
sofern  es  sich.  als  Erhebung  iiber  das  sinnliche  Leben,  als 
ideale  Weltanschauung  und  ernste  Sittlichkeit  darstellte, 
besafi  einen  fuhrenden  Heros.  War  er  auch  nicht  so  aus- 
schliefilich  der  Fiihrer  wie  Jesus  Christus,  so  war  er  doch 
die  Gr6.Ce,  vor  der  bald  jeder  Grieche  sich  beugte  und  die 
er  als  den  Begriinder  eines  hoheren  Lebens  verehrte  — 
Sokrates.  Jesus  Christus  und  Sokrates:  die  beiden  Namen 
bezeichnen  die  hochsten  Erinnerungen,  welche  die  Mensch- 
heit  besitzt.  Zwar  war  es  Sokrates  nicht  beschieden,  wie 
Philo,  Josephus  und  Virgil,  eine  Stelle  unter  den  Kirchen- 
vatern  zu  erhalten,  aber  etwas  viel  Grofieres  hat  die  Ge- 
schichte  ihm  gespendet.  Sie  hat  seinen  Namen,  wenn  auch 
in  weitem  Abstande,  mit  dem  Jesu  Christi  verbunden. 
Vom  zweiten  Jahrhundert  ab  steht  diese  Verbindung  vor 
den  Augen  der  empfindenden  und  denkenden  Menschheit 
als  Konsonanz  und  als  Dissonanz,  vor  allem  als  ein  wunder- 
volles  Problem,  an  dem  sich  jedes  Jahrhundert  hat  ver- 
suchen  miissen.  Denn  es  gibt  Probleme  in  der  Geschichte, 
die  niemals  erledigt  werden  und  die  jede  Generation  neu 
anfassen  muB.  Zugleich  aber  laJJt  sich  hier  mit  Handen 
greifen,  dafi  es  in  der  Geschichte  der  Gedanken  die  Per- 
sonen  sind,  welche  die  Geschichte  machen.  Gewifi,  sie 
kamen,  weil  die  Zeit  erfullt  war,  aber  die  Weisheit,  welche 
lehrt,  dafi  sie  kommen  mufiten,  steht  auf  der  Hohe  der 


Sokrates  und  die  alte  Kirche.  31 

Einsicht,  dafi  iiberhaupt  alles  so  gekommen  1st,  wie  es 
kommen  mufite. 

Christus  und  Sokrates  —  unter  diesem  Titel  kann  man 
ein  grofles  Stiick  der  Greistes-  und  Religionsgeschiehte  von 
zwei  Jahrtausenden  beschreiben.  Wie  ernsthaft  hat  sich 
noch  das  vorige  Jahrhundert  urn  dies  Problem  bemiiht  — 
seine  Dichter,  seine  Philosophen  und  seine  Aufklarer! 
Hamanns  Tiefsinn,  Mendelssohns  und  Eberhards 
klare  Verstandigkeit,  Matthias  Claudius*  bewegliche 
Mitempfindung,  Wielands  weltmannischer  Blick,  Klop- 
stocks  Begeisterung  haben  sich  an  dem  Probleme  ver- 
sucht.  Einst  war  Portias,  der  Grattin  des  Pilatus,  Traum, 
in  welchem  ihr  Sokrates  erschien,  alien  gebildeten  Deutschen 
bekannt,  und  der  Dichter  des  Messias  ist  um  dieser  er- 
greifenden  Episode  willen  aufs  hochste  gepriesen  worden. 
Aber  auch  noch  in  unserem  Jahrhundert,  in  welchem  "Welt 
anschauung,  Wissenschaft  und  Dichtung  immer  mehr  aus- 
einandergetreten  sind  und  der  Poet,  ja  selbst  der  Philosoph, 
selten  mehr  um  die  hochste  Palme  ringt,  ist  das  Problem 
nicht  ganz  vergessen.  Man  braucht  auch  kein  Prophet  zu 
sein,  um  verkundigen  zu  diirfen,  dafi  es  uns  in  den 
nachsten  Jahrzehnten  wieder  mit  ganzer  Macht  beschafti- 
gen  wird. 

Aber  nicht  die  lange  Kette  jener  Bemuhungen  gedenke 
ich  Ihnen  vorzufiihren,  sondern,  zum  Anfang  zuriickkehrend, 
mochte  ich  Ihre  Teilnahme  fur  die  Prage  erwecken,  wie 
von  den  Christen  im  vorkonstantinischen  Zeitalter  Sokrates 
empfunden  und  betrachtet  worden  ist. 

Darf  ich  Sie  zunachst  an  einige  Hauptziige  des  grofien 
Philosophen  erinnern?  Bei  Griechen  und  Romern  lebte  er 
fort  ausschliefilich  in  dem  Bilde,  welches  Plato  von  ihm 
gezeichnet  hatte.  Dieses  Bild  hatte  nicht  nur  seine  Ver- 
klarung  und  "Weihe,  sondern  auch  seinen  wesentlichen  In- 
halt  durch  den  Tod  empfangen.  Sieht  man  von  diesem 
ab,  so  erscheint  Sokrates  als  ein  Sophist  im  hoheren  Sinn 


32  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  II. 

des  Worts,  der  es  verstand,  seine  Gegner  mit  ihren  eigenen 
WafFen  zu  schlagen.  Wie  sie  beseitigte  er  die  objektive 
Spekulation;  wie  sie  hatte  er  nur  fiir  das  Individuum  in 
seinem  intellektuellen  und  moralischen  Zustande  Inter- 
esse;  wie  sie  lehnte  er  es  ab,  aus  der  Sitte  nnd  Uberliefe- 
ning  die  Entscheidung  fiber  das  Pflichtmaflige  zn  treffen; 
endlich  wie  bei  ihnen  fiihrte  auch  bei  Sokrates  die  ver- 
nunftige  TJberlegnng  noch  nicht  zu  einem  systematischen 
nnd  geschlossenen  Wissen,  sondern  das  begriffliche  Denken 
war  i>i in  nnr  ein  Prinzip  von  Fall  zu  Fall.  Aber  freilich, 
an  einem  entscheidenden  Punkte  unterschied  er  sich  von 
den  Sophisten:  die  verniinftige  Uberlegung  fiihrte  ihn  nicht 
auf  den  jedesmaligen  eigenen  Vorteil  des  Individuums, 
sondern  letztlich  auf  etwas  Allgemeines,  Bleibendes,  eine 
Art  von  kategorischem  Imperativ.  In  diesem  Sinn  schloJJ 
sich  doch  bei  ihrn  das  Denken  zu  einer  Einheit,  einer  Art 
von  Weltanschauung  zusammen,  deren  Ausgangspunkt  das 
Innenleben  war  und  die  von  einem  idealen  und  ethischen 
Gedanken  beherrscht  wurde.  Aber  wie  wenig  war  diese 
Lehre  an  und  fur  sich  noch  imstande,  wie  ein  Evangelium 
zu  wirken  und  epochemachend  einzugreifen!  Das  wesent- 
liche  Element  fugte  Sokrates  ihr  erst  durch  seinen  Tod 
hinzu.  Der  Kerker  und  der  Schierlingsbecher  sind  die 
eigentlichen  Mittel  seiner  Philosophie  gewesen;  denn  durch 
sie  hob  er  seine  Lehre  aus  dem  G-ebiet  der  dialektischen 
Kunst  und  blofier  Worte  auf  die  Hohe  der  Tat  und  verlieh 
dem  ideellen  Gedanken  schlechthin  Autoritat  und  Objek- 
tivitat.  So  ist  es  von  Plato,  so  von  den  Tausenden  nach 
ihm  empfunden  worden.  In  die  griechische  Welt,  in  diese 
heitere  Welt  der  Sinnenfreudigkeit  und  des  Genusses,  hat 
Sokrates  die  G-ewifiheit  und  den  Ernst  eines  hoheren  Lebens 
gebracht  —  der  sterbende  Sokrates,  nicht  der  lehrende,  oder 
der  lehrende  nur  insofern,  als  er  in  der  Todesstunde  lehrte. 
Die  Anklage,  um  deren  willen  er  verurteilt  worden 
war,  erhielt  hierdurch  einen  ganz  neuen  Sinn.  Verurteilt 


Sokrates  und  die  alte  Kirche.  33 

worden  war  er,  well  er  neue  Gotter  lehrte  nnd  well  er  die 
Jugend  zum  Ungehorsam  gegen  die  Eltern  nnd  Staats- 
gesetze  verfnhrte:  das  behauptete  die  demokratische  Re- 
aktion,  deren  politisches  Opfer  er  geworden  war.  Seine 
Schnler  nnd  Verehrer  mnflten  nmgekehrt  iiberzengt  sein, 
dafi  eben  das  das  G-erechte  nnd  Gnte  sei,  nm  dessen  willen 
man  ihn  vernrteilt  hatte.  Eine  vollstandige  Umwertnng 
der  Werte  war  damit  gegeben:  nnbekiimmert  nm  den  Staat, 
nm  Sitte  nnd  G-ewohnheit  sich  lediglich  von  personlicher 
"Uberzengung  nnd  freier  Selbstentscheidung  leiten  zn  lassen, 
der  sittlichen  Priifung  nach  den  hochsten  Maflstaben  nnd 
der  innern  Stimme  allein  zn  folgen,  das  ist  das  Gute.  Und 
noch  etwas,  —  Leiden,  Entbehrnng,  Verfolgnng,  der  Tod 
sind  keine  Ubel,  sondern  konnen  in  Qnellen  der  Kraffc  ver- 
wandelt  werden;  das  irdische  Leben  ist  der  G-iiter  hochstes 
nicht,  denn  es  hat  ein  hoheres  Leben  in  sich  nnd  iiber 
sich;  endlich,  selbst  die  Staatsgotter,  die  olympischen 
Gotter  alle,  verblassen  an  Macht  nnd  Antoritat  vor  dem 
Gott,  der  tief  das  Innerste  erregt.  Das  sind  die  Empfin- 
dnngen  nnd  Uberzengnngen,  die  Sokrates  dnrch  seinen 
Tod  in  der  Antike  entbnnden  hat  nnd  die  die  Grundpfeiler 
einer  nenen  Weltanschauung  in  Griechenland  geworden  sind. 
Es  bedarf  nicht  vieler  "Worte,  damit  man  erkenne,  wie 
verwandt  das  alles  die  Christen  bernhren  jmnCte.  Je  ein- 
facher  nnd  reiner  sie  ihren  eigenen  Besitz  empfanden,  nm 
so  dentlicher  mnfite  ihnen  die  tJbereinstimmnng  sein.  Aber 
andererseits  —  wie  grofi  war  doch  wiederum  der  Unter- 
schied!  Dieser  Sokrates  verlegte  alle  hoheren  Giiter  in  das 
Gebiet  der  Erkenntnis;  sie,  die  Christen,  aber  waren  an- 
gewiesen,  alle  menschliche  Erkenntnis  miBtranisch  zn  be- 
trachten.  Er  rief  znm  Wissen,  sie  aber  znm  Glanben.  Er 
liefi  die  Gotter  gelten;  sie  aber  betrachteten  sie  als  Damonen. 
Er  zeigte  den  Weg  znr  Selbsterlosnng;  sie  kannten  einen 
Erloser  nnd  hofften  anf  ihn.  Wie  konnen  so  viele  Gegen- 
satze  bestehen  bei  soviel  Gemeinschaft? 

Ha  mack,  Beden  und  Aufsatze.    2.  Anfl.    I.  3 


34  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  II. 

Ein  Jahrhundert  lang  horen  wir  in  christlichen  Krei- 
sen  nichts  von  Sokrates,  nicht  einmal  den  Namen.  Paulus 
schweigt  iiber  ihn,  obschon  er  von  griechischer  Philosophie 
nicht  ganz  unberiihrt  geblieben  ist.  Auch  im  Grefangnis 
erinnert  er  sich  nicht  an  den  verhafteten  Philosophen. 
Nicht  einmal  die  Legende  hat  es  gewagt,  dem  Apostel  ein 
Urteil  iiber  Sokrates  in  den  Mund  zu  legen,  obschon  sie 
ihn  mit  Seneca  zusammenbringt.  7,Wenn  unsere  Bekenner 
etwas  Todliches  trinken,  wird  es  ihnen  nicht  schaden",  be- 
zeugen  die  Christen;  aber  Sokrates  erwahnen  sie  nicht. 
Erst  um  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  wird  sein 
Name  in  unseren  Quellen  zum  erstenmal  genannt,  und 
von  nun  an  verschwindet  er  nicht  mehr. 

Es  sind  die  christlichen  Apologeten  gewesen,  die  ihn 
aufgenommen  haben,  jene  Manner,  die  das  Christentum 
auf  den  Boden  der  griechischen  Philosophie,  ja  iiberhaupt 
des  Griechentums ,  hiniiber  pflanzten.  Und  —  dafl  ich  es 
gleich  sage  —  der  erste,  der  dies  mit  ungemeiner  Energie 
getan  hat,  ist  zugleich  derjenige,  der  Christus  und  Sokrates 
einander  am  nachsten  geriickt  hat,  der  Apologet  Justin. 
Um  das  Jahr  150  hat  er  eine  umfangreiche  Verteidigungs- 
schrift  fur  das  Christentum  an  die  Kaiser  Antoninus  Pius 
und  Marc  Aurel,  an  den  Senat  und  das  ganze  romische 
Volk  gerichtet.  In  dieser  Schrift  streift  er  nicht  nur  So 
krates  und  seine  Lehre,  sondern  die  Beziehung  auf  sie  bildet 
vom  ersten  bis  zum  letzten  Blatt  ein  Hauptmittel  der 
Verteidigung  und  des  Beweises.  Er  weifl,  dafi  seine  kaiser- 
lichen  Adressaten  Sokrates  iiber  alles  schatzen;  deshalb 
hat  er  seine  Schrift  durchnochten  mit  platonischen  Zitaten 
und  mit  Anspielungen  auf  die  letzten  Eeden  des  Philo 
sophen.  Aber  er  selbst  ist  als  Christ  ein  Verehrer  des 
Sokrates  geblieben,  und  darum  argumentiert  er  zuversicht- 
lich  und  unbefangen  von  ihm  aus  fur  die  Christen  und 
fur  Christus.  Wir  Christen  alle  erleiden  heute  das,  was 
Sokrates  erlitten  hat,  weil  wir  wie  er  denken  und  hand  ein; 


Sokrates  und  die  alte  Kirche.  35 

wir  sind  mit  ihm  ungerecht  verurteilt;  wir  sind  mit  ihm 
im  Kerker;  wir  werden  mit  ihm  getotet  und  —  wir  sind 
mit  ihm  unverwnndbar ;  denn  Anytus  und  Meletus  konnen 
uns  wohl  toten,  aber  schaden  konnen  sie  uns  nicht.  Das 
ist  keine  Rhetorik,  das  ist  auch  nicht  zufallige  Uberein- 
stimmung,  nein  —  Justin  ist  tief  davon  durchdrungen, 
dafi  sich  in  der  Verurteilung  der  Christen  die  Yerurteilung 
des  Sokrates  wirklich  fortsetze.  Diese  Uberzeugung  mufl 
er  beweisen,  und  er  beweist  sie;  denn  so  lauten  seine 
Worte:  ?,Als  Sokrates  die  Menschen  von  den  Damonen  ab- 
zuwenden  versuchte,  da  haben  es  diese  dahin  gebracht, 
dafi  er  als  ein  Grottesleugner  und  Frevler  sterben  mufite; 
denn  sie  liefien  die  Behauptung  verbreiten,  er  fiihre  neue 
Grottheiten  ein.  Dasselbe  tun  sie  heute  uns  gegeniiber; 
denn  nicht  nur  bei  den  Griechen  hat  der  Logos  die  falsche 
Religion  durch  Sokrates  widerlegt,  sondern  auch  bei  den 
Barbaren  ist  dies  geschehen.  Dort  aber  ist  er  personlich 
erschienen  und  hat  als  Jesus  Christus  die  Damonen  iiber- 
wunden."  Und  an  einer  anderen  Stelle:  ?,Alle  die  mit  dem 
Logos  gelebt  haben,  die  waren  Christen,  wenn  sie  auch  als 
Grottesleugner  galten,  wie  unter  den  Griechen  Sokrates." 
Und  an  einer  dritten:  n  Unter  alien  Philosophen  ist  So 
krates  der  beste  gewesen;  denn  er  hat  Homer  und  die 
Grotter  der  Dichter  verschmaht,  dagegen  die  Menschen  an- 
gewiesen,  den  unbekannten  Gott  mittelst  des  Logos  zu 
suchen  und  zu  erkennen;  er  selbst  hat  Christus  zum 
Teil  erkannt;  denn  Christus  ist  die  personliche  Erscheinung 
des  Logos,  der  jedem  Menschen  inne  wohnt." 

Sokrates  und  Christus  gehoren  also  zusammen  und 
werden  von  Justin  der  griechischen  Religion  entgegen- 
gesetzt.  Sie  gehoren  aber  zusammen,  weil  ein  und  der- 
selbe  Logos  in  Beiden  gewaltet  hat. 

Enger  kann  man  die  Verbindung  nicht  fassen;  aber 
Justin  ist  dabei  nicht  blind  gegeniiber  dem  Unterschied. 
Dieser  Unterschied  ist  ihm  ein  gewaltiger;  denn,  so  fiihrt 

3* 


36  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Keden:  II. 

er  aus:  Sokrates  war  nur  ein  Werkzeug  des  Logos,  in 
Christus  aber  1st  dieser  selbst  erschienen;  weiter,  Sokrates 
hat  die  Wahrheit  nicht  vollstandig  und  rein  erkannt,  denn 
er  besafl  nicht  den  ganzen  Logos;  endlich  rdem  Sokrates 
hat  niemand  solchen  Grlauben  geschenkt,  dafi  er  fur  seine 
Lehre  gestorben  ware,  for  Christus  aber  gehen  nicht  nur 
Philosophen,  sondern  auch  Handwerker  und  ganz  unge- 
bildete  Leute  in  den  Tod".  Diese  letzte  "Wendung  ist  ganz 
besonders  lehrreich:  Justin  vermeidet  es,  die  so  nahe  lie- 
gende  Parallele  zwischen  dem  Tod  des  Sokrates  und  dem 
Tod  Christi  zu  ziehen.  Dagegen  stellt  er  das  Verhalten 
der  Junger  Beider  in  einen  Gregensatz  und  erschliefit  aus 
ihm  die  einzigartige  Kraft  der  Predigt  Jesu. 

In  Hinsicht  auf  Eeinheit,  Universalitat,  Fafilichkeit 
und  TJberzeugungskraft  also  steht  dem  Justin  das  Christen- 
tum  hoch  uber  der  sokratischen  Lehre;  aber  kein  Zweifel 
—  Sokrates  und  seine  Philosophie  gehoren  auf  die  Seite 
der  Wahrheit  und  nicht  auf  die  Seite  des  Irrtums,  darum 
zu  Christus  und  nicht  zum  Heidentum.  Ahnlich  wie  Justin 
haben  auch  die  iibrigen  griechischen  Apologeten  geurteilt, 
die  etwas  spater  geschrieben  haben.  Sie  streifen  die  Person 
des  Sokrates  zwar  nur,  und  er  steht  ihnen  nicht  im  Mittel- 
punkt  des  Interesses,  aber  sie  verehren  ihn.  Tatian  schildert 
das  ganze  Grriechentum  mitsamt  seinen  Philosophen  in  den 
diistersten  Farben,  aber  Sokrates  nimmt  er  aus:  ,,Es  gibt 
nur  einen  Sokrates."  Athenagoras  stellt  wie  Justin  die 
Christen  mit  dem  athenischen  Philosophen  zusammen:  ,5Wie 
dieser  durch  die  offentliche  Meinung  nichts  von  seiner  Yor- 
trefflichkeit  einbiifien  konnte,  so  vermag  auch  uns  Christen 
die  grundlose  Verleumdung  in  Bezug  auf  die  Eeinheit 
unseres  Lebens  nicht  zu  schaden. "  Der  Philosoph  Apollonius 
erinnert  seine  Kichter,  die  romischen  Senatoren,  an  die  be- 
riihmte  Stelle  aus  Plato,  wo  dieser  von  dem  wahrhaft  Gre- 
rechten  weissagt,  er  werde  gegeifielt,  gefoltert,  geblendet 
und  zuletzt  aufgepfahlt  werden.  Dann  fahrt  er  fort:  ,,So 


Sokrates  und  die  alte  Kirche.  37 

wie  die  athenischen  Anklager  iiber  Sokrates  ein  ungerech- 
tes  Todesurteil  abgegeben  haben,  so  haben  die  Gottlosen 
auch  iiber  unseren  Meister  und  Erloser  das  Verdammungs- 
urteil  gefallt;  denn  die  Gerechten  sind  den  Gottlosen  stets 
verhafit. "  Nur  einen  alten  griechischen  Apologeten  gibt 
es,  der  hier  eine  Ausnahme  macht  und  Sokrates  einfach  in 
das  blinde  Heidentum  einrechnet.  Es  ist  gewifi  nicht  zu- 
fallig,  dafi  dieser  Eine  zugleich  ein  Bischof  gewesen  ist  — 
Theophilus  von  Antiochien.  Er  stofit  sich  daran,  dafi  So 
krates,  wie  die  Uberlieferung  sagt,  bei  dem  Hunde  und  der 
Platane  zu  schworen  pflegte,  und  schlofi  daraus,  dafi  er 
nichts  von  der  Wahrheit  erkannt  habe,  und  dafi  daher  auch 
sein  Tod  sinn-  und  zwecklos  gewesen  sei.  Jene  Schwiire 
des  Sokrates  mufiten  freilich  seinen  christlichen  Verehrern 
sehr  unangenehm  und  bedenklich  sein,  aber  sie  wufiten 
sich  mit  ihnen  abzunnden.  Lediglich  um  die  Athener  und 
ihren  Grlauben  zu  verspotten,  meinten  sie,  habe  Sokrates 
solche  Schwurformeln  gebraucht.  So  gewiC  waren  sie,  dafi 
der  Mann,  der,  wie  die  christlichen  Bekenner,  fur  seine 
Lehre  gestorben  war,  unmoglich  im  Gotzendienst  stecken 
geblieben  sei. 

Er  war  fur  seine  Lehre  gestorben  und  die  Christen 
starben  fur  ihre  Lehre  —  diese  Ubereinstimmung  hat  selbst 
die  gebildeten  Gegner  des  Christentums  stutzig  gemacht, 
und  noch  andere  Verwandtschaften  fielen  ihnen  auf.  Celsus, 
der  alteste  und  tiichtigste  literarische  Bestreiter  des  Christen 
tums,  hat  in  der  Einleitung  zu  seiner  Schrift  die  gefahr- 
dete  Lage  der  Christen  mit  der  des  Sokrates  verglichen. 
Leider  kennen  wir  an  dieser  Stelle  den  Wortlaut  seiner 
Ausfuhrungen  nicht  mehr  und  wissen  daher  nicht,  wie  er 
sich  aus  dem  fur  seinen  eigenen  Standpunkt  todlichen  Ver- 
gleich  herausgezogen  hat.  Eben  derselbe  Celsus  behauptet 
auch,  dafi  die  Christen  das  Gebot,  nicht  Boses  mit  Bosem 
zu  vergelten,  einer  Anweisung  des  Sokrates  entnommen 
hatten,  und  dafi  auch  ihre  Unterscheidung  einer  mensch- 


gg  Erster  Band,  erste  Abteihmg.     Eeden:  II. 

lichen  und  einer  gottlichen  Weisheit  dieser  Quelle  ent- 
stamme.  Der  Heide  Cacilius  rat  den  Christen,  wenn  sie 
denn  durchaus  philosophieren  wollten,  Sokrates  nachzu- 
ahmen  und  jene  Zuriickhaltung  in  Bezug  auf  die  himm- 
lischen  Dinge  zu  iiben,  der  er  sich  befleifiigt  habe.  Lucian, 
der  Spotter,  behauptet,  die  Christen  hatten  einen  ihrer  her- 
vorragenden  Lehrer  ,,den  neuen  Sokrates"  genannt.  Gralen 
gesteht  einzelnen  Christen  zu,  dafi  sie  wie  wahre  Philo- 
sophen,  also  wie  Sokrates,  die  sinnlichen  Greniisse  und  den 
Tod  verachten.  Umgekehrt  sucht  Marc  Aurel  zu  zeigen, 
dafi  die  tJbereinstimniung  des  Sokrates  und  der  Christen 
in  der  Todesbereitschaft  nur  eine  scheinbare  sei;  denn 
jene  sei  selbstbewufit  und  voll  keuschen  Ernstes  gewesen, 
diese  aber  unbesonnen  und  prahlsiichtig.  Man  erkennt 
deutlich  —  auch  fur  die  Gregner  lag  hier  ein  Problem. 
Nicht  nur  die  Christen  nahmen  Sokrates  fur  sich  in  An- 
spruch;  auch  ihre  Feinde  fanden  hier  "Qbereinstimmungen, 
die  sie  in  Verwunderung  setzten  und  fur  die  sie  nach  Er- 
klarungen  suchen  mufiten.  Gregenseitig  bezichtigte  man 
sich  des  Plagiats:  Sokrates  hat  die  heilige  Schrift  gepliin- 
dert;  nein  —  Christus  oder  die  Christen  haben  die  grie- 
chische  Philosophie  bestohlen.  So  sehr  empfand  man  das 
Gemeinsame,  und  so  unfahig  war  man,  es  zu  erklaren! 

Aber  —  kann  man  einwenden  —  ist  hier  nicht  alles 
heriiber  und  hiniiber  nur  dialektisch-apologetische  Kunst 
gewesen?  "War  es  den  christlichen  Philosophen  wirklich 
Ernst  mit  ihrer  Verehrung  des  Sokrates?  Bei  Justin  kann 
dariiber  kein  Zweifel  sein  und  ebensowenig  bei  der  Gruppe 
von  Theologen,  die  sich  unmittelbar  ihm  anschliefit,  den 
alexandrinischen  christlichen  Grelehrten.  Clemens,  Origenes 
und  ihre  Schiller  haben  mit  der  gleichen  Hochachtung  von 
Sokrates  gesprochen,  wenn  sie  fur  Christen  und  wenn  sie 
far  das  grofie  Publikum  geschrieben  haben.  Der  Ausdruck 
„ Hochachtung"  ist  noch  viel  zu  schwach:  Sokrates  war 
ihnen  ein  Zeuge  der  Wahrheit,  ja  der  Zeuge  innerhalb  der 


Sokrates  und  die  alte  Kirche.  39 

griechischen  Geschichte.  Noch  mehr:  Clemens  Alexandrinus 
hat  die  ganze  Geschichte  der  griecliischen  Philosophic  von 
Sokrates  ab  nicht  im  Kontraste  zum  Christentum  betrachtet, 
sondern  als  Vorhalle  desselben  wie  das  alte  Testament,  und 
auch  Origenes  und  seine  Schiller  benrteilten  sie  ahnlich. 
Wie  war  ihnen  das  moglich,  da  sie  doch  iiberzeugte  kirch- 
liche  Christen  waren  nnd  der  Bedeutung  der  Person  Christi 
nichts  abzogen?  Nun,  moglich,  ja  selbstverstandlich  war  es 
ihnen,  weil  sie  in  der  christlichen  Religion  nicht  eine 
Religion  sahen,  sei  es  auch  die  wahre,  sondern  weil  sie  sie 
als  die  Religion  erkannten,  auf  welche  die  religiose  Anlage 
aller  Menschen  hinweise  und  die  sich  in  der  Menschheits- 
geschichte  vorbereitet  habe.  Diese  Erkenntnis  machte  sie 
nicht  tolerant,  sondern  wahrhaft  liberal,  d.  h.  sie  wufiten 
das  Grute,  wo  immer  es  sich  zeigte,  zu  iinden  und  zu 
schatzen  und  brachten  es  mit  der  christlichen  Predigt  in 
Verbindung.  Dafi  die  Tugenden  der  Heiden  nur  glanzende 
Laster,  ihre  Erkenntnisse  samt  und  senders  Irrtiimer  seien  — 
von  diesem  truben  Gedanken  waren  sie  noch  weit  entfernt. 
Freilich  entfernten  sie  sich  auch  von  jener  Auffassung  des 
Bosen  und  der  Siinde,  welche  Paulus  verkiindigt  hatte; 
aber  man  kann  nicht  sagen,  daB  sie  die  einzige  is-t,  die  sich 
mit  dem  Evangelium  vereinigen  lafit. 

Wie  sehr  Clemens  und  Origenes  Sokrates  geschatzt 
haben,  erkennen  wir  am  besten  an  der  vollkommenen  Un- 
befangenheit,  mit  der  sie  seine  Ausspriiche  als  anerkannte 
Wahrheiten  zitieren;  ja  Clemens  verbindet  sie  sogar  mit 
Bibelspriichen.  Origenes  tut  das  nicht  mehr;  die  Bibel 
steht  ihm  zu  hoch,  aber  Sokrates  ist  auch  ihm  iiber  jeder 
Kritik  erhaben.  ,,Er  hatu,  sagt  er,  wim  Grefangnis  mit  voll- 
kommener  Furchtlosigkeit  und  mit  aller  Seelenruhe  so  viele 
und  so  erhabene  Gredanken  ausgesprochen,  dafi  ihm  kaum 
die  zu  folgen  vermochten,  die  vollstandig  gefafit  waren 
und  von  keiner  drohenden  Gefahr  beangstigt  wurden." 
Nur  einmal  erscheint  seine  unbedingte  Verehrung  er- 


40 


Erster  Band,  erste  Abteilung.     Keden:  IE. 


schiittert,  wo  er  sich  erinnern  mufl,  daft  Sokrates  doch 
auch  den  Gotzen  geopfert  hat.  Aber  mit  Clemens  1st  er 
der  Uberzeugung,  dafl  das  Damonium  des  Sokrates  kein 
boser  Geist  gewesen  1st,  sondern  ein  Geist  des  Schutzes  und 
der  Wahrheit.  Das  1st  die  starkste  Probe  ihres  Glaubens 
an  den  Philosophen;  denn  es  war  fiir  jeden  Christen  ein 
hartes  Stuck,  dieses  Damoninm  anznerkennen.  Schon  der 
blofle  Name  mufite  abschrecken.  Am  lehrreichsten  aber 
ist  es,  zu  sehen,  wie  Origenes  in  seinem  groflen  Werke 
gegen  Celsus  den  Ubereinstimmungen  zwischen  Sokrates 
einerseits  nnd  Christus  und  den  Christen  andererseits  nach- 
geht.  Tausend  Jahre  spater  haben  die  S chiller  des  heiligen 
Franziskus  ,,Conformitates"  zwischen  ihrem  Meister  und  Je 
sus  aufgesucht  und  zusammengestellt.  Dasselbe  hat  bereits 
Origenes  getan;  nur  einige  seien  angefuhrt:  Jesus  ist 
eines  schmahlichen  Todes  gestorben,  Sokrates  auch;  Jesus 
hat  gelehrt,  den  Tod  nicht  fiir  ein  Ungliick  zu  achten  und 
ihm  gegeniiber  furchtlos  zu  bleiben,  Sokrates  auch;  Jesus 
hat  die  Sunder  zu  sich  gerufen,  Sokrates  hat  den  Phadon 
aus  einem  schlechten  Hause  herausgenommen  und  ihn  der 
Philosophic  zugefuhrt;  von  Jesus  werden  hochst  wunderbare 
und  anscheinend  unglaubwurdige  Geschichten  berichtet,  von 
Sokrates  auch;  Jesu  Spruehe  und  Gleichnisse  bediirfen  der 
allegorischen  Erklarung,  Sokrates1  Mythenerzahlungen  eben- 
falls ;  aus  Jesu  Verkundigung  endlich  haben  sich  verschiedene 
Sekten  und  Schulen  entwickelt,  nicht  anders  aus  der  Lehre 
des  Sokrates. 

Diese  Hochschatzung  des  athenischen  Philosophen  hat 
Origenes  auf  seine  Schuler  iibertragen.  In  der  Lobrede, 
die  Grregorius  Thaumaturgus  seinem  Meister  gehalten  hat, 
weifi  er  ihm  kein  hoheres  Lob  zu  spenden  als  in  den 
"Worten:  ,,Wie  Sokrates  hat  mich  Origenes  geziigelt  und 
geleitet."  Ebenderselbe  Grregorius  bezeichnet  das  sokratische 
Wort  nErkenne  dich  selbst"  als  das  Grebot  der  tiefsten  Weis- 
heit.  Ein  anderer  christlicher  Philosoph,  Methodius,  eignet 


Sokrates  und  die  alte  Kirche.  4^ 

sich  die  Auffassung  vollkommen  an,  die  Sokrates  iiber  den 
Tod  ausgesprochen  hat.  In  die  Weltchronik  des  Eusebius 
ist  Sokrates  als  der  ?,Philosophos  kathartikos",  der  Philosoph 
nder  R/einigung",  aufgenommen,  der  durch  nden  Wahnsinn" 
der  Athener  den  Tod  erlitten  hat.  Damit  erschien  das 
christliche  Urteil  iiber  Sokrates  fiir  alle  konunenden  Zeiten 
in  einem  mafigebenden  Werke  festgelegt.  Aber  auch  mitten 
im  bewegten  Leben  und  in  der  Todesstunde  haben  christ 
liche  Martyrer  des  3.  Jahrhunderts  noch  immer  des  Sokrates 
gedacht  und  sich  auf  ihn  berufen,  so  Pionius  und  Phileas. 
,,Ich  opfere  nicht;  denn  ich  wache  eifersiichtig  iiber  meine 
Seele.  Nicht  nur  wir  Christen  tun  so,  sondern  auch  Heiden; 
nimm  Dir  den  Sokrates  als  Beispiel:  da  er  zum  Tode  ge- 
fiihrt  wurde  und  seine  Gattin  und  Kinder  neben  ihm  standen, 
kehrte  er  nicht  um,  sondern  nahm  bereitwillig  den  Tod 
auf  sich."  Aus  dem  ganzen  Gebiet  des  Griechentums  ist 
mir  in  der  Zeit  vor  Konstantin  neben  Theophilus  von 
Antiochien,  den  ich  bereits  erwahnt  habe,  nur  noch  ein 
Christ  bekannt,  der  sich  abschatzig  iiber  Sokrates  geaufiert 
hat.  Dieser  Eine  —  es  ist  der  Verfasser  der  clementinischen 
Homilien,  und  er  beschuldigt  Sokrates  grober  Unsittlichkeit 
—  ist  aber  nur  seiner  Sprache  nach  ein  Grieche;  in  Wahr- 
heit  ist  er  ein  jiidisch-syrischer  Christ.  Der  griechische 
Geist  liefi  sich  seinen  Sokrates  nicht  rauben,  auch  dann 
nicht,  als  er  sich  dem  Evangelium  unterworfen  hatte. 

Aber  wer  kann  behaupten,  dafi  sich  diese  Verbindung 
der  Lehre  des  Sokrates  und  Christi  auf  eine  vollstandige 
und  tiefe  Einsicht  in  die  Eigentiimlichkeit  Beider  griindete? 
Man  darf  wohl  sagen:  sie  kam  zu  friih,  und  sie  flofi  mehr 
aus  der  sittlichen  Stimmung,  dem  Willen  und  der  Ver- 
ehrung  als  aus  gesicherter  Erkenntnis.  Tat  man  nicht 
Beiden  Gewalt  an,  indem  man  sie  einander  so  nahe  riickte, 
und  gab  man  nicht  wesentliche  Gedanken  des  Christentums 
preis,  wenn  man  hier  nur  "Ubereinstimmungen  sehen  wollte? 
Die  abendlandischen  Theologen  sind  es  gewesen,  die  dies 


42 


Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  TL 


erkannt  haben,  die  Lateiner,  die  durch  kein  urspriingliches 
Band  mit  Sokrates  und  dem  Griechentum  verbunden  waren. 
Sie  haben  den  Unterschied  und  Gegensatz  zum  Ausdruck 
gebracht.  Aber  indem  sie  das  taten,  wurden  sie  in  der 
Negative  ungerecht;  denn  eine  relative  und  wahrhaft  ge- 
schichtliche  Betrachtung  gab  es  iiberhaupt  nocli  nicht. 
Doch  haben  es  nur  zwei  unter  ihnen,  Minucius  Felix  nnd 
Novatian,  iiber  sich  gebracht,  den  grofien  Philosophen  als 
verfiinrten  nnd  verfiihrenden  Irrgeist,  ja  als  ^attischen 
Schalksnarren"  einfach  beiseite  zn  schieben.  Die  beiden 
einflufireichsten  abendlandischen  Apologeten,  Tertullian  nnd 
Lactantins,  haben  ein  widerspruchsvolles  Bild  des  Sokrates 
entworfen,  in  welchem  aber  die  nngiinstigen  Ziige  weit 
iiberwiegen. . 

Tertullian  raumt  in  seiner  grofien  Verteidigungsschriffc 
fur  das  Christentum  ein,  dafi  Sokrates  die  falschen  Gotter 
verworfen  habe  und  daC  er  deshalb  verurteilt  worden  sei. 
Daher  lafit  er  ihrn  den  Titel  des  Weisesten  der  Qriechen. 
,,Er  erkannte  etwas  von  der  Wahrheit",  sagt  er,  ,,und  ein 
gewisser  Anhauch  derselben  hat  ihn  den  Gottern  Trotz 
bieten  lassen."  ^In  ihm  ist  die  Wahrheit  im  voraus  ver- 
dammt  worden,  und  sein  Tod  ist  das  grofie  Beispiel,  dafi 
sie  zu  alien  Zeiten  den  Menschen  verhafit  gewesen  ist." 
Auch  die  Schwurformeln  des  Sokrates  ^beim  Hunde  und 
dem  Holze"  will  Tertullian  so  deuten,  dafi  die  Gotzen  da- 
durch  verspottet  werden  sollten.  In  alien  diesen  Urteilen, 
nur  nicht  in  dem  letzten,  stimmt  Lactantius  mit  ihm  iiber- 
ein;  er  rechnet  es  aber  Sokrates  aufierdem  noch  zu  hohem 
Lobe,  dafi  er  sich  fur  das  Mcht-Wissen  entschieden  und 
die  ganze  Philosophie  in  Ethik  verwandelt  habe.  Aber 
damit  ist  auch  das  Lob  des  Philosophen  bei  beiden  Apolo 
geten  erschopft,  und  tiefe  Schatten  verdunkeln  es:  dieser 
Sokrates  ist  doch  ein  falscher,  ja  letztlich  ein  unsittlicher 
Philosoph  gewesen;  den  christlichen  Haretikern,  nicht  der 
Kirche,  hat  er  Stoff  far  ihre  Lehren  gegeben;  er  hat  die 


Sokrates  und  die  alte  Kirche.  43 

Wahrheit  nicht  besessen,  sondern  sie  niir  gesucht,  ja  nicht 
einmal  ernsthaft  —  mit  dem  Wunsche  sie  zn  finden  — 
gesucht;  von  einem  bosen  Damon  hat  er  sich  leiten  lassen; 
die  Jugend  hat  er  zu  abscheulichen  Lastern  verfiihrt,  die 
Weibergemeinschaft  hat  er  empfohlen;  im  Grunde  war  er 
irreligios,  denn  er  verkiindete,  dafi  das,  was  iiber  uns  ist, 
uns  nichts  angehe,  und  endlich  —  auch  jenen  Anhauch 
von  Wahrheit,  der  ihn  die  falschen  G-otter  verachten  lehrte, 
hat  er  in  der  Todesstunde  eingebiifit;  denn  er  liefi  dem 
Askulap  einen  Hahn  schlachten! 

In  dem  letzten  Urteil  haben  Tertullian  und  Lactantius 
die  heiligste  Erinnerung  der  Antike,  gleichsam  ihr  Evan- 
gelium,  anzutasten  gewagt  —  den  sterbenden  Sokrates.  Die 
Seelenstarke ,  die  er  in  der  Todesstunde  bewiesen,  seine 
letzten  feeden,  das  Zeugnis,  das  er  in  Wort  und  Tat  fur 
den  Adel  und  die  Unsterblichkeit  der  Seele  abgelegt,  hatten 
ihn  zum  Heiligen  des  Altertums  gemacht.  Alles  iibrige 
von  ihm  und  seiner  Lehre  war  verblafit  und  vergessen; 
niemand  achtete  darauf;  um  so  heller  erstrahlte  der  Kon- 
fessor  und  der  Martyrer.  Diesen  wagte  Tertullian  anzu- 
greifen  und  in  den  Staub  zu  ziehen,  und  weshalb?  Weil 
er  in  der  Todesstunde  befohlen  hatte,  dem  Askulap  einen 
Hahn  zu  schlachten!  Alle  griechischen  Apologeten  sind 
schweigend  iiber  diesen  dunklen  und  peinlichen  Punkt  hin- 
weggegangen;  aber  auch  Tertullian  selbst  hat  gefuhlt,  dafi 
er  die  wundervolle  Grofie  des  sterbenden  Sokrates  nicht 
durch  den  einen  Hinweis  auf  das  Hahnenopfer  nieder- 
reifien  konne.  Wollte  er  das  Evangelium  der  Antike  ver- 
nichten  in  der  Uberzeugung,  dafi  nicht  wahrhaft  groB,  nicht 
rein  und  heilig  gewesen  sein  konne,  wer  der  Offenbarung 
entbehrte  und  den  Damonen  noch  geopfert  hat,  so  mufite 
er  Zug  um  Zug  all  das  Herrliche  vernichten,  was  Plato  im 
Phadon  und  sonst  von  dem  sterbenden  Sokrates  berichtet 
hatte.  Lange  ist  er  selbst  vor  dieser  furchtbaren  Aufgabe 
zuriickgeschreckt ;  erst  in  einem  seiner  letzten  Werke  hat 


44  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  n. 

er  sie  vollzogen.  Die  grofle  Untersuchung  iiber  das  Wesen 
und  die  Unsterblichkeit  der  Seele,  die  wissenschaftlich  be- 
deutendste  Arbeit,  die  wir  aus  seiner  Feder  besitzen,  notigte 
ihn,  sich  mit  Sokrates  anseinanderzusetzen.  Wer  iiber  dieses 
Thema  sclirieb,  muBte  zu  Plato's  Phadon  Stellung  nehmen, 
das  war  selbstverstandlich;  aber  Tertullian  muflte  das  erst 
recht,  da  er  im  Grunde  dasselbe  iiber  die  Unsterblichkeit 
der  Seele  zu  sagen  hatte,  was  der  sterbende  Sokrates  ge- 
lehrt.  Wie  wird  er  ihn  also  ins  Unrecht  setzen  konnen? 
Horen  wir  seine  Ausfiihrungen ;  mit  Bedacht  sind  sie  bereits 
im  Prologe  entwickelt,  eroffnen  also  das  Werk: 

wlm  Kerker  des  Sokrates  wurde  iiber  den  Zustand  der 
Seele  verhandelt.  Wenn  auch  auf  den  Ort  nichts  ankommt, 
so  ist  mir  dock  allem  zuvor  zweifelhaft,  ob  die  Zeit  fur  den, 
der  hier  Belehrungen  erteilt  hat,  eine  gelegene  war.  Denn 
was  sollte  wohl  die  Seele  des  Sokrates  in  jenem  Augenblick 
noch  mit  Evidenz  erkannt  haben,  da  das  heilige  Schifflein 
schon  vom  Lande  abgestofien,  der  Schierlingsbecher  bereits 
getrunken  und  die  Seele,  wenn  es  nach  der  Ordnung  der 
Natur  ging,  durch  die  Nahe  des  Todes  notwendig  in  eine 
gewisse  Erregung  versetzt  war?  Wie  heiter  und  ruhig  sie 
auch  gewesen  sein  mag,  wie  wenig  sie  sich  auch  unter  die 
weichen  Grefuhle  der  Natur  beugen  liefl,  sie  war  doch  in 
Unruhe  durch  die  Anstrengung,  nicht  unruhig  zu  werden, 
sie  war  in  ihrer  Standhaftigkeit  erschiittert  durch  die  krampf- 
hafte  Niederzwingung  der  Schwache.  Weiter,  wofiir  wird 
ein  zu  Unrecht  Verurteilter  sonst  noch  Sinn  haben  als 
Trostgriinde  aufzusuchen  in  Bezug  auf  die  Unbill?  Zumal 
der  Philosoph,  dieses  vom  Ruhm  lebende  Greschopf!  So 
gratulierte  sich  denn  Sokrates  selbst  zu  seinem  Tode,  weil 
es  besser  sei,  ungerecht  als  gerecht  verurteilt  zu  werden, 
und,  urn  seinen  Anklagern  ihren  Triumph  zu  rauben,  de- 
monstrierte  er  die  Unsterblichkeit  der  Seele.  Also  stammte 
die  ganze  damalige  Weisheit  des  Sokrates  aus  den  An- 


Sokrates  tmd  die  alte  Kirche.  45 

strengungen  eines  tendenziosen  Gleichmuts,  nicht  aus  der 
Zuversicht  der  erlebten  Wahrheit.  Denn  wer  kann  die 
Wahrheit  inne  werden  ohne  Gott?  wer  Gott  erkennen  ohne 
Chris tus?  wer  Christum  linden  ohne  den  heiligen  Geist? 
Naher  liegt  es  gewifl,  bei  Sokrates  einen  ganz  anderen  Geist 
anzunehmen;  denn  man  sagt  ja,  dafi  ihn  von  Kindheit  an 
ein  Damon  begleitet  habe.  Indes,  wenn  selbst  dieser  So 
krates,  den  der  pythische  Damon  als  den  Weisesten  be- 
zeichnet,  die  Unsterblichkeit  der  Seele  bezeugt  hat,  um  wie 
viel  mehr  Gewicht  hat  das  Zeugnis  der  christlichen  Weis- 
heit,  bei  deren  Anhauch  die  ganze  Macht  der  Damonen 
zuruckweicht!  Sie  ist  die  Weisheit  aus  der  Sphule  des 
Him m els;  sie  leugnet  kiihn  die  Gotter  dieser  Welt;  sie 
erweist  sich  nicht  als  zweideutig  durch  den  Befehl,  dem 
Askulap  einen  Hahn  zu  opfern;  sie  fiihrt  keine  neuen 
Damonen  ein;  sie  verfuhrt  die  Jugend  nicht,  sondern  lehrt 
sie  alles,  was  keusch  und  ziichtig  ist.  "Weil  sie  so  ist, 
darum  hat  sie  die  ungerechte  Verurteilung  nicht  blofl  von 
seiten  einer  Stadt,  sondern  des  ganzen  Erdkreises  fur  die 
Wahrheit  zu  ertragen,  fur  die  Wahrheit,  die  um  so  ver- 
hafiter  ist,  je  vollkommener  sie  erscheint.  Sie  schlurft  auch 
nicht  den  Tod  in  heiterem  Feierkleid  aus  einem  Becher, 
sondern  muC  ihn  nebst  alien  Erfindungen  der  Grausamkeit 
am  Kreuz  und  auf  dem  Scheiterhaufen  durchkosten,  und 
sie  stellt  in  dem  viel  finstereren  Kerker  dieser  Welt  ihre 
Untersuchungen  iiber  die  Seele  mit  ihren  Phadonen  nach 
den  Anweisungen  Gottes  an.  Der  wahre  Lehrmeister  der 
Seele  ist  ihr  Schopfer.  Von  ihm  allein  sollst  du  lernen, 
und  wenn  nicht  von  ihm,  dann  von  keinem  anderen;  denn 
wer  kann  enthiillen,  was  er  bedeckt  hat?  Dort  soil  man 
fragen,  wo  man,  auch  ohne  Antwort  zu  erhalten,  am 
sichersten  geht.  Es  ist  besser,  etwas  durch  Gott  nicht  zu 
wissen,  weil  er  es  nicht  geoffenbart  hat,  als  durch  einen 
Menschen  zu  wissen,  weil  er  iiber  wertlose  Mutmafiungen 
doch  nicht  hinauskommt. " 


4(5  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  EC. 

,,Wehe,  wehe,  du  hast  sie  zerstort,  die  schone  Welt" 
so  mufl  man  ausrufen.  Und  mit  welchen  Mitteln  zer 
stort!  "Wie  kreuzt  sich  in  diesen  Ausfiihrungen  die  Uber- 
zeugung  von  der  unerreichten  Hohe  des  Evangeliums  mit 
abscheulicher  Sophistik!  Hat  Tertullian  selbst  an  diese 
pfaffischen  Ausfiihrungen  geglaubt,  war  es  ihm  Ernst  mit 
dieser  Kritik  des  sterbenden  Sokrates?  Ja  und  nein!  Ernst 
•war  es  ihm  mit  seiner  Theorie,  mit  dem  Glauben,  dafi 
die  "Wahrheit  ausschliefilich  in  der  biblischen  Offenbarung 
zu  finden  sei;  aber  er  hat  wider  sein  Wissen  und  sein  Gre- 
wissen  gezeugt,  wenn  er  dieser  Theorie  zuliebe  die  Tat- 
sachen  beugte  und  den  Sokrates  in  den  Staub  zog.  Lafit 
sich  doch  unschwer  bemerken,  dafi  bei  Tertullian  hinter  der 
ungerechten  Verurteilung  noch  immer  eine  scheue  An- 
erkennung  unuberwindlich  ruht.  Der  Mann,  der  einst  das 
herrliche  Biichlein  ,5De  testimonio  animae  naturaliter 
Christianae"  geschrieben  hat,  vermochte  es  doch  nicht  iiber 
sich  zu  bringen,  dem  Sokrates  zum  zweitenmal  den  Schier- 
lingsbecher  zu  reichen.  Ein  Funke  griechischer  Auffassung 
lebte  auch  noch  in  ihm,  jener  Uberzeugung  von  der  Ein- 
heit  der  geistigen  und  der  religiosen  Funktion.  Aber  — 
wenn  bereits  Sokrates  fur  die  Wahrheit  gestorben  war,  was 
blieb  for  Jesus  Christus  iibrig?  Mit  E-echt  empfand  Ter 
tullian,  dafi  hier  etwas  viel  Hoheres  in  die  Greschichte  ein- 
getreten  sei,  aber  er  vermochte  dieser  Empfindung  nur  auf 
Kosten  des  Sokrates  Ausdruck  zu  geben. 

Doch  —  den  letzten  Schritt  hat  erst  Augustin  getan, 
und  zwar  durch  seine  furchtbare  Theorie,  dafi  alle  Tugen- 
den  der  Heiden  nur  glanzende  Laster  gewesen  seien.  Erst 
diese  Lehre  tauchte  alles  in  dunkle  ISTacht,  was  das  Alter- 
tum  Erhabenes  und  Qrofies  hervorgebracht  hat.  Aber  — 
wie  so  oft  in  der  Greschichte  —  eben  wenn  eine  einseitige 
Betrachtung  bis  zur  letzten  Spitze  durchgefuhrt  ist,  stellt 
sich  der  Umschlag  und  der  Fortschritt  in  der  Methode  der 
Erkenntnis  ein.  Man  kann  die  augustinische  Theorie  auch 


Sokrates  und  die  alte  Kirche.  47 

als  den  Anfang  der  Einsiclit  fassen,  dafi  Religion  etwas 
Anderes  ist  als  ein  Wissen,  dafi  griechische  Philosophie  und 
Christentum  zwei  spezinsch  verschiedene  Grofien  sind,  dafi 
daher  jede  fur  sich  zu  betrachten  und  nach  verschiedenen 
Mafistaben  zu  wiirdigen  ist.  Das  ist  der  voile  Gregensatz 
zu  der  Meinung  der  griechischen  Apologeten,  beide  gehorten 
einfach  zusammen  und  die  eine  liefie  sich  aus  der  anderen 
deuten  und  erklaren.  Wohl  gibt  es  eine  letzte  Betrachtung, 
nach  welcher  diese  Auffassung  ein  Recht  hat,  aber  zunachst 
bildete  sie  ein  starkes  Hemmnis  fur  das  Verstandnis  beider 
Grrofien.  Der,  welcher  sie  auseinander  gerissen  hat,  hat 
damit,  ohne  es  zu  wissen  und  zu  wollen,  der  Erkenntnis 
einen  Dienst  geleistet.  Auf  dem  abendlandischen  Boden, 
nicht  auf  dem  griechischen,  ist,  freilich  erst  nach  Gtaneratio- 
nen,  die  zutreffendere  Erkenntnis  des  Christentums  und 
auch  des  Sokrates  erwachsen,  und  heute  wissen  wir  besser, 
als  es  irgend  jemand  im  zweiten  Jahrhundert  gewufit  hat, 
was  sie  trennt  und  was  sie  verbindet.  Wir  nehmen  Christus 
nicht  mehr  fur  die  Philosophie  in  Anspruch  und  Sokrates 
nicht  mehr  fur  das  Christentum;  wir  erkennen,  dafi  an  die 
Hohe  des  Evangeliums  nichts  heranreicht;  aber  doch  be- 
zeugen  wir  mit  Justin,  dafi  auch  in  Sokrates  der  Logos 
gewaltet  hat. 

Ich  bin  am  Schlusse,  aber  ein  Doppeltes  mochte  ich 
Ihnen,  meine  Herren  Kommilitonen ,  noch  ans  Herz  legen: 
erstlich,  was  Sie  auch  studieren  mogen,  vernachlassigen  Sie 
die  Greschichte  nicht,  die  grofie  Greschichte  und  die  Ihrer 
Wissenschaft.  Glauben  Sie  nicht,  dafi  Sie  Erkenntnisse 
einsammeln  konnen,  ohne  sich  mit  den  Personlichkeiten 
innerlich  zu  beriihren,  denen  man  sie  verdankt,  und  ohne 
den  Weg  zu  kennen,  auf  dem  sie  gefunden  worden  sind. 
Keine  hohere  wissenschaftliche  Erkenntnis  ist  eine  blofie 
Tatsache;  eine  jede  ist  einmal  erlebt  worden,  und  an  dem 
Erlebnis  haftet  ihr  Bildungswert.  Wer  sich  damit  be- 


48  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  n. 

gniigt,  nur  die  Resultate  sich  anzueignen,  gleicht  dem 
Gartner,  der  seinen  Garten  mit  abgesehnittenen  Blumen 
bepflanzt.  Sodann  aber  —  erkennen  Sie  an  der  G-eschichte 
des  Sokrates,  was  den  wahrhaft  groJBen  Mann  macht  nnd 
was  von  ihm  bleibt.  Nur  der  Teil  seiner  Philosophie  ist 
geblieben,  den  er  durch  die  Tat  besiegelt  hat,  alles  andere 
ist  vergessen.  Auch  an  Sie  stellt  die  Wissenschaft,  zu  der 
Sie  berufen  sind,  nicht  nur  die  Anforderung  zu  forschen 
und  zu  lernen,  sondern  lebendige  Zeugen  des  Wahren  und 
Ghiten  zu  werden,  Manner,  die  da  bereit  sind,  um  dieser 
Giiter  willen  jedes  Opfer  zu  bringen.  Der  Dienst  der 
Wahrheit  ist  Gottesdienst,  und  in  diesem  Sinne  sollen  Sie 
ihn  treiben. 


ADOLF  HARNACK  •  REDEN  UND  AUFSATZE 
ERSTER  BAND  •  ERSTE  ABTEILUNG 


REDEN:  III 
AUGUSTINS  KONFESSIONEN 


Vortrag 

erschienen  in  3.  Aufl.  1903  bei  Alfred  Tdpelmann  (vormals  J.  Eicker'sche 
Verlagsbuchhandlung)  in  Griessen. 


In  der  Zeit  vom  Tode  Konstantins  bis  zur  Pliinderung 
Roms  durch  die  Vandalen  (c.  340 — 450)  ist  das  geistige 
Kapital  zusammengebracht  worden,  in  welchem  sich  die 
Uberlieferung  des  Altertums  an  das  Mittelalter  darstellt. 

Mag  man  auf  die  Religion  und  Theologie,  auf  die 
Wissenschaft  und  Politik,  mag  man  auf  die  leitenden  Ideen 
der  mittelalterlichen  Menschen  iiberhaupt  blicken  —  iiberall 
gewahrt  man  die  vollkommene  Abhangigkeit  von  den  Er- 
kenntnissen,  welche  in  jenem  Jahrhundert  der  Volkerwande- 
rung  von  den  Kirchenvatern  zusammengestellt  worden  sind. 

Diese  Erkenntnisse  selbst  tragen  freilich  nicht  den 
Stempel  frischer  Produktion;  sie  sind  vielmehr  lediglich 
eine  Auswahl  aus  einer  ungleich  reicheren  Fulle  von  Ideen 
und  lebendigen  Kraften. 

Nachdem  die  Kirche  im  Reiche  Konstantins  zum  Siege 
gekommen,  suchten  ihre  Fiihrer  sich  des  allgemeinen  gei- 
stigen  Lebens  zu  bemachtigen  und  alles  der  Herrschafb  der 
Kirche  und  ihres  Qeistes  zu  unterwerfen.  Die  grofie  Auf- 
gabe,  langst  schon  in  Angriff  genommen,  das  Christentum 
mit  dem  Reiche  und  der  antiken  Kultur  zu  verschmelzen, 
wurde  mit  erstaunlicher  Schnelligkeit  zu  Ende  gefiihrt. 
Jetzt  erst  wurde  der  Bund  zwischen  der  christlichen  Reli 
gion  und  der  antiken  Philosophic  festgeschlossen.  GHinstige 
Bedingungen  ermoglichten  noch  einmal  einen  regen  Aus- 
tausch  zwischen  Abendland  und  Morgenland,  zwischen  Ro- 
mischem  und  Griechischem.  Die  lateinische  Kirche  wurde 
mit  dem  Kapitale  griechischer  Wissenschaffc  ausgestattet, 

unmittelbar  bevor  die  grofie  Scheidung  zwischen  dem  Osten 

4* 


52  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  III. 

und  Westen  eintrat.  Es  1st,  als  ob  man  das  drohende  Ver- 
hangnis,  die  hereinbrechende  Naeht  der  Barbarei,  geahnt 
hatte.  In  Eile  wurde  der  feste  Ban  der  Kirche  fertig  ge- 
zimmert.  In  die  Dogmatik  zog  man  hinein,  was  man  aus 
der  griechischen  Philosophic  brauchen  zu  konnen  meinte; 
alles  ubrige  wurde  als  gefahrlich  oder  als  haretisch  zuriick- 
gestellt  und  so  allmahlich  beseitigt.  Die  Verfassung  der 
Kirche  erganzte  man  aus  den  erprobten  Formen  der  Reichs- 
verfassung;  in  der  kirchlichen  Rechtsbildung  folgte  man 
dem  romischen  Recht.  Die  Grottesdienstordnung  wurde 
revidiert  und  weiter  ausgefuhrt:  was  an  den  alten  heid- 
nischen  Mysterien  imponierend  und  ekrwiirdig  erschien,  hatte 
man  schon  langst  nachgeakmt ;  nun  wurde  alles  noch  prunk- 
voller.  Es  bildete  sich.  jenes  feierliche  Greprange,  die  wunder- 
bare  Vereinigung  ernabener  G-edanken  mit  zeremoniosen 
Formen,  welche  den  katholischen  Grottesdienst  noch.  heute 
so  eindrucksvoll  macht.  Auch  die  Kunst  wurde  nicht  ver- 
gessen:  wenige,  aber  hochst  bedeutende  und  bildungsfahige 
Motive  wurden  der  Uberlieferung  entnommen  und  mit  dem 
Schimmer  des  Heiligen  iiberkleidet.  Selbst  der  literarische 
Bildungsstoff,  die  Unterhaltungslektiire,  wurde  fur  die  kom- 
menden  Jahrhunderte  zubereitet.  Die  alten  heidnischen 
Fabeln,  Heroengeschichten  und  ISTovellen  wurden  gesichtet 
und  in  christliche  Heiligengeschichten  umgewandelt.  Uber- 
all  wurde  hier  das  asketische  Ideal  der  Kirche  zugrunde  ge- 
legt.  Aber  der  Kontrast  zu  dem  bunten  und  siindigen  Leben, 
in  welchem  man  dieses  Ideal  erproben  liefi,  gab  den  alten 
Geschichten  in  der  neuen  Form  einen  besonderen  Reiz. 

So  machte  man  alles,  was  man  der  Antike  entnahm, 
j.christlich".  Es  erhielt  durch  die  Verbindung  mit  dem 
Heiligen  die  Gewahr  der  Dauer.  Der  Rest  der  alten  Kultur, 
auf  diese  "Weise  der  Kirche  einverleibt,  war  nun  fahig,  den 
kommenden  Stiirmen  zu  trotzen  und  kommenden  Nationen 
zu  dienen. 

Allein  es  war  wirklich  nur  ein  Rest,  eine  diirftige  Aus- 


Augustins  Konfessionen.  53 

wahl  aus  dem  Bestande  einer  untergehenden  Welt,  durch 
die  Autoritat  des  Heiligen  geschiitzt,  zwar  nicht  ohne  innere 
Einheit,  aber  zunachst  ohne  Triebkraft  und  fortschreitende 
Bewegung. 

Das  Abendland  1st  im  Mittelalter  niehr  als  sieben  Jahr- 
hunderte  lang  —  von  dem  Urwiiehsigen  abgesehen,  was  die 
Germanen  hinzubrachten  —  auf  diesen  Besitz  beschrankt 
geblieben;  aber  daneben  hatte  es  dock  einen  Schatz  von 
unvergleichlicher  Fulle,  einen  Mann,  der  am  Schlufi  der 
alten  Zeit  gelebt  und  sein  Leben  iiber  die  folgenden  Jahr- 
hunderte  ausgeschuttet  hat  —  Angus  tin. 

Zwischen  Paulus,  dem  Apostel,  und  Luther,  dem  Re- 
formator,  hat  die  christliche  Kirche  niemanden  besessen, 
der  sich  mit  Augustin  messen  konnte,  und  an  umfassender 
Wirkung  kommt  ihm  kein  anderer  gleich.  Wenn  wir  mit 
Recht  im  Mittelalter  und  heute  noch  den  Geist  des  Abend- 
lands  von  dem  Q-eist  des  Morgenlands  unterscheiden  und 
an  jenem  Leben  und  Bewegung,  die  Spannungen  machtiger 
Kraffce,  wertvolle  Probleme  und  grofle  Ziele  bemerken,  so 
verdankt  die  Kirche  des  Abendlandes  diese  ihre  Eigenart 
nicht  zum  mindesten  dem  einen  Mann,  Augustin.  Er  ist 
mit  der  Kirche,  welcher  er  gedient  hat,  durch  die  Jahr- 
hunderte  geschritten.  Ihn  findet  man  wieder  in  den  grofien 
Theologen  des  Mittelalters  bis  zu  dem  grofiten  hin,  Thomas 
von  Aquino.  Sein  Geist  waltet  in  den  Frommen  und  in 
den  Mystikern  des  Mittelalters,  in  dem  heiligen  Bernhard 
nicht  minder  als  in  Thomas  a  Kempis.  Er  beseelt  die  kirch- 
lichen  Reformer  des  Miirtelalters,  die  Reformer  der  karolin- 
gischen  Epoche  ebenso  wie  einen  Wiclif,  Hus,  Wesel  und 
Wessel,  und  andererseits  ist  es  doch  derselbe  Mann,  der 
hochstrebenden  Papsten  das  Ideal  eines  Gottesstaates  zur 
Verwirklichung  auf  Erden  vorgezeichnet  hat. 

Doch  das  alles  mag  uns  heutzutage  ziemlich  fremd 
sein:  unsere  Kultur  ist,  sagt  man,  aus  der  Renaissance  und 
der  Reformation  geboren.  Nun  denn  —  Augustins  Geist 


54  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  HI. 

hat  liber  den  Anfangen  beider  gewaltet.  Petrarca  und  die 
groBen  Meister  der  Renaissance  haben  sich  an  Augustin  ge- 
bildet,  und  Luther  ist  ohne  ihn  nicht  zn  verstehen :  Augustin, 
der  Vater  des  romischen  Katholizismus ,  ist  zugleich  der 
einzige  Kirchenvater,  von  dem  Luther  wirklich  gelernt  hat 
und  den  die  Humanisten  wie  einen  Heros  verehrten. 

Aber  Augustin  steht  uns  noch  viel  naher.  Die  reli 
giose  Sprache,  welche  wir  sprechen,  die  uns  vertraut  ist  aus 
den  Liedern,  Gebeten  und  Erbauungsbiichern ,  tragt  den 
Stempel  seines  G-eistes.  Wir  reden,  ohne  es  zu  wissen,  noch 
mit  seinen  Worten,  und  die  tiefsten  Empfindungen  aus- 
zusprechen,  der  Dialektik  des  Herzens  Worte  zu  verleihen, 
hat  er  zuerst  gelehrt.  Ich  meine  hier  nicht,  was  man  die 
Sprache  Zions  nennt  —  auch  an  dieser  ist  er  beteiligt,  aber 
in  geringem  MaJBe.  Nein,  die  Sprache  der  schlichten  From- 
migkeit  und  des  gewaltigen  christlichen  Pathos,  und  wieder- 
um  die  Sprache  unserer  Psychologen  und  Padagogen  ist 
noch  eben  von  ihm  beeinfluBt.  Hunderte  von  groBen  Mei- 
stern  sind  uns  seitdem  geschenkt  worden;  sie  haben  unsere 
Gredanken  bestimmt,  unsere  Empfindungen  erwarmt,  unsere 
Sprache  bereichert;  aber  keiner  hat  ihn  verdrangt. 

Endlich  -  -  die  Hauptsache  —  wie  er  das  Wesen  der 
Religion  und  die  tiefsten  Probleme  des  Sittlichen  beschrieben 
hat,  darin  finden  wir  so  viel  treffende  Beobachtung  und 
Wahrheit,  daJS  wir  ihn  noch  immer  als  unseren  Lehrer  zu 
verehren  haben,  und  das  Gredachtnis  an  ihn  vermag  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  auch  heute  noch  Protestanten  und 
Katholiken  zu  einigen. 

Ich  habe  mir  nicht  die  Aufgabe  gestellt,  Ihnen  ein 
Bild  von  der  Wirksamkeit  und  dem  Einflufi  dieses  Mannes 
zu  entwerfen;  schildern  mochte  ich  ihn  vielmehr  lediglich 
nach  dem  "Werke,  in  welchem  er  sich  selbst  geschildert 
hat,  nach  seinen  Konfessionen,  dem  eigentiimlichsten  Buche 
aus  der  grofien  Anzahl  von  Schriften,  die  er  uns  hinter- 
lassen  hat. 


Augustins  Konfessionen.  55 

Augustin  hat  dieses  Werk  in  reifen  Jahren  —  er  zahlte 
damals  sechsundvierzig  —  geschrieben;  zwolf  Jahre  waren 
bereits  verflossen  seit  seiner  Tanfe  in  Mailand.  Er  war 
schon  seit  langerer  Zeit  Bischof  von  Hippo  in  Nordafrika, 
als  er  sich  getrieben  fuhlte,  in  der  Form  einer  Beichte  vor 
Grott,  sich  und  der  Welt  Rechenschaft  zu  geben  von  seinem 
Leben  bis  zu  seiner  Taufe,  damit,  wie  er  sagt,  ,,Grott  ge- 
priesen  wiirde".  ,,Er  hat  uns  geschaffen,  wir  aber  hatten 
uns  zugrunde  gerichtet;  der  uns  aber  geschaffen,  hat  uns 
auch  neu  geschaffen."  nlch  erzahle  es  dem  Menschenge- 
schlecht,  ein  wie  unbedeutender  Teil  desselben  meine  Sclirift 
auch  lesen  wird,  damit  ich  und  jeder,  der  dieses  liest,  daran 
denke,  aus  wie  grofier  Tiefe  man  zu  Grott  rufen  miisse." 
Am  Ende  seines  Lebens,  dreifiig  Jahre  spater,  hat  er  auf 
dieses  Werk  zuriickgeblickt.  Er  nennt  es  dasjenige  seiner 
Biicher,  welches  am  liebsten  und  am  meisten  gelesen  werde. 
Er  tadelt  selbst  einige  Ausfuhrungen  in  ihm;  aber  als 
Ganzes  hat  er  es  auch  angesichts  des  Todes  als  ein  Zeug- 
nis  der  Wahrheit  bezeichnet.  Es  sollte  eben  nicht  Dichtung 
und  Wahrheit  enthalten,  sondern  offen  und  ohne  Hehl 
wollte  er  in  dem  Buche  zeigen,  wie  er  gewesen. 

Die  Bedeutung  der  Konfessionen  ist  ebenso  groB  nach 
seiten  der  Form,  wie  nach  seiten  des  Inhalts.  Vor  allem 
sind  sie  eine  literarische  Tat  gewesen.  Kein  Dichter,  kein 
Philosoph  hat  vor  ihm  das  unternommen,  was  er  hier  ge- 
leistet  hat,  und,  darf  ich  gleich  hinzufugen,  fast  ein  Jahr- 
tausend  muCte  vergehen,  bis  wieder  ahnliches  geleistet 
worden  ist.  Erst  die  Poeten  der  Renaissance,  die  sich  an 
ihm  gebildet,  haben  an  ihm  den  Mut  gewonnen,  sich  selbst 
zu  schildern  und  ihr  Ich  der  Welt  zu  bieten.  Denn  was 
enthalten  die  Konfessionen  Augustins?  ein  Seelengemalde, 
nicht  psychologische  Abhandlungen  uber  Verstand,  Wille 
und  G-efuhl  im  Menschen,  nicht  abstrakte  Untersuchungen 
iiber  die  Seele,  nicht  obernachlich.es  Rasonnement  und  mora- 
lisierende  Selbstbespiegelung  wie  die  Tagebuchblatter  Marc 


56  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  Id. 

Aurels,  sondern  die  genaueste  Schilderung  eines  bestimmten 
Menschen,  eines  Individuums  in  seiner  Entwickelung  von 
der  Kindheit  bis  zum  Mannesalter  in  alien  seinen  Trieben, 
Grefiihlen,  Zielen  und  Irrungen,  ein  Seelengemalde,  mit  einer 
ausbiindigen  Kunst  der  Beobachtung  gezeichnet,  welche 
die  gewohnlichen  Hiilsen  und  Schablonen  der  Psychologie 
beiseite  lafit  und  der  Methode  des  Physiologen  und  Arztes 
fblgt. 

Die  Beobachtung  ist  die  Starke  Augustins.  Weil  er  be 
obachtet,  darum  interessiert  inn  alles,  was  die  ziinffcigen 
Philosophen  beiseite  gelassen.  Er  schildert  das  Kind  in 
der  Wiege,  die  Unarten  des  Sauglings,  und  er  reflektiert 
iiber  die  ,,kmdliche  Unschuld".  Er  beobachtet  die  Anfange 
des  Sprechens,  und  zeigt,  wie  die  Sprache  sich  langsam  aus 
dem  Nachahmungstriebe  bildet.  Er  stent  bei  den  Spielen 
der  Kinder  und  sieht  in  dem  Kind  den  Erwachsenen ,  in 
dem  Erwachsenen  das  Kind.  Er  hort  voll  Teilnahme  die 
ersten  Seufzer  des  Knaben,  der  lernen  mufi.  Er  begleitet 
ihn,  wie  er  hinaustritt  in  die  Schule  und  damit  hinein- 
gestofien  wird  in  den  Strom  der  menschlichen  Gresellscliaft. 
Er  beobachtet  die  herrschende  Erziehungsmethode,  wie  sie 
auf  Furcht  und  Ehrgeiz  ruht.  Er  bemitleidet  die  Jugend 
der  toten  und  unwahren  Stoffe  wegen,  die  sie  lernen  muiL 
Er  meint,  dafi  man  nur  lernen  soil,  was  wahr  ist,  und  dafi 
Grammatik  besser  sei  als  Mythologie,  Physik  besser  als 
luftige  Spekulation.  Dann  beobachtet  er  das  geschaftige 
Treiben  der  Erwachsenen:  ndie  Possen  der  Kinder  nennt 
man  bei  Erwachsenen  Greschafte".  Er  beurteilt  die  Gresell- 
schaft;  er  findet,  dafi  ein  jeder  in  ihr  nach  GHitern  strebt 
und  dafi  Bosheit  fur  niemanden  ein  Zweck  ist;  aber  er 
findet  andererseits ,  dafi  der,  welcher  sein  Herz  nicht  auf 
das  Ghite  richtet,  von  Stufe  zu  Stufe  zu  nichtigeren  GHitern 
hinabsinkt,  und  dafi  man  einen  um  so  grofieren  "Widerwillen 
gegen  das  Grute  und  Heilige  empfindet,  je  langer  man  es 
entbehrt.  Er  beobachtet  den  Reiz  und  die  Ansteckungs- 


Augustins  Konfessionen.  57 

kraft  des  gesellschaftlichen  Bosen:  ,,0  Freundschaft,  arger 
als  die  groflte  Feindschaft,  unergriindliche  Seelenverfiihrung! 
Blofl  well  es  heiflt:  ,Komm,  tun  wir  dies'  —  und  man 
schamt  sich,  nicht  unverschamt  zu  sein."  Er  deckt  die 
Abhangigkeit  des  Einzelnen  von  dem  Urteil  der  anderen 
au£:  jeder  glaubt  zu  schieben  und  wird  nur  immer  tiefer 
hinabgestofien.  Er  faflt  den  Einzelnen  iiberhaupt  nicht  als 
ein  freies,  sein  selbst  machtiges  Individuum,  sondern  als  ein 
Grlied  in  einer  ungeheuren  Verkettung:  wir  tragen  die  Kette 
unserer  Sterblichkeit  und  sind  an  die  Gresellschaft  gekettet. 
Er  beobachtet  den  vergniigten  Bettler  und  sinnt  fiber  ihn 
nach;  er  gibt  eine  kostliche  Schilderung  von  dem  Ansehen 
und  der  Hohlheit  eines  beruhmten  Lehrers.  Er  schildert  die 
Professoren  und  die  Studenten,  den  geschaftigen,  tandeln- 
den  und  reizvollen  Verkehr  zwischen  befreundeten  Berufs- 
genossen;  nirgendwo  entgeht  ihm  das  Charakteristische. 
Aber  iiber  das  Alles:  er  beobachtet  die  geheimsten  Re- 
gungen  seines  eigenen  Herzens;  er  folgt  dem  zarten  Weben 
und  dem  machtigen  Wogen  seiner  Gefuhle.  Er  kennt 
alle  Ausniichte  und  Schleichwege,  auf  welchen  der  Mensch 
seinem  Grott  und  seiner  hochsten  Bestimmung  zu  entniehen 
strebt. 

Uberschlagt  man,  was  und  wie  damals  sonst  geschrieben 
worden  ist,  so  wird  man  von  staunender  Bewunderung  er- 
griffen  angesichts  dieser  Dichtung  der  Wahrheit,  dieser 
literarischen  Tat,  die  nicht  ihresgleichen  hat.  Wohl  haben 
Anregungen  nicht  gefehlt.  In  der  Schule  der  Neuplatoniker 
hatte  Augustin  gelernt,  die  oden  Steppen  aristotelischer 
und  stoischer  Psychologie  zu  fliehen  und  auf  Gemut  und 
Charakter,  Trieb  und  Willen  zu  achten.  Dazu  —  ein 
grofier  Lehrer,  sein  Lehrer,  Ambrosius  von  Mailand,  hatte 
ihn  in  eine  neue  Welt  der  Empfindung  und  Beobachtung 
eingefuhrt.  Aber  seine  Konfessionen  sind  doch  ganz  sein 
Eigentum.  Kein  Vorganger  bedroht  die  Originalitat  dieses 
Unternehmens.  Wohl  hat  man  gesagt,  dafi  dem  Werke 


58  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Keden:  III. 

ein  pathologischer  Zug  anhafte:  er  habe  in  dem  tranen- 
feuchten  Buche  sein  Herz  zur  Schaubiihne  gemacht.  Es 
ist  richtig,  dafi  er  in  manchen  Ausfuhrungen  uns  iiberspannt 
und  ungesund,  sogar  unwahr  erscheint;  allein  bedenkt  man, 
daB  er  im  Zeitalter  eines  tiefgesunkenen  Greschmacks  und 
einer  verlogenen  Rhetorik  geschrieben  hat,  so  darf  man 
sich  billig  dariiber  wundern,  dafl  er  sich  so  machtig  iiber 
die  Unsitten  der  Zeit  erhoben  hat. 

Wie  das  Unternehmen  Augustins  neu  gewesen  ist,  so 
war  auch  die  Ausfuhrung  und  die  Sprache  neu.  Nicht  nur 
die  Kraft  seiner  Beobachtung  ist  bewunderungswiirdig, 
sondern  ebensosehr  die  Kraft  seiner  Darstellung.  In  der 
Sprache  der  Konfessionen  tritt  uns  eine  unerschopflich 
reiche  Individuality  entgegen,  welche  zugleich  den  mach- 
tigen  Trieb  und  die  Fahigkeit  besitzt,  das  zu  sagen,  was 
sie  empfindet.  Groethe  lafit  seinen  Tasso  das  schmerzliche 
und  stolze  "Wort  sprechen:  ,,Und  wenn  der  Mensch  in  seiner 
Qual  verstummt,  gab  mir  ein  Grott  zu  sagen,  wie  ich  leide." 
Das  gilt  auch  von  Augustin.  Aber  nicht  nur  von  seinem 
Leiden  vermochte  er  zu  sprechen,  sondern  ihm  war  es  ge- 
geben,  jeder  Bewegung  seines  Herzens  in  Worten  zu  folgen 
und  vor  allem  dem  frommen  Gemiite,  dem  Verkehre  mit 
Grott,  Sprache  zu  verleihen.  Von  der  Macht  der  Siinde 
und  der  Seligkeit  des  Herzens,  welches  Grott  anhangt,  hat 
er  so  reden  konnen,  dafi  auch  heute  noch  jedes  zarte  Gre- 
miit  diese  Sprache  verstehen  mufi.  So  haben  vor  ihm  nur 
die  Sanger  der  Psalmen  und  Paulus  geredet;  bei  ihnen  ist 
Augustin,  der  Schiller  der  Rhetoren,  in  die  Schule  ge- 
gangen.  So  ist  die  Sprache  der  Konfessionen  entstanden. 
Es  ist  nicht  schwer,  sie  in  ihre  Bestandteile  zu  zerlegen, 
das  biblische  und  das  rhetorisch-antike  Element  in  ihr  zu 
unterscheiden,  auch  manches  Gresuchte  und  Altertiimelnde 
-  frostige  Wortspiele  und  Redekiinsteleien  —  im  einzelnen 
nachzuweisen.  Allein  das,  was  uns  jetzt  fremd,  hie  und 
da  sogar  peinlich  beriihrt,  wird  reichlich  aufgewogen  durch 


Angustins  Konfessionen.  59 

die  hochsten  Vorziige.  Bewundernswert  1st  vor  allem  die 
Benutzung  von  Spriichen  und  Begriffen  der  heiligen  Schrift. 
Durch  den  Zusammenhang  ,  in  die  er  sie  zu  stellen  weiB, 
verleiht  er  dem  unscheinbarsten  "Wort  etwas  Frappierendes 
oder  Erschiitterndes.  In  der  groflen  schriftstellerisclien 
Kunst,  einem  allgemein  bekannten  Spruch  die  wirksamste 
Fassung  zu  geben,  hat  ihn  kein  anderer  erreicht.  Wunder- 
bar  ist  auch  sein  Vermogen  in  kurzen  Sentenzen  und  Anti- 
thesen,  in  pragnanten  Satzen  und  neuen  Begriffsbildungen 
die  Erscheinungen  des  Lebens  und  die  Ratsel  der  Seele 
zusammenzufassen.  Vieles  ist  aus  den  Konfessionen  in  die 
Sprache  der  abendlandischen  Volker  iibergegangen.  Vieles 
brauchen  wir  oder  finden  es  bei  unseren  grofien  Dichtern, 
z.  B.  bei  Lessing  und  G-oethe,  wieder,  ohne  des  Urhebers 
zu  gedenken.  ^Die  stummen  Schwatzer",  7,die  siegreiclie 
Geschwatzigkeit",  wdie  betrogenen  Betriiger",  wdie  ver- 
fiihrten  Verfuhrer",  ,,der  hoffnungsvolle  junge  Mann",  7,die 
Kette  unserer  Sterblichkeit",  wdie  reiche  Armut",  ^der 
schmachvolle  Ruhm",  ,,das  verhafite  Greleier",  ,,Leben 
meines  Lebens"  und  viele  ahnliche  Bildungen  sind  von 
Augustin  gepragt  worden  oder  gehen  auf  ihn  zuriick. 
Aber  wertvoller  sind  seine  psychologischen  Beschreibungen 
und  seine  Sentenzen:  ,,Das  war  mein  Leben  —  war's  ein 


Leben?"  —  «Icn  wurde  mir  selbst  eine  gro.Ce  Frage"  — 
^Ein  tiefer  Abgrund  ist  der  Mensch"  —  wDas  Wohlbefinden 
ist  das  Merkmal  unserer  geheimnisvollen  Einheit"  —  j5Ein 
jeder  hat  nur  sein  Ich"  —  ,,Jeder  ungeordnete  Q-eist  ist 
sich  selbst  zur  Strafe"  —  7,Nach  unwandelbarem  Gresetz 
folgt  auf  jede  uneiiaubte  Begierde  die  Verblendung"  — 
?,Es  handelt  niemand  gut  wider  seinen  "Willen,  mag  auch 
was  er  tut  gut  sein".  Das  sind  Einzelheiten  ;  man  konnte 
lange  mit  der  Anfuhrung  solcher  fortfahren.  Aber  viel 
grofier  ist  er  noch  in  den  zusammenhangenden  Be 
schreibungen.  Ein  Beispiel  unter  hunderten:  er  schildert 
sich,  wie  er  sich  zu  einem  kraftigen  christlichen  Leben  er- 


(5Q  Erster  Band,  erste  Abteilung.    Eeden:  III. 

heben  will,  aber  von  Weltlust  nnd  Gewohnheit  zuriick- 
gehalten  wird: 

flSo  lag  die  Last  der  Welt  sanft  auf  mir  wie  auf  einem 
Traumenden,  und  die  Gedanken,  in  denen  sich  mein  Sinnen 
Dir,  mein  Gott,  zuwandte,  glichen  dem  Bemiihen  derer, 
die  sich  ans  dem  Schlafe  erheben  wollen,  aber  von  der 
Tiefe  des  Schlummers  iiberwaltigt,  immer  wieder  zuriick- 
sinken.  Und  wenn  Du  mir  zuriefst:  Stehe  auf,  der  du 
schlafst,  so  wuflte  ich  Dir  keine  andere  Antwort  zu  geben, 
als  die  saumigen  nnd  traumenden  Worte:  Gleich,  gleich, 
lafi  mich  nur  noch  ein  wenig  traumen.  Doch  das  ,  Grleich, 
gleich'  nahm  kein  Ende,  und  das  ,Nur  noch  ein  wenig' 
zog  sich  in  die  Lange." 

Soviel  Kunst  er  auch  aufgewendet  hat  —  er  hat  die 
Einheitlichkeit  seiner  Sprache  nicht  zerstort;  sie  ist  doch 
aus  einem  Gufl,  weil  beherrscht  von  einer  geschlossenen 
Personlichkeit.  Eine  Person  tritt  uns  in  ihr  entgegen,  und 
wir  fiihlen,  dafi  diese  Person  iiberall  viel  reicher  ist  als  ihr 
Wort.  Das  ist  der  Schliissel  zum  Verstandnis  der  fort- 
dauernden  Wirksamkeit  Augustins.  Leben  entziindet  sich 
nur  an  Leben;  ein  Liebender  entflammt  den  anderen  — 
das  hat  er  selbst  gesagt,  und  wir  diirfen  es  auf  ihn  an- 
wenden.  Er  war  viel  grofier  als  seine  Schriften;  denn  er 
verstand  es,  durch  seine  Schriften  die  Menschen  in  sein 
Leben  hineinzuziehen.  Und  bei  aller  Weichheit  der  Em- 
pfindung,  dem  Schmelzen  im  Gefiihl  und  der  Lyrik  der 
Sprache  ist  doch  eine  erhabene  Ruhe  liber  das  ganze  Werk 
ausgebreitet.  Das  Motto  des  Buches:  ^Du,  Herr,  hast  uns 
auf  Dich  hin  geschaffen,  und  unser  Herz  ist  unruhig,  bis 
es  E,uhe  findet  in  Dir",  ist  auch  das  Siegel  des  Buches 
und  der  Grundton  in  seiner  Sprache.  Keine  Angst  und 
keine  Bitterkeit  stort  mehr  den  Leser,  ob gleich  es  eine 
Geschichte  der  Not  und  inneren  Sorge  ist,  die  es  schildert. 
rDie  Furcht  ist  das  Bose",  sagt  Augustin  einmal;  er  aber 
redet  mit  dem  groUen  Gott  wie  mit  einem  Freunde  ohne 


Augustins  Konfessionen.  (Jl 

Furcht.  Problematisch.es  an  dem  Laufe  der  Welt,  an  dem 
Menschen,  an  sich  selber  erblickt  er  noch  iiberall;  aber  die 
Probleme  bedriicken  ihn  nicht  mekr;  denn  er  vertraut,  dafl 
Qott  in  seiner  Weisheit  alles  geordnet  hat.  Wolken  des 
Schmerzes  und  der  Tranen  umgeben  ihn  noch;  aber  seine 
Grrundstimmung  ist  frei.  So  darf  man  den  Eindruck, 
welchen  das  Buch  hinterlafit,  mit  dem  Eindruck  vergleichen, 
den  wir  erhalten,  wenn  nach  einem  dunklen  Regentage 
die  Sonne  zuletzt  noch  siegt  und  ein  milder  Strahl  das  be- 
feuchtete  Land  verklart. 

Aber  die  wunderbare  Form  nnd  der  Zauber  der  Sprache 
des  Buches  sind  doch  nicht  das  wichtigste.  Der  Inhalt  ist 
es,  die  Greschichte,  die  es  uns  erzahlt.  Auf  auflere  Tatsachen 
gesehen  ist  das  Buch  allerdings  arm.  Es  schildert  das  Leben 
eines  Gelehrten,  der  unter  Verhaltnissen,  wie  sie  fur  jene 
Zeit  normal  waren,  aufgewachsen  ist,  der  mit  widrigem  Gre- 
schick  und  auCerer  Not  nicht  zu  kampfen  gehabt  hat,  der 
die  mannigfaltige  Weisheit  seiner  Zeit  aufnimmt,  einen 
offentlichen  Beruf  ergreift,  um  schliefilich  skeptisch  und 
unbefriedigt  sich  einem  heiligen  Leben  der  Entsagung,  der 
theologischen  Wissenschaft  und  —  der  festen  Autoritat  der 
Kirche  hinzugeben.  Das  war  ein  Entwicklungsgang,  wie 
ihn  nicht  wenige  Zeitgenossen  Augustins  durchgemacht 
haben.  Frommigkeit  und  ernster  wissenschaftlicher  Sinn 
fanden  damals  iiberhaupt  keinen  anderen  Ausweg.  Durch 
diese  Auffassung  der  Greschichte  Augustins  ist  ein  weitver- 
breitetes  Vorurteil  beseitigt,  an  dem  er  selbst  freilich  nicht 
ganz  unschuldig  ist.  In  weiten  Kreisen  herrscht  die  Vor- 
stellung,  die  Konfessionen  schilderten  uns  einen  verlorenen 
Sohn,  einen  Mann,  der  nach  einem  wilden,  ausschweifenden 
Leben  plotzlich  in  sich  geht  und  Bufie  tut,  oder  sie  zeich- 
neten  uns  das  Bild  eines  Heiden,  der  nach  einem  Laster- 
leben  plotzlich  von  der  Wahrheit  der  christlichen  Religion 
ergriffen  wird.  Nichts  ist  unrichtiger  als  diese  Vorstellung. 
Die  Konfessionen  schildern  uns  vielmehr  einen  Mann,  der 


62  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  III. 

von  Jugend  auf  von  einer  treuen  Mutter  christlich  d.  h. 
katholisch  erzogen  1st,  der  aber  zugleich  von  Jugend  auf 
dureh  seinen  Vater  und  durch  den  Bildungsgang,  in  den 
er  hineingestellt  1st,  die  Richtung  auf  die  hochsten  welt- 
lichen  Ziele  empfangen  hat.  Sie  schildern  uns  einen  Mann, 
dem  sich  der  Name  Christi  von  Kind  auf  unausloschlich 
eingepragt  hat,  der  aber,  sobald  er  zu  selbstandigem  Denken 
erwacht  ist,  stets  von  dem  Motive  beseelt  gewesen  ist,  die 
Wahrheit  zu  suchen.  Er  wird  in  diesem  Streben,  wie  wir 
Alle,  niedergehalten,  durch  Ehrgeiz,  Weltsinn  und  Sinnlich- 
keit;  aber  er  kampft  unablassig  wider  sie  an;  er  gewinnt 
endlich  den  Sieg  iiber  sich  selber,  aber  er  bringt  zugleich 
dabei  sein  freies  Streben  der  Autoritat  der  Kirche  zum 
Opfer,  weil  er  in  der  Verkiindigung  dieser  Kirche  die  Kraft 
erfahren  hat,  mit  der  Welt  zu  brechen  und  G-ott  anzuhangen. 
In  seinem  auBeren  Leben  stellt  sich  das  als  ein  Bruch  mit 
seiner  Vergangenheit  dar,  und  so  hat  er  es  selbst  geschil- 
dert:  er  sieht  nur  einen  Kontrast  zwischen  dem  Einst  und 
dem  Jetzt.  Aber  in  seinem  inneren  Leben  erscheint  uns 
trotz  seiner  eigenen  Darstellung  alles  in  verstandlicher  Ent- 
wickelung.  "Wir  verstehen  aber  auch,  dafi  er  selbst  nicht 
anders  fiber  sich  urteilen  konnte;  denn  niemand,  der  von 
innerer  Unruhe  zur  R/uhe,  von  der  Knechtschaft  der  Welt 
zur  Freiheit  in  G-ott  und  zur  Herrschaft  iiber  sich  selbst 
gelangt  ist,  wird  riickwarts  schauend  die  Pfade,  die  er  ge- 
wandelt,  den  Weg  der  Wahrheit  nennen  konnen.  Aber  die 
Mit-  und  Nachwelt  darf  anders  urteilen,  und  in  diesem  Fall 
ist  es  ihr  besonders  leicht  gemacht;  denn  der  Mann,  der 
hier  zu  uns  spricht,  mufi  in  seinem  Buche  wider  seinen 
Willen  Zeugnis  da  von  ablegen,  dafi  er  vor  seiner  Bekehrung 
unablassig  nach  Wahrheit  und  nach  sittlicher  Kraft  gestrebt 
hat,  und  andererseits  zeigen  die  zahlreichen  Schriften,  die 
er  unmittelbar  nach  dem  Bruche  geschrieben  hat,  dafi  dieser 
keineswegs  so  vollkommen  war,  wie  ihn  die  Konfessionen 
darstellen.  Sie  sind  zwolf  Jahre  nach  dem  grofien  Um- 


Augustins  Konfessionen.  63 

schwung  geschrieben.  Vieles  von  dem,  was  erst  wahrend 
dieser  Zeit  in  Augustin  zur  Reife  gekommen  1st,  hat  er 
unbewuflt  in  den  Moment  des  Umschwungs  versetzt.  Da- 
mals  war  er  noch  kein  kirchlicher  Theologe,  vielmehr  lebte 
er  trotz  der  Entschlossenheit,  sich  der  Kirche  zu  unter- 
werfen,  noch  ganz  und  gar  in  den  philosophischen  Pro- 
blemen.  Der  grofie  Bruch  bezog  sich  lediglich  auf  den 
aufieren  Beruf  und  auf  die  geschlechtliche  Entsagung,  nicht 
auf  den  bisherigen  Kreis  seiner  Interessen.  So  ist  es  nicht 
schwer,  Augustin  aus  Augustin  zu  widerlegen  und  zu 
zeigen,  dafi  er  in  den  Konfessionen  sehr  vieles  antizipiert 
hat.  Aber  im  letzten  Grrunde  hatte  er  ein  Recht  dazu; 
denn  sein  Leben  hatte  wirklich  nur  zwei  Perioden  —  die 
eine,  die  er  mit  den  Worten  schildert:  j,In  der  Zerstreuung 
zerfiel  ich  stiickweise  und  verlor  mich  selbst  in  das  Viele"r 
und  die  andere,  in  welcher  er  Kraft  und  Einheit  seines 
Wesens  in  G-ott  gefunden  hat. 

Die  Schilderung  jener  ersten  Periode  liegt  in  seinen 
Konfessionen  vor.  Man  hat  sie  vielfach  mit  den  Konfes- 
sions  Rousseaus  und  mit  Hamanns  Bekenntnissen  ver- 
glichen;  allein  diese  sind  anderer  Art.  Ich  wufite  die  Kon 
fessionen  trotz  der  durchgreifendsten  Verschiedenheiten 
doch  mit  keinem  anderen  Werke  zusammenzustellen  als 
mit  G-oethes  Faust.  In  den  Konfessionen  tritt  uns  ein 
lebendiger  Faust  entgegen,  der  freilich  einen  anderen  Aus- 
gang  nimmt  als  der  Faust  der  Dichtung.  Aber  beide  sind 
doch  in  vieler  Hinsicht  wahlverwandt.  Alle  die  schmerz- 
lichen  Bekenntnisse  aus  den  ersten  Szenen  des  Faust  von 
dem  ,,Habe  nun  —  ach  —  Philosophic"  an  bis  zu  dem 
Entschlufi  des  Selbstmordes :  nJa  kehre  nur  der  holden 
Erdensonne  entschlossen  deinen  Riicken  zu"  —  man  findet 
sie  in  den  Konfessionen  wieder.  Herzbewegend  ruft 
Augustin  immer  wieder  aus:  ,,0  Wahrheit,  Wahrheit,  wie 
innig  seufzt  das  Mark  meiner  Seele  nach  dir."  Wie  oft 
klagt  er,  dafi  er  trotz  des  ,,Durchaus  Studierens  mit  heifiem 


64  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  III. 

Bemuhen"  nicht  kliiger  geworden  sei  als  wie  zuvor.  Wie 
oft  bemitleidet  er  seine  Schiller,  dafi  er,  ein  trunkener 
Lehrer,  ilinen  den  Wein  des  Irrtums  gereicht  habe.  Wie 
schmerzlich  kommt  auch  uber  seine  Lippen  das  Bekenntnis: 
wUnd  sehe,  dafi  wir  nichts  wissen  konnen,  das  will  mir 
sehier  das  Herz  verbrennen."  wEs  mochte  kein  Hnnd  so 
langer  leben",  sagt  Faust,  und  Augustin  beneidet  mit  dem 
grimmigsten  Neide  einen  verlumpten,  aber  frohlichen  Bettler. 
Auch  er  ergibt  sich  der  Magie,  wob  ihun  durch  Geistes  Ejraffc 
nnd  Mund  nicht  manch'  G-eheimnis  wiirde  kund",  nnd  anch 
in  seiner  Seele  steigt  verlockend  die  dunkle  Frage  anf: 
^Wie,  wenn  der  Tod  mit  der  Empfindung  zugleich.  alle 
Sorgen  besehnitte  und  hinwegnehme?" 

Aber  selbst  der  Ausgang,  den  Goethe  seiner  Dichtung 
gegeben,  die  Art  der  Befreiung,  ist  nicht  ganz  ohne  Grleich- 
nis.  Faust  wird  durch  die  himmlische  Liebe  erlost: 

Steigt  hinan  zu  hOhrem  Kreise, 
Wachset  immer  unvermerkt, 
Wie  nach  ewig  reiner  Weise 
Gottes  Gegenwart  verstarkt! 
Denn  das  ist  der  Geister  Nahrung, 
Die  im  freisten  Ather  waltet, 
Ewgen  Liebens  Offenbarung, 
Die  zur  Seligkeit  entfaltet. 

Und: 

Wie  strack  mit  eignem  kraftgen  Triebe 
Der  Stamm  sich  in  die  Liifte  tragt, 
So  ist  es  die  allmacht'ge  Liebe, 
Die  alles  bildet,  alles  hegt. 

Das  ist  ganz  im  Sinne  Augustins,  und  auf  augusti- 
nischer  Anschauung  ruht  iiberhaupt  letztlich  der  Gedanken- 
inhalt  der  wunderbaren  SchluBszene  des  zweiten  Teils  des 
Faust,  obgleich  sich  Goethe  dessen  nicht  bewufit  gewesen 
ist;  denn  Goethe  hat  Augustin  selbst  schwerlich  gekannt, 
sondern  beriihrte  sich  mit  ihm  nur  durch  Vennittelungeru 
DaB  in  dieser  Welt  der  Irrung  und  des  Scheins  die  Liebe, 


Augustins  Konfessionen.  65 

die  gottliche  Liebe,  allein  Kraft  und  Wahrheit  1st,  daB  sie 
allein,  indem  sie  bindet,  befreit  und  beseligt  —  das  ist  der 
positive  Grundgedanke  der  Konfessionen  und  der  meisten 
Schriften,  die  Augustin  spater  geschrieben  hat.  Die  Q-e- 
rechtigkeit,  die  vor  Grott  gilt,  ist  die  Liebe,  mit  der  uns 
G-ott  erfullt,  und  darum  ist  die  anfangende  Liebe  (Ge- 
rechtigkeit)  die  anfangende  Seligkeit,  die  wachsende  Liebe 
die  wachsende  Seligkeit,  die  vollendete  Liebe  die  vollendete 
Seligkeit.  Das  ist  die  Erkenntnis,  zu  welcher  der  ringende 
Philosoph  gelangt  ist,  nachdem  er  sonst  nirgends  Ruhe 
und  Frieden  gefunden  hat. 

Dennoch  liegt  eine  gewaltige  Klufb  zwischen  dem  Faust 
der  Dichtung  und  diesem  wahrhaftigen  Faust.  Jener  steht 
in  all  seinen  Kampfen  mit  festem  Fufi  auf  dieser  Erde. 
Der  Q-ott,  der  iTin  dem  Teufel  zeitweilig  iiberlassen,  ist  nicht 
das  Q-ut,  um  dessen  Besitz  er  ringt;  der  innere  Kampf  mit 
der  eigenen  Not  und  Siinde  ist  kaum  angedeutet.  Fiir 
Augustin  dagegen  ist  der  Kampf  um  die  "Wahrheit  der 
Kampf  um  ein  uberweltlich.es  Ghit,  um  das  Heilige  und  Ghite 
—  der  Kampf  um  G-ott.  Darum  hat  auch  der  Schlufi  des 
Faust  etwas  Befremdliches ;  man  ist  auf  diese  "Wendung 
keineswegs  gefafit.  Bed  Augustin  ergibt  sich  der  Schlufi 
mit  einer  inneren  Notwendigkeit.  Seine  Irrwege  erweisen 
sich  wirklich  als  der  Weg,  auf  dem  er  gerade  zu  diesem 
Ziele,  zu  der  Beseligung  durch  die  gottliche  Liebe,  gefohrt 
worden  ist. 

Lassen  Sie  mich  diese  Wege  mit  einigen  Strichen  zeich- 
nen.  Sie  sind  auch  deshalb  interessant,  weil  sie  fiir  die 
Zeit  Augustins  typisch  sind.  Mit  alien  groflen  geistigen 
Machten  des  Zeitalters  ist  er  in  die  innigste  Verbindung  ge- 
treten.  Sein  Ich  war  wirklich  erweitert  zum  Ich  der  da- 
maligen  Welt,  und  darum  zeigt  uns  sein  individueller  Ent- 
wickelungsgang,  wie  jene  Welt  damals  allmahlich  aus  dem 
Heidentum  und  der  Philosophie  zur  katholischen  Kirche 
iibergegangen  ist. 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    I.  5 


QQ  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  in. 

Zu  Thagaste,  einer  Landstadt  Nordafrikas ,  geboren 
zeigte  Augustin  als  Knabe  nicht  glanzende,  aber  gute  An- 
lagen.  Nachdem  er  in  der  Schule  seiner  Vaterstadt  und  zu 
Madaura  gebildet  war,  brachte  sein  Vater  miihsam  die  Mittel 
auf,  um  ihn  in  Karthago  studieren  zu  lassen.  Der  Vater 
war  ein  biirgerlich  rechtschaifener,  aber  schwacher  und  in 
seinem  Privatleben  nicht  vorwurfsfreier  Mann,  der  fur  den 
Sohn  kein  hoheres  Ziel  kannte,  als  eine  glanzende  Laufbahn. 
Er  war  noch  Heide,  aber  die  Mutter  Augustins  war  Christin. 
Dieses  Verhaltnis  war  in  der  Mitte  des  4.  Jahrhunderts 
haufig:  die  Frauen  verbreiteten  in  der  Familie  das  Christen- 
tum.  Seiner  Mutter  hat  Augustin  in  den  Konfessionen,  aber 
auch  sonst  in  seinen  Schriften,  ein  schones  Denkmal  gesetzt. 
Er  erzahlt,  wie  sie  ihn  beten  gelehrt  habe,  und  mit  Leiden- 
schaft  ergriff  das  Kind  die  miitterlichen  Lehren:  oft  habe 
ich  G-ott  innig  gebeten,  dafi  ich  in  der  Schule  keine  Schlage 
bekomme.  Er  erinnert  sich  noch  als  Mann,  wie  er  als  fieber- 
kranker  Knabe  sturmisch  die  Taufe  begehrt  habe,  und  Eines 
1st  ihm  von  der  Kinderzeit  her  unausloschlich  auf  alien 
seinen  "Wegen  geblieben  —  die  Verehrung  Christi.  Immer 
wieder  berichtet  er  in  den  Konfessionen,  dafi  ihn  alle  Weis- 
heit  von  vornherein  unbefriedigt  gelassen  habe,  die  nicht 
mit  dem  Namen  Christi  irgendwie  verkniipft  war.  So  sind 
die  Jugenderinnerungen  dem  Manne  von  hochster  Bedeu- 
tung  geworden.  Faust  sagt: 

Sonst  stiirzte  sich  der  Himmelsliebe  KuO 

Auf  mich  herab  in  ernster  Sabbathstille ; 

Da  klang  so  ahnungsvoll  des  G-lockentones  Flille, 

Und  ein  Gebet  war  briinstiger  GenuB. 

Wie  oft,  wie  wunderbar  variiert  klingt  derselbe  Q-edanke 
in  Augustins  Konfessionen  wieder! 

Bis  zum  siebzehnten  Jahre  iiberwogen  Phantasie  und 
jugendliche  Lust  in  dem  Knaben.  Er  hatte  anfangs  wenig 
Geschmack  am  Lernen,  obgleich  er  alles  mit  Leichtigkeit 
iiberwand;  er  hatte  nur  Lust  zu  Spiel  und  Scherzen  mit 


Augustins  Konfessionen.  67 

den  Freunden.  Friihzeitig  geriet  er  auch  zum  Rummer  der 
Mutter  in  die  Siinden  der  Jugend,  die  weder  der  Vater 
noch  die  Q-esellschaft  als  Siinden  beurteilte.  Da,  in  Kar- 
thago,  fiel  ihm  eine  Schrift  Ciceros,  der  Hortensius,  in  die 
Hand,  und  von  diesem  Moment  rechnet  er  selbst  den  An- 
fang  eines  neuen  hoheren  Strebens.  Wir  besitzen  diese 
Schrift  Ciceros  nicht  mehr,  aber  wir  konnen  uns  den 
Greist  derselben  nach  den  ubrigen  Werken  des  Mannes 
deutlich  machen.  Ein  hoher  sittlicher  Schwung,  ein  ernstes 
Interesse  an  der  Wahrheitserkenntnis ,  aber  auf  unsicherer 
Grundlage,  mehr  anregend  als  festigend,  wohl  geeignet, 
ein  jugendliches  G-emut  von  dem  hohlen  und  wilden  studen- 
tischen  Treiben  zur  Einkehr  und  zur  Betrachtung  der  hoch- 
sten  Fragen  zu  bewegen.  Das  leistete  das  Buch  dem 
Augustin  wirklich;  er  trennte  sich  nun  von  den  guten 
Kameraden,  um  mit  aller  Hingebung  die  Wahrheit  zu  er- 
forschen.  Allein  von  seiner  sinnlichen  Lust  trennte  inn 
das  Buch  nicht,  und  bald  sah  er  sich  einer  Belehrung  ent- 
wachsen,  die  seinen  Verstand  nicht  befriedigte,  sein  religi- 
oses  Gremut  leer  liefl  und  ihrn  die  Kraft  der  Selbstbe- 
herrschung  nicht  verlieh.  Er  hatte  Cicero,  den  Philosophen 
und  Moralisten,  kennen  gelernt  und  war  nicht  besser  ge- 
worden  als  wie  zuvor.  Aber  was  Cicero  ihm  geleistet,  den 
tlbergang  aus  einem  nichtigen  und  tandelnden  Leben  zu 
ernster  Selbstpriifung  und  zur  Erforschung  der  Wahrheit, 
das  haben  Moralisten  wie  Cicero  der  damaligen  Welt  iiber- 
haupt  geleistet.  Augustin  ist  doch  von  Cicero  viel  starker 
und  viel  dauernder  abhangig  geblieben,  als  er  dies  in  den 
Konfessionen  wahr  haben  will.  Die  fruhesten  Schriften, 
die  er  als  katholischer  Christ  geschrieben,  beweisen  es. 

Er  wandte  sich  nun  dem  Manichaismus  zu.  Die  ma- 
nichaische  Weisheit  iibte  damals  auf  tiefere  Gemiiter  eine 
grofie  Anziehung  aus.  Wer  einen  Eindruck  von  dem  In- 
halt  der  heiligen  Schriften  gewonnen  hatte,  aber  doch  die 
kirchliche  Erklarung  derselben  fur  unrichtig  hielt  und 

5* 


(53  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  III. 

namentlicli  iiber  die  Anstofie  nicht  Mnwegkommen  konnte, 
welche  das  alte  Testament  hot,  wer  in  der  freien  Forschung 
nicht  bevornmndet  sein  wollte,  wer  zu  erkennen  suchte, 
was  die  "Welt  im  Innersten  zusammenhalt,  wer  aus  den 
physikalischen  Elementen  auch  den  Bau  der  geistigen  Welt 
und  das  Problem  des  Bosen  zu  begreifen  strebte,  der  wurde 
damals  Manichaer.  Dazu  hatte  sich  diese  Sekte  teils  aus 
Not,  teils  aus  innerem  Triebe  mit  Greheimnissen  umgeben, 
wie  unsere  Freimaurer,  und  sie  bildete  zugleich  in  der  G-e- 
sellschaft  einen  festen  geheimen  Ring.  Endlich  trugen 
ihre  Mitglieder  einen  ernsten  Lebenswandel  zur  Schau,  und 
indem  man  stufenweise  zu  immer  engeren  und  hoheren 
Kreisen  aufstieg,  sah  man  sich  am  Ziele  in  einer  Gresell- 
schaft  von  HeiHgen  und  Erlosern.  In  diese  G-emeinschaft 
trat  Augustin  ein  und  hat  ihr  neun  Jahre  (bis  zu  seinem 
28.  Lebensjahr)  angehort.  Dafi  sie  Christus  eine  hohe  Stelle 
anwies,  dabei  aber  doch  eine  verniinftige  Losung  der  Welt- 
ratsel  ihren  Jiingern  zusicherte,  zog  Augustin  zu  ihr  hin. 
Heifihungrig  sturzte  er  sich  auf  diese  geistige  Nahrung. 
Die  Ansicht,  dafi  das  Bose  wie  das  Grute  physikalische  Po- 
tenzen  seien,  dafi  der  Kampf  in  der  Menschenbrust  nur 
die  Fortsetzung  des  grofien  Kampfes  zwischen  Licht  und 
Finsternis,  Sonne  und  Nebel  in  der  Natur  sei,  erschien  ihm 
tief  und  befriedigend.  Statt  seichter  moralischer  Lehren 
trat  ihm  hier  eine  tiefsinnige  Metaphysik  entgegen.  Allein 
schon  nach  Verlauf  weniger  Jahre  —  er  hatte  unterdessen 
ein  Lehramt  in  Karthago  angetreten  —  wurde  er  skeptisch. 
Zuerst  erwies  sich  ihm  die  astrologische  Weisheit,  mit  der 
er  es  auch  versucht  hatte,  als  Schwindel.  Dann  war  es 
das  Studium  des  Aristo teles,  welches  ihn  in  Bezug  auf  die 
manichaische  Physik  erniichterte.  Sein  klarer  Verstand 
fing  an  einzusehen,  dafi  die  ganze  manichaische  "Weisheit 
auf  physikalischer  Mythologie  beruhe.  Die  angeborene 
Richtung  seines  Qeistes  auf  das  Empirische  und  Eeale  ge- 
wann  den  Sieg,  nachdem  ihr  Aristoteles,  der  grofie  Natur- 


Augustins  Konfessionen.  69 

forscher  und  Logiker  des  Altertums,  zu  Hilfe  gekommen 
war.  Er  hat  den  Augustin,  wie  viele  vor  ihm  und  nach 
ihm,  zu  niichternem  Denken  zuruckgefuhrt.  Die  manicha- 
ischen  Fabeln  offenbarten  sich  ihm  nun  als  die  schlimmsten 
Fabeln,  weil  ihnen  schlechterdings  nichts  in  der  Welt  des 
Wirkliehen  entspricht.  Er  aber  suchte  nach  dem  Wirk- 
lichen  und  hielt  vor  seinen  Bundesbriidern  mit  seinen  auf- 
steigenden  Zweifeln  nicht  zuriick.  Damals  lebte  in  Rom 
ein  hochberuhmter  manichaischer  Lehrer,  Faustus.  Mit 
ihm  vertrosteten  ihn  die  Freunde,  wenn  sie  die  Zweifel- 
fragen,  die  er  ihnen  vorhielt,  nicht  zu  losen  vermochten: 
^Faustus  wird  sie  losen;  Faustus  wird  kommen  und  alles 
erklaren"  —  so  hiefl  es.  Und  Augustin  liefl  sich  lange 
vertrosten.  Endlich  kam  Faustus  wirklich.  Es  ist  der 
einzige  Abschnitt  in  den  Konfessionen,  uber  dem  ein  Hauch 
von  Humor  liegt,  die  Schilderung  des  hochgepriesenen 
Faustus,  des  vollkommenen  Salonprofessors,  der  aber  doch 
ehrlich  genug  war,  schliefilich  unter  vier  Augen  die  eigene 
Unwissenheit  einzugestehen.  Seitdem  war  Augustin  mit 
dem  Manichaismus  innerlich  fertig. 

Aber  was  nun?  Aristoteles  war  wohl  ein  Befreier, 
aber  kein  Lehrer  in  den  Fragen,  auf  die  Augustin  Ant- 
wort  suchte.  Jetzt  naherte  er  sich  wieder  der  Kirche. 
Aber  sie  verbot  die  freie  Forschung;  sie  hielt  die  Fabeln 
des  alten  Testaments  aufrecht;  sie  lehrte,  wie  Augustin 
meinte,  einen  Qott  mit  Augen  und  Ohren  und  machte  ihn 
zum  Schopfer  des  Bosen.  Sie  konnte  unmoglich  die  Wahr- 
heit  besitzen.  Also  gibt  es  iiberhaupt  keine  Wahrheit; 
man  mufi  an  allem  zweifeln.  Diese  Stimmung  beherrschte 
jetzt  seine  Seele,  und  er  nahrte  sie  durch  Lektiire  der 
Schriften  skeptischer  Philosophen.  Er  suchte  nach  einer 
fertigen  Wahrheit  und  wollte  doch  den  rastlosen  Trieb  nach 
Wahrheit  nicht  ersticken.  Kein  Wunder,  dafi  er  in  den 
Skeptizismus  geriet;  er  fuhlte  sich  im  tiefsten  arm  und 
haltlos.  Dazu  kam,  dafi  er  langst  an  sich  die  Anforde- 


7Q  Erster  Band,  ersto  Abteilung.     Beden:  III. 

rungen  gestellt  hatte,  alles  Unsittliche  abzutun  und  sich 
in  voller  Selbstbeherrschung  zusammenzufassen.  Das  ge- 
lang  ilim  in  vieler  Hinsicht,  wie  er  selbst  widerwillig  be- 
zeugen  mufl:  den  gewohnlichen  Tandeleien  und  Eitelkeiten, 
den  Theatern  und  Spielen,  hatte  er  Valet  gesagt  und  war 
ein  gewissenhafter  Lehrer.  Aber  um  Ruhm  und  Ehre  bei 
den  Menschen  war  es  ihm  noch  zu  tun,  und  vor  allem  ver- 
mochte  er  sich  aus  einem  Verhaltnisse  nicht  zu  befreien, 
welches  er  selbst  bereits  als  ein  unsittliches  beurteilte,  ob- 
gleich  es  die  Sitte  der  Zeit  nicht  wider  sich  hatte.  Er 
aber  empfand  von  diesem  einen  Punkte  her  einen  tiefen 
Eifi  und  eine  Spaltung  in  seinem  "Wesen.  Er  sah  sich 
von  dem  Q-uten  und  Heiligen,  von  Grott,  entfernt;  er  sah 
sich  mit  der  Welt  und  der  Sinnlichkeit  verflochten,  die 
er  doch  fliehen  wollte,  und  —  wie  er  spater  bekennt  — 
er  wollte  sich  nicht  heilen  lassen,  weil  ihm  seine  Krank- 
heit  lieb  war.  Indessen  —  reine  sittliche  Empfindung 
und  Forciertes  lagen  schon  damals  in  ihm,  wie  in  seinen 
ernsten  Zeitgenossen,  dicht  beieinander.  Ein  heiliges  Leben 
schien  ihm  lediglich  das  Leben  vollkommenster  Entsagung 
zu  sein;  ein  solches  zu  fiihren,  dazu  fehlte  ihm  aber  noch 
die  Kraft. 

In  diesen  Noten  und  in  der  Stimmung  des  Skeptikers 
verliefi  er  Karthago,  um  in  Rom  als  Lehrer  der  Rhetorik 
zu  wirken.  Die  karthaginiensischen  Studenten  hatten  ihm 
durch  ihr  ungebundenes  Wesen  die  Heimat  verleidet.  Aber 
auch  in  Rom  machte  er  mit  seinen  Zuhorern  schlimme 
Erfahrungen,  und  so  nahm  er  schon  nach  wenigen  Monaten 
eine  6'ffentliche  Professur  in  Mailand  an.  Die  Manichaer, 
mit  denen  er  noch  immer  Beziehungen  unterhielt,  da  ,,sich 
ja  doch  nichts  Besseres  bisher  gefunden  hatte",  hatten  ihm 
durch  ihre  Empfehlungen  bei  dem  einflufireichen  Symmachus 
die  Anstellung  verschafft. 

Hier  in  Mailand  nun  hat  sich  der  Umschwung  lang- 
sam,  aber  in  wunderbar  durchsichtiger  Weise  und  in  dra- 


Augustins  Konfessionen.  71 

matischer  Folgericlitigkeit  vollzogen.  Dafi  man  nur  durch 
ernste  unablassige  Arbeit  an  sich  selber  ein  festes  Ver- 
haltnis  zu  den  hochsten  Fragen  gewinnen  konne,  wurde 
Augustin  immer  klarer,  und  dafi  der  Mensch  sittliche  Kraft 
gewinnt,  wenn  er  sich.  einer  ihn  iiberragenden  Personlich- 
keit  frei  hingibt,  das  durfte  er  erfahren.  In  Mailand  trat 
der  Bischof  Ambrosius  Augustin  entgegen.  Bisher  war 
ihm  noch  kein  katholischer  Christ  begegnet,  der  ihm  im- 
poniert  hatte,  jetzt  lernte  er  einen  solchen  kennen.  War 
es  auch  zuerst  die  giitige  G-esinnung  und  die  aufierordent- 
liche  Rednergabe  des  Ajnbrosius,  die  ihn  fesselten,  so  zog 
ihn  doch  bald  auch  der  Inhalt  der  Predigten  des  Bischofs 
an.  Er  selbst  sagt  in  den  Konfessionen,  dafi  der  hochste 
Dienst,  den  Ambrosius  ihm  geleistet,  die  Wegraumung  der 
Anstofie,  die  das  alte  Testament  bot,  gewesen  sei.  Grewifi 
hat  die  griechische  Kunst  der  Exegese,  welche  Ambrosius 
iibte,  eine  starke  Anziehung  auf  Augustin  wie  auf  alle 
Gebildeten  der  Zeit  ausgeiibt.  Allein  das  Imponierendste 
an  Ambrosius  war  die  Personlichkeit,  die  hinter  dem  Wort 
stand.  Augustin  brach  jetzt  auch  aufierlich  mit  dem  Mani- 
chaismus.  Wenn  irgendwo  die  Wahrheit  ist,  so  ist  sie  bei 
der  Kirche:  dieses  Eingestandnis  notigte  ihin  die  Autori- 
tat  des  groCen  Bischofs  ab.  Das  Bild  Christi,  welches  ihm 
zuerst  die  Mutter  gezeigt,  stieg  wieder  vor  seiner  Seele  auf, 
und  er  liefl  es  nicht  mehr. 

Aber  Ambrosius  hatte  keine  Zeit,  sich  um  den  Zweifler, 
der  doch  gerne  geglaubt  hatte,  zu  kummern,  und  noch 
war  ein  fundamentaler  Anstofi  der  Kirchenlehre  nicht  be- 
seitigt.  Augustin  vermochte  sich  nicht  zu  denken,  dafi  es 
ein  wirksames  geistiges  Wesen  geben  konne  ohne  materielle 
G-rundlage.  Der  geistige  G-ottesbegriff  und  die  idealistische 
Weltanschauung  schienen  ihm  unbeweisbar,  unmoglich.  Aber 
indem  er  hier  vergeblich  nach  Grewifiheit  rang,  war  die 
Verzweiflung  dariiber,  dafi  er  noch  immer  nicht  von  Welt 
und  Sinnlichkeit  loskommen  und  sich  selbst  beherrschen 


72  Erster  Band,  erste  Abteilung.    Reden:  III. 

konnte,  viel  grofier.  Furcht  vor  dem  Richter  nnd  Todes- 
furclit  lagen  iiber  seiner  Seele.  Er  lechzte  nach  einer 
Kraft;  schon  hatte  er  alles  for  sie  hingegeben,  Ehre  und 
Beruf,  ja  selbst  das  Opfer  des  Verstandes  gebracht.  Aber 
dem  Schlafenden  gleich,  der  sich  aufzurichten  strebt,  sank 
er  immer  wieder  zuriick.  Die  verschiedensten  Entschliisse 
kreuzten  sick  in  seiner  Seele;  mit  gleichgestimmten  Freun- 
den  und  Schiilern  wiegt  er  sich  in  den  Plan,  sich  aus  der 
"Welt  zuriickzuziehen  und  in  der  Stille  gemeinsam  der 
eigenen  Ausbildung  und  der  Erforschung  der  Wahrheit  zu 
leben.  Aber  noch  war  es  ein  unkraftiger  Entschlufi;  noch 
verhinderten  Weib  und  Beruf  die  Ausfiihrung.  Im  Grande 
suchte  er  in  seinen  theoretischen  und  praktischen  Zweifeln 
bereits  nur  Eines,  den  Verkehr  mit  dem  lebendigen  Q-ott, 
der  von  der  Siinde  befreit;  aber  er  erschien  ihm  nicht  und 
er  fand  ihn  nicht. 

Da  kam  ihni  von  unerwarteter  Seite  Hilfe.  Er  las 
Schriffcen  aus  der  Schule  der  Neuplatoniker.  In  dem  Neu- 
platonismus  hat  die  griechische  Philosophie  ihr  letztes  Wort 
gesprochen  und  ihr  Testament  gemacht.  Einem  Sterbenden 
gleich,  der  sich  mit  den  Dingen  dieser  Welt  nur  noch  not- 
gedrungen  befafit,  hat  sie  alle  ihre  Q-edanken  auf  das 
Hochste  und  Heilige,  auf  Gott,  gerichtet.  Alles  Erhabene 
und  Edle,  was  sie  im  Laufe  einer  langen  Arbeit  erworben, 
hat  sie  zusammengefafit  in  ein  kuhnes  idealistisches  System 
und  in  eine  Anweisung  zum  sehgen  Leben.  Im  Neuplato- 
nismus  lehrte  die  griechische  Philosophie,  dafi  man  der 
Autoritat  der  Offenbarung  folgen  miisse,  und  daH  es  nur 
eine  B/ealitat  gebe,  Q-ott,  nur  eine  Aufgabe,  zu  ihtn  aufzu- 
steigen;  sie  lehrte,  dafi  das  Bose  nichts  anderes  sei  als  die 
Entfernung  von  Gott,  dafi  die  sinnliche  Welt  nur  Schein 
und  Gleichnis  sei,  dafi  man  zu  Gott  nur  gelangen  konne 
durch  Selbstzucht  und  Enthaltung,  durch  aufsteigende  Be- 
trachtung  von  niederen  zu  immer  hoheren  Spharen,  schliefi- 
lich  durch  einen  unbeschreiblichen  Exzefi,  die  Ekstase,  in 


Augustins  ELonfessionen.  73 

welcher   Q-ott   selbst   die  Seele   erfafit  und  ihr   sein  Licht 
lenchten  laflt: 

Alles  Vergangliclie  1st  nur  ein  Gleichnis, 
Das  Unzulangliche,  hier  wird's  Ereignis, 
Das  Unbeschreibliclie,  hier  ist's  getan. 

Diese  Schluflworte  des  Faust  sind  echt  neuplatonisch. 
Die  neuplatonisclie  Philosophic  hatte  mehr  und  mehr  die 
helle  Wissenschaft  abgedankt;  sie  hatte  sich  der  Offen- 
barung  in  die  Arme  geworfen,  um  die  Menschen  iiber  sich 
selber  zu  erheben.  Sie,  die  letzte  Hervorbringung  des  stolzen 
griechischen  G-eistes,  verschmahte  selbst  christliche  Schriffcen 
nicht,  um  aus  ihnen  zu  lernen.  Das  Johannesevangelium 
wurde  in  neuplatonischen  Kreisen  gelesen  und  hochgeschatzt. 
In  diese  Philosophie  vertiefte  sich  nun  Augustin;  sie  loste 
ihm  die  theoretischen  Ratsel  und  Zweifel;  sie  hat  ihn  aus 
dem  Skeptizismus  herausgefuhrt  und  fur  immer  gewonnen. 
Die  EeaHtat  geistiger  Groflen,  der  geistige  G-ottesbegriff, 
wurde  ihm  nun  zur  G-ewiGheit.  Die  scharfe  Kritik,  die 
er  sonst  an  die  theoretischen  Grundlagen  philosophischer 
Systeme  gelegt  hatte  —  hier  versagte  sie  ihm.  Der  Skep 
tizismus  hatte  sein  Auge  stumpf  gemacht  oder  vielmehr  — 
er  suchte  vor  allem  nach  einer  Anweisung  zum  seligen 
Leben  und  nach  einer  Autoritat,  die  ihm  den  lebendigen 
Gott  verbiirgte.  Was  er  suchte  trug  er  in  die  neue  Philo 
sophie  number;  denn  das  heilige  Wesen,  dem  er  sich  zu 
eigen  geben  und  dessen  Nahe  er  fuhlen  wollte,  hot  ihm  der 
Neuplatonismus  nicht  so,  wie  es  vor  seiner  Seele  stand. 
Den  Unterschied  hat  auch  er  nicht  verkannt;  aber  in  seinem 
tiefsten  G-runde  hat  er  ihn  nicht,  auch  spater  nicht,  durch- 
schaut.  Dafi  es  eine  Philosophie  gebe,  an  die  er  das  an- 
kniipfen  konnte,  was  seine  Seele  begehrte,  war  ihm  vor 
allem  wichtig.  Der  Neuplatonismus  ist  fur  ihn,  wie  fur 
viele  vor  ihm  und  nach  ihm,  der  Weg  zur  Kirche  geworden; 
durch  ihn  gewann  er  Yertrauen  zu  den  Q-rundgedanken 
der  damaligen  kirchlichen  Theologie.  Es  ist  merkwurdig, 


74  Erster  Band,  erste  Abteilung.    Eeden:  III. 

wie  rasch,  wie  unvermerkt  er  vom  Neuplatonismus  zur  An- 
erkennung  der  ganzen  heiligen  Schriffc  und  der  katholischen 
Kirchenlehre  iibergegangen  ist,  oder  vielmehr:  der  Neu- 
platonismus  erschien  ihm  einfach  als  wahr,  aber  niclit  als 
die  vollstandige  Wahrheit.  Es  fehlte  ihm  vor  allem  ein 
Moment,  die  Anerkemmng  der  Erlosung  durch  den  mensch- 
gewordenen  G-ott,  und  damit  der  rechte  Weg  zur  Wahr 
heit.  Sie  schauen,  sagt  er,  das  gelobte  Land,  wie  Moses; 
aber  sie  wissen  nicht,  wie  man  in  dasselbe  hineinkommt 
und  es  bewohnt.  Er  glaubte  es  jetzt  zu  wissen:  durch  die 
Unterwerfung  des  Verstandes  unter  Christus.  Aber  Christus 
ist  nur  dort  wo  die  Kirche  ist,  das  hatte  er  an  Ambrosius 
gelernt.  Man  muB  also  glauben,  glauben,  was  die  Kirche 
glaubt.  Augustin  lafit  uns  in  den  Konfessionen  dariiber 
nicht  im  Zweifel,  dafi  der  Entschlufl,  sich  der  Autoritat  zu 
unterwerfen,  die  Bedingung  ist  fur  den  Besitz  der  Wahrheit. 
Er  entschloB  sich;  so  wurde  er  katholischer  Christ.  Wunder- 
bar  sind  bei  diesem  innern  Ubergang  die  Ursachen  ver- 
kettet,  der  Neuplatonismus,  der  fortwirkende  Eindruck  der 
Person  Christi,  der  durch  die  Lektiire  pauKnischer  Briefe 
sich  ihm  verstarkte,  und  die  imponierende  Autoritat  der 
Kirche. 

Er  war  jetzt  katholischer  Christ  nach  Einsicht  und 
Wille;  aber  er  selbst  beschreibt  seinen  damaligen  Zustand 
mit  den  Worten:  nSo  hatte  ich  die  kostbare  Perle  gefunden, 
aber  ich  trug  noch  immer  Bedenken,  alles  zu  verkaufen, 
was  ich  besafi;  ich  hatte  Lust  an  dem  Gesetze  Q-ottes  nach 
dem  inwendigen  Menschen;  aber  ich  sah  ein  anderes  G-esetz 
in  meinen  G-Hedern."  Keine  Theorie,  keine  Lehre  konnte 
ihm  hier  helfen.  Nur  iiberwaltigende  personliche  Eindrucke 
konnten  ihn  bezwingen  und  fortreifien.  Und  diese  kamen. 
Zuerst  war  es  die  Kunde  von  einem  hochberuhmten  heid- 
nischen  Redner  in  Rom,  der  plotzlich  eine  glanzende  Lauf- 
bahn  preisgegeben  und  sich  offentlich  als  katholischer  Christ 
bekannt  hatte;  sie  erschiitterte  ihn  aufs  tiefste.  Dann  — 


Augustins  Konfessionen.  75 

wenige  Tage  darauf  —  erzahlte  ihm  ein  Landsmann,  der 
ilin  besuchte,  was  sich  jiingst  in  Trier  zugetragen  hatte. 
Ein  paar  junge  kaiserliche  Beamte  seien  in  den  Garten  an 
der  Stadtmauer  spazieren  gegangen  und  dort  auf  die  Hutte 
eines  Einsiedlers  gestofien.  In  der  Hiitte  fanden  sie  ein 
Buch,  das  Leben  des  groflen  Monchsvaters  Antonins.  Einer 
von  ihnen  begann  es  zu  lesen,  und  das  Buch  iibte  auf  sie 
einen  solchen  Zanber  aus,  dafl  sie  sofort  beschlossen,  alles 
zu  verlassen  und  es  dem  Antonius  nachzutun.  Hit 
flammender  Begeisterung  berichtete  der  Erzahler  von  diesem 
plotzlichen  Umschwung;  er  war  selbst  zugegen  gewesen 
und  hat  ihn  mitangesehen.  Er  bemerkte  es  nicht,  welchen 
Eindruck  seine  Erzahlung  auf  den  Horer  machte.  Ein 
furchtbarer  Kampf  entspann  sich  in  Augustins  Brust: 
wWohm  lassen  wir  es  mit  uns  selber  kommen?  Was  ist 
das?  Ungelehrte  stehen  auf  und  reifien  das  Himmelreich 
an  sich,  und  wir  mit  unserer  herzlosen  G-elehrsamkeit  walzen 
uns  in  Fleisch  und  Blut  herum!"  Im  Widerstreit  seiner 
G-efuhle,  seiner  selbst  nicht  mehr  machtig,  stiirzte  er  in  den 
Grarten.  Der  Gredanke  an  das,  was  er  preisgeben  sollte, 
rang  in  ihm  mit  der  Macht  eines  neuen  Lebens.  Er  brach 
zusammen  und  erwachte  erst  wieder,  als  er  im  Nachbar- 
haus  eine  Kinderstimme,  wahrscheinlich  im  Spiel,  die 
Worte  immer  wiederholen  horte:  ,,!Nimm  und  lies,  nimm 
und  lies."  Er  eilte  in  das  Haus  zuriick  und  schlug,  sich 
an  die  G-eschichte  des  Antonius  erinnernd,  die  heilige  Schrift 
auf.  Sein  Blick  fiel  auf  die  Stelle  im  Romerbrief:  „ Nicht 
in  Fressen  und  S  auf  en,  nicht  in  Kammern  und  Unzucht, 
nicht  in  Hader  und  Neid;  sondern  ziehet  an  den  Herrn 
Jesum  Christum,  und  wartet  des  Leibes,  doch  also,  dafl  er 
nicht  geil  werde."  «Ich  wollte  nicht  weiter  lesen;  es  war 
auch  nicht  notig;  denn  beim  Schlusse  dieses  Spruches  stromte 
in  mein  Herz  sofort  das  Licht  ruhiger  Sicherheit  ein  und 
alle  Finsternisse  der  Unentschlossenheit  verschwanden." 
Er  brach  in  diesem  Momente  mit  seiner  Vergangenheit;  er 


76  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  III. 

fiihlte  die  Kraft  in  sich,  die  sundige  Grewohnheit  preiszu- 
geben  und  im  Bunde  mit  seinem  Grott  ein  neues  heiliges 
Leben  zu  fiihren.  Er  gelobte  das,  und  liat  das  Grelobnis 
gehalten. 

Ein  Beweis,  dafi  es  ein  innerer  Umschwung  war,  den 
er  hier  erlebt  hat,  liegt  in  der  Tatsache,  dafi  er  zwar  fortab 
auf  Weib  und  offentlichen  Bemf  als  auf  ein  Ubel  ver- 
zichtete,  aber  keineswegs  sofort  seine  Studien  und  den 
Kreis  seiner  Interessen  anderte.  Er  zog  vielmehr  mit  den 
Freunden  nnd  der  Mutter  auf  ein  nahe  bei  Mailand  ge- 
legenes  Landgut,  um  dort  ungestort  der  Philosophie  und 
einer  gehaltvollen  Greselligkeit  zu  leben  und  seine  philo- 
sophischen  Spekulationen,  wie  er  sie  bisher  schon  betrieben, 
fortzusetzen.  Nicht  der  heilige  Antonius  wurde  sein  und 
seiner  Freunde  Vorbild,  sondern  die  G-emeinschaft  der 
Weisen,  wie  sie  Cicero,  Plotin  und  Porphyrius  als  Ideal 
vorgeschwebt  hatte.  Keine  vordringliche  Kirchendogmatik 
storte  nock  die  philosophischen  Dialoge  der  Freunde;  aber 
beherrscht  war  ihr  Gremiit  von  der  GrewiCheit  des  leben- 
digen  Qottes,  und  statt  der  Unsicherheiten  iiber  den  Aus- 
gangspunkt  und  das  Ziel  aller  Wahrheitserkenntnis  lebten 
sie  jetzt  in  der  Sicherheit,  welche  die  Offenbarung  Grottes 
in  Christo  und  die  Autoritat  der  Kirche  boten.  Die  Frage, 
ob  schon  das  Forschen  nach  Wahrheit  gliicklich  mache 
oder  erst  der  Besitz  der  "Wahrheit,  wurde  von  Augustin 
im  Kreise  der  Freunde  aufgeworfen  und  in  letzterem  Sinne 
entschieden.  Rastlos  wollte  er  weiter  forschen,  aber  die 
letzte  und  hochste  Wahrheit  suchte  er  nicht  mehr,  sondern 
war  sich  bewufit,  sie  in  der  Unterwerfung  unter  die  Autori 
tat  Grottes,  wie  die  Kirche  sie  verkiindigt,  gefunden  zu 
haben. 

Ich  habe  nach  den  Konfessionen  zu  erzahlen  versucht 
und  nur  zum  SchluG  ihre  Darstellung  aus  den  zuverlas- 
sigeren  Quellen,  den  Schriften,  die  Augustin  gleich  nach 
dem  Umschwung  geschrieben,  berichtigt.  Sie  werden  das 


Augustins  Konfessionen.  77 

Problem,  welches  dieser  Lebensgang  bietet,  wohl  empfunden 
haben.  Einerseits  eine  Entwickelung  aus  dem  Innern  heraus 
durch  unablassige  Arbeit,  ein  Aufsteigen  von  einem  ge- 
bundenen  und  zerspaltenen  Leben  zur  Freiheit  und  Kraft 
in  Gott,  andererseits  die  Entwickelung  zum  Autoritats- 
glauben,  das  Ausruhen  in  der  Autoritat  der  Kirche  und 
die  monchische  Auffassung  der  Ehe  und  des  Berufs.  Auch 
wenn  man  die  Zeitverhaltnisse  in  Anschlag  bringt,  wie 
groB  scheint  noch  immer  das  Problem,  daB  dieser  reiche 
und  rastlose  Geist  zu  personlicher  christlicher  Frommigkeit 
emporstrebt,  sie  aber  erst  erlangt,  nachdem  er  sich  der 
Autoritat  der  Kirche  unterworfen  hat! 

Beides  ist  seitdem  untrennbar  in  Augustins  Leben  und 
Denken  verbunden  gewesen.  Einerseits  kiindet  er  nun  in 
einer  neuen  Weise  —  aber  im  Sinne  der  Kirche  —  von 
Gott  und  den  gottlichen  Dingen.  Aus  der  innersten  Er- 
fahrung  heraus  zeugt  er  von  Siinde  und  Schuld,  von  Bufie 
und  Glauben,  von  Grottes  Kraft  und  Gottesliebe.  An  die 
Stelle  einer  blassen  Moral  setzt  er  die  lebendige  Frommig 
keit,  das  Leben  in  Q-ott  durch  Christus.  Zu  diesem  Leben 
ruft  er  den  Einzelnen  auf ;  er  zeigt  ihm,  wie  arm  und  elend 
er  bei  allem  Wissen  und  bei  aller  Tugend  sei,  solange  er 
von  der  Liebe  Gottes  nicht  ergriffen  ist.  Er  zeigt  ihm, 
dafi  der  natiirliche  Mensch  von  der  Selbstsucht  beherrscht 
ist,  daC  die  Selbstsucht  Unfreiheit  und  Schuld  ist,  und  dafi 
jeder  von  Natur  ein  Glied  ist  in  einer  ungeheuren  Ver- 
kettung  der  Siinde.  Er  lehrt  ihn  aber  auch,  dafi  Gott 
groBer  ist  als  unser  Herz,  daB  die  in  Christus  offenbarte 
Liebe  Gottes  machtiger  ist  als  die  Triebe  der  Natur,  und 
daB  die  Freiheit  die  selige  Notwendigkeit  des  Guten  ist. 
"Wo  nur  immer  in  dem  folgenden  Jahrtausend  und  weiter 
der  Kampf  wider  eine  mechanische  Frommigkeit,  wider 
Selbstgerechtigkeit  und  stumpfe  Moral  unternommen  wird, 
da  ist  es  sein  Geist  gewesen,  der  fortgewirkt  hat.  Allein 
andererseits  hat  es  niemand  vor  Augustin  gegeben,  der  in 


78  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Keden:  III. 

so  entschlossener  und  unverhullter  Weise  die  Christenlieit 
auf  die  Autoritat  der  Kirche  gestellt  und  die  lebendige  Au 
toritat  geheiligter  Personen,  welche  gleichartiges  Leben  er- 
zeugen,  mit  der  Autoritat  der  Institutionen  verwecliselt  hat. 

Was  sich  in  seinen  Erfahrungen  und  in  seinem  Lebens- 
gang  untrennbar  verkettet  hatte,  hat  durch  ihn  genau  so 
fortgewirkt  auf  die  Kirche:  seine  Bedeutung  fur  die  Aus- 
bildung  des  katholischen  Kirchentums  und  fur  die  Herr- 
schaft  der  Kirche  ist  nicht  geringer  als  seine  kritische  Be 
deutung  und  als  die  Kraft,  die  ihm  verliehen  war,  in- 
dividuelle  Frommigkeit  und  personliches  Christentum  zu 
erwecken. 

Die  Losung  dieses  Problems  will  ich  nicht  beriihren; 
es  mag  geniigen,  daran  zu  erinnern,  dafl  dasselbe  im  G-runde 
keineswegs  erstaunlich  ist.  Religion  und  Autoritatsglaube, 
so  verschieden  sie  sind,  sind  durch  eine  sehr  schmale 
Grenze  getrennt,  und  wo  der  Glaube  vor  allem  als  ein 
Wissen  vorgestellt  wird,  da  schwindet  diese  Grenze  vollig. 
Hier  hat  Luther  eingesetzt  und  den  Christen  auf  einen 
Grund  zu  stellen  unternommen,  auf  dem  er  die  Autoritat 
von  Institutionen  und  die  Moncherei  als  Triibungen  des 
Glaubens  betrachten  mufi. 

Aber  jede  Zeit  hat  von  Grott  ihren  Inhalt  empfangen 
und  jeder  Geist  sein  Mafi.  Seine  Schranken  sind  auch 
seine  Starke  und  die  Bedingungen  seiner  wirksamen  Kraft. 
Innerhalb  seiner  Schranken  hat  sich  Augustin  in  den  drei- 
undvierzig  Jahren,  die  er  als  katholischer  Christ  verbracht 
hat,  zu  einer  Personlichkeit  entwickelt,  deren  Hoheit  und 
Demut  uns  ergreift.  Ein  Strom  von  Wahrhaftigkeit,  Giite 
und  Wohlwollen  und  wiederum  von  lebendigen  Anschau- 
ungen  und  tiefen  Gedanken  geht  durch  seine  Schriften, 
durch  die  er  der  grofie  Lehrer  des  Abendlandes  geworden 
ist.  Wohl  ist  er  iiberboten  worden  durch  die  Reformation, 
die  er  doch  mit  hervorgerufen  hat,  und  die  Grundziige 
seiner  religiosen  Weltanschauung  haben  vor  den  Erkennt- 


Augustins  Konfessionen.  79 

nissen,  die  wir  seit  Leibniz  erworben  haben,  nicht  Stand 
halten  konnen.  Der  romische  Katholizismus  hat  seinen 
fortwirkenden  Einflufl  im  Tridentinum,  im  Kampf  gegen 
den  Jansenismus  und  im  Vaticanum  zu  ersticken  unter- 
nommen.  Aber  er  ist  doch  kein  Toter:  was  er  der  Kirche 
Christi  gewesen  ist,  wird  nicht  untergehen,  und  er  wird 
auch  der  romischen  Kirche  keine  Ruhe  lassen. 

Es  sind  zu  Ostern  des  Jahres  1887  genau  1500  Jahre 
gewesen,  seitdem  sich  Augustin  zu  Mailand  durch  die  Taufe 
in  den  Dienst  der  Kirche  gestellt  hat.  Niemand  hat  den 
Tag  gefeiert;  man  hat  dem  Lehrer  der  Kirche  auch  keine 
Denkmaler  gesetzt.  Aber  er  besitzt  das  erhabenste  Denk- 
mal:  auf  den  Blattern  der  Q-eschichte  des  Abendlandes 
von  den  Tagen  der  Volkerwanderung  an  bis  auf  unsere 
Tage  steht  unausloschlich  sein  Name  geschrieben. 


ADOLF  HARNACK  .  REDEN  UND  AUFSATZE 
ERSTER  BAND  .  ERSTE  ABTEILUNG 


REDEN:  IV 

DAS  MONCHTUM 

SEINE  IDEALE  UND  SEINE  GESCHICHTE 


Eine  kirchenkistorische  Vorlesung 

erschienen  in  6.  Aufl.  1903  bei  Alfred  Topelmann  (vorinals  J.  Kicker'sche 
Verlagsbuchhandlung)  in  Giessen. 


Die  christlichen  Konfessionen,  so  verschieden  sie  unter- 
-einander  sein  mogen,  stimmen  in  der  Grundforderung  iiber- 
ein,  dafl  sich  der  Glaube  darstellen  musse  in  einem  christ 
lichen  Leben,  dafi  das  Christentum  nur  dort  zu  seinem  Rechte 
komme,  wo  es  ein  eigentiimliches  Leben  erzeuge.  Wahrhaft 
christliches  Leben  ist  das  gemeinsame  Ideal  der  Christen- 
heit.  Aber  wie  soil  es  geartet  sein?  Hier  scheiden  sich 
die  Wege.  Dafl  es  unter  uns  verschiedene  Konfessionen 
gibt,  ist  im  letzten  Grande  bedingt  sowohl  durch  die  Ver- 
schiedenheit  des  Glaubens,  als  auch  des  Lebensideals,  welches 
der  Glaube  vorhalt.  Alle  ubrigen  Unterschiede  sind  religios 
betrachtet  unwesentliche  oder  erhalten  doch  von  hier  aus 
erst  ihr  Gewicht  und  ihre  Bedeutung.  Nicht  theologischer 
Zank  oder  priesterliche  Herrschsucht  oder  nationale  Gegen- 
satze  haben  allein  die  Spaltung  der  Kirche  herbeigefuhrt  — 
sie  waren  an  ihr  beteiligt  und  konservieren  sie  heute  noch  — , 
sondern  die  verschiedene  Beantwortung  der  Lebensfrage 
nach  dem  Ideal  des  Lebens  hat  getrennt  und  der  Trennung 
Dauer  gegeben.  Es  ist  in  den  Verhaltnissen  ganzer  Gruppen 
nicht  anders  wie  in  den  der  Einzelnen.  Nicht  theoretische 
Meinungen,  sondern  Gesinnungen  und  Willensrichtungen 
scheiden  und  vereinen. 

Fragen  wir  nun  die  romisch-  oder  die  griechisch-katho- 
lische  Kirche,  worin  besteht  das  vollkommenste  christliche 
Leben,  so  antworten  sie  beide:  in  dem  Dienste  Gottes  unter 
Yerzicht  auf  alle  Giiter  des  Lebens,  auf  Eigentum,  Ehe, 
personlichen  Willen  und  personliche  Ehre,  kurz  in  der  reli- 
_giosen  Weltflucht,  in  dem  Monchtum.  Der  wahre  Monch  ist 

6* 


g4  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

der  wahre,  vollkommenste  Christ.  Das  Monchtum  1st  also 
nicht  eine  mehr  oder  weniger  zufallige  Erscheinung  in  den 
katholischen  Kirchen  neben  anderen,  sondern,  wie  die  Kirchen 
heute  sind  und  wie  sie  schon  seit  Jahrhunderten  das  Evan- 
gelium  verstanden  haben,  ist  es  eine  in  ihrem  Wesen  be- 
griindete  Institution:  es  ist  das  christliche  Leben.  Wir 
werden  deshalb  erwarten  diirfen,  dafi  in  den  Idealen  des 
Monchtums  sich  auch  die  Ideale  der  Kirche,  in  der  Ge- 
schichte  des  Monchtums  sich  die  Geschichte  der  Kirche 
darstellen  werden. 

Aber  kann  das  Monchtum  iiberhaupt  wechselnde  Ideale, 
kann  es  eine  Geschichte  haben?  Ist  es  nicht  verurteilt,  in 
groflartiger  Einfiormigkeit  tausendfacher  Wiederholung  durch 
die  G-eschichte  zu  schreiten?  Welch'  einer  Veranderung  sind 
die  Ideale  der  Armut,  der  Ehelosigkeit,  der  entschlossenen 
Weltnucht  fahig?  "Welch1  eine  Geschichte  konnen  die  er- 
leben  oder  herbeifuhren,  welche  mit  der  Welt  auch  ihren 
wechselnden  G-estalten,  d.  h.  ihrer  G-eschichte,  den  Riicken 
gekehrt?  Ist  nicht  Weltentsagung  zugleich  Verzicht  auf 
alle  Entwickelung  und  alle  Geschichte?  Oder,  wenn  sie 
das  in  Wirklichkeit  nicht  gewesen  ist,  ist  nicht  eine  Ge 
schichte  der  Ideale  des  Monchtums  schon  ein  Protest  gegen 
den  Gedanken  des  Monchtums  iiberhaupt?  Es  scheint  so, 
und  vielleicht  scheint  es  nicht  blofi  so.  Aber  das  lehrt  die 
Geschichte  des  Abendlandes  auch  dem  fluchtigsten  Be- 
obachter:  das  Monchtum  hat  seine  Geschichte  gehabt,  nicht 
nur  eine  aufiere,  sondern  auch  eine  innere,  voll  von  ge- 
waltigsten  Veranderungen  und  gewaltigsten  Wirkungen. 
Welch'  eine  Kluft  trennt  den  schweigsamen  BuJBer  der 
Wiiste,  der  ein  Menschenleben  hindurch  in  keines  Menschen 
Auge  geblickt  hat,  von  dem  Monche,  der  einer  Welt  Befehle 
gab!  Und  dazwischen  die  Hunderte  von  Gestalten,  eigen- 
tiimlich  und  verschieden,  und  doch  Monche,  alle  begeistert 
und  beherrscht  von  der  Idee,  der  Welt  zu  entsagen.  Aber 
noch  mehr:  alle  Regungen  des  Gemiites,  die  leidenschaft- 


Das  Menchtum. 


85 


lichsten  und  die  zartesten,  kommen  uns  ans  jener  "Welt  der 
Weltentsagung  entgegen.  Kunst,  Poesie  und  Wissenschaffc 
haben  dort  Hire  Pflege  gefunden,  ja  die  Anfange  der  Zivi- 
lisation  nnseres  Vaterlandes  sind  ein  Kapitel  aus  der  Gre- 
schiclite  des  Monchtums.  Hat  das  Monchtum  dieses  alles 
nur  leisten  konnen,  indem  es  seine  Ideale  verliefi,  oder 
lassen  seine  eigensten  Ideale  solche  Wirkungen  zu?  Setzt 
die  Weltentsagung  eine  zweite  Welt  und  eine  zweite  Gre- 
schiclite,  der  gemeinen  ahnlieh,  nur  reiner  und  grofier,  oder 
mufl  sie  die  Welt  zur  Wliste  werden  lassen?  1st  das  das 
wahre  Monchtum,  welches  in  der  Welt  den  Tempel  Grottes 
sieht  und  auch  in  der  schweigsamen  Natur  entziickt  das 
Wehen  gottlichen  Q-eistes  vernimmt,  oder  ist  das  das  wahre 
Monchtum,  welches  behauptet,  die  Welt  mitsamt  ihrer  Natur 
und  ihrer  Q-eschichte  sei  des  Teufels?  Beide  Losungen 
tonen  zu  uns  heriiber  aus  dem  Reiche  der  Weltentsagung: 
welche  von  ihnen  ist  authentisch  und  hat  das  geschicht- 
liche  Recht  fur  sich?  In  dem  Monchtum  ist  das  Individuum 
gerettet  worden  aus  den  Banden  der  Gesellschaft  und  der 
gemeinen  Grewohnheit,  ist  befreit  und  erhoben  worden  zu 
edler  Selbstandigkeit  und  Menschlichkeit,  und  in  demselben 
Monchtum  ist  es  geknechtet  worden  in  Engherzigkeit,  geist- 
loser  Ode  und  sklavischer  Abhangigkeit.  Hat  das  urspriing- 
liche  Ideal  dieses  verschuldet  oder  jenes  hervorgebracht? 

Solche  und  ahnliche  Fragen  tauchen  hier  auf.  Der 
evangelische  Christ  hat  nicht  blofi  ein  historisches  Interesse 
an  ihrer  richtigen  Beantwortung.  Ist  es  ihm  auch  gewiC, 
dafi  die  christliche  Vollkommenheit  nicht  in  den  Formen  des 
Monchtums  zu  suchen  ist,  so  hat  er  es  doch  zu  prufen  und 
seine  Lichtgestalt  festzustellen.  Nur  dann  ist  es  in  Wahr- 
heit  uberwunden,  wenn  dem  Besten,  was  es  hat,  ein  Besseres 
ubergeordnet  werden  kann.  Wer  es  abschatzig  beiseite 
schiebt,  kennt  es  nicht.  Wer  es  kennt,  der  wird  bekennen, 
wieviel  von  ihm  zu  lernen  ist.  Ja  er  wird  hier  nicht  nur  wie 
von  einem  Q-egner,  er  wird  wie  von  einem  Freunde  lernen 


gg  Erster  Band,  erste  Abteilung.    Eeden:  IV. 

konnen,  unbeschadet  seines  evangelischen  Standpunktesr 
vielmehr  zu  Nutz  desselben.  Suchen  wir  uns  durch  einen 
gescliichtlichen  Uberblick  fiber  das  Monchtum  zu  orientieren. 


I. 

Das  Monchtum  1st  niclit  so  alt  wie  die  Kirche.  Aller- 
dings  hat  die  Kirche  des  4.  Jahrhunderts,  in  welcher  es  sich 
ausbildete,  wesentlich  ahnliche  Institutionen  schon  im  apo- 
stolisclien  Zeitalter  zu  finden  gemeint;  aber  die  Vorbilder 
dort,  auf  welche  man  sich  berufen  hat  und  noch  beruft,  ge- 
horen  zum  grofiten  Teile  der  Legende  an.  Dennoch  ist  die 
alte  Kirche  mit  ihrem  Urteile  nicht  ganz  im  Unrechte.  Der 
G-edanke,  sich  zu  separieren,  geschlossene  Vereinigungen 
innerhalb  der  Q-emeinde  zu  bilden  und  besondere  Weltent- 
sagung  zu  iiben,  konnte  freilich  den  Einzelnen  in  den  ersten 
Jahrzehnten  des  Bestehens  der  Kirche  gar  nicht  kommen. 
Aber  diejenigen,  welche  sich  von  dem  G-eiste  Grottes  ge- 
trieben  fuhlten,  ihr  ganzes  Leben  der  Verkiindigung  des 
Evangeliuras  zu  widmen,  haben  in  der  Hegel  alle  ihre  Habe 
dahingegeben  und  sind  in  freiwilliger  Armut  als  Apostel  und 
Evangelisten  Christi  von  einer  Stadt  zur  anderen  gewandert. 
Andere  haben  sich,  auf  Vermogen  und  Ehe  verzichtend, 
ganz  in  den  Dienst  der  Armen  und  Hilfsbediirftigen  der 
Gremeinde  begeben.  Dieser  apostolischen  Manner  hat  man 
sich,  als  das  Monchtum  nach  seinem  Ursprunge  im  aposto 
lischen  Zeitalter  suchte,  hin  und  her  wieder  erinnert.  Ferner 
aber  -  -  alle  Christen,  soweit  sie  es  ernst  nahmen,  standen 
gleichmafiig  unter  dem  Eindrucke,  dafi  der  Welt  und  ihrer 
G-eschichte  nur  noch  eine  kurze  Spanne  Zeit  gelassen  sei, 
dafi  ihr  Ende  bevorstehe.  Wo  diese  Hoffnung  aber  lebendig 
ist,  da  kann  das  irdische  Leben,  wie  es  gelebt  wird,  einen 
selbstandigen  Wert  nicht  mehr  behaupten,  so  gewissenhaft 
man  es  auch  mit  den  Berufspflichten  nehmen  mag.  Der 
Apostel  Paulus  hat  unter  besonderen  Verhaltnissen  diese 


Das  MOnchtum.  87 

wiederholt  und  nachdrucklich  seinen  Gemeinden  eingescharft. 
Man  hat  ihn  deshalb  evangelischerseits  wider  Moncherei  und 
alles  weltfliiclitige  Christentum  angerufen,.  anf  die  Grund- 
satze  christlicher  Freiheit  verweisend,  die  er  verkiindet  hat. 
Aber  man  soil  dabei  nicht  vergessen,  dafi  auch  er  in  Bezug 
auf  die  irdischen  Giiter  das  Urteil  geteilt  hat,  es  sei  dem 
Christen  zutraglicher,  sie  preiszugeben,  und  dafi  wir  so  auch 
im  Evangelium  lesen.  Damit  ist  das,  was  sich  als  Honch- 
tum  ausgebildet  hat,  dennoch  nicht  im  voraus  geboten  noch 
empfohlen.  Jesus  Christus  hat  nicht  als  ein  neues,  pein- 
liches  Gesetz  schwere  Lasten  auferlegt,  noch  weniger  in  der 
Askese  als  solcher  —  er  selbst  lebte  nicht  als  Asket  —  eine 
Heiligung  gesehen,  sondern  eine  vollkommene  Einfalt  und 
Reinheit  der  G-esinnung  und  eine  Ungeteiltheit  des  Herzens 
hat  er  vorgestellt,  die  in  Verzicht  und  Triibsal,  im  Besitz 
und  Gebrauch  irdischer  Giiter,  wandellos  dieselbe  bleiben 
soil.  Das  Einfachste  und  Schwerste  im  Gesetz,  die  Liebe 
Gottes  und  des  Nachsten,  hat  er  an  die  Spitze  gestellt  und 
aller  zeremoniosen  Heiligkeit  und  raffinierten  Moral  ent- 
gegengesetzt.  Geboten  hat  er,  dafi  ein  jeglicher  sein  Kreuz, 
d.  h.  die  Leiden,  die  Gott  geschickt  hat,  auf  sich  nehmen 
und  ihm  nachfolgen  solle.  In  der  Nachfolge  Jesu,  in  welcher 
sich  das  Trachten  nach  dem  Reiche  Gottes  und  seiner  Ge- 
rechtigkeit  verwirklicht,  liegt  die  EntauCerung  von  allem} 
was  hemmend  und  hinderlich  ist,  beschlossen.  Das  Monch- 
tum  hat  aber  nachmals  versucht,  der  entscheidenden  evan- 
gelischen  Forderung :  ,,Enthalte  dich"  so  gerecht  zu  werden, 
daB  es  den  Umfang  des  Verzichtes  ohne  Riicksicht  auf  die 
individuelle  Beschaffenheit  und  den  Beruf  des  Einzelnen 
bestimmte. 

Als  das  Evangelium  im  ersten  Jahrhundert  und  im  An- 
fang  des  zweiten  seine  Mission  in  der  griechisch-romischen 
"Welt  aufnahm,  da  wurde  es  ergriffen  von  den  Empfang- 
lichen  als  die  Botschaft  wvon  der  Enthaltsamkeit  und  der 
Auferstehung".  Diese  gewahrte  die  befreiende  Hoffnung, 


gg  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  IV. 

und  jene  forderte  die  Loslosung  von  der  Welt  der  Sinn- 
lichkeit  und  Siinde.  Die  ersten  Christen  sahen  in  dem 
Heidentum,  seinem  Grotzendienst,  seinem  offentlichen  Leben, 
auch  in  seinem  Staate,  das  Reich  des  Satan  in  "Wirklichkeit 
aufgerichtet  und  forderten  daher  Verneinung  dieser  Welt; 
aber  fur  ihre  Auffassung  waren  es  nicht  unvereinbare  Gregen- 
satze,  dafi  die  Erde  Q-ottes  sei,  von  ihm  geleitet  und  be- 
herrscht  werde,  und  dafi  sie  doch  zugleich  in  satanischer 
Verwiistung  liege.  Weiter:  sie  wufiten  sich  als  Burger  einer 
zukiinftigen  Welt,  deren  Eintritt  in  Balde  bevorstehe.  Wer 
das  glaubt,  der  kann  alles  gering  achten,  was  urn  ihn  ist, 
ohne  in  die  Stimmung  zu  geraten,  die  man  die  pessimistische 
nennt,  und  die  im  besten  Falle  die  Stimmung  des  gekrankten 
und  leidensmiiden  Heros  ist.  Er  wird  die  Freude  am  ^Leben" 
behalten;  denn  er  wiinscht  nichts  sehnlicher  als  zu  leben, 
und  er  wird  selbst  dem  Tode  sich  gerne  darbieten,  der  ihn 
zum  Leben  fuhrt.  Dort  ist  kein  Haum  fur  den  Verzicht 
auf  die  Freude,  wo  der  Giaube  lebendig  ist,  dafi  Q-ott  die 
Welt  geschafFen  hat  und  regiert,  wo  man  der  Zuversicht 
lebt,  dafi  kein  Sperling  vom  Dache  fallt  ohne  den  himm- 
lischen  Vater.  Es  ist  richtig,  dafi  die  Phantasie  damals  aufs 
lebhaffceste  bewegt  worden  ist  von  dem  Q-edanken,  dafi  der 
gegenwartige  Weltlauf  dem  Q-erichte  verfalle,  weil  alles  ver- 
giftet  und  des  Unterganges  wert  sei;  aber  man  wufite  diese 
Welt  doch  auch  als  die  Statte  des  Reiches  Grottes,  die  man 
der  Verklarung  fur  wiirdig  erachtete.  Das  Christentum 
mufite  den  Kampf  aufnehmen  mit  der  groben  und  der  feinen 
Sinnlichkeit  der  Heidenwelt  und  es  erschopfte,  wie  man 
richtig  gesagt  hat,  seine  ganze  Energie  in  der  Predigt  der 
grofien  Botschaft:  wlhr  seid  keine  Tiere,  sondern  unsterbliche 
Seelen,  nicht  die  Sklaven  des  Fleisches  und  der  Materie, 
sondern  die  Herren  eures  Fleisches,  Diener  allein  des  leben- 
digen  G-ottes."  Jedes  Kulturideal  mufi  zuriicktreten,  bis 
diese  Botschaft  geglaubt  wird.  Besser,  der  Mensch  erachtet 
die  Ehe,  Essen  und  Trinken,  ja,  sein  menschliches  Teil  an 


Das  M6nchtum.  89 

sich  fur  unrein,  als  dafi  er  diese  Dinge  wirklicli  unrein 
macht  durch  sinnliche  Verwilderung.  Kein  neues  Prinzip 
vermag  sich.  in  dieser  Welt  der  Tragheit  und  G-ewohnheit 
durchzusetzen,  das  nicht  die  schneidendste  Kritik  an  dem 
Zustande  der  Gegenwart  iibt  und  hochgespannte  Forderungen 
stellt.  Das  alteste  Christentum  stellte  solche  Forderungen; 
aber  bald  erhob  sich  die  Frage,  wie  sie  theoretisch  zu  be- 
griinden  seien  und  in  welchem  Umfang  sie  gelten  sollen. 


II. 

Bereits  am  Anfang  des  zweiten  Jahrhunderts  drangte 
sich  eine  bunte  Menge  Suchender  und  Glaubiger  an  die 
christlichen  Gemeinden  heran.  Unter  ihnen  gab  es  Manner 
—  man  nennt  sie  herkommlich  G-nostiker  — ,  die  genahrfc 
und  verwirrt  waren  durch  alte  und  neueste  Mysterienweis- 
heit,  zugleich  aber  ergriffen  von  der  evangelischen  Botschaffc 
und  der  Reinheit  des  christlichen  Lebens.  Sie  suchten  zu 
hp.st.iTmnp.Ti,  worin  das  Wesen  der  christlichen  Religion  als 
einer  Erkenntnis  Gottes  und  der  "Welt  bestehe,  und  sie 
meinten  den  wahren,  der  Menge  unbekannten  Sinn  des 
Evangeliums  ergriindet  zu  haben:  Gott  als  den  Herrn  und 
den  Schopfer  der  Geister,  aber  ihm  von  Ewigkeit  gegen- 
iiberstehend  das  Reich  der  Materie,  der  sinnlichen  Endlich- 
keit,  welches  als  solches  bose  ist;  der  menschliche  Geist  ein 
Lichtfunke  Gottes}  aber  sclimachvoll  gefangen  von  seiner 
Feindin,  der  Sinnenwelt;  die  Erlosung  durch  Christus  eine 
Entkorperung  des  Geistes,  die  Wiederherstellung  der  reinen 
Geistigkeit;  darum  die  sittliche  Aufgabe:  vollkommene 
Askese,  Flucht  aus  der  damonischen  Natur,  Einswerden  mit 
dem  Urquell  des  Geistes  durch  Erkenntnis  und  "Wissen. 
In  dem  Kampf  mit  dieser  Lehre,  welche  die  griechische 
war,  sich  aber  als  die  christliche  zu  legitimieren  versuchte, 
und  im  Kampfe  mit  der  marcionitischen,  die  in  ihren  prak- 
tischen  Anweisungen  sich  mit  der  gnostischen  beriihrte, 


9Q  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Beden:  IT. 

erlebte  die  Kirche  ihre  erste  gewaltige  Krisis  in  der  Ge- 
schichte.  Sie  hat  sie  iiberwunden;  sie  hat  die  scheinbar  so 
verlockende  Begriindung  ihrer  eigenen  Kritik  an  der  Schlech- 
tigkeit  der  gegenwartigen  Welt  als  eine  ihr  fremde,  als  eine 
falsche  abgewiesen.  Sie  erkannte  in  jenen  Thesen  damo- 
nische,  d.  h.  heidnische  Anschauungen  wieder  nnd  beurteilte 
das  gnostische  Christentum  mitsamt  seiner  Askese  und  der 
hohen  Botschaffc  von  der  Herrlichkeit  und  Wiirde  des  Geistes 
als  ein  verweltlichtes.  Auch  von  einem  angeblich  hoheren 
G-eheimchristentum  for  die  wGeistigen"  wollte  sie  nichts 
wissen;  der  gnostischen  Unterscheidung  eines  zwiefachen 
christlichen  Ideals  gegeniiber  bestand  sie  noch,  wenn  anch 
nicht  mit  Sicherheit,  anf  der  Forderung  einer  einheitlichen 
nnd  allgemein  zuganglichen  christlichen  Lebensordnung. 
Seit  dem  Ende  des  zweiten  Jahrhnnderts  war  es  fur  immer 
in  der  Kirche  festgestellt,  dafl  der  Glaube  an  jenen  prin- 
zipiellen  Dualismus  zwischen  Gott  nnd  Welt,  G-eist  und 
Natur  unvereinbar  sei  mit  dem  Christentum,  unvereinbar 
mit  ihm  darum  auch  jede  Askese,  die  sich  auf  jenen  Dua- 
lismus  stiitzt.  Wohl  fuhr  man  fort,  zu  lehren,  dafi  der 
gegenwartige  Weltlauf  und  die  zukiinftige  Zeit  in  einem 
Kontraste  stehen,  dafi  die  Erde  unter  die  Herrschaft  der 
Damonen  geraten  sei.  Aber  Gott  selbst  hat  sie  dahin- 
gegeben  und  dem  Teufel  iiberantwortet.  Er  wird  aber  seine 
Allmacht  in  dem  Gerichte  erweisen  und  zeigt  sie  schon 
jetzt  in  dem  Siege  seiner  Glaubigen  liber  die  Damonen. 
Die  Welt  ist  des  Herrn,  nur  verwaltet  wird  sie  zeitweilig 
von  den  bosen  Engeln;  die  Welt  ist  gut,  aber  die  Lebens- 
weise  der  Welt  ist  schlecht.  So  iiberwand  man  den  theo- 
retischen  Dualismus,  indem  man  ihn  in  der  ,,Theologieu 
ablehnte  und  das  Bose  aus  der  im  Plane  Gottes  notwen- 
digen  Freiheit  der  Kreatur  zu  verstehen  suchte.  Doch  der 
Feind,  der  hier  lauert,  kann  wohl  geschlagen,  aber  nicht 
vernichtet  werden.  Er  fand  seine  geheimen  Bundesgenosseh 
selbst  in  manchen  mafigebenden  Theologen,  die  den  Dua- 


Das  MOnchtum.  91 

lismus  in  subtiler  "Weise  mit  dem  G-lauben  an  Gott,  den 
allmachtigen  Schopfer,  zu  vereinigen  verstanden.  Unter 
den  verschiedensten  Masken  und  Grestalten  1st  er  je  und  je 
wieder  aufgetreten  in  der  Greschichte  des  Christentums ;  aber 
er  hat  sich  verkleiden  miissen.  Als  Feind  in  offener  Feld- 
schlacht  war  er  gerichtet. 

Da  zog  eine  zweite  Krisis  herauf  for  die  Kirche,  und 
noch  war  die  erste  nicht  am  Ende.  Seit  der  Mitte  des 
zweiten  Jahrhunderts  begannen  sich  die  Bedingungen  der 
aufleren  Lage  for  die  Christenheit  immer  mehr  zu  andern. 
In  wenigen  kleinen  Q-emeinden  war  sie  bisher  iiber  das 
romische  Reich  zerstreut  gewesen.  Diese  waren  nur  mit 
den  notwendigsten  Formen  politischer  Art  ansgestattet,  so 
wenige  und  so  lockere,  als  deren  ein  auf  iiberirdische  Hoff- 
nungen,  strenge  Disziplin  und  Bruderliebe  begriindeter, 
religioser  Bund  bedurfte.  Aber  es  wurde  anders.  Die 
Kirche  sah  Massen  bei  sich  einziehen,  die  einer  nachtrag- 
lichen  Zucht  —  der  Erziehung  und  der  Nachsicht  —  ebenso 
bedurften  wie  einer  politischen  Leitung.  Die  Aussicht  auf 
das  nahe  "Weltende  beherrschte  nicht  mehr  wie  friiher  alle 
Gremiiter.  An  die  Stelle  urspriinglicher  Begeisterung  trat 
mehr  und  mehr  niichterne  tFberzeugung ,  wohl  auch  nur 
theoretisches  Fiirwahrhalten  und  gehorsame  Anerkennung. 
Viele  wurden  nicht  Christen,  sondern  sie  waren  es  und 
darum  blieben  sie  es.  Sie  waren  zu  stark  vom  Christentum 
beruhrt,  um  es  zu  lassen,  und  zu  wenig,  um  Christen  zu 
sein.  Der  rein  religiose  Enthusiasmus  verblafite,  die  Ideale 
erhielten  eine  neue  Form,  und  die  Selbstandigkeit  und  Ver- 
antwortlichkeit  der  Einzelnen  wurde  schwacher.  Die 
,,Priester  und  Konige  G-ottes"  begehrten  nach  Priestern  und 
begannen  sich  mit  den  Konigen  der  Erde  abzufinden.  Die, 
welche  sich  einst  des  Besitzes  des  Qeistes  geriihmt  hatten, 
suchten  diesen  Q-eist,  den  sie  nun  nicht  mehr  so  lebendig 
spiirten,  in  Q-laubensformeln  und  in  heiligen  Biichern,  in 
Mysterien  und  in  Kirchenordnungen  zu  erkennen.  Dazu: 


92  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

die  Unterschiede  in  der  sozialen  Lage  der  ,,Briider"  machten 
sich  geltend.  In  alien  Berufsklassen  fanden  sich  bereits 
Christen,  im  Kaiserpalast,  unter  den  Beamten,  in  den  Stuben 
der  Handwerker  und  in  den  Salen  der  Gelehrten,  unter 
Freien  und  Unfreien.  Sollten  diese  alle  in  ihrem  Berufe 
belassen  werden,  sollte  die  Kirche  den  entscheidenden 
Schritt  in  die  Welt  hinein  tun,  auf  ihre  Verhaltnisse  ein- 
gehen,  ihren  Formen  sich  anschmiegen,  ihre  Ordnungen 
soweit  irgend  moglich  anerkennen,  ihre  Bedurfnisse  be- 
friedigen,  oder  sollte  sie  bleiben,  was  sie  anfangs  gewesen, 
eine  Gemeinde  religios  Begeisterter,  getrennt  und  geschie- 
den  von  der  Welt,  nur  durch  eine  direkte  Mission  auf  sie 
wirkend?  Die  Kirche  sah  sich  seit  der  zweiten  Halfte  des 
zweiten  Jahrhunderts  vor  das  Dilemma  gestellt,  entweder 
durch  wirklichen  Eintritt  in  die  romische  G-esellschaft  eine 
Weltmission  im  grofien  zu  beginnen,  freilich  unter  Verzicht 
auf  ihre  urspriingliche  Ausstattung  und  Kraft,  oder  aber 
diese  zu  behalten,  die  urspriinglichen  Lebensformen  zu  be- 
wahren,  aber  eine  kleine,  geringe  Sekte  zu  bleiben,  von 
Tausenden  kaum  Einem  verstandlich,  nicht  imstande,  Na- 
tionen  zu  retten  und  zu  erziehen.  Um  diese  Frage  handelte 
es  sich  —  das  diirfen  wir  heute  feststellen,  so  wenig  es  da- 
mals  klar  erkannt  werden  konnte  — ,  es  war  eine  gewaltige 
Krisis,  und  nicht  die  schlechtesten  Christen  riefen  der  Kirche 
ein  Halt  zu.  Damals  zum  erstenmale  wurden  Stimmen  in 
der  Kirche  laut,  welche  die  Bischofe  und  ihre  Herden  vor 
der  fortschreitenden  Verweltlichung  warn  ten,  welche  den 
Weltchristen  jene  bekannten  Satze  von  der  Nachfolge 
Christi  in  ihrem  wortlichen  Ernste  entgegenhielten  und  eine 
Umkehr  zur  ursprunglichen  Einfachheit  und  Reinheit  ver- 
langten.  Damals  erhob  sich  noch  einmal  laut  und  ein- 
dringlich  der  Ruf ,  das  Leben  auf  Grrund  der  Hoffnung  zu 
gestalten,  dafi  der  Herr  demnachst  wiederkomme.  Es  gab 
Gemeinden,  die,  gefuhrt  von  ihren  Bischofen,  in  die  Wiiste 
zogen;  es  gab  Gemeinden,  die  alles  verkauften,  was  sie  be- 


Das  Mflnchtum.  93 

safien,  run  frei  von  alien  Hemmnissen  dem  kommenden 
Christus  entgegenzuziehen ;  es  gab  Stimmen,  die  verkundig- 
ten,  die  Christen  sollten  den  breiten  Weg  verlassen  und 
den  sckmalen  Weg  und  die  enge  Pforte  aufsuchen.  Die 
Kirche  selbst  entschied  sich  anders,  mehr  von  den  Verhalt- 
nissen  getrieben  als  nach  einem  freien  EntschluB.  Sie  zog 
ein  durch  das  offene  Tor  in  den  Weltstaat,  um  sich  for 
eine  lange  Dauer  dort  einzurichten ,  um  ihn  auf  seinen 
Strafien  zu  christianisieren,  ihm  die  Worte  des  Evangeliums 
zu  bringen,  aber  ihm  alles  zu  lassen  auOer  seinen  Gottern. 
Und  sie  selbst  stattete  sich  aus  mit  all  den  GKitern,  die  sie 
von  ihm  nehmen  konnte,  ohne  das  elastische  Gefiige  zu 
sprengen,  in  welchem  sie  sich  nun  einrichtete.  Mit  seiner 
Philosophie  schuf  sie  ihre  neue  christliche  Theologie,  seine 
Verfassung  beutete  sie  aus,  um  sich  selbst  die  festesten 
Fonnen  zu  geben,  seine  Hechtsordnungen,  Handel  und  Ver- 
kehr,  Kunst  und  Handwerk  nahm  sie  in  ihren  Dienst,  selbst 
von  seinen  Kulten  wuOte  sie  zu  lernen.  So  finden  wir  die 
Kirche  um  die  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts,  ausgeriistet 
mit  all  den  Machtmitteln,  die  der  Staat  und  seine  Kultur 
ihr  bieten  konnten,  eingehend  auf  alle  Verhaltnisse  des 
Lebens,  zu  alien  Konzessionen  bereit,  die  nicht  das  Be- 
kenntnis  des  Grlaubens  betrafen.  In  dieser  Ausstattung  hat 
sie  eine  Weltmission  im  grofien  Stile  unternommen  und 
durchgefuhrt.  Und  jene  Altglaubigen  und  Ernsteren,  die 
gegen  diese  Weltkirche  protestierten  im  Namen  des  Evan 
geliums,  die  ihrem  G-ott  eine  heilige  Gemeinde  sammeln 
wollten  ohne  Rucksicht  auf  Zahl  und  Umstande?  Sie  ver- 
mochten  sich  nicht  mehr  in  der  grofien  Kirche  zu  halten, 
und,  indem  die  Mehrzahl  von  ihnen,  um  ihren  strengeren 
Forderungen  eine  Grundlage  zu  geben,  sich  auf  eine  neue 
endgiiltige  Offenbarung  Gottes,  die  in  Phrygien  stattgefun- 
den  haben  sollte,  berief,  beschleunigte  sie  den  Bruch.  Sie 
schieden  aus  und  wurden  ausgeschieden.  Aber,  wie  es  zu 
geschehen  pflegt,  sie  waren  in  dem  Kampf  selbst  enger  und 


94  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

kleinsinniger  geworden.  Hatte  in  friiheren  Zeiten  hohe 
Begeisterung  strenge  Lebensformen  wie  von  selbst  hervor- 
gemfen,  so  sollten  nun  diese,  punktlich  bemessen,  jenes  ur- 
spriingliclie  Leben  konservieren  und  erzeugen.  Sie  wurden 
gesetzlich  in  ihrer  Lebensordnung,  die  dock  nur  um  wenige 
Grade  strenger  war  als  die  inrer  Gegner,  und  hochmiitig 
im  Besitze  des  reinen  Christentums ,  wie  sie  sagten.  Das 
Christentum  der  Weltkirchenleute  verachteten  sie  als  halb- 
schlachtiges,  gemodeltes  und  ungeistlich.es  Christentum. 
Man  hat  in  dieser  ,,Sektea  der  ^Montanisten"  im  Reiche 
und  in  der  ihr  verwandten,  alteren  und  schrofferen  der 
,,Enkratitenu  mit  ihrer  Weltscheue,  ihren  strengeren  Fasten- 
und  G-ebetsordnungen,  ihrem  Mifitrauen  gegen  das  geist- 
liche  Amt,  gegen  kirchenpolitische  Ordnung,  gegen  jeden 
Besitz,  selbst  gegen  die  Ehe,  den  Vorlaufer  des  spateren 
Monchtums  erkennen  wollen  —  nicht  mit  Unrecht,  wenn 
man  auf  die  Motive  beider  Bewegungen  sieht,  aber  sonst 
sind  sie  doch  noch  sehr  verschieden.  Das  Monchtum  setzt 
die  relative  Berechtigung  der  Weltkirche  voraus,  jene  Mon- 
tanisten  bestritten  jede  Berechtigung.  Die  Auskunft  einer 
doppelten  Sittlichkeit  in  der  Kirche,  war  sie  gleich  schon 
im  Anzuge,  beherrschte  am  Anfang  des  dritten  Jahrhun- 
derts  noch  nicht  die  gesamte  Auffassung  vom  christlichen 
Leben;  eben  die  Ausscheidung  des  Montanismus  aus  der 
Kirche  beweist  dies.  Allerdings  schatzte  die  Kirche  ihre 
j,Bekenneru,  ihre  ^Jungfrauen",  ihre  Ehelosen,  ihre  Grott 
dienenden  Witwen,  wenn  sie  ihrer  Gremeinschaft  treu  blieben, 
um  so  hoher,  je  haufiger  sie  die  Erfahrung  machen  muflte, 
dafi  sie  gegen  die  ngroUe  Gremeinschaft"  miCtrauisch  wurden. 
Aber  jene  geistlichen  Aristolcraten  waren  noch  ebensowenig 
Monche  wie  die  Montanisten.  Dazu  —  das  Monchtum  er- 
hob  eine  Lebensweise  zum  Prinzip,  die  in  erster  Lime  nicht 
an  der  Aussicht  auf  die  bevorstehende  Oifenbarung  des 
Reiches  Christi,  sondern  an  dem  Gredanken  des  ungestorten 
Genusses  Gottes  im  Diesseits  und  der  Unsterblichkeit  im 


Das  Monchtum.  95 

Jenseits  orientiert  war.  Das  Monchtum  muflte  sich  zur 
Weltflucht  aufraffen,  die  Montanisten  brauchten  das  nicht 
erst  ausdriicklich  zu  fliehen,  was  ihre  enthusiastische  Hoff- 
nung  als  ein  bereits  Abgetanes  erblicken  wollte. 


III. 

Aber  kehren  wir  zur  Kirche  des  dritten  Jahrhunderts 
zuriick.  Wohl  hatten  jene  Eiferer  ein  Recht  zur  Kritik  an 
ihr;  denn  die  grofien  Grefahren,  die  sie  beim  Einzug  der 
Kirche  in  den  Weltstaat  kommen  sahen,  stellten  sich  wirk- 
lich  ein.  Jenes  Wort  des  Apostels:  ,,Den  Juden  ein  Jude, 
den  Griechen  ein  Grieche":  es  war  doch  ein  gefahrliches 
Motto.  Wir  sind  durch  eine  Jahrlmnderte  alte  Uberliefe- 
rung  gewohnt,  die  Verweltlichung  der  Kirche  erst  von  der 
Zeit  ab  zu  datieren,  wo  sie  unter  Konstantin  Reichskirche 
zu  werden  begann.  Diese  IJberlieferung  ist  falsch.  Die 
Kirche  in  der  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  war  bereits 
in  hohem  Grade  verweltlicht.  Mcht  als  ob  sie  die  iiber- 
lieferten  G-laubenssatze  verleugnet  und  ihre  Eigenart  preis- 
gegeben  hatte,  aber  ihre  Anspriiche  an  das  christliche 
Leben  hatte  sie  in  bedenklicher  Weise  herabgesetzt  und  die 
Kulturausstattung,  mit  der  sie  sich  bereichert,  war  ihr  zum 
innerlichen  Schaden  geworden.  Zwar  war  sie  aufierlich 
fester  und  geschlossener  denn  je  gefiigt  —  ein  Staat  im 
Staate  war  sie  geworden;  aber  das  starke  Band,  das  sie 
verband,  war  nicht  mehr  religiose  Hoffnung  und  Bruder- 
liebe,  sondern  eine  hierarchische  Ordnung,  welche  die 
christliche  Miindigkeit  und  Preiheit,  damit  aber  auch  den 
Brudersinn  zu  erdriicken  drohte.  Ihre  Grlaubenslehre  riva- 
lisierte  bereits  mit  den  bewunderten  Systemen  der  Philo- 
sophen,  aber  zu  tief  hatte  sie  sich  selbst  mit  ihnen  ein- 
gelassen,  ihre  Ziele  waren  ihr  verriickt,  ihre  Methode  gestort 
worden.  Namentlich  jenes  letzte  nachgeborene  System 
griechischer  Weisheit,  der  Neuplatonismus ,  hatte  entschei- 


96  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

dend  auf  sie  eingewirkt.  Durch  das,  was  sie  von  ihm  ent- 
lehnte,  suehte  sie  den  Ausfall  zu  decken,  den  sie  bei  dem 
Yerluste  oder  der  Umsetzung  ihrer  rein  religiosen  Ideale 
fruhe  schon  erlitten  hatte.  Aber  der  iiberweltliche  G-ott, 
den  jener  lehrte,  war  nicht  der  Grott  des  Evangeliums,  nnd 
die  Erlosung  aus  dem  Sinnlichen,  die  er  verhiefi,  war  von 
der  urspriinglichen  christlichen  Heilshoffnung  sehr  verschie- 
den.  Doch  die  Theologen,  die  inn  studierten  oder  be- 
kampften,  lebten  sich  in  jene  Begriffswelt  ein  und  unmerk- 
lich  verschob  sich  ihre  eigene.  Wetter:  die  Tendenz,  sich 
dem  Staate  anzuschmiegen ,  wurde  immer  offenkundiger: 
wohl  wollte  man  ihn  stiitzen,  aber  man  begehrte  auch 
Stiitze  von  ihm,  man  tat  mehr,  als  man  tun  durfte,  um 
ihn  zn  gewinnen.  Endlich:  die  Kirche  konnte  auch  die 
bereits  herabgestimmten  Anspriiche  an  das  sittliche  Leben 
des  Einzelnen  nicht  mehr  durchfuhren;  sie  muflte  sich  oft 
genug  mit  einem  Minimum,  mit  dem  aufierlichen  G-ehorsam 
gegeniiber  ihren  Rechts-  und  Kultusordnungen  begniigen. 
-  Dagegen  —  das  Eine  hatte  sie  erreicht,  dafi  so  leicht 
kein  Christ  ihren  Anspruch,  die  christliche  Gresellschaft  zu 
sein,  antastete,  den  G-lauben  hatte  sie  begrundet,  daB  ihr 
gegliederter  Verband  mit  seinen  Bischofen,  seinen  Grnaden- 
spendungen,  seinen  heiligen  Biichern,  seinem  Kultus  die 
authentische,  unverfalschte  Stiftung  Christi  und  der  Apostel 
sei,  aufier  welcher  es  kein  Heil  gebe.  Das  war  die  christ 
liche  Kirche  an  der  Wende  des  dritten  Jahrhunderts  zum 
vierten.  So  war  sie  geworden,  nicht  ohne  ihre  Schuld. 
Aber  das  soil  gesagt  werden:  es  ist  leicht,  diese  Kirche  an 
der  apostolischen  Zeit  oder  an  einem  selbstgezeichneten 
christlichen  Urbilde  zu  messen  und  sie  grober  Verweltlichung 
zu  zeihen,  aber  es  ist  ungerecht,  die  geschichtlichen  Be- 
dingungen  auBer  acht  zu  lassen,  unter  denen  sie  gestanden 
hat.  "Was  sie  in  sich  gerettet  hat,  ist  doch  nicht  nur  ein 
"Uberbleibsel  gewesen,  welches  sie  eben  nicht  verlieren 
konnte,  oder  ein  Rest,  der  der  Erhaltung  nicht  wert  war, 


Das  MOnchtum.  97 

sondern  es  war  das  alte  Evangelium,  freilich  in  die  Hiillen 
und  Binden  der  Zeit  gewickelt  und  ohne  den  kraftigen  An- 
spruch,  das  ganze  Leben  von  innen  heraus  zu  bestimmen. 
Aber  diese  Kirche  war  nicht  mehr  imstande,  alien 
Gemutern,  die  zu  ikr  kamen,  Frieden  zu  geben,  sie  vor 
der  Welt  zu  bergen.  Den  Gottesfrieden  eines  jenseitigen 
Lebens  konnte  sie  zusichern,  den  Frieden  in  den  Stiirmen 
des  Diesseits  konnte  sie  nicht  gewahren.  Da  begann  die 
grofie  Bewegung.  Asketen,  auch  Einsamlebende,  hat  es 
schon  friiher  in  der  grofien  Kirche  gegeben,  ebenso  wie 
von  Ort  zu  Ort  pilgernde,  nichts  besitzende  Evangelisten. 
Tm  Laufe  des  dritten  Jahrhunderts  mogen  einzelne  Welt- 
miide  bereits  hinausgeflohen  sein  in  die  Wiiste,  ja  hin  und 
her  mogen  sie  sich  bereits  zu  gemeinsamem  Leben  ver- 
einigt  haben.  Ihre  Zahl  wuchs  beim  Anbruch  des  neuen 
Jahrhunderts.  Sie  flohen  nicht  nur  die  Welt,  sondern  die 
Welt  in  der  Kirche;  aber  sie  flohen  deshalb  nicht  aus  der 
Kirche.  Auf  Ehre  und  Vermogen,  Weib  und  Kind  ver- 
zichteten  sie,  um  Lust  und  Siinde  zu  fliehen,  um  sich  dem 
Genufl  der  Anschauung  Gottes  hinzugeben  und  das  Leben 
in  Todesbereitschaft  zu  weihen.  Lehrte  doch  auch  die 
herrschende  Theologie,  dafi  das  Ideal  christlichen  Lebens 
in  jener  Sterbensubung  und  wiederum  in  jenem  Gottes- 
staunen  bestehe,  da  der  Mensch  seiner  Existenz  vergifit, 
sein  korperliches  Dasein  bis  zur  Grenze  des  Todes  ertotet, 
um  ganz  aufzugehen  in  der  Beschauung  des  Himmlischen 
und  Ewigen.  Das  war  die  allgemeine  Theorie  der  Weisen. 
Sie  nahmen  es  ernst  mit  ihr.  Aber  weiter:  keine  Zeit  ist 
vielleicht  mehr  von  dem  Gedanken  durchdrungen  gewesen, 
dafi  der  Weltzeitlauf  altere,  dahinsinke,  daB  es  sich  nicht 
mehr  lohne,  zu  leben.  Eine  grofie  Epoche  in  der  Ge- 
schichte  der  Menschheit  ging  wirklich  zu  Grabe.  Das 
romische  Reich,  die  alte  Welt,  schickte  sich  an,  zu  sterben, 
und  furchtbar  waren  die  Todeskampfe.  Aufruhr,  Blutver- 
giefien,  Armut  und  Seuchen  im  Innern,  von  auCen  von 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Anfl.    I.  7 


98  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Keden:  IV. 

alien  Seiten  bedrangt  durch  Barbarenhorden.  Was  hatte 
man  ihnen  entgegenzustellen  ?  Nicht  mehr  die  Macht  eines 
seiner  selbst  machtigen  Staates  und  die  Kraft  eines  ein- 
heitlichen  und  erprobten  Bildungsideals ,  nein  —  ein  aus- 
einanderfallendes  Reich,  kaum  noch  zusammengehalten 
durch  eine  sinkende  und  zersetzte  Kultur,  eine  Kultur,  die 
hohl  und  unwahr  geworden  war,  in  der  kaum  einer  ein 
gutes  G-ewissen,  einen  freien,  natiirlichen  Sinn,  eine  reine 
Hand  sich  bewahren  konnte.  Nirgendwo  aber  mufite  man 
die  innere  Unwahrheit  aller  Verhaltnisse  mehr  empfinden, 
als  an  den  Mittelpunkten  der  Kultur,  vor  allem  in  Alexan- 
drien.  1st  es  da  wunderbar,  dafi  gerade  dort,  in  Unter- 
agypten,  das  Eremitenleben,  das  Monchtum  seinen  Ursprung 
genommen  hat?  Die  langste  und  reichste  Greschichte  aller 
Volker,  welche  die  G-eschichte  kennt,  hat  das  agyptische 
Volk  gehabt.  Auch  noch  unter  der  Herrschaft  von  Frem- 
den  und  unter  dem  Schwerte  des  romischen  Eroberers  war 
Agypten  das  Land  der  Arbeit,  war  seine  Stadt  die  Hoch- 
schule  der  Bildung  geblieben.  Aber  nun  schlug  der  Nation 
die  Stunde.  Damals  hat  das  Monchtum  als  eine  gewaltige 
Bewegung  dort  seinen  Ursprung  genommen;  nicht  viel 
spater  treffen  wir  es  auch  an  der  Ostkiiste  des  Mittelmeeres 
und  an  den  Ufern  des  Euphrat.  Man  hat  in  neuester  Zeit 
den  Ursprung  aus  spezifisch  heidnischen  Einflussen  auf  das 
Christentum  in  Agypten  erklaren  wollen,  aber  man  ist 
nicht  hinreichend  behutsam  dabei  verfahren,  so  dankens- 
wert  es  war,  dafi  die  alteren  analogen  Erscheinungen  auf 
dem  Boden  der  agyptischen  Religion  aufgewiesen  worden 
sind.  Die  Einfliisse  von  auflen  her  sind  hier  nicht  starker, 
wahrscheinlich  sogar  schwacher  gewesen,  als  auf  irgend 
einem  anderen  Grebiete  des  christlichen  Lebens  und  Denkens. 
Auf  jeder  Stufe  ihrer  Entwickelung  hat  auch  die  christ- 
liche  Menschheit  das  Lebensideal  abstrahiert  und  als  das 
hochste  proklamiert,  welches  ihr  die  Not  vorschrieb.  Hier 
aber  traf  die  soziale,  die  politische,  die  religiose  Not  zu- 


Das  Mtfnchtum.  99 

sammen  mit  einem  langst  aufgestellten  christlichen  Ideal, 
welches  bald  for  das  apostolische  gait. 

Es  sind  jedoch  sehr  verschiedene  Bedingungen  und 
demgemafl  auch  verschiedene  Vorstufen  gewesen,  welche 
der  Ausbildung  des  Monchtums  vorangingen.  War  es  auch 
vor  alien  Dingen  der  der  Kirche  ans  den  Heiden  eingeborene 
asketische  Trieb,  den  G-eist  zu  befreien  von  den  vielen 
Tyrannen,  den  groben  und  den  feinen  Egoisnms  zu  iiber- 
winden  und  die  arme  Seele  zu  Grott  zu  fuhren,  so  spielte 
doch  andererseits  auch  ein  asketisches  Ideal  hinein,  welches 
jenem  Triebe  mehr  entgegengesetzt  als  verwandt  war.  In 
der  alexandrinischen  Katechetenschule ,  welche  im  dritten 
Jahrhundert  die  hohe  Schule  der  kirchlichen  Theologie 
iiberhaupt  gewesen  1st,  sind  die  Grrundgedanken  aus  den 
Systemen  der  idealistischen,  griechischen  Moralisten  seit 
Sokrates  samtlich  aufgenommen  und  bearbeitet  worden. 
Diese  aber  hatten  den  sokratischen  Spruch:  ,,Erkenne  dich 
selbst"  langst  schon  in  mannigfaltige  Regeln  fur  die  rechte 
Lebenskunst  verwandelt.  Die  allermeisten  von  diesen  Regeln 
lenkten  den  wahren  ,,Weisenu  ab  von  der  Greschaftigkeit 
im  Dienste  des  taglichen  Lebens  und  von  ,,dem  lastigen 
Auftreten  in  der  OfFentlichkeit".  Sie  besagten,  dafi  es  fur 
den  Greist  ,,nichts  Eigentiimlicheres  und  Angemesseneres 
geben  konne  als  die  Sorge  fur  sich  selbst,  indem  er  nicht 
nach  auBen  blickt,  sich  nicht  mit  fremden  Dingen  befafit, 
sondern  innerlich  in  sich  gekehrt  sein  eigenes  "Wesen  an 
sich  selber  zuriickgibt  und  so  die  Grerechtigkeit  ausiibt". 
Hier  lehrte  man,  dafi  der  Weise,  der  keines  Dinges  mehr 
bediirfe,  der  Grottheit  am  nachsten  sei,  weil  er  namlich  in 
dem  Besitze  seines  reichen  Ichs  und  in  der  ruhigen  Be- 
trachtung  der  Welt  des  hochsten  Grutes  teilhaffcig  sei,  dort 
kiindete  man,  dafi  der  Greist,  der  sich  vom  Sinnlichen  be- 
freit  habe  und  in  steter  Betrachtung  der  ewigen  Ideen  lebe, 
schliefilich  auch  der  Anschauung  des  Unsichtbaren  ge- 
wurdigt  und  selbst  vergottlicht  werde.  Diese  Weltflucht 

7* 


100  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

1st  es  gewesen,  welche  auch  die  kirchliclien  Philosophen 
Alexandriens  ihre  Schiller  gelelirt  haben,  vor  alien  anderen 
Origenes.  Man  braucht  nur  den  Panegyricus  des  Gregorius 
Thaumaturgus  auf  seinen  groflen  Lehrer  zu  lesen,  urn  zu 
erkennen,  wo  die  Vorbilder  for  diese  weltfliichtige  Lebens- 
weisheit,  welche  an  den  Theologen  geriihmt  wird,  zu  snchen 
sind.  Niemand  kann  leugnen,  dafi  diese  Art  Weltnucht 
eine  spezifische  Verweltlichung  des  Christentums  in  sich 
schliefit,  und  dafi  der  selbstgeniigsame  Weise  so  ziemlich 
das  G-egenteil  von  der  armen  Seele  ist.  Aber  niemand 
kann  auch  verkennen,  dafi  beide  Formen  konkret  in  einer 
unendlichen  Mannigfaltigkeit  sich  darstellen  und  in  dieser 
Mannigfaltigkeit  auch  ineinander  iibergehen  konnten.  Und 
in  diesem  Sinne  ist  namentlich  Origenes  selbst  doch  zu  den 
wirklichen  Vatern  des  christlichen  Monchtums  zu  rechnen. 
Es  ist  ja  auch  schon  bei  ihm  nicht  so,  daB  er  lediglich 
das  stoische  oder  neuplatonische  Ideal  in  seiner  Ethik  zum 
Ausdruck  gebracht  und  in  seinem  Leben  verwirklicht  hatte, 
vielmehr  kreuzen  sich  bei  ihm  alle  ethischen  Richtlinien 
der  Vergangenheit,  auch  die  christlichen.  Das  eben  ist  die 
weltgeschichtliche  Stellung  der  agyptischen  Theologen,  die 
samtlich  Vorlaufer  oder  Schiiler  des  Origenes  gewesen  sind, 
dafi  sie  wie  auf  dem  Grebiete  der  Dogmatik,  so  auf  dem 
der  Disziplinierung  des  christlichen  Lebens  den  mannig- 
faltigen  Ertrag  der  bisherigen  Erkenntnisformen  und  prak- 
tischen  Regeln  vereinigt  und  unter  den  Schutz  der  Offen- 
barung  gestellt  haben.  Darum  sind  sie  auch  die  Vater 
aller  der  Parteien  in  der  griechischen  Klrche  geworden, 
welche  nachmals  hervorgetreten  sind  und  sich  bekampft 
haben.  Wie  Origenes  mit  gleichem  Rechte  fur  den  Aria- 
nismus  und  fiir  die  Orthodoxie  angerufen  werden  konnte, 
so  kann  er  auch  mit  demselben  Rechte  fur  die  besondere 
Verweltlichung  der  Theologie  der  Kirche  wie  fiir  die  mon- 
chischen  Neigungen  erst  der  Theologen,  dann  auch  der 
Laien,  verantwortlich  gemacht  werden.  Es  ist  derselbe 


Das  Mtfnchtum.  101 

Mann  gewesen,  der  einen  dauernden  Frieden  des  Christen- 
tums  mit  dem  Staate  auf  Erden  als  wiinschenswert  be- 
zeichnet  und  vorausgesagt  hat  und  der  zugleich  im  Schatten 
des  allgemeinen  Friedens  die  Klosterzelle  des  frommen,  in 
sich  gekehrten  Monchsgelehrten  erblicken  wollte.  Wer  aber 
nicht  fronun  und  gelehrt  war,  der  hatte  doch  schon  an 
seinem  G-lauben  einen  Gregenstand  der  Beschaulichkeit  von 
unerschopflichem  Tnhalt.  Also  richtet  sich  die  Forderung 
in  Wahrheit  an  alle  Christen.  Aber  es  hat  doeh  fast  zwei 
Menschenalter  gedauert,  bis  in  der  immer  trager  werdenden 
Christenheit  diese  Q-edanken  durchschlugen,  und  niemals 
sind  sie  fur  die  Massen  die  entscheidendsten  gewesen. 
Monchsvereine,  wie  sie  jener  Schiller  des  Origenes,  Hierakas, 
nach  dem  Muster,  welches  Origenes  aufgestellt  hat,  bildete, 
waren  selten.  Not  und  Uberdrufl  am  gemeinen  Leben  ent- 
fesselten  in  elementarer  Weise  die  Bewegung,  und  die  Kirche 
Konstantins  trieb  die,  welche  der  Heligion  leben  wollten, 
in  die  Einsamkeit  und  in  die  Waste. 

Am  Schlufi  der  vierziger  Jahre  des  vierten  Jahrhunderts 
wurde  die  Bewegung  bereits  machtig.  Schon  damals  mufi 
es  Eremiten  zu  Tausenden  gegeben  haben.  Die  Anfange 
des  eigentlichen  Monchtums,  wie  jeder  grofien  geschicht- 
lichen  Erscheinung,  sind  von  Sagen  umflossen,  und  nicht 
mehr  ist  es  moglich,  Dichtung  und  Wahrheit  sicher  zu 
scheiden.  Das  Andenken  angeblicher  Stifter  hat  fast  nur  die 
Legende  bewahrt.  Aber  ein  Doppeltes  wissen  wir,und  das 
geniigt,  um  die  Bewegung  im  grofien  zu  kennen  und  richtig 
zu  beurteilen.  Wir  kennen  das  urspriingliche  Ideal,  und 
wir  konnen  den  Umfang  der  Weltnucht  ermessen.  Das 
urspriingliche  Ideal  war:  der  reinen  Anschauung  Grottes 
teilhaffcig  zu  werden,  das  Mittel:  absoluter  Verzicht  auf  alle 
Griiter  des  Lebens,  dazu  gehorte  auch  die  kirchliche  G-e- 
meinschaft.  Man  floh  nicht  nur  die  Welt  in  jedem  Sinne 
dieses  Wortes,  man  floh  auch  die  Weltkirche.  Mcht  als 
ob  man  ihre  Lehren  fur  unzureichend,  ihre  Ordnungen  fur 


Erster  Band,  erste  Abteikmg.     Reden:  IV. 

unangemessen,  ihre  Grnadenspendungen  for  gleichgiiltig 
hielt;  aber  man  Melt  ihren  Boden  fur  gefahrlich  und  man 
zweifelte  nicht,  alle  sakramentalen  Griiter  durch  Askese  und 
stetige  Betrachtung  des  Heiligen  sich  zn  ersetzen. 

Und  die  Weltkirche  selbst,  wie  stellte  sie  sich  zu  dieser 
Bewegung?  Ertrug  sie  es,  dafl  ihre  Grlieder  es  wagten,  sich 
von  ihrer  direkten  Leitung  zu  emanzipieren,  einen  Weg  der 
Heiligung  einzuschlagen,  den  sie  nicht  iiberwachte?  Duldete 
sie  es,  dafi  ihre  Sohne  auf  ihre  Lebensordnungen  den  Schatten 
eines  Verdachtes  fallen  lieBen,  wenn  sie  sie  auch  nicht  an- 
tasteten?  Sie  hat  keinen  Augenblick  gezweifelt,  sie  konnte 
nicht  zweifeln.  Sie  hat  das  Einzige  getan,  was  ihr  zu  ihrem 
Schutze  iibrig  blieb,  indem  sie  ausdriicklich  die  Bewegung 
billigte,  ja  ihr  das  Zeugnis  gab,  dafi  sie  das  Urbild  christ- 
lichen  Lebens  verwirkliche.  Die  Not,  sich  im  Strudel  des 
Lebens  zu  verlieren,  der  Uberdrufl  an  dem  leeren,  gemeinen 
Leben,  die  Aussicht  auf  ein  hohes  Grut  hatte  die  Menschen 
hinausgetrieben ;  die  Kirche  machte  aus  der  Not  recht  eigent- 
lich  eine  Tugend.  Sie  konnte  nicht  anders;  denn  sie  selbst 
hatte,  je  tiefer  sie  sich  in  "Welt,  Staat  und  Kultur  ver- 
strickte,  um  so  lauter  und  eindringlicher  das  gepredigt,  was 
das  Monchtum  nun  durchfuhrte. 

Es  ist  eine  der  frappantesten  geschichtlichen  Beobach- 
tungen,  dafi  die  Kirche  gerade  in  der  Zeit,  wo  sie  iramer 
mehr  sich  als  Rechtsinstitut  und  Sakramentsanstalt  ausbil- 
dete,  ein  christliches  Lebensideal  entwarf,  welches  nicht  in 
ihr,  sondern  nur  neben  ihr  verwirklicht  werden  konnte.  Je 
mehr  sie  sich  mit  der  Welt  einliefi,  um  so  hoher,  um  so 
iibermenschlicher  schraubte  sie  ihr  Ideal.  Sie  selbst  lehrte, 
dafi  der  hochste  Zweck  des  Evangeliums  die  Anschauung 
Grottes  sei,  und  sie  selbst  wufite  keinen  sichereren  Weg  zu 
dieser  Anschauung  als  die  Weltflucht.  Indessen,  diese  Gre- 
dankenreihe  stellt  sich  in  ihr  nur  als  die  disparate  Er- 
ganzung  zu  der  moralisierenden  Verflachung  des  Christen- 
tums  dar,  der  sie  sich  hingegeben.  War  ihr  Absehen  fak- 


Das  Monchtum.  103 

tisch  darauf  gerichtet,  ihren  diirftigen  sittlichen  Regeln  und 
ihren  Kultussatzungen  alles  unterzuordnen,  so  reagierte  dock 
ihre  eigene  Theologie  dagegen.  Das  Monchtum  liefi  es  bei 
der  „  Theologie"  nicht  sein  Bewenden  haben.  Es  machte 
mit  dem  Gredanken  Ernst,  dafl  das  Christentum  Religion  sei 
und  Hingabe  des  Lebens  von  dem  Individnum  fordere.  Es 
1st  aber  ein  Beweis  fur  die  aufierordentliche  Macht,  mit  der 
sich  die  Kirche  bereits  in  den  Gremutern  der  Menschen  fest- 
gesetzt  hatte,  dafl  das  Monchtum  bei  seinem  Auftreten  es 
nicht  mehr,  wie  jene  Montanisten,  gewagt  hat,  an  der 
Kirche  Kritik  zu  iiben,  ihren  Weg  als  einen  Abweg  zu  be- 
zeichnen.  Uberschlagt  man,  welch'  eine  Begeisterung,  welch' 
ein  Fanatismus  sich  rasch  in  den  Monchskolonien  ausbildete, 
so  kann  man  nur  staunen,  wie  sparlich  und  unwirksam  An- 
griffe  auf  die  Kirche  gewesen  sind,  wenn  sie  auch  nicht 
ganz  gefehlt  haben.  Kaum  Einer  hat  eine  Reform  der  gan- 
zen  Christenheit  verlangt.  Die  Bewegung  konnte  eine  Re 
volution  fur  die  "Weltkirche  werden  und  sie  hat  in  Wahr- 
heit  ihre  Bahnen  nicht  gestort.  Zwar  fafite  man  ein  schwe- 
res  MiBtrauen  gegen  das  kirchliche  Amt ;  wie  viele  sind  ent- 
flohen,  als  man  es  ihnen  auferlegen  wollte!  Aber  die  Ehr- 
furcht  vor  demselben  schwand  nicht;  man  furchtete  nur 
seine  Grefahren.  Allerdings  trat  hie  und  da  eine  Spannung 
ein  zwischen  Qeistlichen  und  Monchen;  man  verachtete 
wohl  auch  die  Personen  dort,  aber  nicht  mehr. 


IV. 

Doch  greifen  wir  nicht  vor.  Tausende  waren  hinaus 
gezogen,  und  der  Ruf  der  Heiligkeit,  Weltliberdrufi  und 
Arbeitsscheu  lockte  Tausende  nach.  Der  Motive  zum  Monchs- 
leben  gab  es  viele,  namentlich  seit  der  Aufrichtung  der 
christlichen  Staatskirche,  seitdem  der  wahren  oder  gemachten 
Begeisterung  kein  Martyrium  mehr  winkte.  Schon  um  die 
Mitte  des  vierten  Jahrhunderts  war  es  eine  bunte  (resell- 


104  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

schaft  in  der  Einsamkeit.  Die  einen  waren  hinausgezogen, 
um  wirklich  BuJBe  zu  tun  und  Heilige  zu  werden,  die  andern, 
um  dafiir  zu  gelten.  Die  einen  flohen  die  Gesellschaft  und 
ihre  Laster,  die  andern  den  Beruf  und  seine  Arbeit.  Die 
einen  waren  einfaltigen  Herzens  und  von  unbeugsamem 
Willen,  die  andern  waren  krank  vom  Rausche  des  Lebens. 
Dort  wollte  man  reich  werden  an  Erkenntnis  und  wahrer 
Freude,  der  ,,Philosophie"  leben  in  stillem,  geistigem  Gre- 
nufi,  hier  wollte  man  sich  arm  machen,  leiblich  und  geistig, 
und  verachtete  Vernunft  und  Wissenschaft.  Ergreifende 
Bekenntnisse  sind  auf  uns  gekommen;  aber  lauter  ertonen 
die  Klagen  iiber  die  Versuchungen  der  Welt  und  die  An- 
laufe  der  Sinnlichkeit  als  iiber  die  Selbstsucht  des  Herzens. 
Und  neben  den  schweigsamen  BiiOer  tritt  bald  der  zucht- 
lose  Schwarmer.  Die  Zuchtlosigkeit  bedurfte  einer  Fessel, 
die  Gegensatze  forderten  eine  Organisation.  Sie  ist  fruhe 
eingetreten.  Man  tat  sich  zusammen  zu  gemeinsamem  Le 
ben.  Wir  finden  zwei  Formen  desselben:  Eremitenkolonien 
und  wirkliche  Kloster.  Es  wurden  Ordnungen  aufgestellt, 
zum  Teil  sehr  harte.  Sie  zeigen  uns  nicht  nur  den  Ernst 
der  Askese,  sondern  auch  schon  grobe  Ausschreitungen,  die 
zu  bestrafen  waren.  Dabei  wurde  hie  und  da  in  den  Monchs- 
kolonien  ein  Fanatismus  wach,  der  alles  Mafi  uberschritt. 
Wir  treffen  schon  fruhe  auf  Fanatiker,  die  den  rasenden 
Derwischen  gleichen,  von  denen  uns  die  Orient-Heisenden 
heute  noch  erzahlen.  Aber  auch  unter  den  wahrhaften 
Monchen  bemerken  wir  schon  im  vierten  Jahrhundert  die 
wichtigsten  Unterschiede.  Zwar  die  Grundregeln:  aus- 
schliefiliches  Leben  mit  G-ott,  Armut  und  Keuschheit,  wozu 
bei  den  klosterlichen  Einsiedlern  noch  der  G-ehorsam  trat, 
sind  bei  alien  die  gleichen.  Aber  wie  verschieden  gestalte- 
ten  sie  sich  in  Wirklichkeit!  Lassen  Sie  mich  nur  eins 
nennen.  Die  einen,  voll  Dank,  einer  verbildeten,  unwahren 
Kultur  entronnen  zu  sein,  entdecken  in  der  Einsamkeit, 
was  sie  nie  gekannt  —  die  Natur.  Mit  ihr  leben  sie  sich 


Das  MOnchtum.  105 

ein,  ihre  Sehonheit  suchen  sie  auf  und  preisen  sie.  Wir 
haben  von  Einsiedlern  des  vierten  Jahrhunderts  Natur- 
schilderungen,  wie  sie  das  Altertum  selten  hervorgebracht 
hat.  Wie  frohliche  Kinder  wollten  sie  ihrem  Grott  leben  in 
seinem  Garten.  In  dem  Gtarten  erblicken  sie  den  Baum 
der  Erkenntnis,  —  nicht  mehr  ist  es  verboten,  seine  Friichte 
zu  brechen  — ,  und  so  wird  ihnen  die  Einsamkeit  zum 
Paradies;  kein  Fluch  liegt  auf  ihrer  Arbeit,  denn  Erkennen 
ist  Seligkeit.  Aber  die  andern  —  sie  verstanden  Askese 
anders.  Nicht  die  Rultur,  auch  die  Natur  ist  zu  fliehen, 
nicht  nur  die  gesellschaftlichen  Ordnungen,  sondern  der 
Mensch.  Alles,  was  Anlafi  zur  Siinde  werden  kann  —  und 
was  kann  nicht  Anlafi  werden  — ,  ist  abzutun,  alle  Freude, 
alles  Wissen,  aller  Menschenadel.  Was  war  die  Folge? 
Der  eine  hungerte  sich  aus  bis  zum  Tode,  der  andere  schweifte 
umher,  dem  Tiere  der  Wiiste  gleich,  ein  dritter  warf  sich 
in  die  Siimpfe  des  Nils  und  liefi  sich  von  den  Insekten 
peinigen,  ein  vierter  brachte  halbnackt,  Wind  und  Wetter 
preisgegeben ,  Jahre  hindurch  schweigsam  auf  einer  Saule 
zu.  So  sollte  das  Fleisch  gedampft  und  gekreuzigt  werden; 
so  wollte  man  den  Frieden  der  Seele  in  der  Kontemplation 
G-ottes  erzwingen:  Rein  sein  und  Schweigen.  Aber  sie 
selbst  mufiten  gestehen,  dafi  die  Empfindung  des  Friedens 
nur  selten  und  nur  auf  Minuten  iiber  sie  kam.  Dafiir  aber 
kamen  furchterliche  Phantasien,  die  sich  zu  konkreter 
Wirklichkeit  ausgestalteten.  Und  die  Zeitgenossen  nahmen 
ihre  Schilderungen  begierig  auf.  Die  alternde  Welt  ent- 
ziickte  sich  an  dem  Raffinement  der  Entsagung  und  an 
den  wilden  Traumen  in  der  Wiiste  hausender  Monche. 
Was  man  selbst  zu  leisten  weder  den  Mut  noch  den  Willen 
hatte,  wollte  man  doch  in  der  Vorstellung  geniefien.  Feuille- 
tonisten  im  Monchsgewande  formten  Romane  und  Novellen 
aus  den  wirklichen  und  ertraumten  Erlebnissen  schweigen- 
der  BiiBer.  Eine  neue  Literaturgattung  seltsamster  Art 
begann:  die  Monchsbelletristik ,  und  Jahrhunderte  haben 


106  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

sich  an  ihr  erbaut.  Auch  eine  Weise,  wie  die  Weltkirche 
die  Taten  jenes  grausigen  Heroismus,  den  ihre  Unterlassun- 
gen  immer  wieder  hervorriefen,  quittierte! 

Welche  von  den  beiden,  hier  nur  im  Schema  gezeich- 
neten  Arten  dieses  Monchtums  hat  aber  die  Folgerichtigkeit 
auf  griechisch-christlichem  Boden  fur  sich?  Welches  Ideal 
war  unter  den  geschichtlich-religiosen  Verhaltnissen  das  au- 
thentische?  Das  jener  natur-  und  gottesfrohen  Briider,  die 
in  stiller  Abgeschiedenheit  der  Erkenntnis  G-ottes  und  der 
Welt  lebten,  oder  das  jener  heroischen  BiiBer?  Es  ist  nicht 
billige  Konsequenzmacherei,  wenn  man  behauptet:  nur  das 
letztere.  Hat  man  doch  in  Bezug  auf  das  erstere  sofort 
auf  den  Zusammenhang  aufmerksam  zu  machen,  in  welchem 
es  mit  dem  antiken  Ideale  des  Weisen  steht.  Aber  das 
geniigt  noch  nicht :  versetzen  wir  uns  in  den  geschichtlichen 
Zusammenhang.  Das  hochste  Ideal  kann,  so  lautete  die 
allgemeine  Ansicht  der  Zeit,  nur  aufierhalb  der  Welt  ver- 
wirklicht  werden,  aufierhalb  jedes  Berufs:  in  der  Askese 
liegt  es  selbst  beschlossen.  Sie  ist  zwar  Mittel  zum  Zweck, 
aber  zugleich  auch  Selbstzweck;  denn  sie  enthalt  in  sich 
die  Grewahr,  dafi  der  BiiBende  zur  Anschauung  Grottes  ge- 
langt.  Sind  diese  Satze  richtig,  dann  ist  alles  Halbheit, 
was  den  Kampf  bis  aufs  auCerste  hindert;  dann  muC  nicht 
nur  die  Kultur,  es  muC  die  Natur,  es  mufi  die  G-eschichte, 
es  muC  schliefilich  jede  zweckvolle  sittliche  Betatigung  als 
ein  Unvollkommenes ,  Storendes,  beseitigt  werden;  dann 
gilt  es  den  grandiosen  Versuch  wagen,  sich  vom  Natur- 
boden,  vom  Kulturboden,  ja  von  der  Welt  des  Sozial-Sitt- 
lichen  zu  befreien,  um  den  reinen  religiosen  Menschen  in 
sich  auf  diese  Weise  rein  zu  gestalten.  Hiermit  haben 
wir  das  eigentliche  Q-eheimnis,  aber  auch  die  Schranke  der 
alten  griechischen  Anschauung  vom  Christentum  beriihrt. 
Auch  der  Weltkirche  schwebte  als  hochstes  Ideal  ein  reli- 
gioses  Leben  vor,  das  den  Menschen  schon  hier  auf  Erden 
liber  alle  Bedingungen  seiner  Existenz,  also  auch  iiber  die 


Das  MGnchtum.  107 

geschichtlichen  und  sozial  -  sittlichen ,  hinausfiihrt.  Nieht 
als  ob  diese  gleichgultig  waren,  oder  als  ob  ihr  Gregenteil 
ebenso  Recht  hatte,  nein!  Aber  das  Christentum  hatte 
bister  kein  neues  sittKch.es  Leben  in  der  Gemeinschafts- 
form  verwirklichen  konnen,  und  die  sittlichen  Maflstabe 
des  antiken  Lebens  waren  abgeniitzt,  an  sich  unbrauchbar 
oder  nicht  mehr  zu  finden.  Es  war  nur  folgerecht,  dafi 
darum  die  Ernsteren,  die  doch  keine  Reformatoren  waren, 
die  sittlichen  Ordnungen,  verwildert  wie  sie  waren,  als 
Schranken  empfanden,  Schranken,  im  G-rnnde  nicht  bessere 
wie  die  elementaren  Bedingungen  des  Menschendaseins. 
Darum  wird  ein  christliches  Ideal  entworfen,  welches  an- 
geblich  rein  religios  ist  —  ich  mochte  sagen  wubersittlich". 
Nicht  anf  dem  Boden  geschichtlich  gegebener  sozialer  Ord 
nungen  und  sittlich  zweckvoller  Lebensbetatigung  soil  der 
christliche  Glaube  zu  seinem  wahren  Rechte  kommen, 
sondern  auf  dem  Boden  der  Verneinung  alles  Menschlichen, 
d.  h.  der  aufiersten  Askese.  So  soil  der  zukiinftige  Anteil 
an  der  gottlichen  Natur  antizipiert  werden.  Das  ist  der 
Hochflug  des  griecnischen  Christentums  auch  heute  noch, 
soweit  es  nicht  versteinert  oder  durch  abendlandische  Ein- 
fliisse  in  eine  andere  Richtung  gewiesen  ist  —  man  kann 
ihm  die  Sympathie  nicht  versagen,  wenn  man  das  tieflie- 
gende  Niveau  der  gemeinen  sogenannten  christlichen  Sitt- 
lichkeit  beachtet,  iiber  das  er  sich  erheben  will,  da  ihm  ein 
anderes  nicht  erscheint  — ;  aber  es  ist  ein  Flug  wie  ins 
Unendliche,  so  ins  Leere.  Denn  was  gewahren  wir  nun? 
Auf  der  einen  Seite  eine  Weltkirche,  unterworfen  dem 
Staat  und  bis  zur  Identitat  verkniipft  mit  dem  Volkstum, 
ganz  wesentlich  eine  Kultusanstalt  mit  sparlichstem  Einflufi 
auf  das  sittliche  Leben  ihrer  Glieder,  keine  selbstandigen 
Aufgaben  mehr  verfolgend.  Auf  der  anderen  Seite  ein 
Monchtum  ohne  geschichtliche  Ziele,  darum  auch  ohne  jede 
geschichtliche  Entwickelung.  Es  ist  heute,  von  einigen 
neuern,  vielleicht  zukunffcsreichen  Erscheinungen  abgesehen, 


1Q8  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  IV. 

wesentlich  dasselbe,  wie  es  zur  Zeit  der  altesten  byzanti- 
nischen  Kaiser  gewesen.  Selbst  die  aufleren  Regeln  haben 
sieh  kaum  geandert.  Zwar  jene  extremen  Saulenheiligen 
sind  nicht  durchgedrungen  —  solche  Formen  konnen  nicht 
siegen  — ,  aber  ihre  Sache  siegte  und  darin  sind  sie  durch 
gedrungen,  dafi  noch  immer  die  aufierste  Askese  fiir  die 
beste  gilt,  vor  allem  aber  darin,  dafi  das  griechische  Monch- 
tmn  sich  selten  zu  zweckvoller  Arbeit  im  Dienste  der  Kirche 
und  Menschheit  entschlossen  hat.  Die  griechischen  Monche, 
natiirlich  gibt  es  ehrwiirdige  Ausnahmen,  leben  noch  heute 
wie  vor  tausend  Jahren  ,,in  stiller  Beschaulichkeit  und 
seliger  Ignoranz".  Arbeit  wird  nur  gerade  so  viel  geleistet, 
als  zum  Leben  notwendig  ist;  aber  noch  immer  mufi  dem 
gelehrten  Monch  der  ungelehrte  ein  stiller  Vorwurf  sein, 
der  Naturscheue  dem  Naturfreudigen,  noch  immer  mufi 
dem  arbeitenden  Eremiten  das  Grewissen  schlagen,  wenn 
er  den  Bruder  sieht,  der  nicht  arbeitet,  auch  nicht  denkt, 
auch  nicht  spricht,  sondern  in  einsamer  Beschauung  und 
Selbstpeinigung  erwartet,  dafi  ihm  endlich  der  selige  Licht- 
glanz  Grottes  erscheine.  Und  wie  im  fdnften  Jahrhundert 
besteht  die  Spannung  fort  zwischen  Klosterbriidern  und 
Weltgeistlichkeit.  Zwar  werden  die  hoheren  Kleriker  aus 
der  Zahl  der  Klostergeistlichen  genommen  —  das  Monch- 
turn  hat  selbst  Kaiser  und  Hof  zeitweilig  oder  dauernd 
einen  haflliehen  Anstrich  geben  konnen  — ,  aber  das  andert 
nichts  an  den  Beziehungen.  Es  steht  neben  der  Kirche, 
nicht  in  der  Kirche,  und  es  kann  nicht  anders  sein;  denn 
was  sollte  es  der  Kirche  leisten,  die  selbst  auf  jede  eigen- 
tumliche  Aufgabe  verzichtet?  Das  einzige,  woran  es  leben- 
digen  Anteil  nimmt,  ist  das  Interesse  am  Kultus  der  Kirche ; 
es  malt  Heiligenbilder,  malt  wohl  auch  Blicher  ab.  Aber 
auch  vom  Kultus  darf  es  sich  emanzipieren;  die  Kirche 
duldet  nicht  blofi  den  Eremiten,  der  sich  jahrelang  von 
ihrer  Gremeinschaffc  fernhalt,  sie  bewundert  ihn.  Sie  mufi 
thn  bewundern;  denn  er  verwirklicht  das  ihr  selbst  uner- 


Das  Mtfnchtum.  109 

reichbare  Ideal.  Ihr  Ideal  —  dafi  ich  so  sage:  ihr  hoheres 
Ideal,  denn  nun  hat  sie  ein  doppeltes  ausgebildet:  das  der 
Askese  und  das  des  Kultus.  Wem  die  Grabe  oder  die  Kraft 
nicht  verliehen  ist,  durch  Askese  zum  Anteil  an  Grott  zu 
gelangen,  der  kann  diesen  Anteil  auch  erreichen,  indem  er 
sich  im  Grottesdienst  durch  die  heiligen  Mysterien  fullen 
laflt.  Heilsgenufl  gewahrt  auch  der  Kultus,  wenn  man  ihn 
pietatsvoll  mitmacht  und  die  kirchlichen  Pflichten  erfullt. 
Das  Monchtum  hat  diese  Theorie  nicht  angetastet,  sondern 
unterstiitzt.  Indirekt  kam  sie  ihm  ja  zu  gute. 

Zeitweilig  hat  das  Monchtum  sich  der  Weltkirche  ge- 
nahert,  und  auch  diese  hat  versucht,  es  in  ihren  Dienst  zu 
nehmen.  Zeitweilig  ist  der  Versuch  auch  gegliickt.  Die 
grofien  Kirchensynoden  des  fiinften  bis  siebenten  Jahrhun- 
derts  wissen  davon  zu  erzahlen.  Die  Dogmatik,  welche 
sich  dort  durchsetzte,  entstammte  zum  Teil  monchischer 
Phantasie  und  ist  auch  durch  Monchsargumente  und  Monchs- 
fauste  verteidigt  worden.  Aber  die  Bischofe  wurden  behut- 
samer  und  scheuten  sich,  den  Fanatismus  der  Monche  auf- 
zurufen;  denn  jedesmal,  wo  die  Weltfluchtigen  in  den 
Streit  der  Parteien  eingriffen,  entstand  folgerecht  eine  Re 
volution,  Krieg  und  Totschlag.  Darum,  nachdem  sie  auch 
noch  monchisch  -  frommelnde  Imperatoren  kompromittiert 
und  bald  darauf  die  Ideale  despotischer  Reformkaiser  ge- 
stiirzt  hatten,  liefi  man  sie  beiseite.  Sie  hatten  auch  nichts 
mehr  zu  tun.  Seit  dem  Ende  des  neunten  Jahrhunderts 
haben  sie  selten  mehr  eine  R-olle  in  der  G-eschichte  gespielt. 
Weil  sie  gesiegt  hatten,  wurden  sie  auch  der  Welt  und 
Weltkirche  gegeniiber  eine  konservative  Macht.  Wunder- 
bar!  die  Weltfluchtigen  schiitzen  nun  in  ihrer  Passivitat 
Kultus  und  nationale  Sitte!  Ihr  Fanatismus  erwacht,  wo 
diese  angetastet  werden.  Hier  weifi  das  Monchtum  sich 
auch  im  Bunde  mit  den  Massen.  Sonst  gehen  Monchtum 
und  Weltkirche  nebeneinander  her,  oder  vielmehr,  wo  jenes 
dieser  die  Hand  reicht,  da  stellt  es  sich  auch  bedingungs- 


Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

los  dem  Staate  zur  Verfugung.  Der  Monch-Bischof  ist  wie 
im  byzantinischen  so  im  tiirkischen  Reich  vielfach  noch  - 
doch  sind  allmahliche  Besserungen  unverkennbar  —  ein 
Scherge,  wohl  auch  ein  Steuerbeamter  des  Staates.  Mit 
ilun  im  Bunde  beutet  er  das  christliche  Volk  aus:  er  ge- 
nieBt  die  Ehren  der  hohen  Beamten,  aber  nimmt  anch  an 
der  Korruption  und  den  unberechenbaren  Geschicken  der- 
selben  Anteil.  So  hat  sich  jener  Hochflug  des  Ideals  ge- 
racht.  Man  wollte  durch  den  Giauben  alle  natiirlichen 
Bedingungen  aufheben,  man  vermafl  sich,  auch  die  sitt- 
lichen  GHiter  dahinten  las  sen  zu  diirfen  —  und  mit  ge- 
brochener  Kraft  langte  man  am  Boden  an.  Eine  verstaat- 
lichte,  verweltlichte  Kirche,  ein  geschichtloses  Monchtum 
unfruchtbarer  Askese,  zaher  Hiiter  der  nationalen  und 
kirchlichen  Grebrechen,  war  das  Resultat.  Die  griechische 
Kirche  behauptet  die  Pole  der  Askese  und  der  kultisch- 
kirchlichen  Pnichtleistung.  Das  eigentliche  Grebiet,  das 
durch  den  Grlauben  zu  regelnde  sittliche  Berufsleben,  fallt 
aufierhalb  ihrer  direkten  Beobachtung.  Es  wird  dem  Staat 
und  dem  Volksturn.  iiberlassen;  es  ist  ja  Welt.  Jene  haben 
es  nicht  schwer  gehabt,  auf  diesem  Wege  allmahlich  die 
gesamte  Kirche  mit  Beschlag  zu  belegen  und  zum  Mittel 
fur  ihre  Zwecke  herabzusetzen.  Eben  weil  das  Ideal  des 
Monchtums  und  der  Weltkirche  im  Kampf  mit  dem  Welt- 
staate  im  achten  und  neunten  Jahrhundert  siegreich  blieb, 
eben  darum  unterlagen  Monchtum  und  Kirche  faktisch  und 
definitiv  dem  Staate.  Auf  der  Flucht  vor  dem  Sinnlichen 
hat  er  sie  eingeholt,  ihr  seine  Behandlung  des  Sittlichen 
aufgedrungen,  aber  ihren  Kultus  sich  angeeignet.  Der 
byzantinische  Staat  erweist  sich  so  noch  immer  als  eine 
Abart  des  antiken.  Aber  das  Eine  war  erreicht,  dafi,  wo 
der  Staat  in  offentlichem  Recht  und  im  offentlichen  Leben 
ausdriicklich  christliche  Gredanken  als  mafigebende  auf- 
stellte,  er  sie  in  monchischer  Fassung  aufnahm.  Das  by 
zantinische  Gresetzbuch  —  auch  unsere  sozial-sittlichen  An- 


Das  Monchtum.  Ill 

schauungen  haben  sich  von  den  Harten  desselben  noch 
nicht  befreit  —  1st  z.  T.  ein  seltsames  G-emisch  romischer, 
unbarmherziger  Klugheit  und  monchischer  Weltbeurteilung. 
Das  ist  die  Greschichte  des  Monchtums  im  Morgenlande. 
Immer  wieder  mag  man  sick  erinnern,  dafi  es  auch  heute 
noch.  das  Komplement  zur  verweltlichten  Kirche  1st,  dafi  es 
auch  heute  noch  einzelne  aus  dem  gemeinen  Treiben  rettet, 
Heilige  in  sich  birgt  nnd  das  ode  Kirchentnm  anklagt; 
aber  das  lehrt  diese  Greschichte,  dafi  in  der  abgestuften 
Reihe  menschlicher  Ideale  auf  dem  Grunde  des  Evangeliums 
das  Ideal  der  Beschaulichkeit  nnd  Weltflucht  zur  Rettung 
der  Seele  nicht  das  letzte  und  hochste  sein  kann,  dafi  die 
blofi  leidende  Tapferkeit  schliefilich  unterliegt,  dafi  die  Welt 
ihre  Ideale  in  der  Kirche  aufrichtet,  wenn  der  Christ  sein 
eigenes  aufierhalb  der  Welt  verwirklichen  will.  Wohl  gibt 
es  Zeiten,  wo  das  Mafi  der  Ungerechtigkeit,  welches  auf 
den  Handelnden  fallt,  ein  unertraglich  grofies  ist,  und 
immer  wird  es  Individuen  geben,  die  so  zart  besaitet  sind, 
dafi  sie  ihr  bestes  Teil  in  die  Einsamkeit  tragen  miissen, 
um  es  zu  bewahren;  aber  wo  der  Notstand  zur  hochsten 
Tugend  gestempelt  wird,  da  werden  hohe  GKiter  entwertet, 
und  schliefilich  verliert  man  auch  den  Preis,  um  den  man 
die  dahingegeben.  Haben  wir  es  doch  in  unsern  Tagen 
erlebt,  dafi  aus  dem  Schofie  der  Kirche  Rufilands  eine 
Personlichkeit  wie  die  des  Grafen  Tolstoi  hervorgetreten  ist 
—  ein  Laie,  aber  als  Schriftsteller  doch  der  echte  griechische 
Monch,  dem  keine  andere  Moglichkeit  einer  Reform  der 
Kirche  vorschwebt,  als  die  eines  radikalen  Bruchs  mit  der 
Kultur  und  der  Greschichte,  und  dem  alles  Sittliche  befleckt 
erscheint  —  selbst  die  Ehe  — ,  sofern  es  mit  dem  Sinn- 
lichen  im  Zusammenhang  steht.  Welch7  ein  furchtbarer 
Feind  der  griechischen  Kirche  einst  der  Manichaismus  ge- 
wesen  ist,  lernt  man  an  den  Schriften  dieses  wunderbaren 
Mannes  abschatzen!  Je  ernster  es  der  griechische  Monch 
mit  seinem  Christentum  nimmt,  desto  hilfloser  steht  er 


Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

der  finsteren  Anschauung  gegeniiber,  dafl  die  Welt  ver- 
teufelt  sei,  und  schliefilich  maG  der  Monch  sich  wieder  zur 
Autoritat  der  Weltkirche  fliichten,  um  nicht  dem  Mani- 
chaismus  zu  verfallen. 


V. 

Wie  ganz  anders  1st  doch  die  Entwickelnng  des  Monch 
tums  im  Abendland  verlaufen!  Ein  Blick  auf  seine  Ge- 
schichte  dort  geniigt,  um  gleich  die  wesentlichen  Unter- 
schiede  zu  entdecken.  Erstlich  —  dort  hat  das  Monchtum 
eine  wirkliche  Geschichte  gehabt,  and  zweitens  —  dort  hat 
das  Monchtum  Geschichte  gemacht,  Kirchen-  und  Welt- 
geschichte.  Es  steht  nicht  nur  neben  der  Kirche  und  ver- 
zehrt  sich  in  stiller  Askese  und  mystischer  Spekulation, 
nein  —  es  steht  mitten  inne  in  der  Kirche,  ja  es  ist  neben 
dem  Papsttum  auf  alien  G-ebieten  der  machtigste  Faktor 
der  abendlandisch-katholischen  Klirchengeschichte  gewesen. 
Man  kann  das  orientalische  Monchtum  beschreiben  vom 
vierten  Jahrhundert  bis  auf  den  heutigen  Tag  und  braucht 
doch  nur  wenige  Namen  zu  nennen;  es  hat  scharf  um- 
rissene  Individualitaten  nur  selten  hervorgebracht.  Die 
Geschichte  des  occidentahschen  Monchtums  ist  eine  Ge 
schichte  der  Personen  und  Charaktere. 

Der  romische  Katholizismus  zeigt  uns  in  seiner  Ent- 
wickelung  eine  fortgesetzte  Kette  von  lebendigen  Reformen, 
und  jede  dieser  Reformen  ist  bedingt  durch  eine  neue 
Stufe  der  Entwickelung  des  Monchtums.  Die  Stiftung  des 
Benediktinerordens  im  6.  Jahrhundert,  die  kluniazensische 
Reform  im  11.,  das  Auftreten  der  Bettelorden  im  13.,  die 
Stiftung  der  Gesellschaffc  Jesu  im  16.  Jahrhundert,  sie  sind 
die  vier  grofien  Marksteine  in  der  Geschichte  des  abend- 
landischen  Katholizismus.  Immer  ist  es  das  Monchtum 
gewesen,  welches  die  sinkende  Kirche  gerettet,  die  ver- 
weltlichte  befreit,  die  angegriffene  verteidigt  hat.  Es  hat 


Das  Monchtum.  113 

die  erkaltenden  Herzen  erwarmt,  die  widerspenstigen  Geister 
gezugelt,  die  der  Kirche  entfremdeten  Volker  wiederge- 
wonnen.  Dieser  Hinweis  allein  lehrt,  dafi  wir  in  dem 
Monchtum  des  Abendlandes  einen  Kirchen-  und  Kultur- 
faktor  ersten  Ranges  zu  erkennen  haben.  Wie  ist  es  zu 
einem  solchen  geworden? 

VerhaltnismaBig  spat  und  langsam  ist  das  Monchtum 
aus  dem  Morgenland  in  das  Abendland  gedrungen;  denn 
weder  die  Natur  noch  die  Kultur  waren  ihm  hier  guns  tig. 
Wahrend  es  um  die  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts  schon 
weit  im  Orient  verbreitet  war  und,  wie  wir  bestimmt  an- 
nehmen  durfen,  in  manchen  Gegenden  unabhangig  von 
agyptisehen  Einfliissen  entstanden  ist,  hat  es  im  Occident 
erst  am  Ende  jenes  Jahrhunderts  festen  FuC  gefafit,  ja  es 
ist  recht  eigentlich  aus  dem  Orient  importiert  worden.  Im 
Abendlande  sind  diejenigen  Theologen  seine  ersten  Be- 
wunderer  gewesen,  welche  Agypten  und  Syrien  bereist 
hatten  und  mit  den  ^Griechen"  in  engster  Verbindung 
standen,  wie  Rufin  und  Hieronymus.  Kloster  bliihten  auf, 
namentlich  in  Siidgallien;  aber  unter  orientalischem  EinfluB. 
Und  es  hat  das  Monchtum  gleich  anfangs  entschiedenen 
Widerspruch  in  der  Kirche  des  Westens  gefunden,  wahrend 
wir  von  einem  solchen  im  Osten  nur  sehr  weniges  ver- 
nehmen.  Man  mufi  die  Schriften  des  Sulpicius  Severus  (um 
400)  lesen,  um  zu  erkennen,  unter  welchen  Angriffen  sich  in 
Gallien  und  Spanien  das  Monchtum  damals  durchgesetzt 
hat.  Es  fehlte  nicht  viel,  so  hatten  die  verweltlichten  Bi- 
schofe  die  Monche  wie  Manichaer  behandelt.  Indessen,  der 
Widerspruch  verhallte  doch  ras<?h;  auch  im  Abendlande 
kam  bald  die  herrschende  Stimmung  dem  Monchtume  ent- 
gegen,  und  bald  war  der  einst  verlasterte  Name  des  recht- 
schaffenen  Heiligen,  Martin  von  Tours,  hochgefeiert.  Noch 
bevor  der  grofie  Augustin  fur  das  neue  Leben  eingetreten, 
hatte  es  sich  eingebiirgert;  unter  den  Stiirmen  der  Volker- 
wanderung  setzte  es  sich  fest.  Das  monchische  Ideal  war 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    L  8 


Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

zunachst  in  seinen  Grundziigen  dort  und  hier  das  gleiche, 
und  1st  es  durch  ein  Jahrtausend  hindurch  geblieben:  die 
Versenkung  in  G-ott,  die  strenge  Askese.  Namentlich  war 
es  die  Virginitat,  die  auch  hier  als  die  wertvollste  Voraus- 
setzung  eines  gottgeweihten  Lebens  gait;  erschien  sie  doch 
manchen  geradezu  als  die  Quintessenz  christlicher  Sittlich- 
keit.  Die  agyptischen  Anachoreten  galten  auch  dem  Abend- 
lande  alle  Zeit  als  die  Vater  und  Vorbilder  des  wahren 
christlichen  Lebens  —  es  gelang  doch  nicht,  ihre  Taten 
durch  die  des  heil.  Martin  zu  verdunkeln  — ,  und  die  Er- 
zahlungen  von  ihnen  haben  viele  Menschenalter  hindurch 
eine  stille  Mission  getrieben  in  Italien,  Gallien,  G-ermanien, 
ja  bis  jenseits  des  Kanals  in  England  und  auf  der  griinen 
Insel.  Und  doch  waren  die  Faktoren  bereits  im  funften 
Jahrhundert  vorhanden,  die  dem  Monchtum  des  Abend- 
landes  eine  so  ganz  andere  Bedeutung,  eine  G-eschichte, 
geben  sollten.  Darauf  sei  nur  im  Voriibergehen  hingewiesen, 
dafi  schon  die  klimatischen  Bedingungen  des  Abendlandes 
dem  Monchtum  teilweise  eine  andere  Lebensweise  diktieren 
mufiten  als  im  Orient  —  ,,edacitas  in  Graecis  gula  est,  in 
Gallis  natura",  hat  einer  der  altesten  Patrone  des  abend- 
landischen  Monchtums  bemerkt.  Indessen  hiervon  abgesehen 
—  schon  seit  den  Tagen  Tertullians,  seit  dem  Ende  des 
zweiten  Jahrhunderts ,  hatte  die  innere  Entwickelung  des 
Christentums  im  Abendland  eine  andere  Richtung  einge- 
schlagen  als  im  Morgenland.  Nicht  nur  traten  die  prak- 
tisch-religiosen  Fragen,  die  nach  der  Bufie,  der  Siindenver- 
gebung,  dem  Kirchenwesen  in  den  Vordergrund,  sondern 
man  lieferte  auch  die  alten  HofFnungen  auf  das  herrliche 
Weltreich  Christi  nicht  so  rasch  der  blassen  theologischen 
Spekulation  des  Orients  aus.  Man  nahm  an  der  letzteren 
nur  von  ferne  teil.  In  den  sogenannten  chiliastischen  Vor- 
stellungen  bewahrte  sich  die  abendlandische  Kirche  den 
Blick  fiir  das,  was  die  Kirche  Jesu  Christi  sein  soil,  und 
diese  Yorstellungen  mufiten  um  so  wertvoller  werden,  je 


Das  Monchtum.  115 

mehr  man  im  Qegensatz  zu  den  Montanisten  das  ^Phan- 
tastische"  abgestreift  hatte  und  die  Aussicht  auf  iiberzeit- 
liche  Erfiillung  der  Hoffnungen  von  selbst  verblaflt  war. 
Auch  das  abendlandische  Monchtum  hat  im  Unterschied 
von  dem  morgenlandischen  ein  apokalyptisch-chiliastisches 
Element  bewahrt,  welches  freilich  oft  lange  Zeit  latent  ge- 
blieben  ist,  aber  in  kritischen  Momenten  immer  wieder  her- 
vortrat.  Die  kirchlichen  Tendenzen  des  abendlandischen 
Christentums  hat  der  heilige  Augustin  zu  einer  neuen  christ- 
lichen  Welt-  nnd  Lebensanschauung  zusammengeschlossen. 
Die  in  der  Kirche  gegenwartige  Grnade  Grottes  zur  Grerechtig- 
keit  und  die  Kirche  selbst  sind  seine  Zentralbegriffe.  Die 
Kirche,  zunachst  als  Gremeinde  der  Grlaubigen,  dann  aber 
auch  als  sichtbare  Anstalt,  ist  das  Reich  der  Grerechtigkeit 
und  des  sittlich  Ghiten  —  das  Reich  Q-ottes.  Beim  Zerfall 
des  antiken  Staats  im  Abendlande,  beim  Auffcauchen  neuer 
halb-heidnischer  Staaten  entwarf  er  das  groflartige  Pro- 
gramm  einer  zukiinftigen  Greschichte  der  Kirche.  Sie  hat 
die  Menschheit  mit  Kraften  des  Gluten,  mit  der  wahren 
Grerechtigkeit  zu  erfullen;  sie  hat  als  die  sichtbare  Er- 
scheinung  des  Reiches  Grottes  die  Reiche  der  Welt  und  den 
Weltstaat  sich  dienstbar  zu  machen,  die  Nationen  zu  leiten 
und  zu  erziehen.  Nur  dort  kommt  das  Christentum  zu 
seinem  Rechte,  wo  es  ein  Reich  des  sittlich  Gruten  auf 
Erden  schafft,  eine  iiberirdische  Liebesverbriiderung  der 
Menschheit.  Nur  dort  kommt  es  darum  zu  seinem  Rechte, 
wo  es  herrscht;  es  herrscht  aber  nicht  anders,  als  indem 
die  heilige  katholische  Kirche  herrscht.  G-eistliche  Welt- 
herrschaft,  ein  Gottesstaat  der  Grerechtigkeit  auf  Erden, 
ist  deshalb  ein  christliches  Ideal,  ein  Ideal  fur  den  Ein- 
zelnen  und  fur  das  Granze  der  Kirche.  Die  alten  apokalyp- 
tischen  Aussichten,  die  praktischen  Tendenzen  des  Abend- 
landes,  aber  auch  die  griechischen  Spekulationen  sind  von 
Augustin  in  eine  wunderbare  Beziehung  gesetzt;  sie  sollen 
sich  gegenseitig  zwar  nicht  korrigieren,  aber  begrenzen. 

8* 


Erster  Band,  erste  Abteihmg.     Eeden:  IV. 

Das  christliche  Heil  erscheint  gleichsam  in  doppelter  Ge- 
stalt:  es  1st  ewige  selige  Anschauung  Gottes  im  Diesseits 
wie  im  Jenseits;  aber  es  ist  zugleich  in  jenem  ein  welt- 
beherrschendes  Reich  gottlicher  Gaben  und  sittlieher  Krafte. 
Diese  Satze  lauteten  anders  als  die  muhsam  gebildeten 
Dogmen  griechisch-christlicher  Spekulation.  Sie  wiesen  der 
Kirche  eine  selbstandige  Aufgabe  an  neben  dem  Staate 
und  fur  den  Staat.  Sie  sollte  Gott  dienen  und  der  Welt. 
Diese  Aufgabe  war  ein  Problem,  der  Losung  wert  und 
bediirftig.  Das  griechische  Ideal  gibt  sich  nur  darin  als 
ein  Problem,  dafi  seine  Verwirklichung  nur  annahernd 
moglich  ist;  an  sich.  ist  es  eindeutig.  Fur  jene  Auffassung 
aber  wurde  jede  Aufgabe  zugleich  zur  Frage,  die  man  in 
dem  Mafie  erst  stellen  lernte,  als  man  wirldich  in  ihr  ar- 
beitete.  Das  Einzelne  in  dem  Ganzen  der  christlichen  An 
schauung,  so  bestimmt  es  ins  Auge  gefafit  werden  konnte, 
oifenbarte  sein  Wesen  und  erhielt  seinen  "Wert  doch  erst 
in  den  Beziehungen  auf  anderes,  in  die  es  zu  stellen  war. 
Wie  verhalt  sich  der  Dienst  fur  die  Welt  zu  dem  Dienste 
Gottes;  in  welche  Beziehung  ist  das  Sittliche  zu  dem  Reli- 
giosen  zu  setzen?  Die  Entdeckung  war  wieder  gemacht, 
daB  es  schon  auf  dieser  Erde  wahre  Giiter  gebe,  dafi  alles, 
was  aus  Gottes  Hand  hervorgegangen  sei,  gut  sei,  und  dafi 
der  Mensch  seine  Seligkeit  nur  in  der  Hingebung  seines 
Willens  an  Gott  finde.  In  dieser  Hingebung  des  Herzens 
und  Willens  durch  Glaube  und  Liebe,  welche  allein  die  in 
den  Sakramenten  gespendete,  gottliche  Gnade  bewirkt,  wird 
der  Mensch  ein  rechtschaffener,  erhalt  er  Freiheit  und  Ge- 
rechtigkeit,  das  heiBt  die  sittliche  Vollkommenheit.  Diese 
Yollkommenheit  ist  zwar  ein  hochstes  Gut,  aber  sie  ist  doch 
nicht  das  hochste.  Denn  die  Aussicht  gilt  noch,  daJJ  der 
Mensch  zu  Gott  erhoben,  eine  Seligkeit  geniefien  soil,  deren 
Art  und  Wert  durch  keine  Erfahrung  des  diesseitigen 
Lebens  im  voraus  deutlich  festgestellt  werclen  kann.  Sie 
besteht  in  dem  Schauen  Gottes,  ja  in  dem  Sein  wie  Gott. 


Das  Monchtum.  117 

Aber  wie  verhalt  sich  dieses  religiose  Ziel  zu  dem  sittlichen 
einer  vollkommenen  Q-erechtigkeit  im  diesseitigen  Reiche 
Grottes?  Man  kann  behaupten,  dafi  dieses  jenem  unterge- 
ordnet  sei  und  doch  praktisch  ganz  anders  verfahren.  So 
scheint  es  bei  Augustin,  und  die  Kirche  auf  ihrer  Bahn 
zur  Weltherrschaft  ist  ihm  gefolgt.  Sie  hat  faktisch 
fort  und  fort,  indem  sie  sich  selbst  mit  dem  Reiche 
Christi  zu  identifizieren  begann,  die  Sorge  fur  ihre  eigene 
Erhaltung  und  Herrschaft  in  den  Vordergrund  geschoben 
und  die  Volker  gelehrt,  dafi  sie  die  hochsten  Griiter  bei 
ihr  zu  suchen  und  zu  finden  haben.  Ln  Bewufitsein,  die 
gottliche  Grnade  zur  Grerechtigkeit  allein  zu  verwalten 
und  auszuteilen,  hat  sie  im  Prinzip  niemanden  mehr  dul- 
den  konnen,  der  in  Tugendleistung  und  Askese  seine 
Seligkeit  auf  eigenem  Wege  finden  wollte.  Im  Interesse 
der  alleinwirkenden  Grnade  Gottes,  welches  mit  dem 
Interesse  der  Kirche  zusammentrifft,  hat  sie  schon  im 
fiinften  Jahrhundert  den  Wert  einer  kirchlich  nicht  be- 
vormundeten  Askese  auch  fur  den  katholischen  Christen 
in  Abrede  gestellt.  Aber  uber  Schwankungen  ist  'sie  hier 
nicht  hinausgekommen,  da  sie  niemals  geleugnet  hat,  dafi 
die  Kirche  nicht  die  Seligkeit  garantiere,  und  dafi  letzt- 
lich  der  Einzelne  allein  und  ohne  den  Schutz  der  Kirche 
vor  seinem  Grott  stehen  werde.  Dem  Schwanken  dariiber, 
wie  weit  der  einzelne  Christ  selbstandig  zu  lassen  sei 
•  eine  Frage,  die  fur  die  Stellung  des  Monchtums  in 
der  abendlandischen  Kirche  von  entscheidender  Bedeutung 
sein  mufite  —  entspricht  die  Unsicherheit  in  der  Schatzung 
der  biirgerlichen  Rechtsordnungen  und  aller  politischen 
Formen.  Die  Kirche  ist  das  Reich  der  Grerechtigkeit  und 
Liebe:  aufier  ihr  gibt  es  nur  Unrecht  und  Hafi.  Wie  aber 
steht  es  dann  mit  den  Staaten?  Sind  sie  und  ihre  Rechts- 
ordnungen  in  ihrer  Selbstandigkeit  doch  eigentiimliche 
Werte,  oder  werden  sie  solche  nur,  indem  sie  sich  der 
Kirche  unterordnen  oder  konnen  sie  endlich  Werte  iiber- 


Erster  Band,  erste  Abteilung.    Reden:  IV. 

haupt  nicht  werden?  Hat  die  Kirche  zu  herrschen  neben 
dem  Staate  oder  iiber  und  in  den  Staaten  in  rechtlichen 
Formen,  oder  soil  sie  herrschen,  indem  sie  alle  Rechtsord- 
nungen  unnotig  macht?  Noch  waren  diese  Fragen  nicht 
Mar  erkannt,  aber  man  lebte  in  ihnen.  Die  Greschichte  des 
abendlandischen  KathoHzismus  ist  die  G-escMchte  jener  Ideen, 
bis  sie  durch  die  grofien  Papste  des  Mittelalters  im  Sinne 
einer  "Weltherrschaft  der  Kirche  verwirklicht  wurden. 

Wie  mufite  sich  dasMonchtum  zu  ihnen  verhalten?  Die 
Antwort  ist  nicht  schwer.  Entweder  es  muflte  den  Versuch 
machen,  sich  mit  der  Kirche  abzufinden  und  in  griechischer 
Weise  die  blofie  Vorbereitung  anf  das  Jenseits  neben  der 
Kirche  fortzusetzen,  oder  aber  es  muflte  seine  Askese  sich 
beschranken  lassen  durch  den  hoheren  Zweck,  mitzuarbeiten 
an  der  grofien  Aufgabe,  die  Menschheit  durch  das  Evan- 
gelium  umzubilden  und  das  Reich  Christi  auf  Erden  in  der 
Kirche  zu  bauen.  Jenes  hat  nicht  aufgehort,  dieses  ist  ein- 
getreten.  Das  abendlandische  Monchtum  hat  teilgenommen 
an  der  Losung  der  kirchlichen  Aufgabe;  aber,  indem  es 
sein  urspriingliches  Ideal  des  beschaulichen  Lebens  nicht 
opfern  wollte,  wurden  auch  ihm  die  Ideale  zu  Problemen, 
und  indem  es  an  den  Zielen  der  Kirche  teilnahm,  aber 
ihren  Weg  nicht  immer  mitgehen  konnte,  erlebte  es  eine 
eigentiimliche  Greschichte.  Suchen  wir  uns  die  Stadien 
dieser  Geschichte  in  Kiirze  zu  vergegenwartigen. 


VI. 

Die  erste  neue  Stufe  seiner  Entwickelung  hat  das  Monch 
tum  im  sechsten  Jahrhundert  in  Italien  gefunden.  Es  ist 
der  heilige  Benedikt  von  Nursia  gewesen,  der  ihm  eine  neue 
Regel  gegeben  und  es  zu  geordneter  Tatigkeit  und  erspriefi- 
lichem  Wirken  befahigt  hat.  Erst  mufite  es  selbst  reorga- 
nisiert  sein,  ehe  es  nachdrucklich  eingreifen  konnte.  Auf 
den  Inhalt  gesehen,  war  die  Regel  allerdings  keineswegs 


Das  Monet  turn. 


119 


neu.  Aber  es  gab  im  Abendland  am  Anfang  des  sechsten 
Jahrhunderts  hochst  verschiedene  und  z.  T.  hochst  bedenk- 
liche  Formen  von  wM6nchtum".  In  der  Reduktion  dieser 
Formen  auf  die  zweckmafiigste  besteht  das  Verdienst  Bene- 
dikts,  und  noch  groBer  als  das  Verdienst  war  der  Erfolg. 
Der  strenge  G-ehorsam,  zu  welchem  die  Monche  verbunden 
wurden,  der  geordnete  Zusammenschlufl ,  die  Opposition 
gegen  die  vagierenden  und  nichtsnutzigen  Monche,  die  feste 
Regelung  des  taglichen  Lebens  und  die  strenge  Pnicht  zur 
Arbeit,  zunachst  zum  Ackerbau,  sind  beachtenswert.  Die 
Forderungen  des  Grehorsams  und  der  Arbeit  treffen  wir  zwar 
schon  in  orientalischen  Regeln,  sie  treten  auch  in  der  neuen 
Bestimmung  zunachst  noch  nicht  an  die  Spitze,  aber  sie  sind 
doch  in  der  Folgezeit  vor  allem  wichtig  geworden.  Und 
welche  Yeranderungen  brachten  sie  hervor!  Aus  den  rohen, 
zum  Teil  bereits  zersprengten  und  zerriitteten  Monchs- 
kolonien  entstanden  gesetzliche  Verbande  mit  einer  Kraft 
der  Arbeit,  die  ein  Feld  der  Tatigkeit  suchen  mufite.  Jener 
grofie  Bischof  auf  dem  Stuhle  Petri,  Grregor  I.,  selbst  Monch 
von  Kopf  und  Herzen,  hat  diese  neue  Macht  in  seinen  Dienst 
genommen  und  fur  die  Kirche  verwertet.  Schon  vorher  hatte 
der  ostgotische  Minister  Cassiodorius,  nachdem  er  sich  eines 
langen  Lebens  miide  in  das  Kloster  zuriickgezogen ,  auch 
wissenschaftliche  Beschaftigung  in  den  Klosterplan  auf- 
genommen;  er  selbst  hatte  damit  begonnen,  theologische  und 
geschichtliche  Handbiicher  fur  die  Kloster  zu  verfassen.  Vom 
siebenten  Jahrhundert  ab  treffen  wir  Briider  vom  Orden  des 
hi.  Benedikt  weithin  im  Abendlande.  Sie  roden  Walder  aus, 
sie  schaffen  Wiisteneien  zu  Ackerland,  sie  studieren  mit 
bosem  oder  mit  gutem  G-ewissen  die  Gresange  heidnischer 
Poeten  und  die  Schriftwerke  der  Greschichtsschreiber  und 
Philosophen.  Kloster  und  Klosterschulen  erbliihen,  und  eine 
jede  Ansiedelung  ist  zugleich  ein  Mittelpunkt  des  religiosen 
Lebens  und  der  Bildung  im  Lande.  Mit  Hilfe  dieser 
Scharen  hat  der  romische  Bischof  das  Christentum  und 


12Q  Erster  Band,  erste  Abteihmg.     Eeden:  IV. 

einen  Rest  der  alten  Kultur  dem  Abendlande  bringen  oder 
erhalten  konnen;  durch  sie  hat  er  die  neuen  germanischen 
Staaten  zu  romisch-germanischen  umgeformt.  Der  romische 
Bischof  —  denn  weder  hatte  Benedikt  eine  solche  Tatigkeit 
des  Ordens  ins  Auge  gefafit,  nocli  ergab  sie  sich  von  selbst 
aus  seiner  Eegel,  noch  wurde  sie  von  seinen  Jiingern  be- 
wufit  als  eine  Anfgabe  vorgestellt.  Auf  dieser  ersten  Stnfe 
sehen  wir  vielmehr  das  Monchtum  ganz  im  Dienste  und 
unter  der  Leitung  grofier  romischer  Bischofe  und  romischer 
Legaten,  wie  des  heiligen  Bonifazius.  Die  R/omanisierung 
der  von  ihrem  Urspmnge  her  verstaatlichten  frankischen 
Kirche,  das  wiclitigste  Ereignis  der  Epoche,  nnd  die  Ver- 
drangung  aller  nicnt  nach  der  Regel  Benedikts  geleiteten 
Kloster  ist  dem  Orden  nur  gelungen,  indem  er  sich  dem  von 
Horn  aus  geleiteten  Kirchenwesen  unterstellte.  ,,Die  Mit- 
teilung  und  das  "Wirkenlassen  seines  geistigen  Besitzes  lag 
aufierhalb  des  Zweckes  des  Ordens,  wenn  auch  viele  Ordens- 
briider  als  Missionare  mit  grofiem  Segen  tatig  waren,  wenn 
auch  viele  andere  G-elehrsamkeit  aufierhalb  ihrer  Eloster  ver- 
breiteten  und  wenn  auch  einzelne  sich  des  armen  Volkes 
erbarmten  und  es  in  seiner  Sprache  schriftlich  und  miind- 
lich  belehrten,  ermahnten,  erschiitterten  und  trosteten." 

Indessen  —  und  diese  Erscheinung  wiederholt  sich  nun 
immer  wieder  in  der  Greschichte  des  Abendlandes  —  je  mehr 
das  Monchtum  sich  brauchen  liefi  von  der  Erche  und  an 
ihren  Aufgaben  teilnahm,  desto  mehr  verweltlichte  es  selbst 
und  wurde  zu  einem  Institut  der  Kirche.  Dies  mufiten 
ernste  Monche,  die  ihr  Leben  Grott  allein  geweiht  hatten, 
am  starksten  enipfinden.  Es  blieb  ihnen  nichts  iibrig,  als 
entweder  doch  auf  die  Weltaufgabe  zu  verzichten,  sich 
wiederum  ganz  auf  die  strengste  Askese  zuriickzuziehen, 
oder  dem  Orden  selbst  einschneidende  Reformen  zu  pre- 
digen,  um  dann  zu  versuchen,  die  Kanoniker,  den  verwelt- 
lichten  Episkopalklerus,  zu  reorganisieren.  Es  ist  aber  fur 
das  Abendland  charakteristisch,  dafi  die  Monche,  welche  mit 


Das  Monchtum.  121 

rucksicktsloser  Entschiedenheit  zur  griechisclien  Askese  zu- 
riickkeliren ,  sich  bei  ihr  auf  die  Dauer  nicht  beruhigen, 
sondern  nach  langerer  oder  kiirzerer  Zeit  sich.  aus  freien 
Stiicken  dem  G-edanken  einer  Eeform  des  Ordens,  aber  auch 
der  Weltkirche  zuwenden;  so  vor  allem  der  hi.  Benedikt 
von  Aniane.  Doch  die  Reformversuche  des  achten  und 
neunten  Jahrhunderts  fruchteten  nichts.  Die  Kloster  ge- 
rieten  immer  mehr  in  Abhangigkeit  nicht  nur  von  den 
Bischofen  der  Kirche,  sondern  auch  von  den  Grofien  des 
Landes.  Die  Abte  warden  immer  mehr,  was  sie  schon  seit 
lange  gewesen  —  Vornehme  des  Hofes;  es  waren  bald  nur 
Zeremonien,  durch  die  sich  Monche  und  Weltkleriker  unter- 
schieden.  Im  zehnten  Jahrhundert  schien  das  Monchtum 
seine  Eolle  im  Abendland  nahezu  ausgespielt  zu  haben,  es 
schien  —  von  einigen  Klostern,  namentlich  Nonnenklostern, 
abgesehen  —  der  Grefahr  erlegen  zu  sein,  die  im  Orient  in 
dieser  Weise  iiberhaupt  nicht  auftauchen  konnte:  es  war 
selbst  "Welt  geworden,  gemeine  "Welt,  um  keines  Haares- 
breite  iiber  sie  erhaben.  Papsttum,  Kirche,  Monchtum 
schienen  im  zehnten  Jahrhundert  gleichmafiig  verfallen. 


VII. 

Und  doch  hatte  bereits  eine  zweite  Bewegung  in  der 
Kirche,  eine  zweite  Erhebung  des  Monchtums  begonnen. 
Sie  ging  diesmal  von  Frankreich  aus.  Das  Kloster  von 
Clugny,  gestiftet  schon  im  zehnten  Jahrhundert,  ist  der  Sitz 
der  grofien  Reform  der  Kirche  geworden,  welche  das  Abend- 
land  im  elften  Jahrhundert  erlebt  hat.  Unternommen  von 
Monchen,  wurde  sie  zuerst  von  frommen  und  klugen  Fiirsten 
und  Bischofen  unterstiitzt  gegenuber  dem  verweltlichten 
Papsttum,  bis  sie  jener  groCe  Hildebrand  auf  griff  und  sie 
als  Kardinal  und  Nachfolger  Petri  den  Fiirsten  und  der 
verweltlichten  G-eistlichkeit  entgegensetzte.  Was  das  Abend- 
land  in  ihr  erhielt,  war  eine  wirkliche  Reformation  der 


122  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

Kirche,  nur  keine  evangelische ,  sondern  eine  katholische. 
Was  waren  die  Ziele  dieser  neuen  Bewegung?  Zunachst 
Wiederherstellung  der  alten  Zucht,  der  wahren  Weltent- 
sagung  und  Frommigkeit  in  den  Klostern  selbst,  sodann 
aber  erstens  monchische  Hegulierung  der  gesamten  Welt- 
geistlichkeit,  und  zweitens  Herrsqhaft  der  monchisch  regu- 
lierten  G-eistliehkeit  iiber  die  Laienwelt,  iiber  die  Fiirsten 
und  Nationen.  Die  Reform  der  Monche  von  Clugny  und 
ihres  gewaltigen  Papstes  stellt  sich  zunachst  dar  als  der 
wirksame  Versuch,  das  Leben  der  gesamten  Greistlichkeit 
moglichst  nach  monchischen  Ordnungen  zu  regeln.  In  ihr 
erhebt  das  abendlandische  Monchtum  den  entschiedenen  An- 
spruch,  sich  als  die  christliche  Lebensordnung  der  mun- 
digen  G-laubigen  (der  Priester)  durchzusetzen  und  zur  Aner- 
kennung  zu  bringen.  Darum  mufi  das  M6nchtum  im  Abend- 
lande  auf  seinen  Bahnen  inuner  wieder  mit  der  Weltkirche 
zusammentreffen,  weil  es  nich.t  aufhoren  kann,  selbst  An- 
spriiche  an  die  ganze  Christenheit  zu  stellen  und  der  Kirche 
zu  dienen.  Die  christliche  Freiheit,  welche  es  erstrebt,  ist 
ihm  bei  allem  Schwanken  nicht  nur  eine  Freiheit  des  Ein- 
zelnen  von  der  Welt,  sondern  die  Freiheit  der  Christenheit 
zum  Dienste  G-ottes  in  der  Welt.  Wir  Evangelische  konnen 
auch  heute  noch  jenen  groBen  Versuch  mit  Sympathie  be- 
urteilen;  denn  in  ilim  dammert  das  BewuOtsein  wieder  auf, 
dafi  es  innerhalb  der  Kirche  nur  ein  Lebensideal  und  nur 
eine  Sittlichkeit  geben  konne,  dafi  zu  dieser  darum  alle 
miindigen  Christen  verpflichtet  seien.  Ist  das  Monchtum 
wirklich  die  hochste  Form  des  Christentums,  so  gilt  es,  die 
miindigen  Bekenner  desselben  nach  der  monchischen  Eegel 
zu  disziplinieren ,  die  unmiindigen  —  und  das  sind  nach 
mittelalterlicher  Auffassung  alle  Laien  —  mindestens  zum 
G-ehorsam  zu  bewegen.  Diese  Gredanken  beherrschten  Clugny 
und  seinen  grofien  Papst.  Daher  die  strenge  Einfiihrung 
des  Zolibats  beim  Klerus,  daher  der  Kampf  gegen  die  Ver- 
weltlichung  der  Geistlichen,  vor  allem  gegen  die  Simonie, 


Das  Mttnchtmn.  123 

daher  die  monchische  Zucht  der  Priester.  Und  die  politische 
Weltherrschaft?  Man  konnte  sie  von  diesem  Standpunkte 
als  ein  Snrrogat  ansehen,  solange  und  weil  die  allgemeine 
wahrhafte  Christianisierung  sich  nicht  dnrchsetzte.  Aber 
hier  beginnen  auch  die  Differenzen  zwischen  dem  Monch- 
tum  und  der  reformierten  "Weltkirche.  Man  kann  die  Ideen 
Q-regors  und  seiner  ernsten  Freunde  so  darstellen,  dafi  sie 
nur  um  eine  Nuance  verschieden  scheinen,  und  doch  fuhrte 
diese  Nuance  zu  einem  entgegengesetzten  Programm.  Grleich 
anfangs  wurden  Stimmen  laut,  selbst  unter  den  unbedingten 
Yerehrern  des  Papstes,  die  da  meinten,  man  solle  sich  be- 
gniigen  mit  der  Reform  der  Sitten  und  der  Pflege  der 
Frommigkeit ;  der  Kirche  kame  es  nicht  zu,  nach  der  Weise 
und  mit  den  Mitteln  der  Staaten  zu  herrschen.  Sie  ver- 
langten  wahrhaftige  Riickkehr  zum  apostolischen  Leben, 
Wiederherstellung  der  Urgestalt  der  Kirche.  Es  ist  nicht 
richtig,  diese  Bestrebungen  des  Monchtums  so  aufzufassen, 
als  bezeichneten  sie  den  Riickschritt  auf  die  Stufe  der  grie- 
chischen  Kirche  und  fielen  damit  aus  dem  Rahmen  des 
abendlandischen  Katholizismus  heraus;  nein  —  jene  Monche 
hatten  ein  positives  Programm  vor  Augen:  christliches  Leben 
der  gesamten  Christenheit.  Aber  indem  ihnen  aus  alter 
tiberlieferung  eine  iiberirdische  Neu-  und  Reichsgestaltung 
derselben  vorschwebte,  die  auf  Erden  zu  verwirklichen  sie 
nicht  verzichteten ,  fafiten  sie  ein  schwer  iiberwindliches 
Mifitrauen  gegen  das  Surrogat,  welches  der  romische  Bischof 
anbot  und  anstrebte.  In  diesem  Mifitrauen  war  der  Ab- 
scheu  enthalten  gegeniiber  allem  in  der  Kirche,  was  an 
staatliche  und  rechtHche  Ordnungen  erinnerte.  Der  "Wider- 
wille  gegen  offentliche  Rechtsordnungen  und  gegen  den 
Staat  ist  fur  das  abendlandische  Monchtum  ebenso  charak- 
teristisch,  als  es  offenbar  ist,  warum  den  griechischen  As- 
keten  dieser  Widerwille  noch  fehlt.  Aber  im  elften  Jahr- 
hundert  war  die  Devotion  gegen  die  Kirche  und  ihren 
Lenker  zu  machtig,  als  dafi  es  zu  Konflikten  zwischen  dem 


124  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

reformierten  Klerus  und  dem  Monchtum  kommen  konnte. 
In  dem  Bufisakrament  besafl  die  Kirclie  das  starkste  Mittel, 
urn  auch  das  Monchtum  an  sich  zu  fesseln.  Mit  beflecktem 
Gewissen  und  gebrochenen  Mutes  haben  sich  manche  den 
Planen  des  grofien  Monchspapstes  gebeugt.  Und  gerade  die 
holte  er  aus  der  Stille  des  Klosters  hervor,  die  am  liebsten 
ihr  ganzes  Leben  Gott  geweiht  hatten.  Er  wuflte  es,  dafl 
nur  der  Monch  die  "Welt  bezwingen  helfen  wiirde,  der  sie 
flieht  und  sie  los  sein  will.  Die  Weltflucht  im  Dienste  der 
weltbeherrschenden  Kirclie:  das  ist  die  erstaunliche  Aufgabe, 
die  G-regor  fur  anderthalb  Jahrhunderte  gelost  hat.  Aber 
seine  und  der  reformierten  Bischofe  Ziele  waren  bei  aller 
Politik  doch  auch  geistliche.  Nur  als  solche  haben  sie  die 
Massen  umgestimmt  und  entfLammt,  entflammt  zum  Kampf 
gegen  den  verweltlichten  Klerus  in  Oberitalien,  gegen 
simonistische  Fiirsten  in  ganz  Europa.  Ein  neuer  Enthusias- 
mus  religioser  Art  bewegte  die  Volker  des  Abendlandes, 
namentlich  die  romanischen.  Die  Begeisterung  der  Kreuz- 
ziige  ist  die  unmittelbare  Erucht  der  monchischen  Reform- 
bewegung  des  elften  Jahrhunderts.  Der  religiose  Auf- 
schwung,  welchen  Europa  erhalten,  stellt  sich  am  lebendig- 
sten  in  ihnen  dar.  Die  Herrschaft  der  Kirche  soil  auf 
Erden  durchgefuhrt  werden.  Es  sind  die  Ideen  des  welt- 
herrschenden  Monchs  von  Clugny,  welche  den  Kreuzfahrern 
vorangehen.  Und  aus  dem  heiligen  Lande,  von  den  heiligen 
Statten  brachten  sie  eine  neue  oder  doch  bisher  nur  selten 
geiibte  Form  der  christlichen  Frommigkeit  zuriick  —  das 
sich  Yersenken  in  die  Leiden  und  den  Leidensweg  Christi. 
Die  negative  Askese  erhielt  eine  positive  Form  und  ein 
neues  positives  Ziel:  Eins  zu  werden  mit  dem  Erloser  in 
inniger  Liebe  und  in  vollkommener  IsTachahmung.  Ein  per- 
sonliches  Element,  vom  Herzen  zum  Herzen  wirkend,  begann 
das  reiz-  und  ziellose  Bemiihen  der  Selbstentaufierung  zu 
beleben  und  die  schlummernde  Subjektivitat  zu  erwecken. 
Auch  dem  Monchtum  verlieh  es,  wenn  auch  zunachst  nur 


Das  Monchtum.  125 

in  einzelnen  wenigen  Individuen,  einen  innerlichen  Auf- 
schwung.  Die  grofle  Anzahl  von  neuen  Orden,  welche 
gleichzeitig  gestiftet  wurden,  namentlich  in  Frankreich, 
legen  von  dem  allgemeinen  Aufschwunge  Zeugnis  ab.  Da- 
mals  entstanden  die  Orden  der  Karthauser,  Cistercienser, 
Pramonstratenser ,  Karmeliter  und  viele  andere.  Aber  ihr 
zahlreiches  Auffcreten  beweist  nur,  dafl  das  Monchtum  sich 
im  Bunde  mit  der  Weltkirche  immer  wieder  selbst  verlor. 
Jeder  nene  Orden  suchte  dasselbe  auf  seine  erste  Strenge 
zuriickzufuhren  und  aus  der  Verweltlichung  herauszureifien ; 
aber  indem  er  der  "Weltkirche  sich  unterwirffc,  wird  er  rasch 
von  ihr  mit  Beschlag  belegt  und  abgenutzt.  Es  ist  ein 
Beweis  fur  die  Illusionen,  in  denen  man  sich  bewegte,  dafi 
die  Orden,  die  zur  Wiederherstellung  des  urspriinglichen 
Monchtums  gestiftet  sind,  gleich  bei  ihrer  Stiftung  die 
Uriterwiirfigkeit  gegen  die  Bischofe  ausdriicklich  in  ihr  Pro- 
gramm  aufgenommen  und  auf  die  Losung  eigentiimlicher 
Aufgaben  innerhalb  der  Kirche  und  fur  die  Kirche,  so  auf 
die  Seelsorge,  von  vornherein  Verzicht  geleistet  haben.  Im 
zwolften  Jahrhundert  ist  die  Anhanglichkeit  der  Christen- 
heit  und  so  auch  des  Monchtums  an  die  Kirche  noch  eine 
vollig  naive,  der  Widerspruch  zwischen  der  wirklichen  Gre- 
stalt  der  weltherrschenden  Kirche  und  dem  Evangelium, 
das  sie  predigt,  wird  zwar  empfunden,  aber  immer  wieder 
zuriickgedrangt,  die  Kritik  an  den  Anspriichen  und  an  der 
Verfassung  der  Kirche  ist  noch  eine  unwirksame.  Man 
braucht  nur  den  Namen  eines  Mannes,  den  Bernhards  von 
Clairvaux,  zu  nennen,  um  wie  in  einem  Bilde  alles  Grofle 
was  diese  zweite  monchische  Reform  der  Kirche  hervor- 
gebracht  hat,  aber  auch  ihre  Schranken  und  Illusionen,  zu 
erblicken.  Derselbe  Monch,  der  in  der  Stille  seiner  Kloster- 
zelle  eine  neue  Sprache  der  Anbetung  redet,  seine  Seele 
ganz  dem  ,,Brautigam"  weiht,  die  Weltflucht  der  Christen- 
heit  predigt,  dem  Papste  zuruft,  dafi  er  auf  dem  Stuhle 
Petri  zum  Dienste,  nicht  zur  Herrschaft  berufen  sei,  ist 


126  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  IV. 

doch  zugleich  in  alien  hierarchischen  Vorurteilen  seiner 
Zeit  befangen  und  leitet  selbst  die  Politik  der  weltherrschen- 
den  Kirche.  Aber  eben  deswegen  hat  das  Monchtum  der 
Kirche  in  jenem  Zeitalter  so  Grofies  leisten  konnen,  weil 
es  mit  ihr  ging-  Eine  Reform  in  der  Kirche  hat  es  her- 
vorgemfen;  aber  diese  Reform  schlug  schliefllich  zur  Be- 
festigung  der  Weltmacht  der  Kirche  und  damit  zu  ihrer 
Verweltlichung  aus.  Das  war  das  frappante  und  doch  so 
verstandliche  Endergebnis.  Das  Grebiet,  auf  welchem  sich 
die  Weltkirche  und  das  Monchtum  immer  wieder  traf,  war 
die  Bekampfung  aller  Anspriiche  der  Laien,  insonderheit 
der  Fursten,  an  die  Kirche.  Das  abendlandische  Monchtum 
empfand  dies  als  7,Befreiung  von  der  Welt"  und  stellte  sich 
deshalb  der  Kirche  in  diesem  Kampfe  zu  Diensten.  Nur 
wenn  man  dies  beachtet,  versteht  man  es,  wie  derselbe 
Mann  in  jener  Zeit  aufrichtiger  Monch  und  Kirchenfurst 
zugleich  sein  konnte,  wie  er  iiber  die  letzten  Ziele  jener 
Bekampfung  des  Staates  sich  selbst  und  andere  tauschen 
oder  im  Unklaren  halten  konnte. 


VIII. 

Eine  neue  Zeit  kam  herauf ,  der  die  alten  Auffassungen 
nicht  mehr  gewachsen  waren.  Die  Kirche  war  zu  politischer 
Weltherrschaft  gelangt;  sie  hatte  das  Kaisertum  und  die 
alten  Staatsordnungen  bezwungen  oder  war  doch  dem 
Siege  nahe.  Die  Ziele  und  Ergebnisse  der  ungeheueren 
Anstrengungen  der  Kirche  im  elften  und  zwolften  Jahr- 
hundert  waren  offenbar  geworden.  Aber  nun  regte  es  sich 
in  der  Laienwelt  und  bei  den  Nationen.  Sie  strebten  hin- 
aus  aus  der  hierarchischen  Bevormundung.  In  sozialen 
Bewegungen,  in  religioser  Sektirerei,  in  from  men  Ver- 
einigungen,  die  in  der  offiziellen  Frommigkeit  kein  Greniige 
fanden,  in  dem  Verlangen  der  Nationen  und  Fiirsten,  ihre 


Das  MOnchtum. 


127 


Angelegenheiten  selbstandig  zu  ordnen,  kiindigte  sich  eine 
neue  Zeit  an.  Ein  Jahrhundert  hindorch  hat  die  Welt- 
kirclie  es  vermocht,  die  Wogen  derselben  zuruckzudammen. 
Eine  neue  Erhebung  in  dem  Monchtum  hat  sie  dabei 
unterstiitzt.  Sie  ist  bezeichnet  durch  die  Stiftung  der 
Bettelorden. 

Die  Gestalt  des  liebevollsten  und  liebenswiirdigsten 
aller  Monche,  des  wundersamen  Heiligen  von  Assisi,  strahlt 
in  der  G-eschichte  des  Mittelalters  leuchtend  hervor.  Doch 
wir  fragen  hier  nicht,  wie  ist  er  gewesen,  sondern  was 
hat  er  beabsichtigt,  indem  er  sich  in  den  Dienst  Gottes 
und  seiner  Briider  begab.  Zunachst:  er  wollte  das  Leben 
der  Apostel  erneuern,  in  der  Nachfolge  ihres  armen  Lebens 
und  in  der  Predigt  des  Evangeliums.  Diese  Predigt  sollte 
Bufie  schaffen  in  der  Christenheit  und  sie  wirklich  zu  dem 
machen,  was  sie  auf  Grund  des  Besitzes  der  heil.  Sakra- 
mente  schon  war.  Eine  Gemeinschaft  von  Briidern  sollte 
sich  bilden,  die,  wie  die  Apostel,  nichts  besitzen  sollte  als 
BuOe,  G-lauben  und  Liebe,  die  keinen  anderen  Zweck  haben 
sollte,  als  zu  dienen  und  Seelen  zu  gewinnen.  Hit  klaren 
Worten  hat  es  der  heil.  Franziskus  nicht  gesagt,  wie  weit 
sich  dieser  Bund  erstrecken  sollte.  Er  war  kein  Politiker 
und  hat  sich  selbst  nicht  ins  Regiment  gesetzt.  Aber  was 
hatten  die  durch  die  BuOpredigt  der  armen  Briider  wirk 
lich  Gewonnenen  selbst  anders  werden  konnen,  als  wieder- 
um  dienende  und  predigendreisende  Briider?  Fur  diese  hat 
der  Heilige  selbst  bestimmte  und  feste  Regeln  aufgestellt. 
Weder  die  Einzelnen,  noch  auch  der  Verband,  der  sich  zu 
wahrhaft  christlichem  Leben  zusammentat,  soil  irgend 
welches  Vermogen  besitzen.  ^Gehe  hin  und  verkaufe  alles." 
Leben  in  Gott,  Leiden  mit  seinem  Sohne,  Liebe  zu  seinen 
Menschen  und  Kreaturen,  Dienstleistung  bis  zur  Aufopfe- 
rung  des  eigenen  Lebens,  der  Reichtum  der  Seele,  die  nur 
ihren  Heiland  besitzt:  das  war  das  Evangelium  des  heil. 
Franziskus.  Hat  je  ein  Mensch  in  seinem  Leben  das  ver- 


128  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

wirklicht,  was  er  gepredigt,  so  hat  es  Franziskus  getan. 
Und  —  das  ist  das  Charakteristische  dieser  abendlandischen 
Bewegung  —  die  verscharfte  Askese,  eine  Religion  des 
Herzens  und  Willens,  trieb  auch  diesmal  ihre  Jiinger  nicht 
in  die  Ode  nnd  Einsamkeit  hinaus,  sondern  umgekehrt: 
die  Christenheit,  die  "Welt,  sollte  for  dieses  nene  und  doch 
alte  Christentum  der  BuOe,  Entsagung  und  Liebe  gewonnen 
werden.  Die  christliche  "Welt  —  dieser  Begriff  hatte  an 
dem  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  einen  ganz  anderen 
Umfang,  als  im  seclisten  und  elften.  Nicht  nur  weil  der 
geographische  Horizont  sich  for  das  Abendland  erweitert 
hatte,  sondern  in  hoherem  Grade,  weil  die  kleinen  Leute 
und  der  gemeine  Mann  nun  zu  ihr  gerechnet  werden  mufiten. 
Das  abendlandische  Monchtum  war  bis  zum  Schlusse  des 
zwolften  Jahrhunderts  auch  noch  ganz  wesentlich  eine 
aristokratische  Institution  gewesen.  Den  Rechten  der 
Kloster  entsprach  in  vielen  Fallen  die  hohe  Abstam- 
mung  ihrer  Insassen.  Die  Klosterschulen  waren  in  der 
Regel  nur  fur  den  Adel  vorhanden.  Dem.  groben  und  ge- 
meinen  Volk  blieb  das  Kloster  so  fremd,  wie  das  Herren- 
schlofi.  Es  gab  keine  volkstumlichen  Orden  und  wenige 
volkstumliche  Monche.  Der  heil.  Franziskus  hat  die  Mauern 
der  adeligen  Klosterburgen  nicht  niedergerissen,  sondern 
neben  ihnen  Hiitten  errichtet  fur  Arme  und  Reiche.  So 
hat  er  das  Evangelium  dem  Volke  zuruckgegeben,  das  bis- 
her  nur  den  Priester  und  das  Sakrament  besafi.  Aber  der 
Heilige  von  Assisi  ist  der  unterwurfigste  Sohn  der  Kirche 
und  des  Papstes  gewesen.  Im  Dienste  der  Kirche  hat  er 
gearbeitet.  So  hat  er  zuerst  dem  Monchtum  —  denn  zu 
einem  Monchtum  wurde  seine  Stiftung  wider  seinen  Willen 
—  eigentiimliche  Aufgaben  fur  die  ganze  Christenheit  zu- 
gewiesen,  aber  im  Schofle  der  Kirche;  denn  Sorge  fur  die 
Kirche  ist  Sorge  fur  das  Heil.  Clugny  und  seine  Monche 
hatten  es  mit  ihrer  Reform  auf  die  Greistlichkeit  abgesehen; 
der  heil.  Franziskus  kannte  keine  Unterschiede.  Ohne 


Das  Mdnchtum.  129 

"Ubertreibung  darf  man  sagen:  nicht  einen  neuen  Monchs- 
orden  hat  er  stiften  wollen  —  die  Welt  wollte  er  um- 
wandeln;  ein  schoner  G-arten  sollte  sie  werden,  besiedelt 
von  gottinnigen,  christusnachahmenden ,  bedurfnislosen 
Menschen.  Die  Liebe  hat  ihm  den  weitesten  Horizont  ge- 
geben;  seine  Phantasie  verwilderte  weder,  noch  verodete 
sie  unter  der  harten  Askese;  sein  Wille,  der  Kirche  und 
Ghristenheit  zu  dienen,  blieb  bis  zuletzt  stark  und  kraftig, 
obschon  er  mit  Schmerzen  sehen  muBte,  wie  die  Kirche 
ihm  seine  Schopfung  korrigierte  nnd  einengte.  Hundert- 
tausende  stromten  herzu.  Aber  was  waren  Tansende,  wo 
es  Millionen  gait?  Das  Auftauchen  der  sogenannten  Ter- 
tiarierbriiderschaft  neben  dem  eigentlichen  Monchsorden  ist 
einerseits  freilich  schon  ein  Beweis  dafiir,  dafi  sich  dies 
Evangelium  nicht  ohne  Kompromisse  in  der  menschlichen 
Gresellschaft  durchfuhren  lafit,  andererseits  aber  doch  ein 
leuchtendes  Zeichen  der  tiefen  Wirkung  der  franziskanischen 
Predigt.  Die  Tertiarier  verblieben  im  weltlichen  Beruf, 
in  der  Ehe  und  im  Besitz ;  aber  sie  pafiten  sich  dem  monch- 
ischen  Leben  so  viel  als  moglich  an,  hielten  sich  von  dem 
offentlichen  Leben,  seinen  Aufgaben  und  Pflichten  zuriick, 
und  widmeten  sich,  soweit  sie  es  vermochten,  der  Askese 
und  frommen  Werken.  Diese  Institution,  die  sich  ohne 
einen  ;,Stifter"  gebildet  hat,  ist  ein  schlagender  Beweis  fur 
den  universalen  Charakter  der  franziskanischen  Bewegung. 
Sekten  waren  hier  vorangegangen ;  diese  Bruderschaft  aber 
blieb  der  Kirche  treu.  Ja,  das  Interesse  der  Laien  an  dem 
Leben  und  den  Sakramenten  der  Kirche  wurde  hier  er- 
weckt;  der  Gredanke  wurde  hier  leise  wirksam,  daB  der  der 
Kirche  aufrichtig  gehorsame  und  innerlich  fromme  Laie  der 
hochsten  Giiter  teilhaftig  wird,  welche  sie  vermitteln  kann. 
Die  Auffassung  von  einer  doppelten,  ihrem  Werte  nach 
verschiedenen  Sittlichkeit  konnte  sich  von  hier  aus  in  die 
andere  ertraglichere  einer  nur  der  Art  nach  verschiedenen 
wandeln.  Das  tatige  christliche  Leben  kann  dem  beschau- 

Harnack,  Reden  und  Anfsatze.    2.  Aufl.    I.  9 


j_30  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

lichen  gleichwertig  sein;  dieses  ist  nur  der  direktere  Weg 
zum  Heile. 

Eine  in  der  Hingabe  der  Seele  an  Christus  neu  ge- 
stimmte  Frommigkeit  ging  von  Assisi  aus  und  bemachtigte 
sich  der  Kirche.  Es  war  die  religiose  Individualitat  und 
Freiheit,  die  erweckt  worden  war;  das  Christentum  als  die 
Religion  der  Armut  und  Liebe  sollte  zu  seinem  Rechte 
kommen  gegeniiber  der  Verkiimmerung  in  Moral  und  Po- 
litik.  Die  schonsten  mittelalterlichen  Kirchengesange,  die 
gewaltigsten  Predigten  stammen  aus  dem  Franziskaner- 
orden  und  dem  ihm  verwandten  der  Dominikaner.  Aber 
auch  der  Kunst  und  der  "Wissenschaft  gaben  sie  einen 
neuen  Aufschwung.  Alle  die  bedeutenden  Scholastiker  des 
dreizehnten  Jahrhunderts ,  ein  Thomas  von  Aquino,  Bona- 
ventura,  Albertus  sind  Bettelmonche  gewesen.  Die  herr- 
lichsten  G-emalde  der  alten  italienischen  Schule  sind  von 
dem  neuen  Greiste  inspiriert,  dem  Greiste  der  Versenkung  in 
das  Leiden  Christi,  einer  seligen  Traurigkeit  und  einer  welt- 
erhabenen  Kraft.  Ein  Dante,  ein  Giotto  und  wiederum  ein 
Tauler  und  Berthold  von  Regensburg,  sie  alle  lebten  mit 
ihrem  christlichen  Fiihlen,  Denken  und  Schaffen  in  den 
religiosen  Ideen  der  Bettelorden.  Aber  was  mehr  sagen 
will  —  jene  Monche  stiegen  herab  zu  dem  Yolke  und  zu 
den  Einzelnen.  Fiir  ihre  Leiden  hatten  sie  ein  Auge,  fur 
ihre  Klagen  ein  Ohr.  Sie  lebten  mit  dem  Volke,  sie  pre- 
digten  ihm  in  seiner  Sprache  und  brachten  ihm  verstand- 
lichen  Trost.  Das,  was  Sakrament  und  Kultus  bisher  nicht 
schaffen  konnten,  Heilsgewifiheit,  wollte  die  Mystik  der 
Orden  erzeugen;  aber  nicht  aufierhalb  der  kirchlichen  Grna- 
denstatten.  Das  Auge  sollte  es  lernen,  den  Heiland  zu 
sehen,  die  Seele  sollte  durch  sinnliche  Eindrucke  seiner 
G-egenwart  zum  Frieden  kommen.  Aber  die  ,,Theologie", 
die  hier  ent stand,  kiindete  auch  von  der  religiosen  Freiheit 
und  Seligkeit  der  iiber  die  "Welt  erhabenen,  ihres  Grottes 
gewissen  Seele.  Sie  hat  in  diesem  G-edanken  die  evange- 


Das  Monchtum.  131 

lische  Reformation  wenn  aucli  nicht  begonnen,  so  ihr  docli 
den  Weg  gebahnt. 

Mit  Hilfe  der  Bettelorden,  die  sie  sich  dienstbar 
machte,  hat  sich.  die  Kirche  im  dreizehnten  Jahrhundert 
auf  der  Hohe  ihrer  Herrschaft  erhalten  konnen.  Sie  hat 
die  Gemiiter  ihrer  Grlaubigen  wiedergewonnen,  aber  zugleich 
ihren  eigenen  Besitz  an  den  GHitern  der  Welt,  an  Wissen- 
schaft,  Kunst  und  E/echt,  dureh  die  Tatigkeit  der  Monche 
zum  Vollbestand  gebracht  und  geordnet.  Damals  ist  das 
kanonische  Rechtsbueh  abgeschlossen  worden,  welches  alle 
Verhaltnisse  des  Lebens  vom  Standpunkt  der  kirchlichen 
Weltherrschaft  und  einer  im  Dienste  der  Kirche  stehenden 
Askese  regelt.  Es  gilt  heute  in  den  zivilisierten  Staaten 
nicht  mehr,  aber  seine  Anschauungen  wirken  noch  nach. 
In  viel  hoherem  Mafie  ist  die  Philosophie  und  Theologie, 
auch  die  soziale  Politik,  noch  heute  von  der  Denkweise 
abhangig,  welche  im  dreizehnten  Jahrhundert  in  den 
Bettelorden  zu  der  virtuosen  Ausgestaltung  grofier  scho- 
lastischer  Systeme  gefuhrt  hat.  Durch  die  Bettelmonche 
gelang  es  der  Kirche  ferner,  der  sektirerischen  Bewegungen 
Herr  zu  werden,  welche  die  Laienwelt  ergriffen  hatten. 
Sie  haben  die  ketzerischen,  aber  auch  die  freigeistigen  und 
evangelischen  Vereinigungen  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
mit  Zorneseifer  iiberwunden.  So  machten  sie  auch  hier 
gemeinsame  Sache  mit  der  weltherrschenden  Kirche,  der 
Kirche  der  Politik  und  des  Schwertes;  ja  sie  warden  ge- 
radezu  die  begiinstigste  papstliche  Geistlichkeit  dem  Welt- 
klerus  gegeniiber.  Die  Papste  statteten  sie  mit  den  reichsten 
Privilegien  aus;  sie  durften  uberall  in  die  regelmafiige 
Kirchenleitung  und  Seelsorge  eingreifen.  In  den  Bettel 
orden  schuf  sich  der  romische  Papst  ein  Werkzeug,  um 
die  Landeskirchen  fester  an  seinen  Stuhl  zu  kniipfen  und 
die  Selbstandigkeit  der  Bischofe  zu  brechen.  So  haben  sie 
an  der  Homanisierung  der  katholischen  Kirche  in  Europa 
.den  groflten  Anteil  gehabt  und  auch  die  alteren  Stiftungen, 

9* 


132  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

die  aus  der  Benediktinerregel  hervorgegangen  waren,  viel- 
fach  beeinflufit.  Aber  so  rasch  wie  nur  irgend  ein  anderer 
Orden  vor  ilmen  sind  auch  sie  verweltlicht.  Der  Bund  mit 
der  Weltkirche  war  auch  dieses  Mai  dem  Monchtume  tod- 
lich.  Er  war  gleich  anfangs  —  Franziskus  hatte  sich  wie 
in  ein  Verhangnis  fiigen  miissen  —  ein  auflerordentlich 
fester  gewesen,  um  so  akuter  war  der  Verfall.  Was  sie 
iiber  die  "Welt  erheben  sollte,  die  Armut,  wurde  zum  Anlafl 
spezifischer  Verweltlichung  fur  die,  welche  es  mit  ihr  nicht 
mehr  ernst  nahmen.  Sie  sahen  sich.  angewiesen,  auf  die 
Roheit,  den  Aberglauben  und  die  Tragheit  der  Massen  zu 
spekulieren,  und  wurden  selbst  roh ,  aberglaubisch  und  trage 
wie  diese. 

Indessen  das  hohe  Ideal,  welches  der  heil.  Franziskus 
der  Christenheit  vorgehalten  hatte,  hat  doch  nicht  unter- 
gehen  konnen,  ohne  zuvor  den  von  ihm  gestifteten  Orden 
und  die  Kirche  auf  das  tiefste  zu  erregen.  Als  eine  Partei 
im  Orden  auf  Milderungen  der  strengen  Armutsregel  drang, 
da  erhob  sich  eine  andere,  dem  Meister  treu,  zum  Schutze 
derselben.  Als  die  Papste  fur  jene  eintraten,  da  wandten 
die  Eiferer  ihre  Kritik  gegen  das  Papsttum  und  die  welt- 
herrschende  Kirche.  Klagen  iiber  die  Verderbtheit  der 
Kirche  aus  der  Mitte  des  Monchtums  waren  schon  seit  lange 
vereinzelt  laut  geworden;  aber  sie  waren  immer  wieder 
verhallt.  Der  Kampf  der  Kirche  gegen  die  Staaten  und 
ihre  Anspriiche  hatte  das  Monchtum  bisher  stets  verlockt, 
in  dem  Programm  der  Kirche  den  Anfang  zur  Verwirk- 
lichung  seines  eigenen  zu  erkennen.  Jetzt  aber  erhob  sich 
der  Gredanke,  der  im  Monchtume  immer  geschlummert  hatte 
und  immer  wieder  unterdriickt  worden  war.  Der  Bund 
mit  der  Kirche  und  dem  Papsttum  wurde  zerrissen.  Die 
uralten  apokalyptischen  Ideen  tauchten  auf;  die  Papstkirche 
erschien  als  das  Babel,  als  das  Eeich  des  Widerchrists,  die 
das  wahre  Christentum,  das  Christentum  der  Entsagung 
und  Armut,  verfalscht  hat.  Die  ganze  Greschichte  der 


Das  M5nclitum.  133 

Kirche  erschien  plotzlich  in  dem  Lichte  eines  ungeheuren 
Abfalls,  der  Papst  nicht  mehr  als  der  Kachfolger  Petri, 
sondern  als  der  Erbe  Konstantins.  Es  war  aussichtslos, 
die  Kirche  zur  Umkehr  zu  bewegen.  Nur  eine  neue  Offen- 
barung  des  Greistes  konnte  retten,  und  so  blickte  man  hin- 
aus  auf  ein  kunftiges  ewiges  Evangelium  christlicher  Voll- 
kommenheit.  Die  Kirche  hat  mit  alien  Mitteln  diese  ge- 
fahrliche  Bewegung  unterdriickt.  Sie  erklarte  es  fur  Ketzerei, 
was  die  Franziskaner  iiber  die  Armut  Christi  und  der 
Apostel  lehrten,  und  verlangte  Unterwerfung.  Ein  er- 
bitterter  Kampf  war  die  Folge.  Die  Christenheit  sah  ein 
neues  Schauspiel:  die  weltherrschende  Kirche  im  Streite 
mit  einer  aggressiv  gewordenen  "Weltnucht.  Mit  dem  Mute 
von  Mannern,  die  alles  geopfert  hatten,  predigten  die  Spi- 
ritualen  dem  Papst  und  den  Bischofen  die  Armut  und  be- 
siegelten  ihre  Predigt  auf  dem  Scheiterhaufen.  Siegreich 
und  unverandert  ging  am  Ende  des  vierzehnten  Jahrhun- 
derts  die  "Weltkirche  aus  dem  Kampfe  mit  der  Armut  her- 
vor.  So  war  doch  noch  einmal  am  Schlusse  des  Mittelalters 
der  schlummernde,  aber  immer  wieder  verdeckte  prinzipielle 
Gegensatz  zwischen  den  Zielen  der  Kirche  und  den  Zielen 
des  Monchtums  in  einer  furchtbaren  Krisis  zu  Tage  ge- 
treten.  Aber  dieses  war  unterlegen.  Die  Stiftung  der 
Bettelorden  war  der  letzte  grofiartige  Versuch  des  Monch 
tums  im  Mittelalter  gewesen,  sich  und  seine  Ideale  in  der 
ganzen  Kirche  durchzusetzen  und  doch  mit  der  Gfeschichte 
und  der  Verfassung  dieser  Kirche  nicht  zu  brechen.  Aber 
die  Entwickelung  des  Franziskanerordens  wurde  eine  zwie- 
spaltige.  Die  eine  Bichtung  gab  ihr  urspriingliches  Ideal 
gleich  anfangs  auf,  ordnete  sich  der  Kirche  v6llig  unter 
und  verweltlichte  sofort,  die  andere  suchte  ihr  Ideal  zu  be- 
haupten,  verscharfte  es,  stellte  es  der  Kirche  selbst  entgegen 
und  erschopfte  sich  in  schwarmerischen  Bewegungen,  bis 
sie  unterging.  Die  Tragik  dieser  Entwickelung  erscheint 
vollendet,  vielleicht  auch  aufgehoben,  wenn  wir  gewahren, 


134  -Erster  Band,  erste  Abteilung.     Beden:  IV. 

dafi  Einzelne  aus  dem  von  der  Kirche  sich  emanzipierenden 
Orden  Rettung  beim  Staate  suchten  und  im  Gregensatz  zu 
den  nicht  mehr  oder  nur  teilweise  anerkannten  Anspriichen 
der  Kirche  nun  die  Selbstandigkeit  des  Staates  und  seiner 
Ordnungen  verteidigten.  Franziskaner  haben  im  vierzehnten 
Jahrhundert  die  staufische  Staatslenre  wissenschaftlich  be- 
griindet.  Das  abendlandische  Monchtum,  das  lekrt  dieser 
erstaunliche  Umschwung,  vermag  eben  auf  die  Dauer  nicht 
ohne  engen  Anschlufi  an  die  Machte  der  Gresellschaft  zu 
existieren.  Es  sucht  selbst  den  Staat  auf,  wenn  ihm  die 
Kirche  versagt  ist.  Doch  diese  Bewegung  war  nur  eine 
vorubergehende.  Im  fiinfzehnten  Jahrhundert  ist  es  toten- 
stille  in  dem  der  Kirche  vollig  unterworfenen  Orden;  die 
unkraftigen  Reformversuche  erzeugten  kein  neues  Leben. 
Im  Zeitalter  der  Renaissance  schien  das  Monchtum  sich 
selbst  —  wenige  ehrenvolle  Ausnahmen  abgerechnet  —  zur 
Faulheit  und  Nichtsnutzigkeit  zu  verdammen.  Und  doch 
war  die  neue  Kultur,  deren  Trager  freilich  oftmals  ihren 
ganzen  Spott  iiber  das  unwissende,  knechtisch-demiitige 
und  heuchlerische  Monchsvolk  ausschiitteten,  den  asketi- 
schen  Idealen  nicht  durchaus  feindlich.  Das  Bild  des 
Weisen  und  Frommen  tauchte  vielmehr  wieder  auf,  der 
sich  dem  Grenufi  stiller  Beschauung  des  Himmels,  aber  auch 
der  Welt  in  friedlicher  Abgeschiedenheit  vom  Larm  des 
Tages  hingibt,  der  nichts  bedarf,  weil  er  im  Greiste  alles 
besitzt.  Man  machte  sogar  den  Versuch,  dieses  Ideal  wieder 
in  den  herkommlichen  Formen  des  Klosterlebens  zu  ver- 
wirklichen,  und  er  ist  nicht  uberall  fehlgeschlagen.  Aber 
nur  einzelnen  Individuen  gelang  es,  die  Monchsregel  mit 
dem  Studium  Ciceros  oder  Platos  zu  vereinen  und  beiden 
zu  geniigen.  Der  weltkundige  Grelehrte,  der  fiir  stoischen 
Grleichmut  oder  fiir  franziskanische  Bediirfnislosigkeit  am 
Schreibtisch  sich  begeisterte,  war  nichts  weniger  als  ein 
Monch,  und  die  Kirche  blieb  trotz  aller  klassischen  und  er- 
baulichen  Abhandlungen  wie  sie  war.  Das  arme  Volk 


Das  Monchtum.  135 

suchte  wie  in  den  Tagen,  bevor  ihm  Franziskus  den  Weg 
gewiesen,  die  Sicherstelhmg  seiner  Seligkeit  in  frommen 
und  enthusiastischen  Vereinen  aller  Art,  die  zeitweilig  der 
Kirche  von  RTutzen,  doch  eine  standige  Gefahr  for  sie 
waren. 


IX. 

Was  blieb  noch  iibrig?  Welche  neue  Form  des  Monch- 
tums  war  nach  alien  diesen  Versuchen  noch  iibrig?  Keine 
mehr  oder  vielmehr  noch  eine,  die  in  Wahrheit  keine  mehr 
ist  und  doch  das  letzte  und  in  gewissem  Sinn  auch  das 
authentische  Wort  des  abendlandischen  Monchtums  ge- 
worden  ist.  Moglich  blieb  das  Verhaltnis  von  Askese  und 
kirchlicher  Dienstleistung  von  vornherein  umzukehren,  das, 
was  dem  Monchtum  im  Abendlande  immer  vorgeschwebt 
hatte,  aber  stets  nur  mit  Zaudern  ergriffen  worden  war, 
nun  als  das  selbstgewollte  hochste  Ziel  sofort  ins  Auge  zu 
fassen;  moglich  blieb,  statt  eines  Asketenvereins  mit  kirch 
licher  Tendenz  eine  Kompagnie  zu  griinden,  die  keinen 
anderen  Zweck  verfolgen  sollte,  als  die  Herrschaffc  der  Kirche 
zu  stutzen  und  auszubreiten.  Der  Ruhm,  diese  Mogliehkeit 
erkannt,  die  Weisung  der  Greschichte  verstanden  zu  haben,, 
gebuhrt  dem  Spanier  Ignaz  von  Loyola.  Seine  Schopfung, 
der  Jesuitenorden ,  die  er  der  Reformation  entgegenstellte, 
ist  kein  Monchtum  mehr  im  altesten  Sinne  des  Worts,  ja 
sie  erscheint  geradezu  als  ein  Protest  gegen  das  Monchtum 
eines  Antonius  oder  Franziskus.  Wohl  ist  der  Jesuitenorden 
ausgestattet  mit  all  den  E-egeln  der  alteren  Orden;  aber 
in  ihm  ist  das  oberstes  Prinzip,  was  die  friiheren  unsicher 
als  ein  Ziel  mit  ins  Auge  gefafit  hatten  oder  sich  von  den 
Verhaltnissen  widerwillig  aufdrangen  lieBen.  Im  Jesuiten 
orden  ist  alle  Askese,  alle  Weltnucht  nur  Mittel  zum 
Zweck.  Die  Loslosung  von  der  Welt  reicht  gerade  so  weit, 
als  eine  solche  forderlich  ist,  um  die  Welt  zu  beherrschen, 


136  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

politisch  durch  die  Kirche  zu  beherrschen;  denn  der  ausge- 
sprochene  Zweck  1st  die  Weltherrschaffc  der  Kirclie.  Reli 
giose  Phantasie,  Bildung  und  Unbildung,  Grlanz  und  Armut, 
Politik  und  Einfalt  —  alles  verwertet  dieser  Orden  zur 
Erreichung  des  einen  Zweckes,  dem  er  sich  geweiht  hat. 
In  ihm  hat  die  abendlandisch-katholische  Kirche  das  Monch- 
tum  gleichsam  neutralisiert  und  hat  ihm  eine  Wendung 
gegeben,  durch  welche  es  ihre  Ziele  vollig  zu  den  seinigen 
gemacht  hat.  Und  doch  ist  auch  dieser  Orden  nicht  das 
Werk  eines  kliigelnden,  berechnenden  Verstandes  allein. 
Wie  er  entstanden  ist,  war  er  das  Produkt  einer  hohen 
Begeisterung,  aber  einer  Begeisterung  aus  der  Kirche  her- 
aus.  die  jede  evangelische  Reformation  bereits  von  sich  ge- 
wiesen,  die  sich  entschlossen  hatte,  sich  in  der  Grestalt  fiir 
immer  zu  behaupten,  die  ihr  Weltweisheit  und  Politik  auf 
dem  "Wege  einer  langen  Greschichte  gegeben  hatten. 

Der  Jesuitenorden  ist  andererseits  das  letzte  und  authen- 
tische  Wort  des  abendlandischen  Monchtums.  Seine  Ent- 
stehungj  aber  auch  seine  Art  liegen  durchaus  auf  der  Linie, 
welche  wir  von  Benedikt  zu  den  Cluniacensern,  von  diesen 
zu  den  Bettelorden  verfolgt  haben.  Er  hat  die  Probleme 
gelost,  welche  jene  nicht  zu  losen  vermochten,  und  die 
Ziele  erreicht,  denen  sie  zustrebten.  Eine  neugestimmte 
Frommigkeit  hat  er  erzeugt,  hat  fiir  sie  eigentiimliche  Aus- 
drucksformen  und  eine  Methode  der  Aneignung  geschaffen, 
hat  sich  mit  ihr  an  die  ganze  katholische  Christenheit  ge- 
wandt  und  ist  durchgedrungen.  Er  hat  die  Laien  fur  die 
Kirche  zu  interessieren  verstanden  und  ihnen  in  seiner 
Mystik  das  zuganglich  gemacht,  was  ihnen  bisher  versagt 
gewesen  war.  Er  hat  das  gesamte  Leben  der  Kirche  auf 
alien  Grebieten  durchdrungen  und  die  Grlaubigen  dem  Papste 
zu  Fiifien  gelegt.  Aber  der  Orden  hat  nicht  nur  fort  und 
fort  selbstandige  Aufgaben  verfolgt  im  Dienste  der  Kirche, 
sondern  er  hat  sich  auch  allezeit  in  einer  gewissen  Unab- 
hangigkeit  von  ihr  zu  halt  en  verstanden.  "Wie  er  die  Poli- 


Das  Monchtum.  137 

tik  der  Papste  nacli  dem  Programm  des  Papsttums  nicht 
selten  korrigiert  hat,  so  beherrscht  er  heute  mit  seinem 
Christentum,  seinem  phantastisch-sinnlichen  Kultus,  seiner 
politischen  Moral  die  Kirche.  Nie  ist  er  totes  Werkzeug 
in  der  Hand  der  Kirche  geworden,  auch  ist  er  nicht  in  der 
"Weise  der  friiheren  Orden  zu  einem  unbedeutenden  Dasein 
herabgesunken.  Dieser  Orden  hat  sich  nicht  in  ein  In- 
stitut  der  Kirche  gewandelt,  sondern  die  Kirche  ist  unter 
die  Herrschaffc  der  Jesuiten  geraten.  Das  Monchtum  hat 
wirklich  iiber  die  Weltkirche  des  Abendlandes  den  Sieg 
davongetragen. 

Das  Monchtum  hat  gesiegt  -  -  aber  welch  ein  Monch 
tum?  Mcht  das  des  heil.  Franziskus,  sondern  ein  solches, 
welches  zuvor  das  Programm  der  Weltkirche  zu  seinem 
eigenen  gemacht  und  damit  sein  Wesen  entleert  und  preis- 
gegeben  hat.  Askese  und  Weltentsagung  sind  hier  zu 
Formen  und  Mitteln  der  Politik  geworden;  sinnliche  Mystik 
und  Diplomatie  sind  an  die  Stelle  einfaltiger  Frommigkeit 
und  sittlicher  Zucht  getreten.  Materiell  vermag  dieses 
Monchtum  seine  Echtheit  nur  noch  an  der  Antithese  gegen 
die  Staaten  und  ihre  Kulturentwickelung,  sowie  an  der 
Geringschatzung  des  Wertes  des  Individuums  zu  legiti- 
mieren.  Unter  der  Herrschaft  des  Jesuitenordens  ist  die 
Kirche  ganz  spezifisch  und  definitiv  verweltlicht;  sie  setzt 
der  Welt,  der  G-eschichte  und  Bildung,  ihren  weltlichen 
Besitzstand,  das  Vermachtnis  des  Mittelalters ,  entgegen. 
Das  BewuCtsein  ihrer  nUberweltlichkeit"  starkt  sie  heute 
wesentlich  an  dem  G-egensatze  zur  Kultur  der  Renaissance 
und  Reformation ;  aber  sie  schopft  ihre  Kraft  aus  den  G-e- 
brechen  und  Mangeln  jener  Kultur  und  den  Mifigriffen 
ihrer  Protektoren.  LaBt  man  die  negative  Stellung  der 
Kirche  zum  modernen  Staat  als  Ausdruck  ihrer  welt- 
fluchtigen  G-esinnung  gelten,  so  hat  das  Monchtum  in  der 
Tat  in  ihr  gesiegt;  sieht  man  aber  in  der  Art,  wie  die 
Kirche  heute  diese  Stellung  behauptet,  eine  wesentliche 


138  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

Yerweltlichung ,  so  1st  eben  das  jesuitische  Monehtum  fur 
diese  verantwortlich  zu  macheD.  Die  anderen  Orden  kommen 
als  geschichtliche  Faktoren  kaum  melir  in  Betracht.  Der 
Jesuitenorden  hat  die  alteren  und  die  jiingeren  fast  samt- 
lich  beeinflufit.  Mogen  sie  nun  zu  orient  alischer  Schweig- 
samkeit  zuriickgekehrt  sein,  wie  die  Trappisten,  mogen 
einige  von  ihnen,  in  Weise  der  alten  agyptischen  Monehe, 
selbst  die  kirchliche  Wissenschaft  mit  MiBtrauen  betrachten 
und  wider  sie  eifern,  mogen  sie  ihr  zwisclien  Welt  und 
Askese  geteiltes  Dasein  fortsetzen  und  in  sozialer  Hilf- 
leistung  und  Rettung  Einzelner  auch  noch  Bedeutendes 
wirken  -  -  ein  kirchengeschiclitliclier  Faktor  sind  sie  nicht 
mehr.  Sie  sind  abgelost  worden  von  den  Jesuiten  und  — 
von  den  Kongregationen ,  jenen  elastischen  und  schmieg- 
samen  Schopfungen ,  in  denen  sick  der  Greist  des  Jesuiten- 
ordens  mit  den  Bediirfnissen  und  Institutionen  der  mo- 
dernen  Gresellschaft  verbunden  hat.  Die  im  Sinne  der 
Gresellschaft  Jesu  geleiteten  Kongregationen  und  die  in 
eben  diesem  Sinne  arbeitenden  unzahligen  ?,freien"  katho- 
lischen  Vereine,  die  weltlich  und  geistlich,  frei  und  ge- 
bunden  sein  konnen,  je  nach  Bedarf,  sie  sind  in  Wahrheit 
das  moderne  katholische  Monchtum. 

In  der  Kirche  des  Abendlandes,  die  sich  sittliche  und 
politische  Ziele  gesteckt  hat,  hat  das  urspriingliche  Monch 
tum  und  seine  Ideale  auf  die  Dauer  nur  einen  gebrochenen 
Erfolg  gehabt.  Sofern  es  sich  entschlossen  hat,  an  der 
Weltaufgabe  der  Kirche  Teil  zu  nehmen,  hat  es  sich  in  die 
kirchliche  Kompagnie  umwandeln  miissen,  die  ihre  Freiheit 
von  der  Welt  in  der  weltlichen,  politischen  Reaktion  gegen 
die  Kultur  und  die  Greschichte  bekundet  und  deshalb  die 
Verweltlichung  der  Kirche  zum  AbschluB  gebracht  hat. 
Das  morgenlandische  Monchtum  hat  sich  seine  Selbstandig- 
keit  erhalten,  aber  es  ist  verodet,  das  abendlandische  ist 
wirksam  geblieben,  aber  es  ist  entleert.  Dort  scheiterte  es,. 
weil  es  die  sittlichen  Aufgaben  fur  die  Welt  mifiachten  zu 


Das  Manchtum.  139 

diirfen  meinte,  hier  unterlag  es,  well  es  sich  einer  Kirche 
unterordnete,  welche  Religion  und  Sittlichkeit  in  den  Dienst 
der  Politik  gestellt  hat.  Dort  wie  hier  ist  es  aber  die 
Kirche  selbst  gewesen,  welche  das  Monchtum  hervorgebracht 
und  ihm  seine  Ideale  vorgezeichnet  hat.  Darum  ist  auch 
im  Morgenland  wie  im  Abendland,  allerdings  nach  langem 
Schwanken  und  nach  sehweren  Krisen,  das  Monchtum 
schliefilich  zum  Hiiter  der  kirchlichen  Grewohnheit  und 
zum  Wachter  des  kirchlichen  Empirismus  geworden.  Seine 
urspriinglichen  Ziele  sind  somit  in  ihr  Gregenteil  umge- 
schlagen. 

"Wohl  kann  das  Monchtum  noch  heute  einzelnen  "Welt- 
miiden  Frieden  geben;  aber  die  Greschichte  weist  iiber  das- 
selbe  hinaus  auf  die  Predigt  Luthers,  dafi  der  Mensch  die 
Nachfolge  Christi  beginnt,  der  in  seinem  Beruf  und  Stand 
durch  Grlauben  und  dienende  Liebe  mitarbeitet  am  Reiche 
Grottes.  Auch  dieses  Ideal  fallt  nicht  einfach  zusammen 
mit  dem  Inhalt  der  evangelischen  Botschaft;  aber  es  gibt 
die  Bichtung  an,  in  welcher  der  Christ  sich  zu  bewegen 
hat  und  stellt  ihn  gegen  Selbsttauschung  und  Unwahrheit 
sicher.  Es  ist,  wie  alle  Ideale,  aufgerichtet  worden,  indem 
man  einen  unertraglichen  Notstand  zu  heben  bemtiht  war, 
und  es  ist  bald  verweltlicht  und  verfalscht  worden  wie 
jene.  Aber  wenn  es  nicht  mehr  sein  will,  als  das  Ein- 
gestandnis,  daB  an  die  Vollkommenheit  des  Lebens,  welche 
in  dem  Evangelium  vorgestellt  ist,  Memand  hinanreicht, 
und  wenn  es  der  Ausdruck  dafur  ist,  dafi  der  Christ  in 
jeder  Lage  der  gottlichen  Hilfe  und  Grnade  vertrauen  darf, 
so  wird  es  die  Kraft  des  Schwachen  sein  und  kann  auch 
zum  Friedenszeichen  werden  im  Streite  der  Konfessionen. 


ADOLF  HARNACK  •  REDEN  UND  AUFSATZE 
ERSTER  BAND  •  ERSTE  ABTEILUNG 


REDEN:  V 

MARTIN  LUTHER 

IN  SEINER  BEDEUTUNG  FUR  DIE  GESCHICHTE 

DER  WISSENSCHAFT  UND  DER  BILDUNG 


Rede 

bei  der  Feier  zum  vierhundertjahrigen  Gedachtnis  der  Geburt  Martin 
Luthers,  gehalten  in  der  Aula  der  Grossherzoglich-Hessischen  Ludwigs- 
Universitat  in  Giessen  am  10.  November  1883,  erschienen  in  3.  Aufl.  1901 
bei  Alfred  TOpelmann  (vormals  J.  Kicker'sche  Verlagsbuchhandlung)  in 

Giessen. 


Einmiitig  haben  wir  uns  in  diesen  liolien  Raumen  ver- 
sammelt,  den  vierhundertjahrigen  Q-eburtstag  des  deutschen 
Heformators ,  Dr.  Martin  Luthers,  festlich  zu  begehen. 

In  der  Greschichte  unseres  Greschlechtes  haben  die  Er- 
eignisse  —  gemeinsam.es  Aufstreben  und  gemeinsamer  Me- 
dergang  —  weit  haunger  Epoche  gemacht  als  die  Personen; 
aber  dafi  mit  Luthers  Wirken  eine  neue  Stufe  der  Ent- 
wicklung  begonnen  hat,  ist  zweifellos. 

Wenig  zahlreich  sind  die  Greister,  welche  den  Hohen 
und  den  Niederen,  den  Grebildeten  und  den  Ungebildeten 
zugleich  neuen  Sinn  und  neues  Leben  erweckt  haben;  aber 
noch  heute  zehren  wir  Deutsche,  so  verschieden  wir  sind, 
allzumal  von  den  Griitern,  die  uns  Luther  gebracht  hat. 

Unsere  Alma  mater  aber  schaut  in  einem  zweifachen 
Sinne,  als  deutsche  und  als  hessische  Universitat,  dankbar 
auf  zu  dem  Manne,  dessen  Name  heute  auf  aller  Lippen 
ist.  Als  deutsche  Universitat:  denn  das  herrliche  Erbe 
einer  reichen  und  edlen  Bildung,  welches  zu  schiitzen  wir 
mitberufen  sind,  tragt  unverwischbar  den  Stempel  seines 
G-eistes.  Als  hessische  Universitat:  denn  diese,  von  einem 
hochherzigen  Fiirsten  gegriindet,  ist  die  erste  protestantische 
Hochschule  Deutschlands  gewesen,  die  erste  Hochschule, 
die  gestiftet  ist  ohne  papstliche  Privilegien  in  dem  freien 
Greiste  Luthers.  Und  wenn  heute  die  Schranken  langst 
gefallen  sind,  welche  die  deutschen  Universitaten  nach  der 
Reformation  getrennt  hielten,  wenn  derselbe  Geist  mutiger 
Forschung  auf  alien  eine  Statte  gefunden  hat,  so  ist  das 
auch  eine  Folge  der  Wirksamkeit  des  Mannes,  der  unsere 


Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  V. 

Nation  befreit  hat,  indem  er  ilire  Entwicklung  in  neue 
Bahnen  lenkte. 

Unsere  Nation  —  denn  fur  die  gesamte  Nation  nehmen 
wir  inn  in  Anspruch  und  die  gesamte  Nation  fur  ihn.  In 
jenen  herrlichen  Tagen,  da  er  die  Geister  erweokte  und 
wes  eine  Lust  war  zu  leben",  da  war  das  ganze  deutsche 
Volk,  Adel,  Burger  und  Bauer,  von  ihm  gewonnen.  Aber 
auch  heute  noch  ist  Luthers  Bedeutung  niclit  zu  ermessen 
an  dem  Bestande  und  Umfang  der  Kirchen,  die  sich  mit 
seinem  Namen  schmiicken;  nein  —  uberall  tritt  sie  uns 
entgegen,  wo  wir  die  Eigenart  und  Grofie  der  idealen  Giiter 
schatzen  wollen,  die  wir  als  Christen  und  als  Deutsche  be- 
sitzen.  Wir  reden  mit  seinen  Worten,  wir  urteilen  nach 
seinen  Mafistaben  und  wir  finden  die  Macht  seines  Geistes 
in  unseren  Vorziigen  und  in  unseren  Fehlern  wieder. 

Aber  weiter:  fast  jede  Partei  unter  uns  hat  ihren 
Luther  und  meint  den  wahren  zu  haben.  Die  Verehrung 
fur  Luther  vereinigt  mehr  als  die  Halfte  unserer  Nation, 
und  die  Auffassung  Luthers  trennt  sie.  Von  Luthers  Namen 
lafit  so  leicht  kein  Deutscher.  Ein  unvergleichlicher  Mann 
ist  er  alien,  ob  man  ihm  nun  aufpafit,  um  ihn  anzugreifen, 
oder  ob  man  ihn  ruhmt  und  hoch  preist. 

Trotzdem  —  wer  kennt  ihn  selbst  und  wen  verlangt 
es,  ihn  wirklich  zu  kennen?  Man  will  ihn  verehren,  wie 
man  ihn  sich  wiinscht,  als  den  Trager  der  eigenen  Ideale; 
aber  im  geheimen  argwohnt  man,  daB  er  doch  ganz  anders 
gewesen  sei.  Sein  Charakter  imponiert  alien,  seine  Uber- 
zeugungen  laCt  man  dahingestellt  sein  oder  verarbeitet  sie  zu 
kursfahiger  Miinze.  Ist  er  so  grofi,  dafi  er  uns  unbequem 
ist?  oder  sind  wir  innerlich  doch  so  weit  von  ihm  entfernt, 
dafi  ein  Bedurfnis  nach  naherer  Bekanntschaft  nicht  mehr 
aufkommt?  Ist  er  zu  schneidig  fur  unsere  Milde,  zu  be- 
wegt  fur  unsern  Grleichmut,  zu  iiberzeugt  fur  unsere  Zuriick- 
haltung,  zu  altertiimlich  fur  uns  Moderne?  Wie  war  er 
wirklich,  der  wundersame  Mann,  der  gewaltig  wie  ein  Heros 


Martin  Luther.  145 

und  einfaltig  wie  ein  Kind  gewesen  ist?  ohne  Klugheit  ein 
Weiser,  ohne  Politik  ein  Staatsmann,  ohne  Kunst  ein  Kiinst- 
ler,  inmitten  der  "Welt  ein  weltfreier  Mann,  in  kraftiger 
Sinnlichkeit  und  doch  rein,  rechthaberisch  ungerecht  und 
doch  stets  von  der  Sache  getragen,  der  Autoritaten  spottend 
und  an  die  Autoritat  gebunden,  die  Vernunft  verlasternd 
und  befreiend! 

Nur  ein  Meister  vermag  hier  Antwort  zu  geben  und 
gleichsam  die  ganze  Surame  der  Existenz  Luthers  zu  ziehen. 
Ihr  Redner  muC  sich  die  Aufgabe  beschranken.  Welche 
Bedeutung  Luther  in  der  Greschichte  unserer  Bildung  und 
Wissenschaffc  gehabt  hat,  und  welcher  Wert  den  reforma- 
torischen  Ideen  hier  zukommt,  das  mochte  er  Ihnen,  so  gut 
er  es  vermag,  in  Kiirze  vortragen. 

Aber  gerade  diese  Aufgabe  hat  ihre  besondere  Schwierig- 
keit.  Luther  hat  nichts  entdeckt,  was  der  Entdeckung  des 
Kreislaufs  des  Blutes  oder  des  Gravitationsgesetzes  oder 
eines  neuen  Weltsystems  ahnlich  ware.  Auch  seine  histo- 
rische  und  philosophische  Grelehrsamkeit  erhob  sich  nicht 
iiber  das  Durchschnittliche.  Ferner:  wir  besitzen  kein  lite- 
rarisches  Werk  von  ihm,  von  dem  man  sagen  konnte:  das 
ist's  —  das  ist  der  ganze  Luther.  Die  gottliche  Komodie 
ist  uns  Dante,  der  Faust  ist  uns  in  gewissem  Sinne  der 
ganze  Groethe:  nichts  dergleichen  besitzen  wir  von  Luther. 
Das  Werk,  welches  noch  am  meisten  die  ganze  Tiefe  und 
den  Reichtum  seines  Greistes  abstrahlt,  ist  eine  Ubersetzung: 
die  Ubersetzung  der  Bibel. 

Dennoch  ware  es  moglich,  eine  ansehnliche  Summe 
von  einzelnen  wichtigen  Erkenntnissen  Luthers  auf  ver- 
schiedenen  Grebieten  der  "Wissenschaft  zusammenzustellen, 
und  verbramt  mit  einer  Reihe  von  Zitaten,  in  welchen 
Luther  der  freien  Forschung  das  Wort  redet  und  einen 
griindlichen  Unterricht  veiiangt,  liefie  sich  vielleicht  ein 
eindrucksvolles  Bild  erzielen.  Aber  ich  muflte  fiirchten, 
dafi  der  Reformator  selbst  es  nicht  als  das  seinige  aner- 

Harnack,  Reden  und  Anfsatze.    2.  Aufl.    I. 


146  Erster  Band,  erste  Abteilung.    Reden:  V. 

kennen  wiirde.  Ein  solclier  Luther  ware  ilnn,  urn  mit  ihm 
selber  zu  reden,  nur  ein  j,gemalter".  Nein  —  von  welcher 
Seite  man  auch  immer  seine  gewaltige  Personlichkeit  in 
ihren  Wirkungen  ins  Auge  fassen  will,  man  wird  ihr  nie- 
mals  gerecht  werden,  wenn  man  nicht  von  Luther,  dem 
kirchlichen  Reformator,  ausgeht.  Denn  er  war  im  vollsten 
Sinne  eine  monarchische  Natur.  Was  er  getan  und  ge- 
leistet  hat,  das  ist  bei  ihm  aus  dem  religiosen  Leben  heraus- 
geboren.  Das  war  das  Greheimnis  und  die  Starke  seines 
Lebens,  daC  er  nahezu  niemals  aus  dem  Kreise  heraus- 
getreten  ist,  der  ihm  als  kirchlichem  Reformator  vorgezeich- 
net  war.  Freunde  und  Gregner  haben  ihn  zum  National- 
helden,  zum  Politiker,  zum  Theologen,  zum  Stifter  einer 
neuen  Kirche  machen  wollen.  Er  ist  das  alles  nicht  ge- 
wesen,  und  er  hat  alien  diesen  Yersuchen  "Widerstand 
geleistet.  Mit  dem  Instinkte  des  Grenius  fuhlte  er  die  Be- 
schrankung,  die  ihm  jede  dieser  Tatigkeiten  in  ihrer  Be- 
sonderung  aufgenotigt  hatte.  Er  hatte  Grrofieres  zu  tun. 

Die  Frage  nach  dem  Zweck  und  Ziel  des  menschlichen 
Lebens,  nach  dem  Frieden  und  der  Seligkeit  der  Grewissen 
—  sie  war  das  einzig  Treibende  in  seinem  Leben.  Alles 
iibrige,  was  er  geleistet  hat,  es  ist  ihm  zugefallen.  Es  war 
nicht  direkt  beabsichtigt;  eben  darum  verkiindete  er  es, 
wenn  er  darauf  gefuhrt  wurde,  mit  derselben  Kraft,  mit 
der  er  das  Evangelium  predigte.  So  blieb  er  der  bahn- 
brechende  Reformator,  weil  er  sich  seiner  Grenzen,  der 
Fortifikationslinie  seines  Daseins  und  seines  Berufs,  bewuflt 
geblieben  ist. 

Damit  ist's  schon  gesagt,  in  welchem  Sinne  wir  Luthers 
Bedeutung  fur  die  Wissenschaft  zu  wiirdigen  haben.  Sie 
kann  in  der  Hauptsache  nur  eine  indirekte  gewesen  sein. 
Aber  dieses  Indirekte  ist  nicht  das  Greringere,  sondern  das 
Grofiere.  Denn  nicht  der  ist  der  Grrofiere,  der  einzelnes 
IsTeue  —  sei  es  auch  das  Grewaltigste  —  entdeckt,  sondern 
der  ist  es,  welcher  die  Gresimmngen  der  Menschen  zur  Er- 


Martin  Luther. 


147 


kenntnis  der  "Wahrheit  reinigt  und  die  Hemmnisse  wegraumt, 
welche  die  Vergangenheit  von  Jahrhunderten  als  elementare 
Last  auf  die  Bahnen  der  Zukunft  lagert. 

Werfen  wir  einen  Blick  anf  die  geistigen  Zustande 
beim  Ausgang  des  15.  Jahrhunderts.  Vielleicht  hat  das 
Abendland  niemals  starker  unter  der  Last  der  Vergangen 
heit  getragen  als  in  der  Epoche,  welche  dem  Auftreten 
Luthers  nnmittelbar  vorherging.  Die  Kirche  war  noch 
immer  die  alles  beherrschende  G-rnndlage  der  allgemeinen 
Ordnung.  In  ihrem  grofien  Grefiige  allein  waren  die  idealen 
Griiter,  die  Gfesetze,  Erkenntnisse  und  G-ewohnheiten  der 
Menschen  festgestellt.  Die  groJJte  und  humanste  Idee, 
welche  das  Mittelalter  hervorgebracht,  die  Idee  des  Papst- 
tums,  beherrschte  noch  immer  die  Gremuter.  Sie  war  durch 
eigene  Schuld  der  Papste  kompromittiert  und  tief  er- 
schiittert  worden;  aber  sie  war  eigentlich  nirgendwo  ent- 
wurzelt.  An  der  Greschichtsbetraehtung  der  Zeit  lafit  sich 
das  am  besten  studieren.  Noch  immer  gait  die  Erde  als 
das  Jammertal,  dessen  Hegierung  dem  Papste  und  dem 
Kaiser  anvertraut  sei,  bis  die  Stunde  des  Grerichtes  schliige. 
Die  literarischen  Widersacher  der  Papste  im  14.  Jahrhundert 
hatten  versucht,  den  Bann  dieser  Auffassung  zu  sprengen. 
Aber  was  sie  ihr  entgegenzusetzen  wufiten,  war  teils  von 
ihr  selbst  erborgt,  teils  vage  und  wirkungslos.  Im  15.  Jahr 
hundert,  nachdem  das  Papsttum  siegreich  aus  dem  Kampfe 
mit  den  konziliaren  Ideen  hervorgegangen,  beherrscht  die 
papstliche  Legende,  wie  sie  durch  den  siebenten  Grregor 
begriindet,  durch  den  dritten  Innocenz  ausgebaut  worden 
ist,  wiederum  die  Publizistik.  Wohl  fuhlte  man  ihren  Druck; 
die  Politik  der  Fiirsten  hatte  sich  auch  lange  schon  ihrem 
Banne  entwunden;  aber  die  Erkenntnis  fand  keinen  Aus- 
weg.  Sie  begann,  um  die  Greschichte  zu  verstehen,  regel- 
mafiig  bei  dem  Siindenfall;  sie  war  den  kirchlichen  Fabeln 
gegeniiber  fast  vollig  wehrlos  und  sie  endete  konsequent 
mit  dem  Rechte  des  Papstes  uber  die  Welt  —  andernfalls 

10* 


148  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  V. 

mit  leeren  Ausniichten  und  luftigen  Sophismen.  Helle  Kopfe 
deckten  zwar  dies  und  jenes  Einzelne  auf;  aber  das  anderte 
nichts  an  dem  Granzen. 

Und  nun  das  dogmatische  System.  Seit  mehr  als 
tausend  Jahren  hatte  sich  an  demselben  wenig  geandert. 
Wie  die  Vater  der  alten  Kirche,  vor  allem  Augustin,  das 
groJ}e  Grefuge  konzipiert  und  gezimmert  hatten,  so  war  es 
geblieben:  das  neue  Testament  mit  dem  Testament  der  Antike 
seltsam  und,  wie  es  schien,  untrennbar  verbunden.  Wohl 
hatte  auf  diesem  Grunde  eine  stete  Bewegung  im  Mittel- 
alter  stattgefunden.  Die  von  den  Papsten  geleitete  Ent- 
wicklung  der  Kirche  hatte  sich  den  Bediirfnissen  und 
Stimmungen  der  Menschen  jahrhundertelang  anzuschmiegen 
verstanden.  Aber  seit  anderthalb  Jahrhunderten  schien  das 
System  seine  Elastizitat  erschopft  zu  haben:  es  konnte  sich 
weder  erweiten  noch  entlasten.  In  dem  Momente  begannen 
auch  der  Zweifel  und  das  Mifitrauen  zu  erstarken.  Von 
sehr  verschiedenen  Seiten  kamen  die  Einwiirfe.  Aber,  ge- 
nau  betrachtet,  bezogen  sie  sich  imnier  nur  auf  Einzelnes, 
und  wo  sie  an  den  Fundamenten  riittelten,  da  stellten  sie 
sofort  nicht  nur  die  Kirche,  sondern  die  Gresellschaft,  das 
ganze  sozial-politische  System,  in  Frage.  Wirkliche  Revo- 
lutionen  stiegen  drauend  auf  aus  den  verschiedenen  Schichten 
der  Gresellschaft.  Aber  das  Programm  derselben  war  in  den 
positiven  Zielen  so  unklar  und  undurchfuhrbar,  wie  in  den 
negativen  radikal.  Schwarmerische  Frommigkeit  hatte  es 
diktiert.  Sie  wollte  auf  den  Triimmern  der  alten  Ordnungen 
ein  Paradies,  ein  Traumreich,  griinden  und  rechnete  auf 
himmlische  Hilfe.  Eine  neu  gestimmte  Heligiositat  kiindigte 
sich  in  wilden  Bewegungen  und  in  den  stillen  Kreisen  unter 
den  Laien  an.  Sie  fiihlte  sich  von  der  alten  Kirche  ab- 
gestofien  und  doch  wiederum  angezogen.  Grlaubenssehn- 
siichtiger  als  die  Generation,  welche  seit  der  Rekonstruktion 
des  Papsttums  im  15.  Jahrhundert  in  Deutschland  aufwuchs, 
ist  kaum  je  eine  andere  gewesen.  Die  ruhelose  Frommig- 


Martin  Luther. 


149 


keit,  das  unbefriedigte  Suchen,  die  neuen  Formen  —  Heilige, 
Wunder,  Bruderschaften  und  genossenschaftliche  Kulte, 
kiihne  Kritik  und  rasches  Erschlaffen  —  sie  erinnern  leb- 
haffc  an  jene  grofie  Epoche  des  Altertums,  als  die  Volker 
an  den  Kiisten  des  Mittelmeeres  iinter  der  Regierung  der 
Antonine  und  ihrer  Nachfolger  sich  anschickten,  die  alteii 
Grdtter  mit  dem  Grott  der  Erlosung  zu  vertauschen.  Hier 
wie  dort  hochste  Steigerung  und  Umformung  des  Uber- 
lieferten,  aber  noch  kein  Durchbruch  und  kein  Umsehlag. 
Die  Wissenschaft.  Sie  stand  augenscheinlich  unter  dem 
Prinzipate  der  Theologie,  die  Theologie  aber  auf  der  Au- 
toritat  der  Kirche.  Die  Menschheit  war  seit  einem  Jahr- 
tausend  in  der  Erkenntnis  nicht  vorwarts  gekommen.  Sie 
hatte  sich  geiibt  zu  distinguieren  und  zu  deduzieren.  Sie 
lebte  in  kiinstlerischen  Idealen  und  Illusionen.  Aber  kaum 
irgendwo  hatte  sie  sich  weiter  bewegt.  Was  sie  in  den 
letzten  Jahrhunderten  gelernt  hatte,  das  hatte  sie  alles  ein- 
gebaut  und  eingesponnen  in  eine  kunstvolle  Mythologie 
von  Begriffen.  Keine  Betrachtung  ist  kurzsichtiger  und 
unrichtiger  als  die,  fur  diesen  Zustand  priesterliche  Herrsch- 
sucht  oder  die  besondere  Borniertheit  der  Theologen  ver- 
antwortlich  zu  machen.  Man  mufi  sich  nur  erinnern,  welche 
Aufgabe  die  untergehende  Antike  der  Wissenschaft  gesetzt 
hatte.  Die  Theologie  sollte  der  AbschluB  und  die  Krone 
des  gesamten  Welterkennens  sein;  die  Philosophic  aber 
sollte  einerseits  die  Einleitung  zur  Theologie  bilden,  anderer- 
seits  ihr  die  Beweise  liefern.  Beide  sollten  iiber  diese  Welt 
des  Sinnlichen  hinausstreben,  hinter  ihrem  Schein  das  wahre 
Sein  aufsuchen.  Erkenntnis  und  Andacht  zugleich  sollten 
diesem  wahren  Sein  gelten,  dem  die  Objekte  der  religiosen 
Dogmen  einzugliedern  seien.  Daneben  gab  es  nur  eine  for- 
male  Schulung.  So  war  es  im  Ausgang  des  Altertums  von 
den  Neuplatonikern  verstanden  worden,  und  diese  Erbschaft 
hat  die  mittelalterliche  Wissenschaft  angetreten.  Die  Theo 
logie  entbehrte  auf  diese  Weise  eines  ihr  eigentiimlichen 


150  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  V. 

G-ebietes.  Sie  sollte  Fundament  nnd  Spitze  des  G-anzen 
sein.  Aber  diese  Erhebung  war  faktisch  eine  schwere  Be- 
eintrachtigung,  nicht  nur  fur  die  Weltwissenschaft,  sondern 
nicht  weniger  fur  die  Theologie.  Jener  Prinzipat  beschwerte 
sie  mit  einem  immensen  Stoff,  verwickelte  sie  in  alle  denk- 
baren  Fragen  und  tauschte  sie  iiber  ihre  wirklichen  Auf- 
gaben.  Und  in  Wahrheit  war  der  Prinzipat  der  Theologie 
doch  nur  scheinbar.  Sie  selbst  wurde,  wie  alles  andere  im 
Mittelalter,  regiert  durch  die  weltbeherrschende  Kirche  und 
die  weltfliichtige  Metaphysik.  Jede  Welterkenntnis ,  die 
sich  Her  nicht  einfiigen  liefi,  brachte  Theologie  und  Philo- 
sophie  zugleich  zu  Fall.  Jeder  Versuch  mufite  Verdacht 
erregen,  in  welchem  man  es  wagte,  die  Welt  als  etwas 
Selbstandiges  zu  nehmen.  Man  hatte  kein  gutes  G-ewissen 
mehr,  sobald  man  das  sinnlich  Erkennbare  der  theologischen 
Beleuchtung  entriickte.  Ohne  diese  war  ja  die  Welt  des 
Teufels,  waren  alle  ihre  Stimmen  Sirenenstimmen,  war  ihre 
Schonheit  ein  Fallstrick,  war  die  Wissenschaft  von  ihr 
Schwarzkunst  und  Magie.  Selbst  noch  ein  Petrarca  hat 
sich  schwere  Vorwurfe  gemacht  und  sich  schleunigst  in  die 
Confessiones  des  hi.  Augustinus  vertieft,  als  er  einmal  ent- 
ziickt  der  heriiichen  Natur  der  Riviera  ins  Angesicht  ge- 
sehen.  Die  Weltfliichtigkeit  als  die  G-rundstimmung  des 
mittelalterlichen  Menschen  hemmte  alle  Wissenschaft.  Wo 
keine  Naturfreudigkeit  ist,  da  ist  auch  keine  Naturerkennt- 
nis.  So  war  ein  Fortschritt  nach  keiner  Seite  moglich. 

Aber  die  Kritik  des  Verstandes  wurde  doch  immer 
raachtiger.  Im  Unvermogen,  die  herrschenden  Vorstellungen 
zu  sprengen,  geriet  man  auf  die  Theorie  von  der  doppelten 
Wahrheit,  Sie  ist  das  Schlufiwort  des  Mittelalters.  Man 
behauptete,  eine  andere  Wahrheit  gelte  fur  die  Theologie, 
eine  andere  fur  die  Philosophie.  Es  war  der  Protest  eines 
formal  geschulten  Denkens  wider  die  Irrationalitaten  des 
kirchlichen  Dogmas.  Aber  man  tastete  dasselbe  doch  nicht 
an;  man  stellte  es  urn  so  entschlossener  unter  den  Schutz 


Martin  Luther. 


151 


der  heiligen  Autoritat  der  Kirehe.  In  dieser  unertraglichen 
Losung  des  14.  Jahrhunderts  zeigt  sich  der  Bann  der  Uber- 
liefemng  am  starksten.  Die  Kritik  arbeitete  mit  hundert 
Machten  im  Bunde;  in  den  Augen  Unzahliger  war  die 
ganze  Scholastik  bereits  diskreditiert:  uberall  Empfindung 
der  Enge  nnd  des  Drucks.  Indessen  schien  das  grofie  G-e- 
bilde  der  Vergangenheit  for  ewige  Dauer  bestimmt  zu  sein 
und  allem  Widerspruch  zu  trotzen. 

Aber  schien  es  wirklich  so?  Haben  wir  nicht  iiber- 
sehen,  dafi  bereits  seit  mehr  als  einem  Jahrhundert,  vor- 
nehmlich  in  Italien,  sich  eine  neue  Bildung,  die  Bildung 
der  Renaissance,  entfaltet  hatte?  Noch  jiingst  hat  ein  geist- 
voller  Schriftsteller  genrteilt:  ^Bie  italienische  Renaissance 
barg  in  sich  alle  die  positiven  Grewalten,  welchen  man  die 
moderne  Kultur  verdankt."  GewiG  —  man  wird  zugestehen 
miissen,  daB  ohne  die  Renaissance  das  Mittelalter  schwer- 
lich  gesprengt  worden  ware.  Unser  moderner  Staat,  die 
Entwicklung  von  freien  nnd  eigenartigen  Individuen,  die 
Entzrffernng  der  Yergangenheit,  die  Entdeckung  der  Welt 
nnd  des  Menschen,  die  Ausgleichung  der  Stande,  die  Aus- 
bildung  einer  hoheren  Form  der  G-eselligkeit,  die  aufiere 
nnd  innere  Verfeinerang  des  Lebens,  vor  allem  aber  die 
Fahigkeit,  das  Konkrete  iiberhaupt  wieder  sehen  und  in 
kiinstlerischer  Form  zur  Darstellung  bringen  zn  konnen, 
das  alles  verdanken  wir  hanptsachlich  der  Renaissance. 
Aber  war  das  alles  und  war  dies  alles  sichergestellt?  Schon 
die  G-eschichte  der  Renaissance  vermag  uns  eines  Besseren 
zu  belehren.  Bereits  vor  der  brutalen  Hispanisierung  Italiens 
und  vor  der  Epoche  der  Kontrareformation  war  die  Re 
naissance  im  Medergang.  Woher  dieser  Niedergang?  isfun 
—  die  Wiedererweckung  der  Antike,  der  Riickgang  auf  das 
Altertum  ist  der  Kernpunkt  im  geistigen  Leben  der  Re 
naissance.  Hier  lag  ihre  Schonheit  und  Starke,  hier  lag 
aber  auch  ihre  Schwache  und  Schranke.  Die  Antike  fuhrte 
die  Humanisten  aus  der  Welt  des  Mittelalters  heraus;  aber 


152  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  V. 

festen  Halt  und  neue  Ordnungen  vermochte  sie  ihnen  nicht 
zu  geben.  Sie  befreite  das  Leben  und  Denken  von  der 
kirchlichen  Bevormundung ;  aber  Freiheit  von  der  philoso- 
phischen  und  theologischen  hat  sie  nur  in  einigen  Greistern 
erzeugt,  die  weder  die  achtungswertesten  noch  die  einnufi- 
reichsten  waren.  Die  geistige  Luft,  in  der  die  Humanisten 
atmeten,  der  Boden,  auf  den  sie  den  neuen  Betrieb  der 
Wissenschaft  stellten,  war  der  Platonismus  mit  seiner 
Mystik,  seiner  Naturspekulation  und  Theologie.  Die  neue 
Bildung  hat  im  einzelnen  tausend  Bande  gesprengt  und 
dauernde  Grundlagen  gelegt;  aber  als  Weltanschauung  hat 
sie  ihren  Jiingern  keine  andere  Wahl  gelassen  als  die 
zwischen  Frivolitat  und  Mystik.  Die  Philosophic,  fur  welche 
man  sich  in  den  Grarten  der  Mediceer  begeisterte,  war  die 
platonische.  Die  Formeln  der  alten  Wissenschaft  waren  in 
ihrer  Hohlheit  erkannt:  das  entziickte  Auge  sah  gleichsam 
zum  ersten  Male  die  Welt  und  blickte  den  Dingen  freudig 
und  kiihn  entgegen.  Aber  sobald  man  die  Summe  zog, 
blieben  die  Erkenntnisse  von  demselben  lichten  Nebel  um- 
flossen,  in  welchem  das  lebensmiide  Altertum  dieselben  ge- 
schaut  hatte. 

Die  Renaissance  hat  weder  den  Weg  zu  einer  neuen 
kraftigen  Sittlichkeit  gefunden,  noch  die  Grenzlinien  ent- 
deckt,  welche  Grlauben  und  Wissen,  Greist  und  N"atur, 
Schonheit  und  Wahrheit  scheiden.  Ihr  Lebensideal  war  ein 
kiinstlerisches ;  eben  darum  blieb  sie  unsicher,  wo  sie  sich 
iiber  das  Einzelne  zu  erheben  strebte.  Aber  eben  darum 
ist  die  Kirche  des  Mittelalters  imstande  gewesen,  sie  zu 
ertragen.  Diese  Kirche  iiberwindet  jede  Bedrohung,  die 
aus  der  Indifferenz  oder  Frivolitat,  aus  dem  Asthetischen 
oder  Mystischen  entspringt.  So  streng  abstoCend  sich  die 
alte  Bildung  der  Kirche  und  die  neue  der  Renaissance  ent- 
gegenstanden  —  ein  geheimer  Zug  der  Wahlverwandtschaffc 
war  in  einer  Hinsicht  doch  vorhanden,  eine  Wahlverwandt- 
schaft  auf  wirklicher  Verwandtschaft  beruhend;  denn  das 


Martin  Luther. 


153 


Grebaude  der  Kirche  war  selbst  mit  den  Mitteln  der  Antike 
gebaut  worden,  und  die  geheimsten  und  zartesten  Regungen 
dort  verleugneten  ihren  Ursprung  niclit.  Die  Renaissance 
und  der  Humanismus  sind  des  Mittelalters  nicht  machtig 
geworden,  weil  sie  es  lediglich  mit  dem  Altertum  bekampf- 
ten.  Mochte  auch  eine  feme  Zukunft  den  Uberwundenen 
gehoren:  zunachst  blieb  die  Kirche  mit  den  kummerlichen 
und  verzerrten  Resten  des  Altertums  Siegerin.  Ja  sie 
wurde  der  Zufluchtsort  fur  viele,  als  die  neue  Zeit  ein  un- 
erbittliches  Dilemma  aufnotigte  und  die  Barbarei  neben  die 
Freiheit  zu  stellen  schien. 

Da  wurde  in  der  Zelle  eines  deutschen  Klosters  ein 
Seelenkampf  siegreich  ausgekampft,  dessen  Folgen  unermefi- 
liche  werden  sollten.  Innere  Unruhe,  die  Sorge  um  sein  Heil, 
trieben  Martin  Luther  in  das  Kloster.  Fromm  werden 
und  genug  tun  wollte  er,  damit  er  einen  gnadigen  Grott 
kriege.  ,,Ist  je  ein  Monch  gen  Himmel  kommen  durch 
Moncnerei",  durfte  er  spater  sagen,  ,3so  wollte  ich  auch 
hineingekonimen  sein."  Aber  indem  er  alle  die  Mittel  be- 
nutzte,  welche  die  mittelalterliche  Kirche  ihm  bot,  wuchsen 
seine  Anfechtungen  und  Qualen.  Er  hatte  das  BewuBtsein 
mit  alien  Machten  der  Finsternis  zu  ringen.  Wenn  ihn 
nachmals  auf  der  Hohe  seines  Wirkens  Kleinmut  iiberfiel, 
so  bedurfte  es  nur  der  Erinnerung  an  jene  klosterlichen 
Schrecknisse,  um  ihn  wieder  zu  festigen.  In  dem  Systeme 
von  Sakramenten  und  Verpflichtungen,  dem  er  sich  unter- 
warf,  fand  er  die  GewiBheit  des  Friedens  nicht,  die  er 
suchte.  Er  wollte  sein  Leben  fur  Zeit  und  Ewigkeit  auf 
einen  Fels  griinden;  aber  alle  Stiitzen,  die  man  ihm  anpries, 
zerbrachen  unter  seinen  Handen  und  der  Boden  wankte 
unter  seinen  FuBen.  Nun  —  er  glaubte  mit  sich  und  seiner 
Siinde  allein  zu  kampfen;  aber  in  Wahrheit  rang  er  zu- 
gleich  mit  der  Macht  einer  tausendjahrigen  Uberlieferung, 
mit  ihren  Idealen  des  Heiligen,  mit  ihrer  Schatzung  der 
Guter,  mit  ihren  Qualen  und  Trostungen. 


154  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  V. 

MEr  trug  den  Kampf  in  breiter  Brust  verhiillt, 
wDer  jetzt  der  Erde  halben  Kreis  erfiillt; 
HSein  Geist  war  zweier  Zeiten  Schlachtgebiet, 
,,Mich  wundert's  nicht,  daJ3  er  Damonen  sieht." 

In  solcher  Not  ging  es  ihni  am  Feuen  Testamente  auf, 
was  das  "Wesen  und  die  Kraft  der  christlichen  Religion  sei. 
Aus  einem  weitschichtigen  Systeme  von  Biiflungen  nnd 
Trostungen,  von  strengen  Satzungen  und  unsicheren  G-naden 
fiihrte  er  sie  heraus  zu  energischer  Konzentrierung.  Der 
lebendige  Gott  —  nicht  die  philosophische  oder  mystische 
Abstraktion  — ,  der  offenbare,  der  gewisse,  der  jedem 
Christen  erreichbare,  gnadige  Grott.  Unwandelbares  Ver- 
trauen  des  Herzens  auf  ihn,  der  sich  in  Christus  zu  un- 
serem  Vater  gegeben  hat,  personliche  Grlaubenszuversicht: 
das  wnrde  ihm  die  ganze  Summe  der  Religion.  Uber  alles 
Sorgen  und  Grramen,  liber  alle  Kiinste  der  Askese,  liber  alle 
Vorschriften  der  Theologie  hinweg  wagte  er  es  Grott  selbst 
zu  ergreifen,  und  in  dieser  Tat  seines  G-laubens  gewann 
sein  ganzes  Wesen  selbstandige  Testigkeit.  ,,Mit  unsrer 
Macht  ist  nichts  getan."  Er  kannte  jetzt  die  Macht,  die 
unserem  Leben  Halt  und  Frieden  verleiht,  und  wufite  sich 
fur  immer  in  ihr  geborgen.  Grlauben  —  das  hiefi  ihm  nun 
nicht  mehr  das  gehorsame  Fiirwahrhalten  kirchlicher  Dogmen, 
kein  Meinen  und  kein  Tun,  sondern  die  personliche  und 
stetige  Hingabe  des  Herzens  an  Grott,  welche  den  ganzen 
Menschen  umschafffc.  Das  war  sein  Bekenntnis  vom  Glauben: 
ein  lebendig,  geschaftig,  tatig  Ding  sei  derselbe,  eine  gewisse 
Zuversicht,  die  da  frohlich  und  lustig  macht  gegen  Gott  und 
alle  Kreaturen,  und  die  da  immer  bereit  ist,  Jedermann  zu 
dienen  und  allerlei  zu  leiden.  Unser  Leben  ist  trotz  aller 
TJbel,  trotz  aller  Siinde  geborgen  in  Gott,  wenn  wir  ihm 
nur  herzlich  vertrauen  wollen:  das  wurde  der  Grundge- 
danke  seines  Lebens.  In  diesem  hat  er  den  anderen  mit 
gleicher  Gewifiheit  erkannt  und  erlebt,  den  Gedanken  von 
der  Freiheit  eines  Christenmenschen.  Diese  Freiheit  war 


Martin  Luther. 


155 


ih.ni  nicht  erne  leere  Emancipation  oder  der  Freibrief  fur 
jegliche  Subjektivitat,  sondern  Freiheit  war  ihm  die  Herr- 
schaft  iiber  die  Welt  in  der  Gewifiheit,  daB,  wenn  Gott  fur 
nns  ist,  niemand  wider  uns  sein  kann;  frei  von  alien  mensch- 
lichen  Gesetzen  war  ihm  die  Seele,  die  in  der  Liebe  Gottes 
ihr  hochstes  Gesetz  und  das  Motiv  ihres  Lebens  erkannt 
hatte. 

Wohl  hat  er  von  den  alten  Mystikern  gelernt;  aber  er 
hat  gefunden,  was  sie  suchten.  Sie  blieben  stecken  in  er- 
habenen  Gefuhlen  und  brachten  es  nicht  zur  dauernden 
Empfindung  des  Friedens.  Er  drang  durch  zu  einer  aktiven 
Frommigkeit  und  zu  seliger  GewiGheit.  Er  hat  das  Recht 
des  Individuums  zunachst  fur  sich  selber  erkampft;  die 
Freiheit  des  Gewissens  hat  er  erlebt.  Aber  das  freie  Ge- 
wissen  war  ihm  das  innerlich  gebundene,  und  das  Recht 
des  Individuums  verstand  er  als  die  heilige  Pflicht,  es 
mutig  auf  Gott  zu  wagen  und  dem  Nachsten  selbstandig 
und  selbstlos  in  Liebe  zu  dienen. 

So  wurde  er  der  Anfechtungen  ledig.  Aber  was  er 
gefunden,  das  stellte  sich  ihm  nicht  als  neue  Lehre  dar; 
im  Gegenteil:  er  glaubte  jetzt  nur  die  alte  Wahrheit  er 
kannt  zu  haben,  die  eine  uble  Praxis  und  eine  falsche  Ge- 
lehrsamkeit  verdeckt  gehalten  hatten.  Seine  Pietat  gegen 
die  alte  Kirche  behauptete  sich  zunachst  unerschiittert:  so 
blieb  er  denn  auch  weiterhin  noch  ein  Monch,  und  nur  an 
der  steigenden  Freudigkeit,  mit  welcher  er  den  neuen  Lehr- 
beruf  in  Wittenberg  versah  und  sich  in  mancherlei  Ge- 
schaften  seines  Ordens  bewegte,  zeigte  es  sich,  dafi  er  ein 
Anderer  geworden.  Wahrlich!  dieser  Reformator  ist  das 
Gegenbild  zu  alien  leichtfertigen  und  vermessenen  Reformern. 
Durch  schwere  Erfahrungen  ist  er  erst  in  der  Position  fest 
geworden  und  hat  an  einen  Angriff  auf  das  Bestehende 
durchaus  nicht  gedacht.  Aber  eben  die  Position  macht  den 
wahren  Reformator.  Er  bedarf  einer  personlichen  Idee,  die 
zunachst  ihn  selbst  vollig  erfafit  und  bemeistert.  Aber  er 


156  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  V. 

bedarf  noch  mehr.  Er  bedarf  vor  allem  der  unmittelbaren 
Einsicht  in  das,  was  den  Bau  der  Gresellschaft  zusammen- 
halt.  Er  mufl  die  neue  Stiitze  immer  schon  in  Bereitschaft 
haben,  wenn  er  die  morsche,  alte  wegnimmt.  Sonst  ist  der 
erste  Angriff  entweder  der  Beginn  eines  allgemeinen  Zu- 
sammenbmch.es,  oder  der  kiihne  Neuerer  wird  selbst  bei 
seite  geschleudert.  Nun  —  das  ist  das  Grofiartige  an 
Luther,  in  welcher  Umsicht  und  Stetigkeit  er  vorgeschritten 
ist  aus  der  Peripherie  bis  ins  Zentrum.  In  einer  bewun- 
derungswiirdigen  Folgerichtigkeit  entwickelte  sich  sein  An- 
griff  auf  das  herrschende  System  in  den  sechs  Jahren  von 
1517 — 23.  Das  war  keine  kluge  Berechnung;  es  war  die 
segensreiche  Folge  der  Pietat,  mit  welcher  er  selbst  an  dem 
tiberlieferten  hing.  Ihm  waren  die  alten  Hiillen  teuer;  er 
hat  sie  sich  selbst  Stuck  fur  Stuck  vom  Leibe  reifien  miissen, 
er  hat  mit  schweren,  inneren  Kampfen,  mit  seinem  Herz- 
blute,  jeden  Protest  und  Angriff  bezahlt.  Man  hat  ihm 
nicht  mit  Unrecht  Unsicherheiten  und  Schwankungen  in 
seinem  Auftreten  bis  1521  vorgeworfen,  namentlich  in  seinem 
Verhaltnis  zum  Papst.  Aber  man  hat  dabei  nicht  bedacht, 
wie  ehrenvoll  fur  ihn  dieses  Schwanken  gewesen  ist,  und 
wie  der  Erfolg  der  Reformation  davon  abhing,  dafi  er  sich 
nicht  uberstiirzte. 

Erst  als  er  die  ganze  Verwirrung  der  G-ewissen  em- 
pfunden  hatte,  erst  als  er  die  babylonische  Grefangenschaft 
erkannt  hatte,  in  welche  das  Evangelium  und  das  deutsche 
Volk  durch  das  Papsttum  gefiihrt  worden  war,  erst  dann 
brach  in  ihm  mit  dem  heiligen  Zorn  der  Furor  teutonicus 
los  und  entlud  sich  in  furchtbaren  Schlagen.  Wie  bescheiden, 
aus  dem  nachsten  Kreise  seines  Berufes  heraus,  hatte  er 
angefangen.  Die  Aufnahme  des  Thesenstreites  mit  Tetzel 
war  seine  Pflicht  als  "Wittenberger  Seelsorger  und  Professor 
gewesen.  Zur  BuBe  hat  er  sein  Yolk  da  gerufen  und  die 
Kraft  des  Evangeliums  der  Kraft  der  Ablasse  entgegen- 
gestellt.  Dann  aber  hatten  ihn,  wie  er  selbst  angibt,  die 


Martin  Luther. 


157 


Gegner  beriihmt  gemacht  und  zugleich  immer  welter  ge- 
trieben.  Sie  schlugen  in  die  Kohlen:  diese  sprangen  umher 
und  ziindeten.  Sie  sucliten  zu  loschen,  und  sie  zeigten 
Luther  damit  den  Umfang  des  Brandes.  Er  hat  sich  nicht 
zum  Reformator  aufgeworfen  —  wer  darf  das?  — ,  sondern 
dieser  Beruf  ist  ihm  aufgezwungen  worden.  Aber  an  jenem 
weltgeschichtlichen  Tage  zu  "Worms,  da  er  vor  Kaiser  und 
Reich  gestanden,  da  hat  er  das  Szepter  des  Reformators 
erhalten  und  genommen.  Jenes  beriihmte  ^Ich  kann  nicht 
anders"  war  das  innerste  Grestandnis  seiner  Seele.  Das  Gre- 
waltige  und  Grute  tut  nur,  wer  nicht  anders  kann.  Den 
Schrecknissen,  die  jeder  Umsturz  zur  Folge  hat,  vermag 
nur  der  ins  Auge  zu  sehen,  dem  wider  das  Grewissen  zu 
handeln  der  hochste  Schrecken  ist. 

Die  ernsten  Folgen  des  Protestes  zeigten  sich  nicht 
gleich  anfangs.  Ein  Greistesfriihling  zog  uber  die  deutschen 
Lande.  Was  sich  nach  Freiheit  und  Aufklarung  sehnte, 
das  begruflte  begeistert  den  Reformator.  Zu  Niirnberg 
protestierten  die  Stande  des  deutschen  Volkes  einmiitig 
wider  das  alte  System.  Die  verschiedenen  unkraftigen 
Versuche  zur  Reform  der  Kirche,  der  Gesellschaft,  der 
"Wissenschaft,  sie  schossen  gleichsam  zusammen  und  schie- 
nen  nun  einen  Krystallisationspunkt  gefunden  zu  haben. 
Aber  bald  wurden  auch  alle  selbstsiichtigen  Begehrungen 
und  "Wunsche  der  Menschen  entbunden.  Jeder  Stand  — 
Fiirsten,  Magistrate,  Adel,  Burger  und  Bauer  —  hoffte  bei 
der  ungeheuren  Bewegung  zu  gewinnen.  Das  ,,Evangelium" 
drohte  das  Schlagwort  zu  werden  fur  alle  denkbaren  Frei- 
heiten,  von  der  Freiheit  eines  Christenmenschen  bis  herab 
zur  wilden  Freibeuterei.  Ernste  Manner,  die  zuerst  ge- 
wonnen  gewesen,  wandten  jetzt  der  neuen  Sache  emport 
wieder  den  Rucken.  Denn  mit  der  Entwurzelung  der  alten 
Vorstellung  von  der  Kirche  war  alles  ins  Schwanken  ge- 
raten.  Hat  Kopernikus  das  alte  ptolemaische  Weltsystem 
gestiirzt:  der  Umsturz  des  Kirchensystems  war  zun'achst 


158  Erster  Band,  erste  Abteilung.    Reden:  V. 

von  ungleich  bedeutenderen  Folgen.  Er  griff  in  alle  Ver- 
haltnisse  der  G-esellsehaft,  des  Staates,  der  praktischen 
Weltanschauung,  des  Kultus  und  der  Sitte  ein.  Die  Kirche 
nicht  mehr  unfehlbar,  ein  Grebaude,  an  dem  auch  Irrtum 
und  Siinde  gezimmert  —  welche  Autoritat  sollte  noch  gelten, 
wenn  die  Saule  der  "Wahrheit  zusammenbrach?  Alle  Ord- 
nungen  des  Grlaubens  und  Lebens  gerieten  in  Verwirrung. 
Die  Fundamente  der  Gesellschaft  schienen  zu  wanken. 

Aber  Luther  kannte  einen  festen  Boden,  auf  den  er 
sich  und  sein  Volk  stellen  wollte,  das  Wort  Q-ottes,  und  er 
wuBte  von  einer  Kraft,  machtiger  im  Bauen  als  im  Nieder- 
reiGen,  der  lebendige  Grlaube.  ?,Staunenswert",  hat  ein 
grofier  Historiker  gesagt,  ,,ist  der  Ernst,  die  Tiefe,  die 
Wahrhaftigkeit  des  Greistes,  der  in  sich  gerungen,  bis  er 
jene  Erkenntnis  fand  und  begriff  und  sich  mit  ihr  erfdllte; 
staunenswiirdiger,  daB  er  angesichts  der  ungeheuren  Be- 
wegung,  die  sich  auf  ihn  berief ,  auch  nicht  einen  Augen- 
blick  irre  geworden  ist.u  Luther  ist  kein  eitler  Volksmann 
geworden,  als  die  Wogen  einer  allgemeinen  Begeisterung 
ihn  erhoben,  und  er  hat  nicht  verzagt,  als  er  sein  Schiff 
durch  wilde  Wellen  steuern  mufite.  Er  fuhrte  nicht  seine 
Sache;  das  Seelenheil  der  ganzen  Nation  trug  er  auf  dem 
Grewissen.  Diese  Verantwortung  —  wer  von  uns  kann  sie 
nachempnnden?  —  erhob  ihn  iiber  alle  Bedenken;  sie  stahlte 
seinen  Mut  und  sie  legte  ihm  die  neue  Sprache  des  Zorns 
und  der  Liebe,  trotziger  Mannlichkeit  und  kraftvoller  Sim- 
plizitat  auf  die  Lippen.  An  seiner  Person  lag  ihm  nichts. 
Wohl  wufite  er  sich  als  ein  auserwahltes  Riistzeug:  ?)Mar- 
tinus  Luther  im  Himmel,  auf  Erden  und  in  der  Holle  wohl- 
bekannt"  —  aber  von  jedem  selbstischen  Interesse  war  er 
frei.  ?)Gott  kann  zehn  Doktor  Martinus'  schaffen,  wo  der 
einige  alte  ersoffe":  in  diesem  Vertrauen  auf  seine  Sache 
war  er  taglich  bereit  zu  sterben. 

Diese  Sache  war  ihm  ganz  und  gar  das  Wort  Qottes, 
das  Evangelium.     Mochten  Andere  hunderte  von  Nebenab- 


Martin  Luther.  159 

sichten  haben,  reine  und  unreine,  er  kannte  nur  diesen 
einzigen  Leitstem.  Keine  Menschensatzungen  sollten  mehr 
gelten,  sondern  nur  das  Wort  Grottes.  Grewifi,  es  war  die 
segensreichste  Entlastung,  es  war  ein  ungeheurer  Fortschritt. 
Er  bedeutete  niclit  nur  den  Bruch  mit  der  Kirche  des 
Mittelalters,  sondern  in  Wahrheit  auch  die  Auseinander- 
setzung  mit  der  Kirche  des  Altertums,  mit  dem  Katholizis- 
mus,  der  sich  in  die  Trummer  der  Antike  eingebaut  hatte. 
Wie  die  Humanisten  den  Ruckgang  auf  das  klassische  Al- 
tertum  lehrten,  auf  die  Quellen  aller  Bildung,  so  verkiindete 
Luther  den  Ruckgang  auf  das  Evangelium,  auf  die  Quelle 
der  Religion.  Was  christlich  1st,  das  sollte  nun  nicht  mehr 
zweifelhaft  sein.  Keine  priesterliche  Greheimwissenschaft, 
kein  wiistes  Gremenge  von  Satzungen  unter  dem  Schutze 
des  Heiligen  —  nein  jeder  Laie,  jeder  schlichte  Christ  sollte 
in  den  Stand  gesetzt  sein,  zu  prufen  und  zu  erkennen, 
was  christlicher  Grlaube  ist.  Das  Wort  Grottes  nach  dem 
reinen  Verstande.  In  dieser  These  war  die  unbefangene 
Ermittelung  des  wirklichen  Wortsinnes  der  heil.  Schrift 
gefordert.  Jede  willkiirliche  Auslegung  nach  MaBgabe  von 
Autoritaten  war  abgeschnitten.  Luther  hat,  soweit  er  zu 
sehen  vermochte,  mit  dieser  Forderung  Ernst  gemacht. 
Er  konnte  freilich  nicht  ahnen,  wie  weit  sie  fuhren  wurde. 
Aber  seine  methodischen  Grrundsatze  vom  j,Dollmetschen", 
sein  Respekt  vor  den  Sprachen  haben  die  Schriftwissen- 
schaffc  begriindet. 

Doch  das  ist  nur  die  eine  Seite  der  Sache.  Sie  barg 
in  sich  ein  schweres  Problem;  denn  —  was  ist  die  Bibel? 
ist  sie  nicht  selbst  ein  Stuck  der  kirchlichen  IJberlieferung? 
deckt  sie  sich  so  einfach  mit  dem  Evangelium  Christi?  war 
es  iiberhaupt  moglich,  dies  komplizierte  Buch,  so  wie  es 
ist,  zur  unmittelbaren  Bichtschnur  des  Grlaubens  und  Lebens 
zu  erheben?  Was  liefi  sich  nicht  aus  der  Bibel  erweisen? 
berief  sich  nicht  auch  die  herrschende  Kirche  fur  Grlauben 
und  Leben  auf  die  Bibel? 


100  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  V. 

GewiB!  Aber  liier  traten  fur  Luther  zwei  mafigebende 
Gredanken  ein.  Er  hat  sie  nicht  in  systematischer  Klarheit 
durchgedacht,  aber  in  lebendiger  TJberzeugung  gehandhabt. 
Er  hat  den  einen  in  entscheidenden  Momenten  seines  Le- 
bens  aus  den  Augen  verloren,  aber  er  hat  sich  doch  immer 
wieder  auf  ihn  besonnen. 

Der  eine  war  die  Erkenntnis,  dafi  der  christliche  Grlaube 
ausschlieBlich  an  Grott  und  an  die  Person  Christi  gebunden 
sei,  und  daB  daher  nicht  der  Buchstabe  der  Schriffc  ver- 
pflichte,  sondern  allein  das  Evangelium,  welches  sie  enthalt. 
Der  andere  war  die  Grewifiheit,  dafi  alle  selbsterwahlten 
Formen  der  Frommigkeit  vom  Ubel  seien,  dafl  die  Bewah- 
rung  der  Religion  daher  in  den  groflen  Ordnungen  des 
menschlichen  Lebens,  in  Ehe,  Familie,  Staat  und  Beruf, 
erfolgen  musse.  Eben  weil  er  davon  durchdrungen  war, 
dafi  kein  Mensch  urn  Grottes  willen  etwas  tun  konne  und 
diirfe,  eben  weil  er  das  ganze  Verhaltnis  des  Menschen  zu 
Grott  nicht  auf  ein  Tun  und  nicht  auf  ein  Wissen,  sondern 
lediglich  auf  die  glaubige  Gresinnung  griindete,  so  erkannte 
er  keine  Ubungen  als  wertvolle  mehr  an,  die  angeblich  in 
besonderem  Sinne  ,,G-ottesdienst"  sein  sollten.  Es  gibt  nur 
einen  direkten  Grottesdienst:  das  ist  die  kraftige  Zuversicht 
auf  Grott;  sonst  gilt  die  ausnahmslose  Regel,  dafi  man  Grott 
in  der  Nachstenliebe  zu  dienen  habe.  Weder  mystische 
Kontemplation  noch  asketische  Lebensfiihrung  liegen  in 
dem  Evangelium  beschlossen. 

Es  ist  ausdriicklich  zu  konstatieren ,  dafi  diese  beiden 
Grrundgedanken  sich  fur  Luther  aus  dem  Religionsbegriff 
ergaben,  wie  er  ihn  erfafit  hatte.  Die  Freiheit  vom  Gesetz 
des  Buchstabens  und  das  Recht  der  natiirlichen  Lebens- 
ordnungen  —  sie  waren  fur  ihn  keine  selbstandigen  Ideale. 
Aber  sie  fielen  ihm  zu,  indem  er  das  Evangelium  durch- 
dachte,  verkiindete  und  anwandte.  Die  Wirkungen  waren 
unermefiliche;  denn  es  war  nun  mit  einem  Schlage  die 
Religion  aus  der  Verkuppelung  mit  allem  ihr  Fremden 


Martin  Luther.  161 

befreit  und  zugleich  das  selbstandige  Recht  der  natiirlichen 
Lebensgebiete  —  darum  auch  der  Wissenschaft  von  ihnen 
—  anerkannt. 

Die  Religionslehre  soil  nun  nichts  anderes  mehr  sein 
als  die  Darlegung  des  Evangeliums ,  wie  es  die  christliche 
Gremeinde  erzeugt  hat  und  zusammenhalt.  Ihre  Grewifiheit 
soil  nicht  mehr  beruhen  auf  einer  aufieren  Autoritat,  aber 
auch  nicht  auf  philosophischen  Erwagungen.  Die  Philoso- 
phie  ist  nicht  mehr  die  gefurchtete  Dienerin  der  Theologie, 
sondern  ihre  Bemiihungen  sind  unabhangig  von  jeder  theo- 
logischen  Bevormundung.  Tiber  dem  grofien  Grebilde,  wel 
ches  wir  Mittelalter  nennen,  iiber  diesem  Chaos  unselb- 
standiger  und  in  sich  verschlungener  Grestaltungen,  schwebte 
der  Greist  des  Grlaubens,  der  seine  eigene  Natur  und  darum 
seine  Schranken  erkannt  hatte.  Unter  seinem  Wehen  rang 
sich  alles,  was  ein  Recht  auf  freie  Greltung  hatte,  zu  selb- 
standiger  Entfaltung  empor.  Vor  Luther  hat  kein  Anderer 
so  klar  und  entschieden  die  grofien  Grebiete  des  Lebens  ge- 
trennt.  "Wunderbar!  dieser  Mann  wollte  die  "Welt  nichts 
Anderes  lehren  als  was  das  Wesen  der  Religion  sei;  aber 
indem  er  ein  Grebiet  in  seiner  Eigentiimlichkeit  erkannte, 
kamen  alle  anderen  zu  ihrem  Rechte. 

Der  Staat  —  nicht  mehr  ein  fatales  Grebilde  aus  Zwang 
und  Not,  bestimmt  sich  an  die  Kirche  anzulehnen,  sondern 
die  souverane  Ordnung  des  offentlichen  gemeinschaftlichen 
Lebens;  das  Recht  — nicht  mehr  ein  undefinierbares  Mittel- 
ding  zwischen  der  Macht  des  Starkeren  und  der  Tugend 
des  Christen,  sondern  die  selbstandige,  von  der  Obrigkeit 
gehiitete  Norm  des  Verkehrs;  die  Ehe  —  nicht  mehr  eine 
Art  von  kirchlicher  Konzession  an  die  Schwachen,  sondern 
die  gottgewollte,  aber  von  jeder  kirchlichen  Bevormundung 
freie  Verbindung  der  Greschlechter,  die  Schule  der  hochsten 
Sittlichkeit;  die  Armenpflege  und  Liebestatigkeit  —  nicht 
mehr  ein  tendenzioses  Gretriebe  zur  Versicherung  der  eigenen 
Seligkeit,  sondern  der  freie  Dienst  am  Nachsten,  der  in  der 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.  I.  11 


Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  V. 

wirklichen  Hilfleistung  seinen  letzten  Zweck  und  seinen 
einzigen  Lohn  sieht.  Aber  iiber  das  Alles:  der  biirgerliche 
Beruf,  die  schlichte  Tatigkeit  in  Haus  und  Hof,  in  Greschaft 
und  Amt  —  nicht  mehr  die  mifltrauisch  beurteilte,  weil 
vom  Himmel  abziehende  Beschaftigung,  sondern  der  rechte 
geistliche  Stand,  die  Sphare,  in  welcher  sich  die  Gresinnung 
und  der  Charakter  zu  bewahren  liat. 

Nun  —  alle  diese  TJberzeugungen  sind  heute  Q-emein- 
gut  bei  uns  geworden;  aber  nur  zu  haufig  wird  es  ver- 
gessen,  durch  wen  sie  zu  kraftigem  Leben  geweckt  worden 
sind.  Wir  behaupten  sie  heute  unabhangig  von  jedem 
religiosen  Grlauben,  und  es  scheint  vielleicht  den  Meisten 
unter  uns,  dafi  sie  desselben  vollig  entbehren  konnten.  Ja 
in  Hinblick  auf  die  irrationalen  Formen  des  Klrchenglaubens, 
welche  Luther  nicht  aufgegeben  hat,  stellt  sich  wohl,  bald 
mehr  bald  minder  deutlich  formuliert,  das  Urteil  bei  Vielen 
ein,  die  Reformation  an  und  fiir  sich  sei  eine  Reaktion  ge- 
wesen,  die  mehr  geschadet  als  geniitzt  habe;  der  Fortschritt 
sei  neben  ihr  und  unabhangig  von  ihr  durch  eine  Reihe 
giinstiger  Konjunkturen  entstanden.  Ein  Moderner  hat 
das  jiingst  also  ausgedriickt:  ,,Eine  Vergleichung  zwischen 
dem  alten  und  dem  neuen  Kirchenglauben  zeigt  keinen 
Kulturgewinn.  In  der  romischen  Kirche  war  der  Begriff 
der  Wahrheit  verloren  gegangen  und  im  Protestantismus 
nicht  wieder  entdeckt  worden.  Die  Grundlage  der  alten 
Kirche  blieb  in  ihrem  Kerne  unberiihrt.  Das  luftige  Gre- 
baude  des  Aberglaubens  ward  nicht  zerstort,  vielmehr  durch 
den  Bibelglauben  noch  mehr  befestigt.  Die  Vernunft  hat 
an  dem  Werke  der  Reformation  ebensowenig  Anteil  als 
die  Freiheit." 

Dies  Urteil  ist  von  jedem  Standpunkt  aus  irrig;  denn 
dafi  durch  die  Reformation  das  Grebiet  des  Aberglaubens 
mindestens  eingeschrankt  worden  ist,  ist  unfraglich.  Doch 
dies  nur  nebenbei.  Vor  allem  sind  hier  die  eigentiimlichen 
Bedingungen  verkannt,  an  welche  jeder  entscheidende  Fort- 


Martin  Luther.  163 

schritt  der  Menschheit  gebunden  1st.  Zerstorung  des  Aber- 
glaubens  fiir  sich  allein  —  so  notwendig  dieselbe  ist  — 
vermag  weder  in  die  Tiefe  nock  in  die  Breite  zu  wirken. 
Es  bedarf  eines  durchschlagenden  neuen  Ideals  praktischer 
Lebensgestaltung,  welches  an  das  Vorhandene  ankniipffc  urn 
es  umzubilden,  es  bedarf  einer  Erhohung  der  sittliehen 
Kraft  und  des  Grefiihls  der  Verantwortlichkeit,  um  die  Er- 
schiitterungen ,  die  jeder  Fortschritt  mit  sich.  bringt,  zu 
iiberwinden;  und  es  bedarf  endlich  einer  Personlichkeit,  die 
in  der  Sache  aufgeht  und  sie  auf  diese  Weise  in  die  Welt 
wirksam  einfuhrt.  Man  kann  unbedenklich  zugeben,  dafi 
Luther  in  mehr  als  einer  Hinsicht  eine  mittelalterliche  Er- 
scheinung  gewesen  ist,  man  mufi  sogar  behaupten,  dafi  sein 
Auftreten  das  Absterben  gewisser  mittelalterlicher  Ideen 
verzogert  hat  —  aber  was  will  das  sagen?  Wenn  alles 
verderblich  ist,  was  unsern  Greist  befreit,  ohne  uns  die 
Herrschaft  iiber  uns  selbst  zu  geben,  so  ist  nichts  segens- 
reicher  und  f order samer  —  auch  fur  die  Befreiung  des 
Geistes  —  als  die  Kraftigung  seiner  sittlichen  Natur  und 
die  Versicherung  seines  Adels.  Das  aber  hat  die  Reforma 
tion  geleistet.  Sie  hat  vor  allein  die  Greister  erst  fahig  ge- 
macht,  die  Erkenntnisse,  welche  die  Zukunft  bringen  sollte, 
zu  ertragen,  ohne  die  Herrschaft  iiber  sich  selbst  zu  ver- 
lieren;  denn  sie  hat  ihnen  eine  unerschiitterliche  Stellung 
iiber  der  "Welt  angewiesen.  Nun  nehme  man  auch  alles 
zusammen,  was  man  zum  Nachteile  der  Reformation  an- 
fuhren  mufi,  die  harten  Ungerechtigkeiten ,  die  neuen  Irr- 
tiimer,  die  teilweisen  Riickschritte,  die  unsaglichen  Erbarm- 
lichkeiten  in  der  Durchfiihrung  —  das  alles  verschwindet 
gegeniiber  dem,  was  wir  ihr  schuldig  sind,  und  zwar  wir 
alle,  nicht  nur  die  evangelischen  Deutschen.  Darf  ich  es 
mit  den  Worten  Groethes  sagen:  ,,Wir  wissen  gar  nicht, 
was  wir  Luthern  und  der  Reformation  im  allgemeinen  alles 
zu  danken  haben.  Wir  sind  frei  geworden  von  den  Fesseln 
geistiger  Borniertheit,  wir  sind  infolge  unserer  fortwachsen- 

11* 


1(54  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden :  V. 

den  Kultur  fahig  geworden,  zur  Quelle  zuriickzukehren  und 
das  Christentum  in  seiner  Reinheit  zu  fassen.  "Wir  haben 
wieder  den  Mut,  mit  festen  Fiifien  anf  Gottes  Erde  zu 
stehen  nnd  nns  in  unserer  gottbegabten  Menschennatur  zu 
fiinlen." 

GewiB,  hier  liegt  es,  und  hier  liegt  zugleich  die  epoche- 
machende  Bedeutung  Luthers  fiir  die  Wissenschaft.  Luther 
hat  nicht  nur  angefangen,  die  Erkenntnis  der  Wahrheit 
vom  Machtspruch  der  Uberlieferung  zu  befreien  und  damit 
eine  reine  Betrachtung  der  Geschichte  zu  ermoglichen,  son- 
dern  er  hat  die  Freiheit  und  Verantwortlichkeit  des  Ar- 
beitenden  verkiindet.  Er  hat  die  Arbeitsgebiete  getrennt 
und  sie  eben  dadurch  einzeln  in  ein  helles  Licht  treten 
lassen.  Er  hat  ferner  das  selbstandige  Recht  jeder  Berufs- 
arbeit,  und  so  auch  der  wissensehaftlichen,  geltend  gemacht. 
Aber  iiber  das  alles:  er  hat  dem  wissensehaftlichen  Arbeiter 
eine  GewiGheit  seines  Gott  geschenkten,  personlichen  Wertes 
und  damit  einen  unverwiistlichen  Idealismus  eingehaucht, 
der  ihn  wappnet  gegen  die  Erschiitterungen  des  Selbst- 
bewufitseins,  die  eine  Folge  aller  empirischen  Erkenntnis 
und  aller  Mystik  sind. 

Demgegeniiber  kann  man  wohl  dreist  behaupten,  dafi 
dies  alles  auch  oh  YIP,  Luther  von  unserem  Greschlecht,  oder 
gar  von  uns  selbst,  errungen  worden  ware;  aber  eine  solche 
Behauptung  ware  zum  mindesten  eine  vollig  undiskutierbare 
These,  eine  geschichtliche  KannegieBerei.  Nur  das  G-e- 
wordene,  nicht  ^was  geworden  ware",  vermogen  wir  zu 
erkennen.  Geworden  aber  ist  infolge  der  Reformation, 
nicht  infolge  der  Renaissance  oder  der  wiedertauferischen 
Mystik,  jene  unbefangene,  niichterne  und  gottvertrauende 
Gesinnung  und  Stimmung,  die  uns  den  klaren  Blick  fur 
die  Dinge  dieser  Welt  erst  ermoglicht  und  uns  erlaubt  hat, 
dieselben  mutig  und  freudig  zu  erfassen.  Luther  hat  die 
Wissensehaft  befreit,  indem  er  den  Christen  wieder  gezeigt 
hat,  der  an  dem  Evangelium  erwachsene  Glaube  trage 


Martin  Luther.  165 

seine  Zuversicht  in  sich  selber;  er  bediirfe  weder  noch 
dulde  er  auflere  Autoritaten  und  philosophische  Umdeu- 
tnngen.  Die  Renaissance  hatte  —  zum  Teil  wider  ihren 
Willen  —  fur  das  alte  System  gearbeitet.  Was  man 
wLuthers  Lehre"  nennt,  sieht  ihm  auflerlich  recht  ahnlich. 
Achtet  man  aber  auf  die  Absichten  und  schliefllich  auch 
auf  den  Erfolg  —  die  Absichten  kommen  in  Betracht,  und 
ungebrochene  Erfolge  gibt  es  in  der  G-eschichte  nicht  — , 
so  ist  das  Walten  eines  neuen  G-eistes  unverkennbar. 

Aber  die  Enge  und  Unvernunffc  des  th.eologisch.en  Sy 
stems,  welches  die  lutherische  Orthodoxie  aufgerichtet  hat! 
Nun  zunachst  bei  Luther  selbst  herrscht  die  Kraft  und  Form 
einer  unmittelbaren  TJberzeugung.  Das  Systematische  tritt 
zuriick,  und  wo  er  systematisiert,  ist's  nicht  zum  Vorteil 
seiner  Sache.  Erst  hinter  den  hellen  und  lebendigen  TJber- 
zeugungen  ruht  bei  ihm  wie  bei  alien  energischen,  grofl- 
tatigen  und  fortschreitenden  Naturen  ein  geheimnisvoller 
G-laube,  der  den  kleingesinnten  und  auf  sich  selbst  be- 
schrankten  Menschen  ein  Argernis,  den  riickschreitenden 
und  schwachen  eine  Grefahr  und  den  verstandigen  ein  Hatsel 
ist.  Sie  selbst  haben  freilich  allzurnal  keine  Ratsel,  noch 
weniger  sind  sie  solche. 

Das  Grlaubenssystem,  welches  sich  auf  Luthers  Predigt 
auferbaute,  muCte  unter  den  Zeitumstanden  schnell  ge- 
zimmert  werden.  Noch  war  der  Horizont  der  Menschen 
ein  eng  begrenzter,  ihre  Vorstellungen  vielfach  mittelalter- 
liche.  Man  hatte  ein  Volk  in  Kirche,  Schule  und  Haus  zu 
erziehen.  Man  hatte  ein  neues  Kirchenwesen  zu  griinden. 
Man  hatte  die  Stiirmer  und  Dranger  abzuwehren.  Welche 
Aufgaben!  Dafi  die  neue  Idee,  welche  in  die  Erscheinung 
trat,  wirklich  im  Laufe  von  kaum  zwei  Menschenaltern 
einen  Leib  erhielt,  dafi  uberhaupt  Formen  auf  alien  G-e- 
bieten  des  Lebens  gefunden  wurden,  dafi  in  diesen  Formen 
wirklich  auch  die  Sache,  der  evangelische  Grlaube,  zum  Aus- 
druck  gekommen  ist  —  wahrlich  nur  im  YerdruB  iiber  die 


Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  V. 

seltsame  Zumutung,  das  altprotestantische  Grlaubenssystem 
fur  das  reine  Evangelium  zu  nehmen,  kann  man  dieses 
System  selbst  anklagen  und  fur  unwert  halten.  Auf  seinem 
Boden  hat  doch  im  17.  Jalirhundert  nicht  nur  ein  Paul 
Q-erhardt  mit  seiner  lebendigen  Frommigkeit,  sondern 
auch  ein  Keppler  gestanden.  Sie  fiihlten  sich  durch  das- 
selbe  nicht  beengt,  sondern  erweitet  und  bestimmt.  Was 
wir  heute  als  Last  empfinden,  das  war  es  damals  noch  nicht. 

Aber  die  heftigen  theologischen  Streitigkeiten  und  die 
traurigen  Spaltungen,  welche  sich  so  schnell  bei  den  Pro- 
testanten  einstellten!  Auch  sie  lassen  ein  giinstigeres  Ur- 
teil  zu.  Sie  waren  eine  Folge  des  Zusammenbruchs  der 
aufleren  Autoritaten;  sie  waren  aber  zugleich  eine  Folge 
der  neuen  protestantischen  Grewissenhaftigkeit  in  Grlaubens- 
sachen.  Man  mufl  sie  zusammenhalten  mit  der  Bereit- 
schaft  der  Gregner,  um  Dogmen  zu  markten  und  zu  han- 
deln.  Luther  und  seine  Schiller  zeigten  keine  Toleranz. 
wUnsere  Liebe  ist  bereit,  fur  jedermann  in  den  Tod  zu 
gehen;  aber  unser  Grlaube  ist  uns  unantastbar  wie  unser 
Augapfel."  Nun  in  der  Tat,  es  gibt  nichts  Intoleranteres 
als  die  Wahrheit;  sie  kennt  keine  Konzessionen.  So  lag 
auch  damals  der  Fehler  nicht  in  dem  Mangel  der  Toleranz, 
sondern  in  der  Beschranktheit  der  Erkenntnis.  Daher,  als 
Luther  zu  Marburg  Zwingli  die  Bruderhand  verweigerte, 
da  handelte  er  in  Kraft  der  hochsten  Gewissenhaftigkeit. 
Wir  konnen  seine  Auffassung  als  eine  irrtumliche  beklagen, 
aber  wir  miissen  die  Festigkeit  seines  Charakters  bewundern. 

Seitdern  sind  Spaltungen  auf  Spaltungen  erfolgt.  Aber 
trotz  alles  Jammers,  den  sie  angerichtet,  trotz  aller  Ver- 
kummerungen,  die  sie  verursacht,  trotz  aller  "Ubel,  die  sie 
iiber  unser  Yaterland  gebracht  haben  —  die  Protestanten 
tauschen  nicht  mit  der  scheinbaren  Einheit  und  Greschlossen- 
heit  der  Gregner;  denn  sie  achten  die  Voraussetzung  dieser 
Einheit  nicht  fiir  ein  G-ut,  sondern  fur  ein  Ubel.  Wohl 
wissen  wir,  was  die  Reformation  uns  Deutschen  gekostet 


Martin  Luther.  167 

hat  und  nocli  immer  kostet.  Sie  hat  unsere  politische 
Einigung  um  Jahrhunderte  verzogert;  sie  hat  Tins  den 
dreifiigjahrigen  Krieg  gebracht;  sie  hat  es  tins  erschwert, 
der  Kirche  des  Mittelalters ,  ja  auch  der  alten  Kirche,  ge- 
recht  zu  werden  —  man  bricht  nicht  mit  der  Greschichte 
ohne  sie  zu  verdunkeln  — ;  sie  hat  nns  in  eine  konfessio- 
nelle  Spaltung  gefiihrt,  die  noch  eben  far  unsere  Weiter- 
entwicklung  verhangnisvoll  ist.  Aber  sie  hat  zugleich  alles 
das  begriindet,  was  wir  heute  als  unsere  Eigenart  und 
GrroBe  schatzen  diirfen.  Wir  sind  nicht  dazu  verurteilt, 
die  Reformation  lediglich  so  zu  ruhmen  und  zu  verteidigen, 
dafi  wir  an  ihre  Anfange  erinnern.  Durch  Martin  Luther 
ist  die  Bildung  des  18.  und  19.  Jahrhunderts  vorbereitet 
worden.  Neue  Faktoren  sind  eingetreten;  aber  der  Grund 
ist  im  16.  Jahrhundert  gelegt  worden.  Und  die  Segnungen 
der  Reformation  haben  sich  iiber  alle  Deutschen  erstreckt, 
auch  iiber  die  romischen;  ja  der  Katholizismus  selbst  hat 
sich  bei  uns  ihren  Einwirkungen  nicht  entziehen  konnen. 
Er  hat  nicht  nur  ehrwiirdigere  Priester  und  einen  reineren 
Kultus,  sondern  geradezu  eine  andere  (restart,  eine  andere 
Tiefe  und  einen  hoheren  Ernst  erhalten  als  in  den  roma- 
nischen  Landern.  Man  kann  es  jenseits  der  Alpen  von 
kompetenter  Seite  nicht  selten  horen:  ?,die  Deutschen  sind 
alle  Haretiker".  Was  anclers  soil  damit  gesagt  sein,  als 
dafi  sich  bei  uns  in  Sachen  der  Religion  das  Bewufitsein 
einer  personlichen  Yerantwortlichkeit  ausgebildet  hat,  wie 
es  die  romanischen  Yolker  in  diesem  Grrade  nicht  zu  keiinen 
scheinen? 

Aber  wir  wollen  uns  nicht  selbst  bespiegeln.  Auch 
bei  uns  im  Lande  der  Reformation,  sind  Passivitat  und 
Stumpfheit  die  eigentlichen  Feinde.  Wir  haben  die  theo- 
logischen  Formeln  der  Yergangenheit  beiseite  legen  nmssen; 
aber  was  haben  so  viele  unter  uns  -  -  die  Frage  ist  heute 
wohl  erlaubt  —  an  ihre  Stelle  gesetzt?  Eine  durchweg 
relative  Weltanschauung  und  eine  historische  Stimmung. 


Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  V. 

Reichen  sie  wirklich  aus,  damit  wir  das  Hochste  leisten? 
1st  der  Standpunkt  wohlwollender  Indifferenz,  auf  welclieni 
der  religiose  Glaube  harmlos  wird,  der  erhabenste,  der  uns 
alles  Grofie  und  Edle  verbiirgt  und  nur  die  alten  Schatten 
verscheucht?  Anders  hat  sick  dariiber  jiingst  ein  nicht  be- 
fangener  Sckriftsteller,  Ren  an,  in  offentlicher  E/ede  ge- 
aufiert:  ,,Es  1st",  sagt  er,  7,vielfach  den  heute  widerlegten 
Glaubensformeln  zn  verdanken,  wenn  noch  ein  Rest  von 
Tugend  in  uns  iibrig  ist.  Wir  leben  von  einem  Schatten, 
von  dem  Duft  einer  leeren  Flasche;  nach  uns  wird  man 
leben  vom  Schatten  des  Schattens,  und  oft  bin  ich  bange, 
dafi  man  doch  zu  wenig  daran  haben  werde." 

Ein  mutiges,  aber  ein  trauriges  Bekenntnis!  Sind  auch 
wir  schon  so  weit?  Ist  mit  der  Widerlegung  der  theo- 
logischen  Glaubensformeln  der  Vergangenheit  das  Evan- 
gelium  selbst  wideiiegt  und  abdekretiert?  Haben  wir  es 
nicht  mehr  notig?  oder  brauchen  wir  es  nicht  mehr  wie 
je  in  Hinblick  auf  unsere  fortschreitende  Naturerkenntnis, 
in  Hinblick  auf  die  geistige  Beschrankung,  welche  uns 
unsere  Arbeitsteilung  auferlegt,  in  Hinblick  auf  unsere  ver- 
odete  G-eselligkeit  und  auf  die  stets  zunehmende  und  leider 
notwendige  Mechanisierung  unseres  offentlichen  Lebens? 

Wir  brauchen  es  und  dankbar  wollen  wir  es  halten. 
Zu  iiberwundenen  Stufen  geistiger  Entwicklung  konnen 
wir  allerdings  nicht  mehr  zuriickkehren.  Aber  Luther  hat 
uns  kein  Religionssystem  fertig  gezimmert  —  Systeme  ent- 
stehen  und  vergehen  — ,  sondern  er  hat  uns  auf  einem 
festen  Boden  eine  bleibende  Aufgabe  vorgezeichnet:  wir 
sollen  uns  auf  dem  Grrunde  des  Evangeliums  stets  aufs 
neue  reformieren  und  wider  Gresinnungslosigkeit  und  Macht- 
spriiche  mutig  albeit  protestieren.  Auf  dem  Grrunde  des 
Evangeliums,  denn  —  j5mag  die  geistige  Kultur  nur  immer 
fortschreiten  und  der  menschliche  Geist  sich  erweitern  wie 
er  will,  iiber  die  Hoheit  und  sittliche  Kultur  des  Christen- 
tums,  wie  es  in  den  Evangelien  schimmert  und  leuchtet, 


Martin  Luther.  169 

wird  er  nicht  hinauskommen. "  Wohl  miissen  wir  die  alten 
Baume  niederschlagen,  wenn  sie  iiberstaminig  und  morsch 
geworden  sind;  aber  wir  rotten  nicht  den  alten  Wald  aus, 
sondern  wir  suchen  ihn  eben  dadurch  frisch  und  kraftig 
zn  erhalten. 

Die  Zukunft  unserer  Nation  und  schliefllich  auch  aller 
unserer  Arbeit  hangt  davon  ab,  dafi  wir  die  Antriebe  zur 
Indifferenz  und  Stumpfheit,  aber  auch  zu  Riickschritt 
und  Obskurantismus  iiberwinden  und  uns  zu  einem  freien 
Christentum  der  Gresinnung  und  der  Tat  emporringen.  Den 
Weg  zu  diesem  Ziele  aber  hat  uns  nach  einer  langen  Nacht 
der  Mann  gewiesen,  von  dem  wir  das  Wort  wagen  diirfen: 
Er  war  die  Reformation.  Was  in  ihr  Grofies,  Grewaltiges, 
fur  alle  Zeiten  Dauerndes  und  Vorbildliches  enthalten  war, 
das  ist  einzig  gegeben  und  verkorpert  gewesen  in  seiner 
Person,  in  der  Person  des  Wittenberger  Professors  Dr. 
Martin  Luther. 


ADOLF  HARNACK  •  REDEN  UND  AUFSATZE 
^  ERSTER  BAND  •  ERSTE  ABTEILUNG  ^ 


REDEN:  VI 
PHILIPP  MELANCHTHON 


Eede 

bei  der  Feier  zum  vierfmndertjahrigen  Gedachtnis   der  Geburt  Philipp 

Melanchthons  gehalten  in  der  Aula  der  Koniglichen  Friedrich  Wilhelms- 

Universitat  in  Berlin  am  16.  Februar  1897. 


Unsere  Hochschule  entschlieBt  sich  selten  dazu,  die 
stille  Arbeit  in  den  Horsalen  zu  unterbrechen  und  die 
Kommilitonen  in  diesen  festlichen  Haum  zu  laden.  Der 
Q-eschichte  der  Wissenschaft  und  unserer  Gresehichte  ist  er 
geweiht,  und  nur  das,  was  fur  sie  bedeutungsvoll  ist,  kann 
hier  eine  Feier  beanspruchen.  So  beweist  Thnen  bereits 
unsere  Einladung,  dafl  auch  die  Universitat  den  Mann, 
dessen  Andenken  heute  alle  Protestanten  einigt,  dankbar 
verehrt  und  sich  seiner  universalen  Bedeutung  fur  die 
"Wissenschaft  und  Bildung  wonl  bewuGt  ist.  Hier  bei  uns 
ist  jiingst  seine  Stellung  sowohl  in  der  Greschichte  der 
G-eisteswissenschaften  als  des  gelehrten  Unterrichts  be- 
stimmt  worden,  und  unserer  Hochschule  gehort  der  G-e- 
lehrte  an,  der  unermiidlich  tatig  ist,  verborgene  Schriffcen 
und  Briefe  des  grofien  Mannes  ans  Licht  zu  zienen.  Nicht 
mit  leeren  Handen  kommen  wir  zum  Feste. 

Philipp  Melanchthon,  der  Professor  zu  Wittenberg, 
war  kein  Prophet  und  Heros  wie  Luther,  kein  kiihner 
Denker  wie  Servetus  oder  Sebastian  Franck,  kein  Ent- 
decker  und  kein  Erfinder.  Aber  alle  die  Krafte  und  Tugen- 
den,  die  in  diesen  Haumen  am  hochsten  geschatzt  werden, 
haben  ihn  ausgezeichnet  —  das  unernmdliche  wissenschaft- 
liche  Streben,  die  ausgebreitetsten  Kenntnisse,  die  Ehrfurcht 
vor  der  "Wahrheit,  der  zuversichtliche  Q-laube  an  die  sitti- 
gende  Macht  der  Bildung  und,  nicht  zum  letzten,  eine  un- 
vergleichliche  Lehrgabe.  Indem  er  dies  alles  mit  der 
hochsten  Pflichttreue  ausbildete,  mit  unsaglichem  FleiCe 
befestigte  und  in  den  Dienst  eines  fortschreitenden  Zeit- 


174  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VI. 

alters  stellte,  wurde  er  der  Lehrer  des  Protestantismus  und 
der  Lehrer  Deutschlands.  Auch  Martin  Luther  1st  ein 
deutscher  Professor  gewesen;  aber  er  stand  zugleich  in 
einem  hoheren  Beruf,  und  so  tollkiilin  wird  niemand  unter 
uns  sein,  ihn  als  vorbildlichen  Kollegen  in  Anspruch  zu 
nehmen.  Philipp  Melanclithon  aber  hat  zeitlebens  nichts 
anderes  sein  wollen  als  der  unsrige,  ist  der  unsrige  geblieben 
—  aufierhalb  der  Universitat  gab  es  fiir  ihn  kein  Leben  — 
und  hat  in  diesem  Beruf  alle  seine  Krafte  entwickelt.  Er 
hat  den  Typus  des  deutschen  Professors  geschaffen;  er  hat 
dem  Vaterland  einen  neuen  fuhrenden  Stand  erweckt,  den 
ehrenfesten  und  erleuchteten,  nicht  priesterlichen  Stand  des 
akademisch  gebildeten  Beamten  und  des  hoheren  Lehrers. 
Er  hat  dadurch  den  Grund  zur  GrroBe  protestantischer  Gre- 
meinwesen  gelegt.  Dieser  bescheidene  Professor,  der  sich 
nie  als  Prometheus  empfand,  auBer  wenn  er  seine  Fesseln 
in  einer  barbarischen  Umgebung  beklagte,  formte  doch 
Menschen  nach  seinem  Bilde;  aber  wahrend  wir  heute 
staunend  und  dankbar  die  Friichte  seiner  Arbeit  iiber- 
schauen,  beschloU  er  sein  groBes  Tagewerk,  ohne  zu  ahnen, 
was  er  der  Welt  geleistet  hatte.  ,,Wir  haben  beide  ausge- 
halten  in  der  Medrigkeit  des  Schullebens",  ruft  er  kurz 
vor  seinem  Tode  seinem  Herzenfreunde  Gamer arius  zu, 
wund  an  unserem  Ort  getan,  was  wir  konnten.  Einigen 
hat  doch  wohl  unsere  Arbeit  geniitzt,  Schaden  hat  sie  ge- 
wiG  —  das  darf  ich  hoffen  —  niemandem  gebracht. " 

So  spricht  der  Mann,  dessen  Lebensarbeit  sich  an  Um- 
fang  nur  mit  der  von  Leibniz  und  Kant  vergleichen 
lafit,  dessen  Einnufi  aber,  dank  der  geschichtlichen  Stelle, 
an  der  er  gestanden,  die  Wirksamkeit  jener  beiden  Manner 
doch  noch  weit  iibertroffen  hat.  Er  hat  die  deutsche  Bildung 
von  der  priesterlichen  Bevormundung  befreit  und  von  der 
klerikalen  Stufe  zunachst  auf  die  philosophisch-theologische 
gehoben  —  das  war  der  notwendige  Durchgangspunkt,  urn 
eine  gediegene  Laienbildung  vorzubereiten ,  die  doch  den 


Philipp  Melanchthon.  175 

Zusammenhang  mit  der  Religion  und  der  Geschichte  nicht 
verlieren  sollte.  Sein  christlicher  Humanisnms  ist  Klammer 
und  Briicke  zugleich  gewesen.  Wenn  wir  heute  fragen, 
wem  es  unsere  Nation  hauptsachlich  zu  verdanken  hat,  dafi 
aus  der  Reformation  nicht  ein  Bruch  in  ihrer  Religions- 
und  Kulturgeschichte  entstanden  ist,  so  miissen  wir  ant- 
worten:  nachst  dem  Reformator  selbst,  unserem  Melanch 
thon.  Ja,  wir  diirfen  noch  mehr  sagen  —  Luther  ware 
wahrscheinlich  ohne  diesen  Mitarbeiter  nicht  imstande  ge 
wesen,  jene  Vermittelung  des  Neuen  mit  dem  Alten  durch- 
zufuhren,  die  allein  das  Wachstum  und  die  Zukunft  einer 
iiber  den  ganzen  Umfang  des  geistigen  Lebens  sich  er- 
streckenden  Bewegung  sicher  stellte. 

Neben  dem  Propheten  mufi  der  Padagog  stehen.  Ge- 
wiB,  Luther  war  selbst  Padagog  -  -  ein  BHck  auf  seinen 
Katechismus  beweist  das.  Aber  auch  seine  Padagogie  hat 
etwas  Heroisches.  Ein  Grundgedanke  erfiillte  seine  Seele; 
das  Ziel  hatte  er  im.  Auge,  nicht  den  Weg.  Die  Klein- 
arbeit,  die  langsame,  geduldige  Erziehung  zum  Sittlichen 
auf  alien  den  unzahligen  Linien,  auf  denen  sich  das  mensch- 
liche  Leben  bewegt,  war  nicht  seine  Sache.  Hier  tritt  der 
Freund  ein;  er  erzieht  das  gegenwartige  G-eschlecht.  Oft- 
mals  scheint  er  herabzustimmen ,  zu  hemmen,  Altes  und 
Neues  zu  mischen  —  Kraft,  E/eiz  und  Schmelz  des  frischen 
Geistes  scheinen  verschwunden ,  sind  wirklich  oftmals  ver- 
schwunden.  Aber  wer  darf  klagen!  Vielleicht  gibt  es  im 
Leben  des  Einzelnen  sturmische  Erweckungen,  die  nach- 
haltig  sind;  im  Leben  der  Volker  sind  die  Ekstasen,  auch 
wenn  sie  ein  wahrhafter  Prophet  erweckt  hat,  nur  fiiichtige, 
ja  bedenkliche  Erscheinungen.  Das  Bessere  wachst  nur 
langsam,  und  weder  der  Lehrende  noch  die  Lernenden 
bieten  der  Welt  ein  entziickendes  oder  aufregendes  Schau- 
spiel.  Aber  die  Greschichte  urteilt  schlieClich  gerecht:  ein 
jedes  Eand  weifi  heute  zu  erzahlen,  dafi  unser  Vaterland 
zwei  Reformatoren  besessen  hat,  nicht  mehr  und  nicht 


176  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  VI. 

weniger  —  Luther  und  Melanchthon.  Trotz  des  ungeheuren 
Abstandes  1st  der  Padagog  dem  Propheten  unter  dem 
Namen  ,,Reformator"  beigesellt  worden.  Die  Geschichte 
hat  keinen  rahmvolleren  Kranz  zu  verleihen!  — 

Der  stille  Grelehrte,  dem  alles  Stiirmen  und  Drangen 
zuwider  war,  hat  doch  einst  selbst  zwei  Sturm-  und  Drang- 
perioden  erlebt,  bis  er  die  Eigenart  und  die  Grenzen  seiner 
Anlage  und  Bildung  erkannte.  Aber  er  ist  den  Idealen, 
die  ihm  jede  dieser  Perioden  geschenkt  hat,  nicht  untreu 
geworden  —  ihrer  Bewahrung  und  Vermittelung  hat  er 
sein  Leben  geweiht. 

Greboren  zu  Bretten  in  Baden,  dort  wo  der  frankische 
und  der  allemannische  Stamm  sich  verschmelzen,  ist  er, 
der  Grofineffe  Heuchlins,  aufgewachsen  unter  einem 
milden  Himmelsstrich  und  edlen  hochstrebenden  Menschen. 
Zeitlebens  hat  er  dort  seine  Heimat  gesehen  und  sich  an 
der  Elbe  im  Exil  gefuhlt.  Fruhreif ,  mit  vierzehn  Jahren 
Heidelberger  Baccalaureus,  mit  siebzehn  Tubinger  Magister, 
unter  dem  Prinzipate  der  neuen  Philologie  in  alle  Wissen- 
schaffcen  zugleich  eindringend,  erwarb  er  sich  durch  seinen 
eisernen  Fleifl  und  sein  ungemeines  Formtalent  das  be- 
wundernde  Lob  des  Erasmus.  ,,At  deum  immortalem", 
ruft  dieser  aus,  ,,quam  non  spem  de  se  praebet  paene  puer 
Philippus  Melanchthon,  utraque  litteratura  paene  ex  aequo 
suscipiendus !  quod  inventionis  acumen !  quae  sermonis  puritas 
et  elegantia!  quanta  reconditarum  rerum  memorial  quam 
varia  lectio,  quam  verecundae  regiaeque  prorsus  indolis 
festi vitas!"  Die  Bekampfung  der  Scholastik  und  die  Her- 
stellung  der  wahren  Philosophie,  d.  h.  des  echten  Aristo- 
teles,  waren  sein  Ziel,  und  voll  jugendlichen  Frohmutes 
stellte  er  sich  in  die  Reihe  der  kecken  Greister,  die  der  alten 
Welt  den  Krieg  erklart  hatten.  Es  waren  die  Friihlings- 
tage  jener  klassischen,  in  Wahrheit  romantischen  Bewegung, 
denen  doch  kein  Sommer  gefolgt  ist.  Der  herrliche,  aber 
in  seiner  Isolierung  undurchfuhrbare  Gedanke  des  Erasmus, 


Philipp  Melanclithon.  177 

die  Kirclie  und  die  G-esellschaft  durch  die  Wissenschaft  zu 
reformieren,  und  die  schimmernde  Hoffnung,  durch  die  Form 
jede  Schwierigkeit  des  Denkens  und  Lebens  zu  iiberwinden, 
begeisterten  die  G-emiiter.  Zuversichtlicher  und  riicksichts- 
loser  hat  kaum  einer  diesen  Gredanken  geltend  gemacht  als 
der  jugendliche  Melanchthon  in  seiner  Rede:  ,,De  corrigen- 
dis  adolescentiae  studiis",  mit  der  er  im  August  1518  sein 
Lehramt  an  der  Universitat  Wittenberg  antrat:  Alles  was 
bisher  auf  den  Universitaten  nach  der  alten  Methode  ge- 
trieben  worden  ist,  ist  nur  Dunkelwerk  und  Possen  gewesen; 
eine  radikale  E/eform  ist  notwendig.  Wie  sie  mit  den 
Mitteln  der  griechischen  Sprache,  des  wain-en  Aristo teles 
und  mit  Hilfe  reiner  Ausdrucksformen  durchzufuhren  ist, 
werde  er  zeigen.  So  dozierte  mit  dem  Eifer  des  Stunners 
und  Drangers,  aber  auch  auf  dem  Grunde  anerkannter 
Leistungen  der  junge  Professor,  und  weil  man  auch  in 
Wittenberg  der  Scholastik  den  Krieg  erklart  hatte,  ziindete 
sein  Wort. 

Aber  Melanchthon  hatte  sich  noch  nicht  selbst  ge- 
funden,  als  er  so  sprach.  Beriickt  von  dem  neuen  G-eist 
und  noch  wehrlos  gegen  den  Zauber  blendender  Rhetorik 
hat  er  die  gediegenen  und  maflvollen  Krafte  seiner  Eigen- 
art  noch  nicht  erkannt.  Durchschlagender  Beweis  hierfur 
ist,  dafi  der  kiihne  Humanist  im  Laufe  weniger  Monate  in 
Wittenberg  eine  vollkommene  Umstimmung  erlebte.  Dafi 
das  originale,  biblische  Christentum  etwas  anderes  sei  als 
die  scholastische  Kirchenlehre,  wuBte  er  bereits,  als  er  nach 
Wittenberg  kam.  In  dieser  Uberzeugung  lag  das  Band, 
das  ihn  und  die  Humanisten  mit  Luther  verband,  der  im 
Jahr  zuvor  mit  seinen  Thesen  Deutschland  erweckt  hatte. 
Aber  was  nun  folgte,  war  doch  ganz  unerwartet:  Luther s 
Personlichkeit  und  Kraft  bemachtigte  sich  nicht  nur  voll- 
kommen  des  neuen  Kollegen,  sondern  sie  bestimmten  ihn 
auch  dazu,  alle  seine  fruheren  Ideale,  den  ganzen  bisherigen 
Inhalt  seines  Lebens  zunachst  preiszugeben.  Wie  der  Mann 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    I.  12 


Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  VI. 

im  Grleichnis,  der  alle  seine  Habe  verkaufte,  urn  die  eine 
kostliche  Perle  zu  kaufen,  so  gab  Melanchthon  zunachst 
alles  dahin,  und  wie  er  bisher  in  Erasmus  gelebt  hatte, 
so  stellte  er  sich  nun  mit  Leib  und  Seele  in  den  Dienst 
Lnthers.  Doch  man  darf  das  personliche  Element  nicht 
iibertreiben.  Wer  kann  leugnen,  dafi  es  der  christliche 
Grlaube,  wie  Luther  inn  verkiindete,  gewesen  ist,  der  seine 
Seele  wirklich  erfafite!  Um  hat  er  ergriffen  und  bis  zu 
seinem  Tode  als  die  Kraft  seines  inneren  Lebens  festge- 
halten.  Die  schlichten  "Worte  in  seinem  Testament:  j,Ago 
gratias  reverendo  domino  Doctori  Luthero,  quia  ab  eo  evan- 
gelium  didici",  lehren  hier  mehr  als  hundert  Beweise.  ,,Ich 
habe  von  ihm  das  Evangelium  gelernt"  —  das  ist  das 
groUe  unerschiitterliche  Erlebnis,  das  ihn  fortan  trotz  aller 
Spannungen  und  Tauschungen  an  die  Sache  der  Reforma 
tion  und  Wittenbergs  gekettet  hat. 

Dennoch  aber  sind  wir  uberrascht,  in  welchem  Mafie 
er  in  den  ersten  Jahren  seiner  Wittenberger  Wirksamkeit 
Luther  gleichsam  aufgesogen  hat.  Die  Stelle,  wo  sein 
FuO  bleiben  wird,  hat  er  zwar  gefunden,  aber  noch  immer 
ist  er  nicht  er  selbst.  Denn  nun  ist  er  drei  Jahre  lang 
Sturmer  und  Dranger  in  der  reformatorischen  Bewegung: 
Die  Schulphilosophie  ist  Abgotterei,  die  philosophische  Ethik 
Widerchristentum ;  Grriechenland  lehrt  nur  heidnische  Werke 
und  verdirbt  die  Jiinglinge;  Paulus,  niemand  anders  als 
Paulus,  soil  in  der  Kirche  und  in  der  "Wissenschaft  gelten. 
Der  Humanist  wandelt  sich  in  den  Theologen,  aber  der 
Rhetor  droht  zu  bleiben.  In  diesem  Sinne  hat  der  jugend- 
liche  Lutheraner  geschrieben.  Im  heiOen  Kampfe  wider 
ein  absterbendes  Zeitalter  vermag  das  aufstrebende  nur  Kon- 
traste  zu  erkennen  und  verkennt  die  Nuance;  die  ernuch- 
ternde  Erfahrung  bleibt  aber  nicht  aus,  dafi  man  nicht 
ungestraft  die  Kraffce  der  Yergangenheit  preisgibt. 

Doch  aus  jener  lutherischen  Sturm-  und  Drangperiode 
Melanchthons  besitzen  wir  ein  Werk  von  unvergang- 


Philipp  Melanchtlion.  179 

Kcher  Bedeutung.  An  diesem  Werke  hat  die  Rhetorik 
keinen  Anteil,  die  loci  communes,  die  erste  evangelische 
Dogmatik  (1521).  In  diesem  Buehe  haben  die  reformato- 
rischen  Gedanken  Luthers  ihre  zusammenhangende  Dar- 
stellung  gefanden.  Znm  ersten  Male  in  der  abendlandischen 
Kirche  wird  die  christliclie  Religion  nicht  beschrieben  im 
Schema  eines  Gott- Welt-Dramas  und  einer  heiligen  Physik, 
sondern  als  die  Erweckung  nnd  der  Prozefi  eines  neuen 
inneren  Lebens.  Die  Form  der  loci  hemmt  zwar  die  auBere 
Ausbildung  eines  straffen  Zusammenhangs,  aber  im  Grunde 
ist  alles  einheitlich  gedacht.  Luther  selbst  hat  dieses  Werk 
als  ein  kanonisches  bezeichnet;  es  ermoglichte  erst  den  vollen 
Uberblick  iiber  sein  Gedankengefiige.  Uber  seine  Gedanken 
—  denn  es  ist  vielleicht  beispiellos  in  der  Geschichte,  dafi 
ein  Mann  von  den  Fahigkeiten  Melanchthons  sich  ganz 
nnd  gar  zum  Organon  eines  anderen  gemacht  hat.  Indem 
ihn  Luthers  Personlichkeit  iiberwaltigt  hatte,  scheint  alles 
Eigene  zerschmolzen.  Nur  die  Form,  diese  klare,  natiirlich 
fliefiende  Darstellung,  gehort  dem  grofien  Schuler  an;  sonst 
ist  alles  ubernommen,  das  Evangelium  Luthers  mit  seinen 
Konsequenzen  nach  riickwarts  und  vorwarts,  mit  seinem 
Tiefsinn  und  seinem  dunklen  Hintergrund,  in  welchen  die 
Antike,  der  Humanismus  und  die  Freiheit  zu  versinken 
drohten. 

Aber  die  Riistung  des  Gewaltigen,  der  seiner  eigenen 
Logik  folgte,  konnte  nicht  die  Riistung  des  Professors 
bleiben.  Als  die  Schwarmgeister  in  Wittenberg  erschienen, 
da  zeigte  es  sich,  dafi  der  Professor  dies  Schwert  nicht  zu 
fuhren  ver stand,  dafi  vielmehr  der  ungestiime  Held  die  Bil- 
dung  und  den  Zusarnmenhang  mit  der  Geschichte  schiitzte. 
Seitdem,  d.  h.  seit  den  Jahren  1522  und  1523,  bemerkt 
man,  wie  Melanchthon  unsicher  wird,  ob  man  mit  Paulus 
und  der  Theologie  allein  die  Christenheit  bauen  konne.  Zu 
seinem  Schauder  erblickt  er  unter  den  Kraften,  die  die 
Reformation  in  den  Gemiitern  entfesselt  hat,  auch  die  Kraft 

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180  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VL 

der  Barbarei,  die  sich  rait  dera  Grlauben  zu  decken  sucht, 
und  sieht  eine  ,,dummere  und  gottlosere  Sophistik"  und 
eine  Zuchtlosigkeit  der  entfesselten  Massen  heraufsteigen. 
Diese  Erfahrung  —  und  sie  wiederholte  sicli  taglich  —  hat 
einen  Druck  auf  sein  Wesen  ausgeiibt,  der  niemals  ge- 
schwunden  1st.  Auch  Luther  hat  ziirnend  die  kontraren 
Folgen  der  Reformation  empfunden,  aber  er  wuflte,  dafi 
er  mit  seinem  Grott  im  Bunde  war;  der  Lauf  der  Welt 
kiimmerte  ihn  wenig.  Griff  er  einmal  in  denselben  ein,  so 
traf  er  den  Nagel  auf  den  Kopf  nnd  zeigte,  dafi  er  auch 
der  Bildung  und  der  Wissenschaft  ihr  Recht  gab.  Melanch- 
thon  aber  war  es  nicht  gegeben,  auf  dieser  Hohe  zu  atmen 
und  das  Sorgen  zu  lassen.  Allein  eben  aus  dieser  uner- 
mudlichen  Sorge  gestaltete  sich  der  ihm  eigentumliche  Be- 
ruf  des  Eeforniators ;  in  ihr  fand  er  sich  selber;  denn  die 
Sorge  spornte  seine  Grewissenhaftigkeit,  zunachst  fur  seine 
Studenten,  dann  fur  die  reformatorische  Wissenschaft,  dann 
fur  den  ganzen  Umfang  der  Reformation  im  deutschen 
Vaterland.  Seit  dem  Jahre  1524/25  etwa  ist  die  Entwick- 
lung  des  Mannes  vollendet.  Mit  dem  Entwurf  der  Visi- 
tationsartikel  betritt  er  dann  die  Linie,  die  er  nicht  mehr 
verlassen  sollte.  Dreiunddreifiig  Jahre  hat  er  nun  gearbeitet 
als  der  grofie,  universale  Lehrer  des  Protestantismus.  Welche 
Ziele  ihm  dabei  vorschwebten  und  welche  Mittel  er  in  Wirk- 
samkeit  setzte  —  sowohl  in  seiner  kirchlichen  wie  in  seiner 
wissenschaftlichen  Tatigkeit;  denn  beides  geht  immer  Hand 
in  Hand  — ,  das  lassen  Sie  mich  mit  wenigen  Strichen  an- 
geben. 

Im  Vordergrund  steht  auch  ihm  das  reine  Evangelium, 
das  erneuerte  Christentum  mit  seiner  GrlaubensgewiCheit 
und  Innerlichkeit,  deshalb  auch  R/echt  und  Pflicht  des  Ein- 
zelnen,  dasselbe  ohne  priesterliche  Bevormundung  sich  an- 
zueignen.  "Wie  Luther  ist  er  davon  durchdrungen,  dafi  dies 
die  eigentliche  Aufgabe  des  Zeitalters  ist,  und  in  Luther 
verehrt  er  den  Fiihrer  und  Propheten.  Aber  daneben  ist 


Philipp  Melanchthon.  181 

er  zuriickgekelirt  zu  seiner  ersten  Liebe,  zum  Ideale  seiner 
Jugend,  und  ist  iiberzeugt,  da.fi  das  klassische  Altertum 
unersetzliche  Griiter  erarbeitet  hat,  namlich  eine  wohlge- 
fiigte,  natiirliche  und  wissenschaffcliche  Erkenntnis  Grottes 
nnd  des  Menschen,  feste  sittliche  Bichtlinien  und  eine 
sichere  Methode,  die  Wahrheit  zu  ergriinden  und  darzu- 
stellen.  Darf  dieser  herrliche  Ertrag  nicht  preisgegeben 
werden,  weil  er  allein  vor  der  Barbarei  und  Sittenlosigkeit 
schutzt,  so  gilt  es,  die  Sache  des  erneuerten  Christentums 
mit  ihm  zu  verbinden.  Das  neu  gewonnene  innere  Ver- 
haltnis  zu  dem-  TJnsichtbaren  soil  seine  Ausgestaltung  in 
der  Welt  des  Denkens  und  Handelns  mit  Hilfe  der  Krafte 
empfangen,  die  die  Menschheit  in  ihrer  klassischen  Zeit 
erarbeitet  hat.  „  Sapiens  et  eloquens  pietas"  —  in  dieser 
Losung  schliefien  sich.  alle  Ideale  zusamnien.  Aus  der 
Frommigkeit  im  Bunde  mit  den  Sprachen  und  Wissen- 
schaften  soil  sich.  ein  Strom  von  sittigenden  Wirkungen 
iiber  das  ganze  Leben  und  uber  alle  Gremeinschaftsformen 
ergiefien.  Der  Bund  aber  zwischen  dem  christlichen  Qlauben 
und  der  Klassizitat  ist  so  gedacht,  dafi  diese  einerseits  die 
Grrundlage  abgibt,  sofern  sie  die  Freiheit  und  die  natiirliche 
Anlage  des  Menschen  zum  Sittlichen  nachweist,  andererseits 
die  Ausgestaltung  der  Glaubenserfahrung  in  alien  em- 
pirischen  Beziehungen  des  Lebens  ubernimmt. 

Die  Aufgabe,  die  Melanchthon  aus  dieser  Erkenntnis 
erwuchs,  war  eine  theoretische  und  praktische  zugleich. 
Als  theoretische  erganzte  sie  die  Aufgabe  Luthers,  mufite 
aber  auch  in  Konflikt  mit  ihr  geraten.  Melanchthon  wollte 
das  Leben  verbessern,  Luther  es  neu  begriinden.  Luther 
schien  den  Grlauben  allein  zuzulassen  und  alle  iibrigen 
Krafte  abschatzig  zu  beseitigen.  Wer  ihn  predigen  und 
schreiben  horte,  konnte  wohl  meinen,  er  wolle  ein  ent- 
scheidendes  inneres  Ergebnis  —  einen  Gott  haben  —  allein 
gelten  lassen  und  aus  diesem  Kapitale  alles,  auch  alle  Sitt- 
lichkeit,  alle  Bildung  und  alle  Erziehung  bestreiten.  Dafi 


182  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VI. 

gerade  er  den  frischeren  und  tieferen  Blick  auch  for  die 
Selbstandigkeit  des  natiiiiichen  Lebens  besafl,  dafl  er  viel 
sicherer  als  irgend  ein  Anderer  das  Heilige  und  das  Profane 
unterschied,  daB  seine  harte  Lekre  vom  gebundenen  Willen 
endlich  einmal  den  reizenden  Schleier  zerrifl,  der  aus 
Religion  und  fragwiirdiger  Philosophie  gewoben  war,  das 
ahnte  niemand.  Was  Melanchthon  hier  als  G-efahr  empfand, 
was  jeder  gebildete  Zeitgenosse  so  empfinden  raufite,  war 
die  Bedrohung  des  sittlichen  Lebens  und  einer  fortschreiten- 
den  Entwicklung.  Die  dogmengeschichtlichen ,  augustini- 
schen  Hiillen,  von  denen  Luther  seine  tieferen  Ansch.au- 
ungen  nicht  zu  befreien  vermochte,  liefien  diese  Wirkung 
in  der  Tat  befurchten,  und  wenn  kleinere  Greister  anfingen, 
auf  ihren  Instrumenten  die  Tone  Luthers  nachzuspielen, 
welch  eine  barbarische  Musik  mufite  da  entstehen! 

Memand  hat  das  tiefer  gefiihlt,  als  der  zartsinnige, 
sittlich  rein  empfindende  Melanchthon,  und  so  bemuhte  er 
sich,  vorsichtig,  priifend,  riicksichtsvoll  die  Gredanken 
Luthers  zu  bearbeiten,  zu  beschneiden  und  zu  erganzen. 
Ein  saures,  muhsames  Tagewerk,  das  ihm  Niemand  recht 
dankte  und  das  doch  ganz  unerlaMch  war,  wenn  das 
gegenwartige  Greschlecht  erzogen  werden  sollte.  Welch 
eine  Summe  von  FleiB,  welch  eine  Umsicht  bezeugen  die 
immer  wieder  aufs  neue  durchgefeilten  dogmatischen  Ar- 
beiten  Melanchthons!  Neben  der  angstlichen  Sorge,  durch 
keine  Paradoxie  zu  blenden,  durch  keinen  padagogischen 
Mifi griff  zu  verwirren,  jede  Uberstiirzung  zu  vermeiden, 
neben  mancher  schulmeisterlichen  Trivialitat  —  wieviel 
originale  und  treffliche  Grriffe!  Wie  gliicklich  ist  der  Gre- 
danke,  den  gefahrdeten  Zusammenhang  der  Religion  mit 
der  Sittlichkeit  unter  dem  Titel  ^der  neue  Grehorsam"  sicher 
zu  stellen,  und  wie  ist  Melanchthon  seinem  Ziele,  eine 
kraftige  evangelische  Moral  theoretisch  zu  begrunden,  ge- 
recht  geworden  durch  seine  herrlichen  Ausfuhrungen  iiber 
die  evangelische  Yollkommenheit,  die  er  der  monchischen 


Philipp  Melanchthon.  183 

Yollkommenheit  entgegensetzte!  Grewifi  —  er  hat  die  Schul- 
gestalt  der  evangelischen  Dogmatik  begriindet  und  damit 
manclie  frische  Erkenntnis  beseitigt  und  der  Sache  selbst 
sehwere  Fesseln  angelegt.  Aber  er  hatte  doch  niclit  die 
Wahl  zwischen  freieren  und  gebnndeneren  Auffassungen 
und  wahlte  die  gebundeneren ,  sondern  er  hat  eine  Schul- 
gestalt  uberhaupt  erst  schaffen  miissen.  Wer  wirken  will, 
mufi  formulieren  und  gestalten  konnen;  Grestaltungen  aber 
improvisiert  man  nicht,  sondern  mufi  ihre  Grundlinien  dem 
Schatze  des  Erarbeiteten  entnehmen.  Und  wer  die  EinbuBe 
beklagt,  die  der  Gredanke  in  der  Fessel  des  Schulbuchs  er- 
leidet,  der  soil  sich  fragen,  wie  lange  sich  ein  Gredanke  rein 
erhalten  wird,  der  gestaltlos  wie  ein  Grlockenton  durch  die 
Liifte  dringt. 

Die  grofie  Aufgabe,  das  erneuerte  Christentum  zu 
lehren,  und  im  Zusammenhang  mit  der  Bildung  des  Zeit- 
alters  zu  halten,  hat  Melanchthon  seit  dem  Jahre  1525  unter 
den  Augen  Luthers  getrieben  und  dann  noch  14  Jahre 
fortgesetzt. 

Die  theologische  Arbeit  war  ihm  im  Grrunde  kein 
inneres  Bedurfnis;  er  trieb  sie  unter  dem  kategorischen 
Imperativ  der  Pflicht;  nur  systematisch-padagogische  Form- 
gebung  reizte  ihn  hier;  sonst  entsprachen  seiner  ISTeigung 
immer  mehr  die  gewohnten  philologischen  Studien.  Hat 
je  einer  unter  der  theologischen  Aufgabe  geseufzt,  so  war 
er  es;  aber  er  wuGte,  dafi  ihm  niemand  die  Arbeit  abnehmen 
konnte,  darum  blieb  er  bis  zuletzt  auf  dem  Posten.  Gre- 
spannt  fragt  man,  wie  sich  nun  das  personliche  Verhaltnis 
zu  Luther  gestaltete.  Eine  herzliche  Yertraulichkeit,  wenn 
sie  je  bestanden  hat,  verschwand  bald;  aber  ein  gegenseitiges 
Vertrauen  behauptete  sich  trotz  aller  Verschiedenheiten  der 
Charaktere,  der  Stimmungen  und  der  Arbeit.  ,5Ich  bin 
dazu  geboren",  erklart  Luther,  ,,dafi  ich  mit  Rotten  und 
Teufeln  muB  kriegen,  darum  meine  Biicher  viel  kriegerisch 
sind.  Ich  bin  der  grobe  "Waldrechter,  der  Bahn  brechen 


Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VI. 

nrnJB.  Aber  Magister  Philipp  fahrt  sauberlich  stille  daher, 
saet  und  begieBt  mit  Lust,  nachdem  ihm  Grott  gegeben 
seine  G-aben  reichlich".  Nicht  mit  Unreclit  sagt  man,  dafl 
Melanchthon  an  Luther  zu  tragen  hatte  —  imperatorische 
Grewalt  in  offc  schroffen,  riicksichtslosen  Formen  — ,  aber 
die  Gegenrechnung  zeigt,  daft  in  Wahrheit  Luther  der  ge- 
duldigere  sein  muBte.  Mit  welcher  heroischen  Langmut  hat 
er  dem  Freunde  das  Kleinliche,  Angstliche  und  Empfind- 
liche  nachgesehen!  Wie  hat  er  ihn  immer  wieder  aus  der 
Sorge  und  Furcht  auf  jene  Hohe  erhoben,  von  der  allein 
eine  solche  Bewegung  geleitet  werden  konnte!  "Wie  hat 
er  an  dem  Glenossen  jene  ihm  so  antipathische  erasmische 
Weise  ertragen  im  Yertrauen  auf  die  Ubereinstimmung  in 
dem  Kerne. der  Uberzeugungen!  Mit  welcher  Einsicht  und 
GroBmut  hat  er  endlich  Melanchthon  auf  seinem  Gebiete 
schalten  lassen,  dem  der  Padagogie  und  Kirchenpolitik, 
und  ist  selbst  dann  nicht  an  ihm  irre  geworden,  wo  er 
alien  Grrund  hatte ,  ihm  in  die  Wiirfel  zu  greifen.  In 
jenen  Jahren  —  auch  der  Augsburger  Reichstag  fallt  in 
diese  Zeit  — ,  in  denen  Melanchthon  es  fast  um  jeden  Preis 
versuchte,  die  Einheit  der  Erchenlehre  und  Verfassung 
festzuhalten  und  die  Eeformation  auf  die  Stufe  eines  bloUen 
Kampfes  gegen  Mifibrauche  herabzudriicken  —  in  jenen 
Jahren  hat  Luther  das  voile  Zutrauen  zu  Melanchthon  be- 
wahrt,  dafi  er  die  Sache  selbst  trotz  aller  Politik  und  Pada- 
gogik  doch  nicht  preisgeben  werde.  Mcht  immer  hat 
Melanchthon  diesem  Zutrauen  entsprochen.  Es  kamen 
Momente  —  sowohl  bei  Luthers  Lebzeiten  als  zur  Zeit  des 
Schmalkaldischen  Krieges  und  des  Interims  — ,  in  denen 
Melanchthon  die  Probe  nicht  bestanden  hat.  Nicht  sich 
selbst  ist  er  dabei  untreu  geworden,  wohl  aber  der  Aufgabe, 
die  ihm,  wollend  und  nicht  wollend,  zugef alien  war,  der 
Hiiter  des  lutherischen  Erbes  und  die  Saule  der  Kirche 
Luthers  zu  sein.  Dort  in  Augsburg,  wo  er  in  der  Formulie- 
rung  der  evangelischen  G-laubensartikel  bereits  bis  an  die 


Philipp  Melanchthon.  185 

aufierste  Grenze  der  Konzessionen  gegangen  war,  drolite  er 
in  den  Verhandlungen ,  die  ihnen  folgten,  jeden  Halt  zn 
verlieren.  Doch  hat  er  sich  in  der  ausgezeichneten  Apologie 
des  Augsburger  Bekenntnisses  wieder  gefunden.  Aber  mit 
voller  Kraft  drangte  sich  in  und  nach  dem  nngliicklichen 
Verlauf  des  Schmalkaldischen  Krieges  alles  in  ihm  hervor, 
was  er  seit  Jahren  zuriickgedrangt  hatte,  seine  Antipathie 
gegen  die  Gewaltsamkeiten  eines  Bruch.es  der  G-eschichte, 
seine  Hochschatzung  iiberlieferter  Formen,  die  tranten 
Kindererinnerungen  an  die  alte  Kirche,  dazu  personliche 
Bitterkeit  und  Kleinmut.  Mcht  Melanchthon,  sondern  die 
engen  Kopfe,  wie  Flacius,  und  neben  ihnen  —  Moritz  von 
Sachsen  haben  damals  den  Protestantismus  gerettet.  Aber 
mit  der  Rettung  war  es  nicht  getan.  Wieder  gait  es  zu 
bauen  und  zu  pflegen,  ein  evangelisches  Kirchentum  und 
eine  evangelische  "Wissenschaft  auszugestalten,  weit  genug, 
um  den  Strom  der  G-eschichte  in  dieses  Bett  zu  leiten. 
Auf  Melanchthon  allein  nel  wiederum  diese  Aufgabe,  und 
in  schwerem  Konflikt  mit  seinen  Neigungen,  fast  mochte 
ich  sagen,  mit  seinen  tiberzeugungen ,  kampfend  fur  sein 
Ideal,  aber  zugleich  blutend  fur  manche  Lehren,  die  nicht 
die  seinigen  waren,  ist  er  auch  nach  der  Wiederherstellung 
des  Protestantismus  rastlos  tatig  gewesen,  die  Kirche  mit 
der  "Wissenschaft  zu  bauen,  Luthers  Autoritat  und  Luthers 
Lehre  als  die  gegebene  Grundlage  anzuerkennen  und  sie 
doch  nach  seiner  wissenschaffclichen  Einsicht  und  nach  den 
Bediirfnissen  der  gelauterten  Frommigkeit  zu  erweitern 
und  zu  erweichen.  Die  Seelenqualen  des  Vermittlers  haben 
ihn  nie  verlassen,  und  die  Angriffe  nicht  nur  des  theolo- 
gischen  Fanatismus,  sondern  auch  ehrlicher  sproder  tiber- 
zeugungen  drangen  immer  drohender  auf  ihn  ein.  Aber 
er  liefi  das  Steuer  nicht  aus  der  Hand,  das  er  gefafit  hatte, 
und  er  warf  nichts  iiber  Bord,  um  sein  Schiff  zu  erleichtern; 
denn  er  meinte,  dafi  die  Zukunft  kein  Stuck  entbehren 
konne.  So  ist  er  in  seiner  Weise  fest  geblieben  in  dem 


1QQ  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Keden:  VI. 

Streit  der  Epigonen.  Mit  den  Worten:  ,,Du  wirst  der 
Siinde  abscheiden,  du  wirst  von  allem  Kummer  frei  werden 
und  von  der  fanatischen  Wut  der  Theologen",  sah  er  dem 
Tode  als  einer  Erlosung  entgegen.  Im  Gredachtnis  seiner 
Kirche  war  sein  Andenken  zunachst  gefahrdet,  und  fast 
jahrhundertelang  ist  sein  Name  im  lutherischen  Protestan- 
tismus  nicht  ohne  MiBtrauen  genannt  worden,  aber  sein 
"Werk  blieb  bestehen.  Bereits  die  Konkordienformel  bedeutet 
bei  allem  Argwohn  gegen  Melanchthon  dock  eine  Absage 
an  das  strengste  und  engste  Luthertum  im  Sinne  Melanch- 
thons.  Bald  aber  entstanden  in  Deutschland  viele  Kirchen, 
die  sich  reformiert  nannten,  in  Wahrheit  jedoch  melanch- 
thonisch  waren,  und  in  ihnen  entwickelte  sich.  der  Greist 
der  Unionsgesinnung,  aus  welchem  der  groBe  Fortschritt 
im  inneren  Leben  des  Protestantismus  hervorgehen  sollte. 
Luthers  G-laubenskraft  ist  Kleinod  und  Ziel  des  Protestan 
tismus  geblieben,  er  selbst  der  Heros  eponymos,  aber  seine 
Theologie  ist  in  seiner  Kirche  nicht  kanonisch  geworden, 
und  das  war  gut.  Melanchthon  ist  als  Person  in  der  Kirche 
zuriickgetreten,  aber  entscheidende  Bichtlinien,  die  er  der 
neuen  Theologie  gegeben  hat,  sind  geblieben,  und  das  war 
auch  gut.  Er  hat  den  Protestantismus  fur  die  Wissen- 
schaft  und  die  "Wissenschaft  fur  den  Protestantismus  ge- 
rettet  —  in  Verkettungen,  die  heute  nicht  mehr  in  voller 
G-eltung  stehen,  die  aber  in  ihrer  Zeit  Kirche  und  Bildung 
zusammengehalten  haben.  — 

Das  kirchlich-theologische  Lebenswerk  Melanchthons 
habe  ich  sMzziert,  auch  mit  seinen  peinlichen  Eindriicken 
und  doch  —  ein  grofies  segensreiches  "Werk!  Vergessen  wir 
dabei  nicht,  unter  welchen  Verhaltnissen  er  gearbeitet  hat! 
Die  Schwierigkeiten  der  inneren  Lage  sind  schon  beruhrt 
worden,  die  aufieren  waren  schrecklich.  Auch  heute  erfahrt 
jeder  schweres  Leid,  der  von  Innen  an  der  religiosen  Erage 
ruhrt,  aber  damals  erfuhr  man  noch  buchstablich,  daB  die 
Welt  voll  Teufel  war,  wenn  man  kirchliche  Verhaltnisse 


Philipp  Melanchthon.  187 

antastete;  denn  vom  Mittelalter  her  umstanden  noch  furcht- 
bare  Wachter  die  Religion,  Gefangnis,  Schlage,  Folter  — 
der  Tod.  Unter  dem  Schirm  seiner  Landesherrn,  der 
erlauchten  Fursten,  und  unter  dem  Schild  des  Helden,  der 
alle  schiitzte,  der  die  ganze  Bewegung  trug  —  aiich  als  er 
nicht  mehr  unter  den  Lebenden  weilte  — ,  hat  Melanchthon 
sein  "Werk  vollendet,  er  hat  die  Lehre  begriindet  und  die 
Kirche  gebaut.  — 

Aber  blicken  wir  nun  von  seiner  dograatischen  und 
kirchlichen  Tatigkeit  auf  die  allgemein  wissenschaftliche. 
Mit  reiner  Bewunderung  konnen  wir  zu  ihm  aufschauen. 
Hier  war  er  ganz  in  seinem  Elemente  und  hat  dem  christ- 
lichen  Humanismus  einen  weiten  und  festen  Bau  aufge- 
richtet,  in  welchem  die  Wissenschaft  und  ihre  Jiinger  mehr 
als  anderthalb  Jahrhunderte  gewohnt  haben.  Hier  hat  er 
sich  auch  des  allgemeinen  Yertrauens  erfreut  durch  die 
Lauterkeit  seiner  Gesinnung,  die  Selbstlosigkeit  und  Un- 
bestechlichkeit  seiner  Ratschlage  und  eine  von  niemandem 
erreichte  didaktische  Sachkenntnis.  Jener  Bau  war  kein 
Neubau  im  vollen  Sinne  des  Worts.  Vergleichen  wir  ihn 
mit  dem  des  13.  und  des  18.  Jahrhunderts ,  so  steht  er 
jenem  viel  naher  als  diesem.  Noch  immer  ist  Wissenschaft 
nicht  Forschung,  sondern  Lehre,  noch  immer  fuhrt  die 
Theologie  das  Szepter  iiber  alle  Wissenschaffcen,  noch  im 
mer  gilt  die  durchsichtige  Form  fast  soviel  wie  die  Sache. 
Aber  der  Bau  umfaBte  die  alten  Elemente  in  gereinigter 
G-estalt  und  enthielt  auch  wesentliche  neue  Elemente  des 
Fortschritts :  nicht  nur  die  Kenntnis  des  Griechischen,  die 
die  unerlaBliche  Vorbedingung  jeder  wissenschaftlichen 
Vertiefung  war,  sondern  iiberhaupt  die  Aufforderung,  die 
IFberlieferung  so  kennen  zu  lernen,  dafi  man  iiberall  auf 
die  Originale  zuriickging. 

In  erster  Linie  hat  Melanchthon  fur  den  ganzen  Kreis 
der  Wissenschaft  gearbeitet  durch  seine  Lehrbiicher.  Nicht 
nur  Grrammatiken  hat  er  herausgegeben,  sondern  Kompen- 


138  Erster  Band,  erste  Abteikmg.     Eeden:  VI. 

dien  der  Khetorik,  der  Dialektik,  der  Physik,  der  Psycho- 
logie  und  der  Ethik,  dazu  auch  einen  ziemlich  ausfuhrlichen 
Leitfaden  der  G-eschichte ;  ja  er  ist  einer  der  ersten  gewesen, 
der  regelmaBig  Vorlesungen  fiber  Greschichte  gehalten  hat. 
Alle  diese  Lehrbiicher  dienten  dem  akademischen  Unterricht. 
Als  unubertroffene  Muster  von  Klarheit,  Ordnung  nnd  ele- 
ganter  Angemessenheit  des  Vortrages  werden  sie  von  einem 
Meister  der  G-eschichte  der  Philosophie  geriihmt,  und 
treffend  fdgt  derselbe  hinzu,  Melanchthon  habe  durch  sie 
die  philosophischen  Wissenschaften  von  der  Kasnistik  des 
scholastischen  Denkens  befreit,  den  ins  Mafilose  getriebenen 
Distinktionen  der  Begriffe,  der  verkiinstelten  Sprache  und 
dem  ganzen  Staube  des  Mittelalters.  Dabei  Melt  er  aber 
zugleich  den  Humanisten  gegeniiber  die  logische  Grrundlich.- 
keit  im  Vortrag  aufrecht.  In  der  Tat  —  die  Befreiung 
von  der  Kasuistik,  wie  in  der  theoretischen  Philosophie, 
so  vor  allem  in  der  Ethik,  war  der  groBte  Fortschritt  in 
diesem  akademischen  Unterricht.  Er  war  die  Vorbereitung 
und  Uberleitung  zu  einer  einheitlichen  Erkenntnis  der 
Natur  und  des  Greistes,  wie  sie  einem  spateren  Zeitalter 
aufgehen  sollte.  Aber  aueh  die  Zuriickdrangung  der  Bild- 
lichkeit  des  Vorstellens  einerseits  und  der  Kampf  gegen 
die  Begriffsmythologien  andererseits  erhoben  die  enzyklo- 
padischen  Arbeiten  Melanchthons  iiber  die  Stufe  einer  in 
den  Formen  steckengebliebenen  Philosophie.  Was  er  in 
seine  Lehrbiicher  schrieb,  das  trug  er  in  lebendiger  Rede 
vom  Katheder  herab  vor,  immer  unverdrossen,  mochten  es 
viele  hunderte  Zuhorer  sein  oder  kaum  ein  Dutzend.  Noch 
in  dem  Jahre  seines  Todes  las  er  gleichzeitig  sechs  Vor- 
lesungen,  iiber  die  griechische  Grrammatik,  iiber  Euripides, 
uber  den  Eomerbrief,  iiber  Dialektik,  iiber  Ethik  und  iiber 
Q-eschichte.  Alle  Studenten  sollten  diese  Vorlesungen  horen, 
vor  allem  aber  die  Theologen;  denn  —  davon  war  Melanch- 
thon  durchdrungen  —  eine  ungelehrte,  unwissenschaftliche 
Theologie  ist  eine  ,,Ilias  malorum". 


Philipp  Melanchthon.  189 

Aber  der  groBe  Lehrer,  nnter  dessen  Handen  alles 
didaktisch  wurde,  die  Religion  nicht  weniger  als  die  Poesie, 
lehrte  nicht  nur,  sondern  er  bildete.  Me  ist  der  Beruf  des 
G-elehrten,  des  Professors,  idealer  und  groBer  gefaBt,  nie 
wiirdiger  verwirklicht  worden,  und  darum  sammelte  er  nicht 
nur  Zuhorer,  sondern  erzog  sich  Schiller.  DaB  der  Lehr- 
beruf  eine  sittliche  Gremeinschaft  der  Strebenden  hervor- 
rufen  miisse,  daB  der  G-elehrte  dem  Grelehrten  wie  ein 
Freund  gegeniiberstehe,  daB  eine  Gremeinschaft  aller  Lehren- 
den  im  Dienste  der  Wissenschaft  kein  bloBer  Traum  sei, 
sondern  ein  erreichbares  Ideal,  das  war  ihm  gewiB.  In 
diesem  Sinn  hat  er  gewirkt  und  seine  Schiller  sowohl  wie 
jeden  Gelehrten  als  Freund  an  sich  gezogen,  im  personlichen 
Verkehr  —  nichts  ging  ihrn  fiber  eine  docta  et  arnica  con- 
fabulatio  —  und  in  einem  unermeBlich  reichen  Briefwechsel. 
Viele  tausende  von  Brief  en  sind  heute  bekannt,  und  noch 
immer  steigt  die  Zahl.  Soweit  es  an  ihrn  lag,  blieb  Me 
lanchthon  mit  jedem  Schiller  in  Zusammenhang,  beantwor- 
tete  jede  Frage,  nahm  an  den  Lebensschicksalen  der  jungen 
Freunde  teil  und  leitete  aus  der  Feme  von  seinem  Schreib- 
tisch  um  Mitternacht  ihre  Schritte.  Die  Folge  war,  daB 
er  die  Universitaten  und  gelehrten  Schulen  besetzte,  nicht 
nur  im  evangelischen  Deutschland,  sondern  auch  in  Schott- 
land  und  England,  in  Polen  und  Ungarn.  Thn  fragten 
die  Fiirsten,  ihn  die  Magistrate,  wenn  es  gait,  tiichtige 
Lehrer  zu  gewinnen;  sie  wuBten,  daB  er  niemals  etwas  fur 
sich  begehrte  und  nur  der  Sache  diente.  So  empfing  der 
Protestantismus  einen  einheitlichen  Lehrerstand  neben  einer 
einheitlichen  Bildung.  Jenes  hohe  Q-ut  des  Mittelalters, 
welches  durch  die  Reformation  in  Frage  gestellt  war,  die 
Einheit  der  Kultur  —  es  blieb  dem  Abendland  erhalten, 
soweit  die  Spaltung  der  Religion  und  die  immer  kompli- 
zierter  werdenden  Bedingungen  der  auBeren  und  inneren 
Lage  es  zulieBen.  Der  eine  Melanchthon  hat  im  16.  Jahr- 
hundert  das  geleistet,  was  im  12.  und  13.  die  stolze  Reihe 


Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VI. 

grofier  Lehrer  vom  Lombarden  bis  zu  Duns  Scotus  geleistet 
hat.  Aber  dort  war  schlieBlich  alles  monchich  orientiert; 
auf  allem  weltlichen  Handeln  lag  der  Bann  der  Kirche; 
bier  dagegen  waren  Gottesdienst  und  weltlicher  Beruf  in 
dem  Element  des  Ethischen  versohnt;  neue  Aufgaben 
waren  der  sittlichen  Lebensbewegung  gestellt. 

Doch  noch  habe  ich  das  letzte  Verdienst  Melanchthons 
nm  die  hohere  Bildung  nicht  genannt.  Zwar  war  er  zum 
Herrscher  niclit  veranlagt,  aber  er  war  ein  vorziiglicher 
Organisator.  Mcht  nur  die  Universitat  Wittenberg  hat 
erst  er  nach  unvollkommenen  Anfangen  wirklich  eingerich- 
tet  und  blieb  zeitlebens  ihr  Haupt  und  ihre  Seele,  auch 
die  kursachsische  Schulordnung  hat  er  entworfen.  Beide 
Lehrplane  wurden  vorbildlich  fur  einen  stets  wachsenden 
Kreis  von  protestantischen  Universitaten  und  gelehrten 
Schulen.  Solche  in  alien  G-ebieten  unseres  Vaterlandes 
einzurichten,  den  Verhaltnissen  anzupassen  und  sie  zu  be- 
raten,  ist  er  rastlos  tatig  gewesen.  Bis  zur  Stiftung  der 
Universitat  Halle,  d.  h.  bis  zum  Ende  des  17.  Jahrhunderts 
ist  seine  Organisation  des  gelehrten  Unterrichts  in  Deutsch- 
land  mafigebend  geblieben.  Hier  sind  die  G-enerationen 
gebildet  worden,  die  sich  durch  den  dreiCigjahrigen  Krieg 
nicht  niederwerfen  lieJJen.  Vor  allem  aber  die  evangelischen 
theologischen  Fakultaten  sind  sein  "Werk.  Dankbar  blicken 
sie  an  dem  heutigen  Tage  zu  ihm  auf  und  geloben,  das 
ihnen  anvertraute  Gut  zu  bewahren  und  ihre  Arbeit  unter 
das  schone  Bekenntnis  zu  stellen,  das  er  abgelegt  hat: 
wlch  bin  mir  bewufit,  mit  meiner  ganzen  theologischen 
Arbeit  nie  einen  anderen  Zweck  verfolgt  zu  haben,  als 
das  Leben  zu  berichtigen  und  zu  veredlen."  — 

So  lehrend  und  bauend,  sittigend  und  erziehend,  hat 
er  ein  groJJes,  emheitliches  Lebenswerk  geleistet.  Anders 
als  es  sich  der  fruhreife  Jiingling  gedacht,  hatte  sich  die 
Aufgabe  gestaltet,  und  in  Stunden  des  Verdrusses  und  des 
theologischen  Haders  hatte  er  den  Eindruck,  aus  seinen 


Philipp  Melanchthon.  191 

eigentlichen  Bahnen  geworfen  zu  sein.  In  Wahrheit  hat 
er  sie  nicht  verlassen  nnd  alles  das  entwickelt,  was  in  seiner 
Natur  angelegt  war,  nnd  was  das  grofie  Erlebnis  des  Zeit- 
alters,  die  Reformation,  in  einer  solchen  Natur  zn  entziinden 
vermochte.  — 

Der  hentige  Tag  regt  aufs  nene  in  nns  die  Frage  an, 
welche  innere  "Wahrlieit  nnd  welches  Recht  dem  Ideale  des 
christlichen  Humanismus  zukommt.  Heriiber  nnd  hiniiber 
wogt  der  Streit  der  Meinnngen.  Soviel  aber  ist  gewifi,  dafi 
Christentum  nnd  Antike  nicht  wie  znfallig  von  Epigonen 
zusammengeschweiJBt  sind,  sondern  dafi  bei  allem  G-egen- 
satz  anch  ein  wirklicher,  nralter  Zusammenhang  besteht. 
GewiC  ist  anch,  daJJ  nnsere  Kultnr  nnd  Gresittnng  trotz 
der  Umwalzung  nnserer  Weltanschannng  solcher  Manner 
bedarf,  die  im  Greiste  Melanchthons  zn  wirken  vermogen. 
Fiir  einen  bloBen  EUassizismus  ist  ebensowenig  Raum  nnd 
Yerstandnis  mehr  in  nnserem  Zeitalter  vorhanden,  wie  fiir 
eine  Theologie,  die  sich  gegen  die  fortschreitenden  Er- 
kenntnisse  absperren  zn  konnen  meint.  Aber  der  christ- 
liche  Humanismns  Melanchthons,  bereichert  nnd  vertieft, 
ist  auch  hente  noch  die  Kraft  unseres  hoheren  Lebens, 
und  sein  Schwert  wird  noch  immer  anfblitzen,  wo  es  gilt, 
das  Erbe  der  G-eschichte  zu  verteidigen,  den  Adel  des 
G-eistes  zn  schiitzen  nnd  die  Reinheit  der  Seele. 


ADOLF  HARNACK  -  REDEN  UND  AUFSATZE 
<&2  ERSTER  BAND  •  ERSTE  ABTEILUNG  ^ 


REDEN:  VII 
AUGUST  NEANDER 


Rede 

bei   der   Feier    zum    hnndertjahrigen   G-edachtnis    der   Geburt   August 

Neanders   gehalten   in    der  Aula    der  Keniglichen  Friedricli  Wilhelms- 

Universitat  in  Berlin  am  17.  Januar  1889. 


Die  theologische  Fakultat  hat  Sie  eingeladen,  mit  ihr 
das  Andenken  August  Neanders  festlich  zu  begehen. 
Sie  feiert  in  ihm  den  Kirchenhistoriker ,  mit  welchem, 
wie  sein  grofier  Rivale,  Ferdinand  Christian  Baur,  be- 
zeugt,  eine  neue  Epoche  der  kirchlichen  Gresehichtsschreibung 
begonnen  hat.  Sie  verehrt  in  ihm  den  beriihmtesten  und 
geliebtesten  Lehrer,  den  sie  neb  en  Schleiermacher  in 
ihrer  Mitte  besessen  hat.  Die  Aufgabe,  sein  Lebensbild 
und  seine  Bedeutung  zu  schildern,  hatte  ich  gerne  Be- 
rufeneren  iiberlassen.  Weilen  doch  in  unserer  Mitte  solche, 
die  zu  seinen  Fiifien  gesessen  haben  und  denen  das  Herz 
aufgeht,  wenn  sein  Name  genannt  wird;  erfreuen  wir  uns 
doch  noch  der  Gregenwart  des  greisen  Kirchenhistorikers, 
der  eine  unubertreffliche  Charakteristik  seines  Zeitgenossen 
Neanders  geschrieben  hat,  Karl  Hase.  Aber  auf  den  Lehr- 
stuhl  berufen,  den  Neander  einst  schmiickte  und  den  er  zu 
einem  Katheder  des  protestantischen  Deutschlands ,  ja  der 
protestantischen  Welt  erhoben  hat,  durfte  ich  mich  der 
Aufgabe  nicht  entziehen,  am  heutigen  Tage  einen  beschei- 
denen  Kranz  zu  den  FiiBen  des  groBen  Vorgangers  nieder- 
zulegen.  Mag  der  Abstand  der  Zeiten,  mag  das  Fehlen 
personlicher  Erinnerungen  dem  Bilde  den  sonnenhaften 
Glanz  versagen,  in  welchem  nur  personliche  Schiller  es  zu 
schauen  vermogen,  so  gelingt  es  vielleicht  dem  spater  G-e- 
borenen  besser,  das  Bleibende  von  dem  Verganglichen  zu 
scheiden. 

Ware  Neander  freilich  nur  ein  Virtuose  gewesen,  wie 
sie  am  Anfange  unseres  Jahrhunderts  auf  alien  Gebieten 

13* 


196  Erster  Band,  erste  Abteilung.    Eeden:  VII. 

der  Wissenschaft  neben  den  wahrhaft  grofien  nnd  fuhren- 
den  Geistern  zahlreich  waren  und  in  anregender  aber  un- 
geziigelter  Eigenart  den  Charakter  jener  merkwiirdigen 
Epoche  mitbestimmt  haben,  so  wiirden  wir  heute  seiner 
nicht  feierlich  und  dankbar  gedenken;  denn  die  Nachwelt 
flicht  dem  Virtuosen  keine  Kranze.  Aber  inmitten  jener 
Gruppe  von  enthusiastischen  Geistern  nnd  beweglichen  Ta- 
lenten  ragt  er  hervor  durch  die  Lauterkeit  seiner  Gesinnung, 
durch  die  eindringende  und  sanfte  Gewalt,  mit  der  er  eine 
neue  Betrachtung  der  Kirchengeschichte  durchgesetzt  hat, 
und  —  nicht  zuletzt  —  durch  einen  wahrhaft  bewunderungs- 
wiirdigen  Fleifi.  Und  doch  ist  damit  fur  alle,  die  ihn  ge- 
kannt  haben,  noch  nicht  das  Hochste  gesagt.  Was  sie  an 
ihm  verehrten,  wodurch  er  sie  innerlich  bezwang  und  sich 
zu  eigen  machte,  das  war  seine  christliche  Personlichkeit, 
seine  Demut  und  Einfalt,  seine  Selbstverleugnung  und 
Liebe,  der  christliche  Glaube,  in  welchem  der  Gelehrte  eben- 
so  aufging  wie  der  Mensch.  Man  kann  von  Neander  dem 
Kirchenhistoriker  nicht  sprechen,  ohne  von  Neander  dem 
Christen  zu  reden.  Und  man  darf  auch  an  dieser  Stelle 
sein  Andenken  nicht  beleben,  ohne  das  Herz  dieses  Mannes 
zu  ruhmen,  das  unbegrenzte  Wohlwollen,  das  nicht  nur 
iiberflofi  in  Gaben  der  Barmherzigkeit,  sondern  das  sich  vor 
allem  in  edelster  Freundschaft  offenbarte.  75Der  Drang 
geistiger  und  gemiitlicher  Mitteilung  war  die  Seele  seines 
Lebens." 

Als  Sohn  eines  jiidischen  Kramers  gewohnlichen  Schlags 
ist  David  Mendel  —  denn  das  war  sein  urspriinglicher 
Name  — ,  das  jungste  von  sechs  Geschwistern,  in  Gottingen 
geboren.  Fur  seine  Erziehung  war  es  entscheidend,  dafi 
die  Mutter  bald  das  Haus  des  unwiirdigen  Gatten  verliefi 
und  mit  den  Kindern  nach  Hamburg  zog.  Sie  war  eine 
fromme,  achtungswerte  Frau,  hatte  verwandtschaftliche  Be- 
ziehungen  zu  guten  jiidischen  Familien,  so  zu  Mendelssohn 
und  Stieglitz,  und  lebte  fur  ihre  Kinder.  In  Hamburg  ist 


August  Neander.  197 

der  Knabe  aufgewachsen.  Die  Mutter  machte  es  unter 
Opfern  moglich,  ihn  in  das  Johanneum  zu  schicken,  dessen 
Direktor  G-urlitt  sick  bald  fiir  den  ungewohnlichen  Zog- 
ling  interessierte.  Denn  ungewohnlich  war  er.  Korper, 
Haltung  nnd  Kleidung  waren  vernachlassigt  und  wiesen 
ihn  in  die  Klasse  jener  armen  Judenjungen,  deren  Anblick 
ein  mit  Verdrufl  gepaartes  Mitleid  erregt.  Aber  der  G-eist, 
der  in  dieser  wenig  angemessenen  Behausung  lebte,  ent- 
ging  dem  scharfen  Auge  des  Direktors  nicht  und  schlieJJ- 
lich  triumphierte  er  auch  liber  die  Spottlust  der  Mitschuler. 
Schon  hier  beginnt  die  Parallele  zu  den  Vatern  und  Asketen 
der  alten  Kirche,  die  sich  jedem  aufdrangt,  der  Neanders 
Eigenart  und  Entwickelungsgang  iiberscliaut.  Zeitlebens 
ist  er  in  kummerlicher  Hiille  geblieben.  Seine  Unbeholfen- 
heit  und  Unmiindigkeit  im  weltlichen  Lebensverkehr  sind 
in  dieser  Stadt  sprichwortlich  geworden.  Er  blieb  in  den 
aufieren  Dingen  wie  ein  Kind,  durch  und  durch  abhangig 
und  der  Bevormundung  bediirftig.  Aber  auch  dort,  wo  er 
es  vermocht  hatte,  sich  iiber  diese  Unbeholfenheit  zu  er- 
heben,  scheint  er  mit  BewuBtsein  die  G-leichgiiltigkeit  gegen 
alles  AuBere  festgehalten  zu  haben.  Sie  bildete  gleichsam 
einen  Schutzwall  seines  Daseins,  um  sich  ungestorter  und 
volliger  seinem  Berufe  hinzugeben.  So  hat  er  sich  auch 
niemals  entschliefien  konnen,  in  die  Ehe  zu  treten.  Er 
blieb  ein  Monch,  alien  weltlichen  Greschaften  abgewandt, 
aber  rastlos  arbeitend  und  Seelen  werbend. 

Ostern  1805  ging  er,  im  Qriechischen  und  Lateinischen 
der  Erste,  vom  Johanneum  zum  akademischen  Gymnasium 
iiber.  Die  Rede,  die  er  nach  Anordnung  des  Direktors 
iiber  das  Thema:  ?,De  Judaeis  optima  conditione  in  civi- 
tatem  recipiendis",  also  iiber  die  Judenemanzipation,  hielt, 
atmet  den  G-eist  Moses  Mendelssohns  und  des  18.  Jahr- 
hunderts.  Vielleicht  aber  darf  man  annehmen,  dafi  sie  mehr 
den  Gresinnungen  des  Direktors  entsprach,  der  sie  auch  mit 
Anmerkungen  zum  Druck  befordert  hat,  als  seinen  eigenen. 


198  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VII. 

Sie  machte  iibrigens  einen  gewaltigen  Eindruck.  Niemand 
hatte  das  von  dem  sonst  so  schiichternen  und  in  seinem 
Auffcreten  ungeschickten  Jiingling  erwartet. 

Aber  mochte  er  auch  voriibergehend  von  den  philoso- 
phischen  und  biirgerlichen  Idealen  der  Aufklarungszeit  be- 
riihrt  gewesen  sein  —  sclion  war  ihm  ein  anderer  Stern 
aufgegangen,  Plato,  und  wahrend  er  sich  ihm  mit  Be- 
geisterung  hingab,  fiihrte  ihm  das  akademische  Gymnasium 
zwei  Freunde  zu,  Varnhagen  von  Ense  und  Wilhelm 
Neumann,  altere  Studenten,  die  bereits  mit  Chamisso 
einen  Musenalmanach  herausgegeben  hatten.  Sie  gehorten 
der  selbstbewufit  und  kiihn  aufstrebenden  romantischen 
Schule  an  und  waren  durch  die  innigste  Freundschaft  mit- 
einander  vereinigt.  In  diesen  Bund,  der  sich  das  Zeichen 
des  JSTordsterns  als  Symbol  erwahlt  hatte,  trat  David  Mendel, 
und  er  entschied  fur  sein  Leben.  Die  Freunde  fiihrten  ihn 
in  die  Schriften  Schlegels,  Tiecks  und  Fichtes,  in 
den  Zaubergarten  der  Romantik,  ein,  und  er  lehrte  sie  den 
Plato.  Aus  der  engen  Schulstube  und  der  Welt  niichterner 
und  spiefibiirgerlicher  Ideale,  aus  einem  gedriickten  und 
kiimmerlichen  Dasein,  sah  sich  der  Jiingling  plotzlich  in 
die  Sphare  iiberschwenglicher  Herrlichkeiten  und  edelster 
Gefiihle  versetzt.  Das  Wunderland,  welches  Plato  und  die 
Neuplatoniker  entdeckt,  welches  die  Mystiker  geschaut,  Jakob 
Bohme  geheimnisvoll  beschrieben,  tat  sich  ihm  auf.  Hand 
in  Hand  mit  den  gleichgestimmten  Freunden  bestieg  er 
jenen  Nachen,  dem  der  Fahrmann  fehlt,  aber  dessen  Segel 
beseelt  sein  sollen,  um  hinauszufahren  ins  Weite,  um  das 
Universum  zu  gewinnen,  um  —  ich  rede  in  seinen  Worten 
—  aus  der  Vielheit  und  Entzweiung  die  Einheit  wieder- 
zufinden,  die  feste  klare  Kindlichkeit ,  den  absoluten  Cha- 
rakter  der  Vergottlichung.  In  diesem  Sturm  und  Drang, 
in  dem  seine  Seele  schwelgte,  war  ihm  die  Freundschaft 
der  Freunde  nicht  nur  Mittel  und  Hilfe.  Ihm  offenbarte 
sich  vielmehr  in  der  Freundschaft  die  hochste  Metaphysik 


August  Neander.  199 

selbst.  Liebe,  Universum,  G-ottheit,  Einheit,  Bruderschaft, 
das  G-ute,  —  er  lebte  in  einer  Sphare,  wo  jede  Vertauschung 
dieser  Begriffe  erlaubt,  ja  geboten  war.  Eine  Reihe  von 
Briefen  an  Chamisso  aus  jener  Epoche,  wenn  auch  etwas 
spater  beginnend,  sind  uns  aufbewahrt.  Sie  sprechen  die 
Sprache  des  Schwarmers.  Ein  brausender  Wein  schaumt 
in  diesen  Bechern.  Doch  ist  die  Kraft  der  Phantasie  ge- 
ringer  als  der  Schwung  und  die  Spekulation.  Manches  ist 
auch  nur  nachgeahmt.  Platonische,  Bohmesche,  Schelling- 
sche  und  vor  allem  auch.  Schleiermachersche  Gedanken 
klingen  in  den  Briefen  des  siebzehnjahrigen  Jiinglings  an, 
die  der  hochbegliickte  Ereund  ,,gottliche"  nennt.  Aber  bei 
allem  Uberstiirzten ,  Unklaren  und  Rhetorischen  fehlt  der 
tiefe  und  ernste  sittliche  Ton  nicht,  den  die  Produktionen 
gleichgestimmter  Ereunde  damals  nicht  selten  vermissen 
liefien.  So  kiindigte  sich  die  zukiinftige  Eigenart  ISTeanders 
schon  hier  an.  ,,Beten  und  arbeiten:  ja  das  mag  der  Grrund- 
ton  der  Musik  unseres  Bundes  sein",  schreibt  er  Chamisso  im 
April  1806.  Von  Plato  spricht  er  in  den  Briefen  und  nennt 
ihn  ,,den  vorchristlichen  Christen".  Und  wir  lesen  ferner 
dort  die  Worte:  ,,Heiliger  Heiland,  du  allein  kannst  uns  ja 
mit  diesem  profanen  Geschlecht  versohnen,  fur  das  Du  .  .  . 
ohne  dafi  es  dies  verdient,  lebtest,  littest,  starbst.  Du 
liebtest  die  Profanen,  und  wir  konnen  sie  nur  hassen,  ver- 
achten ! u 

?,Heiliger  Heiland"  —  Sie  werden  erstaunen,  diesen 
Ausruf  in  den  Worten  eines  Juden  zu  finden.  Aber  er  war 
es  bereits  nicht  mehr.  Schon  im  Februar  1806  hatte  er 
sich  taufen  lassen.  Man  darf  wohl  sagen,  dafi  Plato,  wie 
er  ihn  verstand,  d.  h.  der  Neuplatonismus ,  Plutarch  und 
Schleiermachers  Reden  iiber  die  Religion,  verklart  durch 
den  Bund  der  Freundschaft,  ihn  zu  diesem  Schritte  gefiihrt 
haben.  Wenige  Tage  vor  seiner  Taufe  schreibt  Neumann 
an  Chamisso:  ,,Wir  haben  unter  unseren  Mitstudierenden 
einen  trefflichen  Jiingling  kennen  gelernt  ....  Plato  ist 


200  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VII. 

sein  Idol  und  sein  immerwahrendes  Feldgeschrei.  Es  sitzt 
Tag  und  Nacht  iiber  ihm,  und  es  mag  wenige  geben,  die 
ihn  so  ganz  und  so  in  aller  Heiligkeit  in  sich  aufnehmen. 
Es  ist  wunderbar,  wie  er  dies  alles  so  ganz  ohne  fremden 
EinfluB  geworden  ist,  blofl  durch  Betrachtung  seiner  selbst 
und  redliches,  reines  Studium.  Ohne  von  der  romantischen 
Poesie  viel  zu  kennen,  hat  er  sie  sich  selbst  konstruiert 
und  die  Keime  dazu  in  Plato  aufgefunden.  Auf  die  "Welt 
urn  sich  herum,  hat  er  mit  tiefer  Verachtung  blicken  ge- 
lernt.« 

Wie  fur  die  Kirchenvater  Justin  und  Augustin,  so  war 
auch  fur  Johann  August  Wilhelm  Neander  —  denn 
diese  Namen  erwahlte  er  sich  nun  —  der  Platonismus  die 
Briicke  zum  Christentum  geworden.  Es  war  kein  TJbertritt 
aus  Konvenienz.  Aber  wie  Neander  niemals  ein  Jude  im 
Sinne  des  Talmud  gewesen  ist,  sondern  vielmehr  im  Sinne 
Philos,  so  irat  er  auch  nicht  zu  irgend  einem  dogmatischen 
christlichen  Bekenntnis  iiber.  Wir  besitzen  noch  den  Auf- 
satz,  welchen  er  dem  Pastor  einreichte,  der  ihn  taufte. 
Hier  ist  das  Christentum  dialektisch-romantisch  als  die  ab 
solute  Wahrheit  aus  den  Entwickelungsstufen  der  Religion 
konstruiert.  Neben  Schleiermacherschen  Elementen  tritt 
ein  Bohme-Schellingsches  deutlich  hervor.  Als  das  spezi- 
fisch  Christliche  gilt  das  Verschmelzen  mit  dem  Unendlichen, 
die  Liebe  als  die  Identitat  aller  G-egensatze,  und  der  dem 
irdischen  Staate  gegeniibergestellte  Verein  der  Seelen  zur 
Anschauung  des  Unendlichen,  die  Kirche,  deren  erste  Keime 
Neander  in  dem  Freundschaftsbunde  der  Pythagoreer  finden 
will.  Doch  fehlte  ein  kraftiges  Pathos  fiir  die  Person 
Christi  schon  damals  nicht.  Aus  der  Gruppe  der  ,,Virtuosen 
der  Religion"  tritt  der  Erloser  deutlich  hervor. 

Ostern  1806  verliefi  Neander  Hamburg,  um  Jurisprudenz 
zu  studieren.  Allein  auf  der  Reise  zur  Universitat  wurde 
es  ihm  klar,  dafi  er  Theologe  werden  miisse.  Er  ging  nach 
Halle,  um  den  Mann  zu  horen,  der  die  Grebildeten  unter 


August  Neander.  201 

den  Verachtern  wieder  zur  Versohnung  mit  der  Religion 
fiihren  wollte,  Schleiermacher,  urn  7,nicht  blofi  ein 
stummes  Mitglied  des  heiligen  Bundes  zu  bleiben,  sondern 
in  die  Reihe  derer  zu  treten,  welche  das  Christentum  mit 
der  Freiheit  des  klaren  BewuBtseins  aussprechen  und  tatig 
in  dem  inneren  Leben  der  Kirche  wirken". 

Schleiermachers  Vortrage  iiber  Kirchengeschichte  mach- 
ten  auf  den  jungen  Studenten  den  tiefsten  Eindruck.  Aber 
bald  notigten  ihn  die  politischen  Verhaltnisse ,  Halle  mit 
Gottingen  zu  vertauschen.  Dort  wurde  er,  Tag  und  Nacht 
rastlos  arbeitend,  Mittelpunkt  und  Haupt  eines  Kreises  von 
Freunden,  denen  er  Plato  und  Schleiermacher  interpretierte. 
Ungern  weilte  er  in  Grottingen,  welches  er  Philistropolis 
nannte.  Allein  der  Aufenthalt  daselbst  war  dock  hochst 
wichtig.  Hier  lernte  er  in  Planck  den  gelehrtesten 
Ejurchenhistoriker  jener  Zeit  kennen.  Unzweifelhaft  hat  ihn 
dieser  ausgezeichnete  Mann  zu  punktlichem  und  nuchternem 
Quellenstudium  angeleitet.  Der  Q-eist  der  Greschichts- 
forschung,  das  Charisma  der  Gottinger  Hochschule,  beriihrte 
den  strebsamen  Jungling  und  fdhrte  ihn  zur  Kirchenge- 
schichte.  Obgleich  andere  Bahnen  einschlagend  als  Planck, 
hat  Neander  zeitlebens  fur  den  ^teuersten  und  innigst- 
verehrten  Lehrer"  die  Gefuhle  des  Dankes  gehegt.  Nach- 
mals  als  Planck  sein  funfzigjahriges  Jubilaum  feierte,  wid- 
mete  ihm  Neander  einen  Band  seiner  Kirchengeschichte 
und  begleitete  die  Widmung  mit  folgenden  pietatsvollen 
Worten: 

7,Wenn  Sie  auch  mit  vielem  in  diesem  Werke  nicht 
zufrieden  sind,  so  werden  Sie  doch  in  dem  Streben  nach 
wohlwollender  Gerechtigkeit  den  Schiller  nicht  verkennen, 
der  von  dem  grofien  Meister  selbst,  dem  er  so  vieles  ver- 
dankt,  zuerst  gelernt  hat,  dem  suum  cuique  in  der  Auf- 
fassung  der  Geschichte  nachzustreben.  Und  Sie  werden  am 
besten  mit  Ihrer,  von  dem  Geiste  der  Liebe  verklarten,  nun 
durch  ein  halbes  Jahrhundert  erprobten  Gerechtigkeit  auch 


202  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VIL 

jeden  Ihrer  Scliiiler,  der  in  ernster  Gresinnung  arbeitet,  auf 
seinem  Standpunkt  anzuerkennen  wissen.  Daher  recline  ich 
getrost  mit  einer  von  dankbarer  Liebe  und  Verehrung  dar- 
gereichten  Grabe  auf  Ihre  JSTachsicht.  Grott  sei  gepriesen, 
dafi  er  Sie  uns  zum  Lehrer  gegeben  und  Sie  uns  so  lange 
erhalten  hat.u 

Wie  sticht  dieses  heniiclie  Zeugnis  ab  von  dem  hoch- 
miitigen  Tone,  in  welchem  schon  damals  das  neue  Theo- 
logengeschlecht  von  den  Mannern  sprach,  die  es  Rationa- 
listen  nannte! 

Bereits  wuchs  aber  Neander  in  der  Beurteilung  der 
Kirchenvater  und  des  alten  Dogmas  iiber  seinen  Lehrer 
Planck  hinaus.  Wir  haben  dafiir  ein  sehr  kostbares  Zeug- 
nis  in  einem  seiner  Grottinger  Briefe.  Er  spricht  sich  un- 
befriedigt  iiber  Plancks  Behandlung  der  Dogmengeschichte 
des  5.  Jalirhunderts  aus.  In  dieser  sei  so  vieles,  was  die 
Leute  veranlasse,  nur  auf,  ,,die  aufieren  Grimassen"  zu 
sehen  und  dann  7,das  heillose  Spiel"  zu  beweinen.  Man 
miisse  vielmehr  die  Streitenden  selbst  betrachten,  und  man 
konne  speziell  Augustin  nicht  verstehen,  wenn  man  nicht 
einsehe,  daB  seine  Theorie  auf  dem  Boden  des  religiosen 
Gefuhls  entstanden,  dann  auf  das  Gebiet  des  Verstandes 
verpflanzt  sei,  weshalb  sie  leicht  mifiverstanden  werden 
konne.  Das  ist  schon  der  ganze  spatere  Neander! 

In  den  Ferien  des  Jahres  1807  traf  Neander  in  Han 
nover  mit  einem  Professor  Frick,  in  Hamburg  mit  Matthias 
Claudius  zusammen.  Durch  diese  Manner,  welche  dem 
philosophisch-romantischem  Greiste  nicht  huldigten,  sondern 
auf  ein  biblisches  Christentum  drangen,  wurde  er  zum 
ISTachdenken  dariiber  gebracht,  ob  Schleiermacher,  Schelling 
und  Fichte  wirklich  die  klassischen  Interpreten  des  Evan- 
geliums  seien.  Seitdem  trat  die  romantische  Philosophic 
fur  ihn  in  den  Hintergrund.  Er  wandte  sich  ganz  dem 
Studium  des  Neuen  Testamentes  und  der  Kirchenvater  zu. 
Das  Historische  und  Buchstabliche  wurde  ihm  von  \Vichtigkeit 


August  Neander.  203 

gegeniiber  philosophischen  Umdeutungen.  Die  Person  Christi 
als  des  gottlichen  Erlosers  ward  ihm  zum  Mittelpunkt  seines 
inneren  Lebens  und  seiner  geschichtlichen  Betrachtung. 
Er  wufite  sich  als  ein  neuer  Mensch,  ,,mit  jener  frischen 
Innigkeit  wie  Einzelne  in  den  ersten  Jahrhunderten,  denen 
das  Christentum  nicht  angeboren  war,  sondern  die  es  gegen 
widerstrebende  Verhaltnisse  ergriffen  haben  wie  einen  Raub". 
Uber  das  glanzende  Examen,  welches  er  im  Herbst  1809 
in  Hamburg  ablegte,  berichtet  ein  Augenzeuge:  ,,N"eanders 
Erscheinung,  den  Examinatoren  sicherlich  eine  Raritat 
eigener  Art,  wenn  nicht  ein  geisterartiges  Wesen  aus 
fremden  Regionen,  setzte  die  samtlichen  Herren  sehr  bald 
in  Verwunderung  und  Erstaunen  ...  So  oft  sie  ihn  nur 
eben  anriihrten,  trat  ein  Strom  tiefer  und  gelehrter  Be- 
merkungen  und  gewissermafien  —  interessanter  Abhand- 
lungen  hervor,  der  fast  kein  Ende  nehmen  zu  konnen 
schien."  Nach  kurzer  Kandidatenzeit  ging  Neander  trotz 
aller  Bedenken  der  Seinigen  nach  Heidelberg  und  jhabiii- 
tierte  sich  dort  als  Privatdozent.  Durch  die  Berufung  De 
Wettes  und  Marheinekes  nach  Berlin  war  in  Heidelberg 
Platz  fur  einen  tiichtigen  Dozenten  geschaffen.  Mit  einer 
Abhandlung  uber  Clemens  Alexandrinus  erwarb  er  sich  im 
Jahre  1811  die  venia  docendi.  Die  Thesen,  liber  welche 
er  disputierte,  sind  hochst  interessant,  denn  sie  zeigen  schon 
einen  neuen  Greist  der  Greschichtsbetrachtung.  War  bisher 
von  protestantischen  Kirchenhistorikern  Bonifatius  als  ein 
berechnender  Romling  hingestellt  worden,  so  lautete  Nean- 
ders  1.  These:  Die  sind  im  Irrtum,  welche  die  Taten  des 
Apostels  der  Deutschen,  Bonifatius,  aus  Ehrgeiz  ableiten. 
Die  2.  trat  fur  die  wesentliche  Echtheit  der  Ignatiusbriefe 
ein,  und  ich  vermute,  auch  hierin  wird  ihm  schliefilich  die 
Kritik  Recht  geben.  In  der  10.  warf  er  dem  18.  Jahrhundert 
den  Fehdehandschuh  hin,  indem  er  unter  Berufung  auf 
einen  Ausspruch  des  Aristoteles  in  Abrede  stellte,  dafi  es 
nnaturliche  Religion"  gebe. 


204  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VII. 

Seines  Bleibens  in  Heidelberg  war  nicht  lange.  Im 
Jahre  1812  gab  er  die  kirchenhistorische  Monographie  her- 
aus:  ,,Uber  den  Kaiser  Julianus  und  sein  Zeitalter.  Ein 
historisches  Gemalde",  und  bereits  im  folgenden  Jahre, 
im  Jahre  des  Freiheitskrieges ,  wurde  er  an  unsere  neu- 
gegriindete  Universitat  berufen.  Hier  wirkten  Schleier- 
macher,  De  Wette  und  Marheineke.  Diese  jiingste 
Fakultat  gab  der  G-esamtentwickelung  der  theologischen 
Fakultaten  eine  neue  Kichtung.  Neander,  der  unsere  Hoch- 
schule  nicht  mehr  veiiassen  hat,  wurde  bald  neben  Schleier- 
macher,  von  dem  er  sich  iibrigens  im  Laufe  der  Jahre 
immer  mehr  entfernte,  der  einfluBreichste  Lehrer.  Nicht 
erst  ein  spater  Ruhm  hat  sein  Grab  beschattet;  ihm  ist 
vielmehr  die  Liebe  und  Verehrung  seiner  Schiller  und  die 
Anerkennung  seiner  Zeitgenossen  im  hochsten  Mafie  zu  teil 
geworden.  Weil  er  nichts  anderes  war  und  sein  wollte 
als  ein  akademischer  Lehrer,  diesen  Beruf  aber  im  hochsten 
Sinne  faBte  und  seinen  Studenten  sein  ganzes  Herz  ent- 
gegenbrachte,  so  ist  er  auch  von  der  akademischen  Jugend 
ergriffen  und  gleichsam  aufgesogen  worden.  Weil  er  es 
nie  vergafl,  wie  viel  sein  eigenes  Leben  der  Freundschaft 
verdankte,  ist  er  nie  miide  geworden,  sich  die  Jugend  zu 
Freunden  zu  machen  —  nicht  durch  kraftlose  Floskeln, 
sondern  indem  er  Herz  und  Hand  ihnen  hingab.  Dabei 
sprach  er  iiber  die  Erfahrungen  des  inneren  Lebens  nicht 
viel  mit  ihnen.  Unnotigen  Bekenntnissen,  wie  sie  von 
pietistisch  geschulten  Studenten  schnellfertig  ausgesprochen 
wurden,  setzte  er  nicht  selten  ein  schonendes  Schweigen 
entgegen.  Aber  jedermann  fuhlte,  was  die  Seele  seines 
Lebens  war. 

Eine  Reihe  kirchenhistorischer  Monographien  begriin- 
dete  neben  den  Vorlesungen  seinen  Euhm.  Im  Jahre  1813 
erschien  die  Monographie  iiber  den  h.  Bernhard,  1818  die 
iiber  die  gnostischen  Systeme,  1822  die  iiber  Chrysostomus 
und  sein  Zeitalter,  1825  die  iiber  Tertullian,  1832  die  iiber 


August  Neander.  205 

das  apostolische  Zeitalter,  1837  die  uber  das  Leben  Jesu. 
Dazwischen  veroffentlichte  er  Denkwiirdigkeiten  aus  der 
G-eschichte  des  kirchlichen  Lebens,  sowie  kiirzere  Studien 
und  Portrats  aus  alien  Zeitaltern  der  Kirchengeschichte, 
z.  T.  vorgetragen  in  der  Akademie  der  Wissenschaften  und 
bis  in  die  letzte  Lebenszeit  fortgesetzt.  In  diesen  Schriften 
offnete  er  viele  Tiiren,  die  bisher  verschlossen  waren.  Im 
Jahre  1826  aber  erschien  der  erste  Band  seines  Haupt- 
werks,  der  ^Allgemeinen  Greschichte  der  christlichen  Reli 
gion  und  Kirche",  die  im  Laufe  von  19  Jahren  in  10  Ab- 
teilungen  bis  Bonifatius  VIII.  gelangte  und  seit  1842  in 
neuer  umgearbeiteter  Auflage  ausgegeben  wurde.  Den 
Schlufl  des  Mittelalters  und  die  neue  Zeit  hinzuzufugen, 
ist  Neander  nicht  mehr  vergonnt  gewesen.  Schon  im  Jahre 
1847  war  zu  anderen  Leiden,  die  ihn  qualten,  ein  schweres 
Augeniibel  hinzugetreten.  Er  wurde  im  Lesen  und  Schrei- 
ben  behindert.  An  dem  11.  Bande  seiner  Kirchengeschichte 
arbeitend,  die  Schilderung  der  Grottesfreunde  diktierend,  ist 
er  fast  mit  der  Feder  in  der  Hand  am  14.  Juli  1850  hin- 
ubergescmummert.  ,,Icn  bin  miide,  ich  will  nun  schlafen 
gehen.  Q-ute  Nacht",  waren  die  letzten  Worte,  mit  denen 
er  sein  grofies  Tagewerk  beschlofi.  Die  Universitat  und  die 
Stadt  feierten  den  Entschlafenen  mit  den  hochsten  Ehren. 
Die  Studenten  trauerten  um  ihn  wie  um  einen  Vater,  und 
iiberall  in  protestantischen  Landen,  wohin  die  Kunde  seines 
Todes  drang,  gab  sich  ungeheuchelter  Schmerz  kund.  Sein 
Berufsleben,  gesegnet  durch  den  Erfolg,  dafi  er  nicht  nur 
fiir  die  Wissenschaft  gewirkt,  sondern  christliches  Leben 
entziindet  hat,  war  reich  durch  die  Teilnahme  an  grofien 
Entwickelungen ,  ist  aber  aufierlich  still  und  gerauschlos 
verlaufen.  Ich  mufi  darauf  verzichten,  es  Ihnen  zu  schil- 
dern,  zumal  da  Neanders  theologischer  und  historischer 
Standpunkt  seit  dem  Jahre  1813  wesentlich  unverandert 
geblieben  ist.  Aber  einiges  Wichtige  seiner  weiteren  Er- 
lebnisse  wird  zur  Sprache  kommen,  wenn  wir  uns  die  Frage 


206  Erster  Band,  erste  Aftteilung.     Eeden:  VII. 

beantworten:  Worin  lag  Meanders  Bedeutung  als  Kirchen- 
historiker? 

Die  Antwort  kann  nicht  zweifelhaft  sein.  Neander 
hat  lebendiges  Interesse  und  Lust  an  der  Kirchengeschichte 
erweekt,  well  er  sie  mit  dem  Auge  des  dankbaren  Freundes 
betrachtete.  Neander  hat  das  Quellenstudium  der  Kirchen- 
geschichte  belebt,  well  er  ein  grofies  Ziel  dieses  Studiums 
kannte  —  den  geistigen  Verkehr  mit  hohen  Ahnen.  Mean 
der  hat  die  Kirchengeschichte  der  Theologie  zuriickgegeben, 
weil  er  den  Pulsschlag  christlichen  Empfindens  und  Lebens 
auch  unter  fremden  nnd  sproden  Hiillen  zn  entdecken  ver- 
stand. 

In  diesen  Satzen  ist  der  Versnch  gemacht,  das  hohe 
Verdienst  der  Neanderschen  Geschichtsschreibung  aufzu- 
weisen  nnd  doch  ihre  Schranke  nicht  anBer  acht  zn  lassen. 
Wenn  die  Kirchengeschichte  eine  historische  Disziplin  im 
strengen  Sinn  sein  nnd  doch  der  Theologie  gehoren  soil, 
so  gab  es  vor  dem  Beginn  des  19.  Jahrhnnderts  eine  solche 
Kirchengeschichte  bei  nns  noch  nicht.  Die  Disziplin  hatte 
freilich  schon  grofie  "Wandelnngen  durchgemacht.  Ihr  Be- 
trieb  war  im  16.  nnd  17.  Jahrhundert  neben  hochst  dankens- 
werten  Materialsammlnngen  iiber  eine  polemisch-konfessio- 
nelle  Behandlung  nicht  hinansgekommen.  Soweit  sich  die 
Theologen  iiberhanpt  um  sie  kiimmerten  —  berufsmafiige 
Kirchenhistoriker  gab  es  an  den  theologischen  Fakultaten 
nicht  — ,  setzten  sie  dieselbe  nach  ihrer  Dogmatik  zurecht. 
Wie  das  Intherische  Kirchenrecht  nnr  eine  schwachliche, 
notdiirftig  retonchierte  Kopie  des  katholischen  war,  so  war 
anch  die  Intherische  Betrachtnng  der  Kirchengeschichte 
nnr  ein  mit  den  notigsten  Korrektnren  versehener  Ab- 
klatsch  der  katholischen.  Selbst  der  Freimnt  der  Magde- 
bnrger  Zenturien  wnrde  nicht  mehr  erreicht.  Aber  wie  die 
zweite  Halffce  des  17.  Jahrhnnderts  anf  alien  G-ebieten  Epoche 
gemacht  hat,  sofern  nach  der  triiben  Periode  der  mittel- 
alterlichen  Reaktionen  die  Gedanken  der  Renaissance  und 


August  Neander.  207 

Reformation,  freilich  zunachst  in  ungeschickten  und  ver- 
kummerten  Formen,  wieder  wirksam  zu  werden  begannen, 
so  datiert  auch  die  Kirchengeschichte  vom  Ausgang  des 
17.  Jahrhunderts  eine  neue  Epoche. 

Der  GrieCener  Professor  Gottfried  Arnold  hat  in 
seiner  7,Unparteiischen  Kirchen-  und  Ketzerhistorie"  1699 
mit  der  alten  konfessionellen  G-eschiclitsschreibung  ge- 
brochen;  ja  in  scharfstem  Gegensatz  zu  ihr  hat  er  in  dem 
Kirchenwesen,  einschliefilich  dem  lutherischen,  die  Verwelt- 
lichung  des  Christentums  erkannt,  das  Dogma  nicht  an- 
getastet,  aber  der  Gleichgiiltigkeit  preisgegeben  nnd  dagegen 
in  den  Unterdriickten ,  in  den  Monchen  und  Asketen,  in 
den  frommen  Schismatikern  und  Ketzern  die  wahren  Chri 
sten  gesehen.  Eine  ungeheuere  Wandelung!  nicht  die  Eolge 
geschichtlicher  Einsicht,  sondern  religioser  Stimmung,  ge- 
waltsam  durchgefuhrt  wie  jedes  Vorurteil,  aber  doch  be- 
herrscht  durch  die  richtige  Erkenntnis,  dafi  der  Grlaube  des 
Herzens  und  das  christliche  Leben  den  Ausschlag  zu  geben 
habe  in  der  Frage  der  Christlichkeit  iiberhaupt.  Neander 
hat  von  Arnold  in  dieser  Hinsicht  viel  gelernt;  aber  zu 
nachst  wurde  Arnolds  "Werk  in  einer  ganz  andern  Richtung 
wirksam;  denn  es  kam  dem  Greiste  des  18.  Jahrhunderts 
entgegen,  und  bald  eignete  man  sich  nur  seinen  negativen 
Teil  an. 

Das  philosophische  Zeitalter  ubernahm  von  Arnold  die 
Q-leichgiiltigkeit  gegen  die  Greschichte  und  verwandelte  sie 
in  Abneigung.  Gregen  nichts  ist  man  strenger  als  gegen 
eben  abgelegte  Irrtiimer,  und  wie  grofi  war  damals  die 
Last  der  Geschichte,  die  man  abwalzte!  Aus  dem  Mangel 
an  innerem  Interesse  an  der  Greschichte,  ja  aus  dem  Ab- 
scheu  vor  derselben  ist  die  Kritik  geboren.  Es  mufi  nicht 
immer  so  sein,  aber  damals  war  es  so.  Irre  ich  nicht,  so 
hat  auch  auf  die  deutsche  Kirchengeschichtsschreibung 
Gibbons  grofies  Werk  7,Greschichte  des  Sinkens  und  Falls 
des  romischen  Reichs"  einen  hochst  bedeutenden  Einflufi 


208  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  VII. 

am  Ende  des  18.  Jahiimnderts  ausgeiibt.  Man  bewundert 
dieses  "Werk  nach  Form  und  Inhalt  und  wird  doch  sagen 
miissen,  dafi  es  sich  nicht  lohnt,  Geschichte  zu  studieren, 
wenn  sie  nichts  anderes  bereitet  als  em  buntes  Schauspiel 
oder  einen  nur  durch  Spott  und  Ubermut  zu  bewaltigenden 
Verdrufi.  Im  Geiste  und  mit  dem  Talente  Gibbons  ist 
die  Spittlersche  Kirchengeschichte  geschrieben.  Man  ver- 
verdankt  diesem  Buche  vieles,  was  nicht  veralten  kann. 
Man  verdankt  inm  und  gleichartigen  anderen  die  Einsicht, 
dafi  eine  unmogliche  Geschichte  beschreiben  wollen,  nicht 
Geschichtsschreibung  ist,  dafi  die  Kirchen-  und  Dogmen- 
geschichte  jeglichen  Zeitalters  den  allgemeinen  Hegeln  der 
Historik  unterliegt.  Das  haben  wir  vom  18.  Jahrhundert 
gelernt,  und  das  wollen  wir  nicht  vergessen!  Aber  wie 
kummerlich  ist  andererseits  eine  Geschichtsschreibung,  die 
sich  in  den  Greist  der  Zeit,  die  sie  beschreibt,  schlechter- 
dings  nicht  zu  finden  vermag,  die  in  Athanasius  nur  einen 
Pfaffen,  in  Augustin  nur  einen  Betbruder  zweifelhafter  Ver- 
gangenheit,  in  dem  h.  Bernhard  nur  einen  herrschsiichtigen 
Schwarmer  erkennt,  die  in  Altertum  und  Mittelalter  eigent- 
lich  nur  unbegreifliche  Torheiten  oder  noch  schlimmere 
Bosheiten  erblickt!  Allein  es  ware  doch  hochst  ungerecht, 
wollten  wir  es  bei  dieser  Charakteristik  belassen.  Die 
Ki r chenhis toriker  des  18.  Jahrhunderts  haben  sich,  nachdem 
sie  sich  sozusagen  von  den  ersten  Folgen  des  grofien  Um- 
schwungs  erholt  hatten,  doch  sofort  an  die  Arbeit  gemacht, 
die  Greschichte  wirklich  zu  verstehen.  Es  ist  auch  nicht 
richtig,  dafi  sie  sich  lediglich  mit  einem  aufierlichen  Prag- 
matismus  begniigt  haben.  Sie  haben  vielmehr  riistig  damit 
begonnen,  die  inneren  Faden  aufzudecken,  die  Abhangig- 
keit  der  Kirchengeschichte  von  der  Weltgeschichte,  deren 
Teil  sie  ist,  nachzuweisen  und  die  Entwickelung  und  Ver- 
anderungen  der  Institutionen  zu  beschreiben.  Neben  anderen 
ist  hier  vor  allem  der  schon  erwahnte  Gottinger  Planck 
zu  nennen.  Allein  unleugbar  bleibt  doch,  dafi  das  wahre  Ver- 


August  Neander.  209 

standnis  ferner  Zeiten  und  ferner  Menschen  jenen  Mannern 
verschlossen  blieb,  dafl  sie  die  Elastizitat  der  Nachempfin- 
dung  vermissen  lassen,  daft  Lhnen,  mit  wenigen  Ausnahmen, 
als  Historikern  die  Liebe  fehlte,  und  dafl  sie  das  Granze  auf 
einen  kiiminerlichen  Ausdruck  brachten,  weil  ihr  eigener 
Horizont  beschrankt,  ihr  Anschauungsvermogen  fur  das 
Einzelne  diirftig  gewesen  ist,  und  weil  sie  dem  geschicht- 
lichen  Christentum  entfremdet  waren. 

Das  war  die  Lage  der  Kirchengeschichtsschreibung, 
die  Neander  vorfand.  Den  frischen  und  neuen  Zug,  den 
er  bereits  in  seiner  ersten  Monographic  iiber  Julian  be- 
kundete  —  dort  nach  Verstandnis  zu  suchen,  wo  die 
anderen  bereits  aburteilten  — ,  hat  er  nicht  als  der  Erste 
aufgebracht.  Auf  dem  Gebiete  der  Literaturgeschichte,  der 
Volker-  und  E/echtsgeschichte  war  dieser  Zug  vielmehr 
schon  lebendig.  Herder,  den  Romantikern  und  ihren  ge- 
lehrten  Schiilern  verdanken  wir  ihn.  Aber  Neander  hat 
ihn,  von  Schleiermacher  anger egt,  zuerst  auf  die  Kirchen- 
geschichte  iibertragen  und  mit  ihm  das  freudigste  und  ernst- 
hafteste  Quellenstudium ;  denn  beides  ist  Hand  in  Hand 
gegangen.  So  hat  er  als  ein  Jiinger  Christi  und  der 
Romantiker  das  kirchenhistorische  Studium  belebt,  indem 
ihm  in  alien  Zeiten  wertvolle  Erscheinungen  entgegen- 
traten,  deren  Bekanntschaft  sich  lohnte,  indem  er  das 
Evangelium  als  einen  Sauerteig  erkannte,  der  die  Welt 
durchdrungen  habe,  und  indem  er  demgemaB  den  christ- 
lichen  Geist  in  alien  Jahrhunderten  zu  entdecken  verstand; 
z.  T.  dort,  wo  ihn  bisher  niemand  gesucht  hatte.  Die 
zarteste  romantische  und  christliche  Empfindung  verband 
er  dabei  mit  einem  eisernen,  keineswegs  romantischen  FleiB. 
In  jedes  Jahrhundert  trat  er  ein,  aber  in  keines  schloJJ  er 
sich  ein,  und  durch  kein  einziges  wollte  er  sich  reichere 
Anschauungen  verengen  lassen.  Mit  welcher  Umsicht  hat 
er  geforscht,  wie  Vieles  hat  er  erzahlt,  was  niemand  vor 
ihm  erwahnt  hatte!  wie  wufite  er  die  religiosen  und  sitt- 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.Aufl.    1.  14 


210  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Beden:  VII. 

lichen  Elemente  in  ihrer  Verknupfung  zu  wiirdigen!  wie  ver- 
stand  er  es,  ans  dem  Vielerlei  die  Hauptsache  herauszufinden! 
So  arbeitete  er  mit  an  einer  neuen  Betrachtung  der  Dinge. 

Grestatten  sie  mir  hier  eine  Parallele.  Sie  schlagt  frei- 
licli  sehr  zu  gunsten  des  deutschen  und  des  protestan- 
tischen  Greistes  ans;  aber  sie  ist  gegen  den  Vorwurf  des 
Chauvinismus,  hoffe  ich,  gedeckt: 

Auch  die  Kirchengeschichtsschreibung  in  Frankreich 
ist  nach  dem  Zeitalter  Voltaires  am  Anfang  des  19.  Jahr- 
hunderts  in  eine  neue  Epoche  getreten.  Anch  hier  ist  das 
Neue  aus  der  Eomantik  geboren,  nnd  Kraft  der  Anschau- 
ung,  Freude  nnd  Anempfindnng  an  die  Vergangenheit  losten 
das  Zeitalter  des  Ubermuts  nnd  des  Spotts,  wie  in  Deutsch- 
land,  ab.  Aber  wer  ist  der  Mann  gewesen,  der  seine  Lands- 
lente  dort  znr  Kirchengeschichte  zuruckgefiihrt  hat?  Ein 
Grelehrter,  so  ernst  nnd  so  tren  wie  JSTeander?  Kernes  wegs, 
sondern  ein  zweifelhafter  Charakter,  ein  Mann,  der  niemals 
mit  voller  Hingabe  an  die  Sache  gearbeitet  nnd  es  im 
Grrnnde  mit  keiner  Wahrheit  ganz  ernst  genommen  hat,  der 
von  seiner  Bekehrnng  spricht,  weil  ihm  der  asthetische 
Heiz  dieser  Empfindung  anziehend  war,  nnd  der  das  katho- 
lische  Christentnm  fur  wahr  und  jede  Legende  fur  wirklich 
erklarte,  weil  er  sie  schon  und  erhaben  fand  —  Chateau 
briand.  Es  ist  unerfreulich,  die  Namen  Chateaubriands 
und  Meanders  nebeneinander  zu  nennen  —  Zacharias 
Werner  oder  Brentano  ware  die  richtige  Parallele,  wenn 
man  von  der  unvergleichlichen  Bedeutung  absieht,  die 
Chateaubriand  fur  die  Entwicklung  der  franzosischen 
Literatur  gehabt  hat  — ;  aber  in  ihren  Wirkungen  sind  sie 
in  hohem  Mafie  vergleichbar.  Die  vollig  romanhaften, 
selbst  die  Verklarung  des  Absurden  nicht  scheuenden  kirchen- 
historischen  Darstellungen  Chateaubriands  haben  fur  Frank 
reich  dieselbe  Bedeutung  gehabt,  wie  die  ernsten  Mono- 
graphien  Neanders  fur  Deutschland.  Aus  ihnen  hat  sich 
die  franzosische  Kirchengeschichtsschreibung  im  19.  Jahr- 


August  Neander.  211 

hundert  entwickelt,  und  es  1st  niclit  scliwer,  selbst  bei 
Re  nan  die  Einwirkungen  Chateaubriands  nachzuweisen. 
Aber  wie  im  Katholizismus  nnd  in  Frankreich  De 
Maistre  neben  Chateaubriand  gestanden  hat,  so  bezeich.net 
auch  bei  tins  Neander  nur  die  eine  Linie,  die  aus  dem 
18.  Jahrhnndert  hinausfuhrte.  Man  darf  von  Neanders 
Bedeutung  nicht  sprechen,  ohne  He  gels  und  des  grofien 
Kirchenhistorikers  Baurs  zu  gedenken.  Man  darf  das  um 
so  weniger,  als  Neander  selbst  ihrer  nur  allzuviel  gedacnt 
hat.  Das  Zeitalter  der  Aufklarung  ist  auf  dem  Gfebiete 
der  Gesehichtssehreibung  bekanntlich  nicht  nur  durch  die 
Romantiker  im  Sinne  Schleiermachers  und  Neanders  iiber- 
wunden  worden,  sondern  vor  allem  durch  Hegel.  Er  und 
seine  Schiller  haben  gelekrt,  die  G-eschichte  als  die  Ent- 
wicklung  des  Greistes  zu  verstehen,  jede  einzelne  Phase  in 
ihr  als  notwendig  zu  begreifen  und  hinter  dem  Indivi- 
duellen  das  Allgemeine  zu  ermitteln.  Urspriinglich  war 
Neander  selbst  von  dieser  spekulativen  Betrachtung  nicht 
unberuhrt;  ja  die  Aufgabe  der  genetischen  Entwicklung, 
die  er  sich  geschichtlichen  Problemen  gegenuber  stets  ge- 
stellt  hat,  und  die  Freigebigkeit,  mit  welcher  er  noch  in  seinen 
spatesten  Schriffcen  den  Begriff  des  geschichtlichen  G-esetzes 
ausgespielt  hat,  beweisen,  dafi  er  sich  dem  EinfluB  He  gels 
nicht  hat  entzienen  konnen.  Allein,  so  Trefflicnes  er  in 
ungesuchter  geschich.tlich.er  Dialektik  geleistet,  seine  Starke 
lag  nicht  in  dieser  Betrachtung.  Sie  lag  in  dem  Streben, 
das  Individuelle  geschichtlicher  Erscheinungen  griindlich 
zu  fassen  und  es  erbaulich  wirken  zu  lassen.  So  trat  er 
in  einen  von  Jahr  zu  Jahr  scharfer  werdenden  Gegensatz 
zu  Hegel,  Strauss  und  Baur,  deren  wissenschafbliche 
Methode  allerdings  Bedenken  genug  bot.  Wenn  Neanders 
G-eschichtsschreibung  die  Zusammenhange  in  der  Entwick 
lung  nicht  uberall  zu  fassen  und  den  Wert  des  Politischen, 
Nationalen  und  der  Institutionen  nicht  geniigend  zu  wiir- 
digen  verstand,  so  nahm  sich  bei  den  Hegelianern  die 

14* 


212  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VII. 

absohit  gewordene  Theorie  die  grofiten  Freiheiten.  Nean- 
der  verwischte  den  Grang  der  Entwicklung  --  man  braucht 
nur  die  unzweckmaflige  Anlage  seiner  Kirchen-  nnd  Dog- 
mengeschichte  einzusehen  — ,  aber  die  absoluten  G-eister 
losten  die  gesch.iclitlich.en  Individuen  von  jeder  Realitat 
ab,  die  nicht  zur  Idee  ihres  Tragers  passte.  Indessen  lafit 
sich  nicht  leugnen,  daft  Baur  in  seiner  Art,  die  Dinge  zu 
betrachten,  vollkommener  war  als  Neander  in  der  ihm 
eigentumlichen.  Denn  Baur  brachte  es  zur  Darstellung 
eines  groBartigen  geschichtlichen  Prozesses;  Neander  aber 
gab  seinen  Individuen  nicht  die  feste,  umrissene  Charak- 
teristik,  die  man  vom  Biographen  erwarten  darf.  Sie 
gleicheii  Sternen,  die,  von  demselben  lichten  Nebel  um- 
flossen,  schwer  zu  unterscheiden  sind.  Er  wiirdigte  sie 
eigentlich  nur  in  einer  Eichtung:  wie  weit  die  Frommig- 
keit,  die  ihn  selbst  belebte,  in  ihnen  ausgepragt  war,  und 
weit,  innig  und  liebevoll  angelegt,  zeigte  er  ein  erstaun- 
liches  und  wohltuendes  Vermogen,  frommen  Sinn  unter 
fremden  Hiillen  aufzuspiiren.  Er  sagt  nichts  Unrichtiges 
iiber  die  Personen;  aber  er  sagt  nicht  alles.  Die  Ecken 
und  Kanten  hat  er  haufig  abgeschliffen,  die  Verbindung 
mit  der  Zeitgeschichte  verkannt,  den  Lokalton  nicht  ge- 
troffen.  Daher  ermangeln  seine  geschichtlichen  Darstel- 
lungen,  besonders  die  spateren,  der  Frische ;  sie  haben  etwas 
lyrisch  Monotones.  Doch  wie  konnte  das  anders  sein  bei 
einem  Manne,  der  das  offentliche  Leben  nur  aus  Buchern 
kannte  und  der  vor  der  Natur  die  Augen  schlofi?  Neander 
selbst  gestand  offen,  dafl  er  fiir  ihre  Schonheit  und  Mannig- 
faltigkeit  keinen  Sinn  besitze. 

Aber  eine  noch  empfindlichere  Schranke  darf  hier  nicht 
unberiihrt  bleiben.  Baur  und  Hase,  Neanders  Mitstreiter 
gegen  den  Rationalismus  auf  dem  Gebiete  der  Kirchenge- 
schichte,  haben  ihre  neue  Betrachtung  der  Dinge  eingefuhrt, 
ohne  die  kritischen  Errungenschaften  des  18.  Jahrhunderts 
preiszugeben.  Von  Neander  lafit  sich  nicht  das  Grleiche 


August  Neander.  213 

sagen.  Er  blieb  zeitlebens,  wie  manche  andere  Romantiker, 
in  Bezug  auf  die  wichtigsten  kritischen  Fragen  in  einer 
unbestimmten  Mitte  stehen.  Mit  Recht  wollte  er  die  Ge- 
schichte  nicht  durcli  die  Brille  einer  philosophischen  oder 
dogmatischen  Schule  sehen.  Mit  Freinmt  erklarte  er  un- 
zweidentig  immer  wieder,  der  protestantische  Theologe 
diirfe  sich  seine  Forschung  durch  irgendwelche  Bekenntnis- 
formeln  so  wenig  einschranken  lassen  wie  durch  Macht- 
spriiclie  der  Philosophic.  Allein  es  gibt  fur  den  Kirchen- 
historiker  Fragen  —  und  sie  sind  die  entscheidenden  — , 
in  denen  nur  ein  Entweder  —  Oder  gilt,  wo  jede  Vermit- 
telung  Unklarheit  ist  und  Unheil  schafft.  In  diesen  Fragen 
hat  Neander  niemals  eine  feste  Stellung  gewinnen  konnen, 
Er  wollte  nicht  mit  der  Kritik  gehen,  ja  nicht  einmal  so 
weit  wie  Schleiermacher,  und  er  wollte  doch  andererseits 
den  Entschiedenen ,  Hengstenberg  und  seiner  Partei, 
keineswegs  recht  geben.  Wo  er  daher  auf  die  evangelische 
Geschichte,  auf  die  Frage  des  Wunders  und  des  Suprana- 
turalen  zu  sprechen  kommt,  da  ist  es  peinlich  ihm  zu  fol* 
gen.  Er  mochte  der  entschiedenen  Fragestellung  entrinnen 
und  kann  sie  doch  nicht  vermeiden.  Er  mochte  das  Herz 
sprechen  lassen  und  fiihlt  doch  sehr  wohl,  dafl  hier  der 
kritische  Verstand  das  Wort  hat.  Er  kapituliert  mit  Beiden 
und  macht  es  Keinem  recht.  Am  starksten  tritt  dieses 
Schwanken  in  seinem  Werke  uber  das  Leben  Jesu  hervor, 
Man  erfahrt  hier  vielfach  nur,  wie  Neander  sich  die  Dinge- 
zurecht  gelegt  hat.  Und  was  die  Folge  jeder  Schwache  ist,- 
die  gereizte  Stimmung,  das  stellte  sich  auch  bei  ihrn  ein. 
,,Die  Vermittler  sind  nicht  immer  die  Qerechten",  hat  er 
selbst  einmal  gesagt.  Er  wurde  in  steigendem  Mafie  er- 
bittert  und  ungerecht  gegen  Hegel  und  seine  Schule.  Hierj 
verliefi  den  sonst  so  liebevollen  Mann  die  Liebe  und  den 
sonst  so  geiibten  Historiker  die  Fahigkeit,  das  Berechtigte 
und  Gute  auch  in  fremder  Erscheinung  herauszunnden. 
Sein  Blick  in  die  durch  die  Hegelsche  Philosophie  be- 


214  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VII. 

herrschte  G-egenwart  wurde  triibe,  und  da  er  auch  im  18. 
Jahrlmndert  mehr  Schatten  als  Licht  erblickte,  so  erschie- 
nen  ihm  die  wenigen  Jahre  um  1813  wie  ein  fliichtiger 
Sonnenblick  zwisclien  Nebelziigen.  Er  schaute  dann  wohl 
aus  auf  ein  Wunder,  auf  eine  neue  Gottestat,  die  erne 
bessere,  hohere  Entwicklung  der  Kirclie  schaffen  werde. 
Allein  man  darf  hier  nicht  vergessen,  dafl  Neander  in  der 
Hegelschen  Auffassung  des  Christentums  die  vollige  Ver- 
kehrung  desselben  erkannte.  Und  er  hatte  nicht  so  Unrecht. 
Indem  das  Christentum  hier  lediglich  als  Glied  des  ge- 
schichtlichen  Prozesses  betrachtet  wurde,  ging,  nm  von 
anderem  zu  schweigen,  'die  Eigenart  und  spezifisehe  Be- 
deutung  der  Person  Christi  verloren.  Unzweifelhaft  ver- 
teidigte  also  Neander  als  Christ  nnd  als  Historiker  gegen 
Hegel,  StrauB  und  Baur  ein  hochst  wertvolles  Grut.  Selbst 
Vatke  hat  von  der  ,,heiligen  Harte"  Neanders  gesprochen, 
und  in  der  Tat  erinnert  seine  erbitterte  Polemik  gegen  die 
Hegelianer  an  die  Polemik  des  h.  Bernhard  gegen  Abalard. 
Aber  Neander  fand  fur  das,  was  er  wollte,  keinen  klaren 
und  iiberzeugungskrafbigen  Ausdruck.  Er  stand  zwischen 
zwei  Feuern,  und  er  hatte  dabei  selbst  das  Grefuhl,  nicht 
geniigend  gedeckt  zu  sein.  Die  Hegelianer  wiesen  die 
Schwachen  seiner  Geschichtsschreibung  nach,  und  Heng- 
stenbergs  Evangelische  Kirchenzeitung  begann  ihn  als 
Halbglaubigen  zu  denunzieren.  Aber  was  uns  mit  dem 
Manne  hier  versohnt,  ist  die  Beobachtung,  daft  er  sich 
durch  seinen  Gregensatz  gegen  die  Linke  nie  dazu  bestim- 
men  liefi,  ein  Eingreifen  von  auBen  in  den  Gang  der  theo- 
logischen  Entwicklung  gutzuheiJJen.  Er  kiindigte  im 
Jahre  1830  seinem  Kollegen  Hengstenberg  die  Mitarbei- 
terschaft  an  der  Evangelischen  Kirchenzeitung,  als  diese 
die  Halleschen  Professoren  G-esenius  und  Wegscheider 
bei  dem  Ministerium  auf  Grund  von  nachgeschriebenen 
Kollegienheften  angeklagt  hatte.  ^Geht  Gesenius,  so  gehe 
ich  auchu,  rief  er  aus.  Er  warnte,  vom  Ministerium  zu 


August  Neander.  215 

einem  Gutachten  aufgefordert,  davor,  StrauB'  Leben  Jesu 
zu  verbieten.  wHier  kann  alles  nur  als  willkurlicher  Macht- 
spruch  erscheinen",  schreibt  er  dem  Minister,  nwenn  nicht 
die  Grande  durch  Griinde  widerlegt  werden."  Er  blieb 
zeitlebens  unerschutterlich  bei  dem  schonen  Bekenntnis: 
TjDer  Kampf  zwischen  Irrtum  und  "Wahrheit  in  der  Theo- 
logie  liegt  fern  von  dem  Bereiche  jeder  aufierlichen 
Macht"  .  .  .  ,,Denken  wir  uns",  sagt  er,  nes  ware  einem 
einseitigen  blinden  Eifer  gelungen,  die  Scnule  eines  Origenes 
ganz  zu  unterdriicken ,  so  ware  der  ganze  naturgemafle 
Entwicklungsprozefl  der  christlichen  Lehre  mit  einem 
Male  gehemmt  worden."  ,,Leicht",  fahrt  er  fort,  ,,ergibt 
sich  die  Anwendung  dieses  Beispiels  auf  die  geistigen  Er- 
scheinungen  unserer  Zeit*)." 

Aber  noch  ein  Anderes  ist  hier  zu  nennen,   was  uns 

*)  Nock  seien  hier  zwei  bemerkenswerte  Urteile  Neanders  ange- 
fiihrt.  Im  Jahre  1830  schrieb  er:  ,,Existiert  die  theologische  Fakultat 
als  Teil  einer  Universitat,  so  folgt  auch  daraus  schon  von  selbst,  daB 
die  Theologie  als  Wissenschaft  hier  derselben  Freiheit  ihrer  Entwick- 
lung  wie  alle  anderen  Wissenschaften  genieCen  muC;  denn  die  wissen- 
schaftliche  Entwicklung  laBt  sich  ja  nicht  so  abgrenzen,  dafi  sie  in 
einem  Gebiet  beschrankt,  in  alien  iibrigen  frei  sei,  da  die  verschiedenen 
Gebiete  des  Wissens  miteinander  in  Bertihrung  kommen,  und  bei  jener 
partiellen  Beschrankung  ein  Widerstreit  im  Innern  der  so  beschrankten 
Wissenschaft  entstehen  muBte,  der,  wenn  er  nicht  durch  die  Wissen- 
schaft  selbst  geschlichtet  wird,  fiir  die  Aufrichtigkeit  der  Uberzeugung 
nicht  anders  als  die  gefahrlichsten  Folgen  haben  kOnnte.  So  wiirde 
der  Gegensatz  einer  theologischen  und  philosophischen  Wahrheit  sich 
bilden,  welcher  im  Mittelalter  und  in  den  Zeiten  nachst  vor  der  Refor 
mation  die  Larve  eines  im  Yerborgenen  schleichenden  Unglaubens  wurde 
.  .  .  .  Es  bliebe  also  in  diesem  Falle  nichts  anderes  iibrig,  als  daB  die 
theologische  Fakultat  aufhorte,  ein  integrierender  Teil  der  Universitaten 
zu  sein,  und  daB  geistliche  Seminarien  gestiftet  wiirden,  um  die  Theo 
logie  nach  einer  unabanderlichen ,  auBerlich  gegebenen  Lehrnorm  vor- 
zutragen,  und  auch  alle  anderen  von  der  Theologie  unzertrennlichen 
wissenschaftlichen  Elemente  in  so  bestimmter  Zusammensetzung  mitzu- 
teilen,  dafi  sie  nichts  mit  jener  Lehrnorm  Streitendes  enthalten  oder 
anregen  konnten.  Aber  gesetzt,  auch  dies  liefie  sich  auf  einmal  reali- 


21(5  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VII. 

den  Mann  bewunderungswiirdig  macht.  Das  ist  die  Klar- 
heit,  mit  der  er  die  Schranke  seiner  Natur  und  Bildung 
erkannt,  und  die  Offenheit,  mit  der  er  sie  bezeichnet  hat. 
Er  schreibt  in  der  Vorrede  zum  ^Leben  Jesuu,  er  werde  es 
keiner  Partei  recht  machen,  auch  den  Mannern  der  Evan- 
gelischen  Kirchenzeitnng  nicht;  denn  er  erkenne  das  Recht 
der  Kritik  an,  nnd  er  habe  keinen  starken  Grlauben  gegen- 
iiber  den  "Wundererzahlungen.  wlch  bin  von  Anfang  an 
in  meiner  religiosen  Entwicklung  zu  sehr  durch  den  Bil- 
dnngsgang  dieser  Zeit  affiziert  worden."  Eine  Eigenart, 
die  so  klar  iiber  sich  selbst  sieht,  ist  in  sich  auch  berech- 

sieren,  wiirden  niclit  die  aus  solchen  Seminarien  hervorgehenden  Theo- 
logen  doch  nachher  von  den  vorhandenen  Elementen  der  wissenschaft- 
lichen  Geistesbildung  feindlich  beriihrt  werden,  und  miifite  ihnen  niclit 
der  unerwartete  Kampf,  zu  dem  sie  niclit  gertistet  waren,  desto  gefahr- 
licher  werden?  Und  wie  kttnnten  sie  durch  die  Macht  des  Evangeliums 
auf  ihre  Zeit  recht  einwirken,  wenn  sie  nicht  das  geistige  Leben  der- 
selben  nach  seinen  mannigfachen  Elementen  aus  eigener  Anschauung 
und  Erfahrung  kennen  gelernt  hatten?"  Und  gegen  Hengstenberg  im 
Februar  1836:  ,,Da  ich  soeben  das  Vorwort  zur  Evang.  Kirchenzeitung 
vom  Monat  Januar  gelesen  habe  und  daraus  ersehe,  wie  hier  von  dem 
Standpunkt  einer  alleinseligmachenden  Dogmatik  alien  verschiedenen 
eigentiimlichen  theologischen  Eichtungen  Mafi  und  Ziel  gesetzt  werden 
soil,  so  fiihle  ich  mich  gedrungen,  festhaltend  an  dem  einen  Grunde, 
der  Christus  ist,  vor  dem  sich  beugen  muB  jedes  Knie,  aufs  neue  in 
dem  Geiste  der  Liebe  und  der  Freiheit,  der  von  Ihrn  kommt,  zu  pro- 
testieren  gegen  jedes  Papsttum,  welcher  Art  es  sein  moge,  das  die 
Geister,  die  Gott  geschaffen  hat  in  unendlicher  Mannigfaltigkeit  zu 
seiner  Verherrlichung  und  deren  Leitung  Er  sich  vorbehalt,  am  Gangel- 
bande  fiihren  zu  kcmnen  meint,  und  gegen  jedes  von  solchem  Papsttum 
zurecht  gemachte  Prokrustesbett.  Leicht  ist  es,  konsequent  zu  sein, 
wenn  man  schnell  abschlieCt  und  fertig  ist,  schwer,  wenn  man  das  Ge- 
wissen  der  Wahrheit  immer  offen  halt  nach  alien  Seiten  und  im  sauren 
Kampf e  mit  sich  selbst  sich  gedrungen  fiib.lt,  immer  mehr  inne  zu 
werden,  dafi  all  unser  Wissen  Stiickwerk  ist  und  bleibt.  Wir  ko°nnen 
nicht  umhin,  zu  warnen  vor  jener  Konsequenz  in  der  Beschranktheit, 
welche  so  leicht  mit  anmaCendem  Absprechen  oder  Geistestragheit 
sich  paart."  [Neander  meint  im  letzten  Satze  nicht  Hengstenberg  selbst, 
sondern  einen  groBen  Teil  der  Anhanger  desselben.] 


August  Neander.  217 

tigt;  ja  die  Kraft  ihrer  Wirksamkeit  hangt  wahrscheinlich 
auch  von  dieser  Mischung  des  Gregensatzlichen  ab.  Wir 
konnen  die  Parteien  von  rechts  und  links  verstehen,  die, 
als  der  Kampf  der  Prinzipien  sich  verscharfte,  iiber  Nean 
der  hinwegschritten ;  aber  wir  mussen  auch  den  Mann  ver 
stehen,  der,  seiner  Anlage  und  Bildung  gemafi,  sich  zu 
entschiedener  Stellungnahme  nicht  drangen  lieB.  Als  Schii- 
ler  der  Romantiker  wollte  er  das  Hochste,  was  er  besafi, 
gleichsam  gestaltlos  besitzen:  ,.pectus  est  quod  theologum 
facit."  Als  Christ  suchte  er  nach  einem  Ausdruck  fiir 
das  lebendige  Christentum ,  der  von  den  Erwagungen  des 
Verstandes  unberuhrt  bliebe.  Er  vermochte  nicht,  ihn  zu 
gewinnen,  weil  er  in  sein  Christentum  Uberlieferungen 
hineinzog,  die  sich  gegen  die  Kritik  nicht  absperren  lassen. 
Aber  was  ihm  vorschwebte,  war  doch  ein  Bichtiges. 

Sein  Einflufi  auf  die  Folgezeit  ist  ein  doppelter  ge- 
wesen.  Einerseits  hat  er,  wie  ich  es  zu  schildern  versucht 
habe,  das  kirchenhistorische  Studium  neu  belebt,  Seelen  fiir 
das  Evangelium  gewonnen  und  in  seiner  Person  ein  hohes 
Vorbild  der  Frommigkeit  und  des  FleiJBes  gegeben.  An- 
dererseits  ist  die  Innuenz  seiner  Eigenart  auf  seine  Schiller 
und  auf  den  Grang  der  Entwicklung  der  kirchlichen  Dinge 
nicht  durchweg  giinstig  gewesen.  Die  Entstehung  eines 
Virtuosentums ,  hinter  dem  sich  Dilettantismus  und  Un- 
sicherheit  verbargen,  hat  er  nicht  kraftig  genug  abgewehrt*). 


*)  Neander  hat  die  Notwendigkeit  und  den  Wert  kirchlicher  Ge- 
staltungen  verkannt,  aber  auch  niemals  darnach  getrachtet,  direkten 
Einflufl  auf  die  Entwicklung  der  kirchlichen  Dinge  zu  gewinnen.  Bei 
seinen  Schiilern  wurde  das  z.  T.  anders;  sie  wollten,  resp.  sie  mufiten 
Stellung  nehmen  zu  den  neuen  Fragen  der  Gestaltung  der  Kirche.  Aber 
durch  die  Pektoraltheologie  ungeniigend  fiir  dieselben  vorbereitet,  haben 
sie  vielfach  gefahrliche  und  unsichere  Wege  eingeschlagen ,  sieh  ledig- 
lich  auf  ihr  eigenes  christliches  und  kirchliches  Gefiihl  verlassend.  Man 
sieht  leicht,  daC  Neander  hieran  keine  Schuld  tragt  —  er  stellte  iiberall 
die  h<3chsten  wissenschaftlichen  Anforderungen  — ;  aber  er  ist  doch 
durch  seine  Eigenart  als  Kirchenhistoriker  mit  daran  schuld  gewesen. 


218  Erster  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VII. 

Dem  Aufkommen  einer  Bichtung,  welclie  die  Probleme 
verschleierte  und  den  Gregensatzen  die  Spitze  abbrach,  hat 
er  wider  seinen  Willen  Yorscliub  geleistet.  "Was  bei  ihm 
individuell  berechtigt  war,  war  es  bei  vielen  seiner  Schiller 
nicht  mehr.  Eine  grofie  Anzahl  mag  das  selbst  gefuhlt 
haben.  Sie  zog  sich  in  den  sicheren  Hafen  zuriick,  als  in 
den  fiinfziger  Jahren  das  eintrat,  was  wir  alle  kennen. 
Man  kann  diesen  Ruckzug  wohl  verstehen;  denn  der  Sub- 
jektivismus,  dem  Neander  das  Wort  redete,  ist  in  der  G-e- 
staltung  des  Kirchenwesens  nicht  unbedenklich.  Wenn  der 
strenge  Symbolzwang  nicht  mehr  aufrechtzuerhalten  ist, 
so  ist  es  vielleicht  noch  gefahrlicher,  ein  enges  Bekenntnis 
schwachlich  und  unsicher  zu  handhaben;  denn  unter  solchen 
Umstanden  ist  die  Kirche  der  theologischen  Willkiir  irgend 
eines  einflufireichen  Mannes  von  links  oder  rechts  preisge- 
geben,  der  es  versteht,  zeitweilig  die  Herrschaft  zu  ge- 
winnen  und  seine  Theologie  gleichsam  zum  Symbol  zu  er- 
heben.  Diese  Grefahr  aber  drohte  bei  der  Haltung,  die 
Neander  eingenommen  und  vielen  seiner  Schiller  iiberliefert 
hat.  Allein  so  lange  wir  kein  festes  und  weites  Bekennt 
nis  besitzen,  das  streng  gehandhabt  werden  kann  —  der 
Versuch  von  Nitzsch  und  anderen,  ein  solches  auf  der 
Generalsynode  1846  zu  schaffen,  ist  bekanntlich  gescheitert, 
—  so  lange  miissen  wir  den  Q-efahren  mit  Greduld  und 
Weisheit  zu  begegnen  suchen,  die  mit  dem  gegenwartigen 
Zustande  verkniipft  sind.  Wie  aber  auch  die  Dinge  sich 
weiter  gestalten  mogen  —  jede  kirchliche  Partei  und  jede 
Richtung  der  protestantischen  Theologie  wird  das  Andenken 
des  Mannes  in  hohen  Ehren  halten,  den  wir  heute  feiern, 
well  er  keiner  Partei  dienen  wollte,  sondern  der  Kirche 
Jesu  Christi. 


ADOLF  HARNACK  •  REDEN  UND  AUFSATZE 
ERSTER  BAND  •  ZWEITE  ABTEILUNG  <&2 


AUFSATZE: I 

DAS  APOSTOLISCHE  GLAUBENSBEKENNTNIS 

EIN  GESCHICHTLICHER  BERICHT  NEBST  EINER 
EINLE1TUNG  TJND  EINEM  NACHWORT 


Dem  Aufsatz  iiber  das  apostolisclie  G-laubensbekenntnis 
stelle  ich  den  Artikel  aus  der  Zeitschriffc  ,,Die  Christliche 
Welt",  1892,  No.  32  v.  18.  August  voran,  der  mir  heftige 
Angriffe  zuzog  und  mich  notigte,  in  einer  kurzen  Dar- 
stellung  einen  geschichtlichen  Bericht  iiber  die  Entstehung 
des  Grlaubensbekenntnisses  zu  geben.  Dieser  erschien 
wenige  Wochen  spater  bei  A.  Haack  (Berlin  N"W,  Doro- 
theenstraBe  55).  Er  ist  hier  mit  unbedeutenden  Verande- 
rungen  nach  der  26.  Auflage  (1892)  abgedruckt.  Alle 
Auflagen  trugen  den  Vermerk,  den  ich  auch  jetzt  wieder- 
hole :  Auf  Mitteilung  zahlreicher  Belege  zu  den  nackfolgen- 
den  Ausfukrungen  habe  ich  verzichten  miissen.  Die  Vor- 
fuhrung  des  gesamten  Materials  wiirde  viele  Bogen  er- 
fordert  haben. 

Seit  dem  J.  1892  ist,  namentlich  durch  Kattenbusch, 
die  Untersuchung  des  apostolischen  Symbols  sehr  gefordert 
worden,  vgl.  meinen  Artikel  7,Apost.  Symbol"  in  der  3.  AufL 
der  Protest.  Real-Encyklopadie. 


In  Saclien  des  Apostolikums. 

Vor  einigen  Woclien  kam  zu  Professor  Harnack  in  Berlin  eine 
Abordnung  Studierender  mit  der  Frage,  ob  er  ihnen  raten  konne,  mit 
andern  preuflischen  Studenten  der  Theologie  in  Anlafi  des  Falls  Schrempf 
eine  Petition  an  den  Evangelischen  Oberkirehenrat  zu  richten  urn  Ent- 
fenmng  des  sogenannten  Apostolikums  aus  der  Verpflichtungsformel 
der  Q-eistliclien  und  aus  dem  gottesdienstlichen  Gebrauch.  Professor 
Harnack  hat  hierauf  in  seinem  Kolleg  iiber  neueste  Kirchengeschichte 
geantwortet  und  den  Inhalt  dieser  Antwort  in  folgenden  Satzen  den 
Fragestellern  zugehen  lassen.  [Anrnerkung  des  Herausgebers,  D.  Bade.] 

Antwort  auf  die  Frage,  ob  dem  Unterzeichneten 
eine  Eingabe  an  den  Evangelischen  Oberkirchenrat 
um  Abs chaff ung  des  Apostolikums  seitens  der  Theo- 
logie-Studierenden  ratsam  erscheint. 

1.  Ich  teile  mit  den  Fragestellern  die  Ansicht,  dafl  es 
der  evangelischen  Kirche  ziemen  wiirde,   an  die  Stelle  des 
Apostolikums  oder  neben  dasselbe  ein  kurzes  Bekenntnis  zu 
setzen,  das  das  in  der  Reformation  und  in  der  ihr  folgenden 
Zeit  gewonnene  Verstandnis  des  Evangeliums  deutlicher  und 
sicherer  ausdriickte  und  zugleich  die  Anstofle  beseitigte,  die 
jenes  Symbol  in  seinem  Wortlaut  vielen  ernsten  und  auf- 
richtigen  Christen,  Laien  und  Greistlichen,  bietet. 

2.  Ich  halte  mit  den  Fragestellern  den  Fall  Schrempf 
fur   einen  gegebnen,  ja  gebotnen  Anlafi,    die  Frage  nach 
der  Geltung  und  dem  Grebrauch  des  Apostolikums  in  den 
evangelischen  Kirchen  wieder   anzuregen   und   sich   durch 
die  voraussichtliche  Erfolglosigkeit  in  der  Gegenwart  von 


222  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

solcher  Anregung  nicht  abschrecken  zu  lassen.  Ich  bin  der 
Meinung,  dafi  die  Generalsynoden  der  evangelischen  Kirchen 
keine  ernstere  und  brennendere  Aufgabe  haben  als  die,  die 
Bekenntnisfrage  freimiitig  zu  erwagen. 

3.  Bei   solchen  Bemiihungen  ist  aber  nicht  die  Parole 
auszugeben:    ,,Das  Apostolikum  soil  abgeschafft   werden"; 
denn  eine  solche  Parole  wiirde  zur  Waffe  in  der  Hand  der 
Gregner  des  Christentums  werden,  wiirde  dem  hohen  reli- 
giosen  Werte   und    dem   ehrwiirdigen  Alter   des  Apostoli- 
kums    gegeniiber   eine  Ungerechtigkeit  sein,  wiirde  ferner 
eine  Vergewaltigung  der  evangelischen  Christen  bedeuten, 
die  ihren  G-lauben  voll  nnd  ohne  Anstofi  im  Apostoliknm 
ansgedrtickt  finden,  und  wiirde  endlich  der  Art  nicht  ent- 
sprechen,  in  der  sich  die  Kirchen  der  Reformation  zu  den 
Grlaubenszeugnissen  der  Vergangenheit  gestellt  haben  und 
so  lange  stellen  miissen,  bis  sie  die  Kraft  zu  einer  neuen 
reformatorischen  Tat   oder  eine  neue  reformatorische  Per- 
sonlichkeit  erhalten. 

4.  Daher  kann  zur  Zeit  jegliche  Bemiihung  nur  darauf 
ausgehen,  entweder  das  Apostolikum  aus  dem  liturgischen 
Grebrauch  zu  entfernen,  oder  doch  den  Gremeinden  die  Mog- 
lichkeit  zu  gewahren,  es  nicht  zu  brauchen,  oder  es  durch 
eine  andre  evangelische  G-laubensformel  zu  ersetzen. 

5.  Diese  Bemiihungen  werden  aber  nur  dann  eine  ge- 
wisse  Aussicht  auf  Erfolg  erlangen,  wenn  man  das  kurze 
G-laubensbekenntnis,  das  man  an  Stelle  des  oder  neben  dem 
Apostolikum  wiinscht,  wirklich  zu  formulieren  und  zu  pro- 
duzieren  vermag,  und  wenn  es  an  Grestalt  und  Ejraft  dem 
alten  iiberlegen  ist.     In  den  Kirchen  darf  man  —  in  noch 
hoherm  MaBe  als  im  Staatsleben  —  nur  negieren,  indem 
man    baut.      Jede    andre    Tatigkeit    ist   von   Ubel;    blofie 
Wiinsche  aber  nach  einem  neuen  Bekenntnis  tun  es  nicht, 
so  wohl  gemeint  und  so  ernst  gefafit  sie  auch  sein  mogen. 

6.  Die  Anerkennung  des  Apostolikums  in  seiner  wort- 
lichen  Fassung  ist  nicht  die  Probe  christlicher  und  theolo- 


Das  apostolische  Glaubensbekenntnis.  223 

gischer  Reife;  im  Gegenteil  wird  ein  gereifter,  an  dem  Ver- 
standnis  des  Evangeliums  und  an  der  Kirchengeschichte 
gebildeter  Christ  AnstoJJ  an  mehreren  Satzen  des  Apostoli- 
kums  nehmen  miissen.  Allein  umgekehrt  darf  man  auch 
von  dem  gereiften  und  gebildeten  Theologen  erwarten,  dafi 
er  soviel  geschichtlichen  Sinn  besitzt,  um  sich  von  dem 
hohen  "Wert  und  dem  groflen  "Wahrheitsgehalte  des  Apostoli- 
kums  zu  iiberzeugen  und  eine  positive  Stellung  zu  seinem 
Grand gedanken  zu  gewinnen,  die  es  ihm  ermoglicht,  ein 
altes  Zeugnis  seines  eignen  Glaubens  in  dem  Apostolikum 
zu  erkennen. 

7.  Auf  alle  einzelnen  Satze  des  Symbols  in  ihrer  wort- 
lichen  Fassung  lafit  sich  diese  positive  Stellung  allerdings 
nicht  ausdehnen.     Aber  hier  darf  die  dreifache  Erwagung 
eintreten,   dafi  a)  die  evangelische  Kirche  selbst  nicht  bei 
alien  Satzen  des  Symbols  die  urspriingliche  wortliche  Fas- 
sung  aufrecht  erhalt  (,,Gemeinschaffc  der  Heiligen");  b)  dafi 
ein  Satz  der  Lehre  des  Paulus  widerspricht  (,,Auferstehung 
des  Fleisches")  und  daher  auch  nach  den  Grundsatzen  der 
evangelischen  Kirche  in   seiner   wortlichen   Fassung   nicht 
aufrecht  erhalten  werden  darf;  und  dafi    c)  alle  Einzeltat- 
sachen,  zu  denen  der  Christ  sich  bekennt,  nicht  als  nackte 
Tatsachen,  sondern  um  der  unsichtbaren  Beziehungen  und 
Werte  willen,   die  der  Glaube  an  ihnen  wahrnimmt,  Satze 
des  Glaubensbekenntnisses  sind. 

8.  Diese  Erwagungen  reichen  gegeniiber  einem  Satze 
des  Apostolikums   allerdings  noch  nicht  aus  (,,Empfangen 
vom   heiligen   Geist,    geboren   aus    der   Jungfrau   Maria"), 
denn  hier  wird   als  Tatsache  etwas  behauptet,   was  vielen 
glaubigen  Christen  unglaublich  ist,    und  was  eine  in   der 
Kontinuitat    der    sonstigen   kirchlichen   Umdeutungen   lie- 
gende  Umdeutung  deshalb  nicht  zulaflt,  weil  man  es  in  sein 
Gegenteil  umdeuten  miiJBte.     Hier  liegt  also  ein  wirklicher 
Notstand  vor  fiir  jeden  aufrichtigen  Christen,  der  dies  Sym 
bol  als  Ausdruck  seines  Glaubens  brauchen  soil  und  sich 


224  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

doch  nicht  von  der  "Wahrheit  jenes  Satzes  iiberzeugen  kann. 
Als  die  einfachste  Losung  erscheint  die,  dafi  solche,  die 
jenen  Satz  nicht  anerkennen,  nicht  Geistliche  werden  und 
bleiben,  und  dafl  auch  die  Laien,  die  in  derselben  Lage 
sind,  sich  von  der  Kirche,  die  jenes  Symbol  aufrecht  er- 
halt,  zuriickziehen  sollen.  In  der  Tat  kann  man  denen,  die 
sich.  in  ihrem  Gewissen  gezwungen  sehen,  so  zu  handeln, 
nur  ernstlich  zureden,  nicht  wider  ihr  Gewissen  zn  tun,  denn 
wider  das  Grewissen  zu  handeln  ist  der  hochste  Schrecken. 
Allein  es  steht  nicht  so,  dafi  die  Gewissenhaffcigkeit  solcher 
Manner  allgemeines  Gesetz  werden  miifite.  Wenn  um  eines 
einzelnen  Satzes  willen,  der  mindestens  nicht  im  Zentrum 
des  Christentums  steht,  die  Fahigkeit,  die  Gemeinde,  in  die 
man  hineingeboren  ist,  zu  erbauen  und  an  ihrem  innern 
Leben  teilzunehmen,  aufgehoben  sein  sollte,  so  konnte  eine 
religiose  Gemeinde  iiberhaupt  nicht  bestehen.  Denn  wie 
ware  es  moglich,  Institutionen  der  Lehre  und  des  Kultus 
zu  schaffen,  die  in  jedem  Stuck  die  Uberzeugung  aller 
wiedergeben  und  niemandem  zum  Anstofi  gereichen,  und 
wie  ist  es  denkbar,  dafi  diese  Institutionen  sofort  jeder  — 
sei  es  auch  erprobten  —  "Wandlung  des  christlichen  Ver- 
standnisses  folgen?  Es  ist  also  nicht  Gewissenlosigkeit, 
sondern  eine  haltbare  und  sittlich  zu  rechtfertigende  Po 
sition,  die  der  einnimmt,  der  in  der  Kirche,  sei  es  auch 
als  Lehrer,  bleibt,  der  an  jenem  Stuck  und  an  ahnlichen 
Anstofi  nimmt. 

Aber  dieses  Bleiben  ist  freilich  nur  dann  sittlich  ge- 
rechtf ertigt ,  wenn  der  betreffende  Theologe  a)  mit  dem 
Grundgedanken  seiner  Kirche  ubereinstimmt;  b)  dort  wo  er 
auf  das  Verstandnis  —  sei  es  auch  das  gegnerische  —  rech- 
nenkann,  von  seiner  abweichenden  Meinung  keinHehl  macht; 
und  c)  in  den  Grenzen,  die  ihm  durch  seinen  Beruf  ge- 
geben  sind,  fur  die  Abschaffung  des  Notstandes  wirkt.  In 
einem  solchen  befindet  er  sich  wirklich;  darum  —  wie  er 
einerseits  nicht  verpflichtet  ist,  seine  Kraft  seiner  Kirche, 


Das  apostolische  Glaubensbekenntnis.  225 

die  keine  Gesetzeskirche  1st,  deshalb  zu  entziehen,  so  1st  er 
andrerseits  verpflichtet,  an  seinem  Teil  an  der  Hebung  des 
Notstandes  zu  arbeiten.  Nur  so  bewahrt  er  sich  ein  gutes 
Gewissen.  Die  Art  der  Arbeit  wird  aber  je  nach  Beruf 
und  Fahigkeit  eine  verschiedne  sein.  Das  Recht  und  die 
ungemeine  Kraft,  die  eine  offentliche  Agitation  verlangt, 
werden  wohl  die  wenigsten,  wenn  sie  sich  priifen,  in  sich 
finden.  Auch  haben  laute  Agitationen  oft  den  entgegen- 
gesetzten  Erfolg. 

9.  Die  Frage,  ob  zukiinftige  Geistliche,  die  zur  Zeit 
noch  Stndenten  der  Theologie  sind,  in  Hinblick  auf  ihre 
Zukunft  berechtigt  sind,  in  eine  Bewegung  fur  Abschaffung 
des  Apostolikums  einzutreten,  vermag  ich  nur  zu  verneinen 
und  zwar  aus  folgenden  Griinden: 

a)  weil   die   Parole    ,,Abschaffung    des   Apostolikums" 
uberhaupt  eine  falsche  ist  (s.  oben); 

b)  weil,  auch  wenn  man  die  Aufgabe  in  den  Grenzen 
halt,  die  oben  gezeichnet  sind,  m.  E.  Studierende  in  solcheii 
Fragen,  wie  die  vorliegende  ist,  uberhaupt  nicht  offentlieh 
ein  Urteil  abgeben  sollen; 

c)  weil   die  Behandlung    dieser   besondern  Frage  eine 
christliche  und  wissenschaftliche  Reife  voraussetzt,  die  die 
Studierenden  hochstens  am  Ende  ihrer  Studienzeit  erwerben 
konnen,  eine  Agitation  aber  unfehlbar  auch  die  jungen  und 
jiingsten   Studierenden   miter greif en,    so   zu   einem    hochst 
bedenklichen  und   unerfreulichen  Schauspiel  werden,  viele 
Gewissen  nur  verwirren  und  nicht  wenigen  sehr  bald  eine 
peinliche  Reue  eintragen   wiirde   (siehe   auch   insbesondere 
noch  das  unter  No.  5  bemerkte). 

Indem  ich  die  Absicht  und  den  Wunsch,  aus  denen 
die  Frage  hervorgegangen  ist,  ehre,  vermag  ich  den  Frage- 
stellern  schliefilich  zwei  Winke  zu  geben,  durch  deren  Be- 
folgung  sie  angemessener  und  sicherer  das  erreichen  wer 
den,  was  sie  wiinschen: 

Hai-nack,  Reden  nnd  Aufsatze.    2.  Aufl.    I.  15 


226  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

Erstlich,  fleifiiges  Studium  der  Dogmengeschichte  und 
Symbolik,  damit  ein  wirkliches  Verstandnis,  wie  fiir  den  ur- 
spriinglichen  Sinn  der  Bekenntnisse,  so  fiir  die  Q-eschiclite 
der  Wandlung  ihres  Verstandnisses  —  oft  bis  zu  einem 
ganz  neuen  Sinn  -  -  erworben  werde,  und  damit  man  sich 
aueh  in  scheinbar  oder  wirklich  fremde  Anschanungen  zu 
finden  lerne  und  ihnen  den  Wahrheitsgehalt  abzugewinnen 
verstehe. 

Sodann,  Festigkeit  in  den  auf  der  Universitat  etwa 
gewonnenen,  von  der  sogenannten  oder  wirklichen  Tradi 
tion  abweichenden  religiosen  Uberzeugungen,  damit  bei  dem 
Eintritt  ins  Amt  nicht  in  kurzer  Zeit  das  wieder  wegge- 
spiilt  oder  rait  gebrochenem  Grewissen  beiseite  geschoben 
wird,  wo  von  man  sich  doch  einst  iiberzeugt  hatte.  Agita- 
tionen  tun  es  nicht,  am  wenigsten  wenn  sie  von  noch  niclit 
geniigend  reifen  Personen  ausgehen.  Wenn  aber  alle  als 
Manner  im  kirchlichen  Amt  die  Ideale  treu  und  fest  halten, 
die  sie  als  Jiinglinge  erworben  haben,  dann  kommt  gewifi 
eine  goldne  Zeit  fur  die  Kirche  Jesu,  und  auch  die  ETot- 
stande,  die  jetzt  ertragen  werden  miissen,  werden  aufhoren. 

Anhang.  Der  wesentliche  Inhalt  des  Apostolikums 
besteht  in  den  Bekenntnissen,  dafi  in  der  christlichen  Re 
ligion  die  Griiter  7,heilige  Kirche",  ^Vergebung  der  Siinden", 
,,ewiges  Leben"  geschenkt  sind,  dafi  der  Besitz  dieser  Griiter 
dem  Q-lauben  an  Grott,  den  allmachtigen  Schopfer,  an  seinen 
Sohn  Jesus  Christus  und  an  den  heiligen  G-eist  zugesagt 
1st,  und  dafi  sie  durch  Jesus  Christus  unsern  Herrn  ge- 
wonnen  sind.  Dieser  Inhalt  ist  evangelisch. 


I. 

Wenn  man  den  Wortlaut  des  apostolischen  Symbols 
zuriickverfolgt  aus  unseren  Katechismen  und  Drucken  zu 
den  altesten  Drncken  und  aus  ihnen  zu  den  Handschriften 
und  zu  den  Werken  der  spateren  Kirchenvater,  so  gelangt 
man  etwa  bis  um  das  Jahr  500.  Mcht  nur  lafit  sich  der 
heute  bei  den  Protestanten  und  Katholiken  gebrauchte 
Wortlaut  nicht  welter  zuriickverfolgen,  sondern  es  sprechen 
auch  starke  Griinde  dafur,  daB  er  vor  dem  Ende  des  5.  Jahr- 
hunderts  so  nicht  existiert  hat.  "Wir  treffen  aber  diese 
Form  des  Symbols  um  diese  Zeit  in  der  siidgallischen 
Kirche  an,  und  nur  in  ihr.  Daraus  folgt:  das  aposto- 
lische  Glaubensbekenntnis  in  seiner  heutigen  Form  ist  das 
Taufsymbol  der  siidgallischen  Kirche  seit  der  Mitte  be- 
ziehungsweise  seit  der  zweiten  Halfte  des  5.  Jahrhunderts. 

Von  Siidgallien  zog  das  Symbol  in  das  Frankenreich  ein 
und  hat  sich  mit  der  Ausdehnung  dieses  Reiches  verbreitet. 

Durch  die  Beziehungen  der  Karolinger  zu  Rom  kam 
es  in  die  Welthauptstadt  -  -  wenigstens  ist  es  uns  nicht 
bekannt,  dafi  dies  fruher  geschehen  ist,  —  wurde  dort 
rezipiert,  und  nun  verbreitete  es  Rom  in  alien  Land  era 
des  Abendlandes,  so  dafi  man  es  seit  dem  9.  oder  10.  Jahr- 
hundert  auch  das  neuromische  Symbol  nennen  kann:  das 
nneuromische",  weil  es,  wie  sich  zeigen  wird,  auch  ein  alt- 
romisches  Symbol  gegeben  hat. 

Das  Symbol  gibt  sich  aber  mindestens  von  der  an- 
gegebenen  Zeit  ab  keineswegs  als  ein  provinzialkirchliches, 
vielmehr  fordert  es  die  hochste  Autoritat,  indem  es  im 
strengsten  Sinne  des  Worts  ,,apostolischu  d.  h.  von  den 
Aposteln  verfaBt  sein  will.  Diese  Vorstellung  war  damals 

15* 


228  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

so  ausgepragt,  dafi  jeder  der  zwolf  Apostel  einen  Satz  bei- 
gesteuert  habe.  So  oder  ahnlich  lautete  die  allgemeine 
tfberlieferung:  ,,Am  zelmten  Tage  nach  der  Himmelfahrt, 
als  die  Jiinger  aus  Furcht  vor  den  Juden  yp.rsa.Tn mp.lt 
waren,  sandte  der  Herr  den  versprochenen  Troster  (den 
heiligen  Qeist).  Sie  wurden  durch  sein  Kommen  entziindet 
wie  ein  gluhendes  Eisen,  mit  der  Kenntnis  aller  Sprachen 
erfullt  und  verfafiten  das  Symbol.  Petrus  sprach:  ,,Ich 
glaube  an  G-ott,  den  allmachtigen  Vater,  den  Schopfer 
Himmels  und  der  Erde",  Andreas  sprach:  wUnd  an  Jesus 
Christus,  seinen  eingeborenen  Sohn,  unseren  Herrn",  Jako- 
bus  sprach:  ^Der  empfangen  1st  vom  heiligen  Greist,  ge- 
boren  aus  Maria  der  Jungfrau",  Johannes  sprach:  ^Q-elitten 
unter  Pontius  Pilatus,  gekreuzigt,  gestorben  und  begraben", 
Thomas  sprach:  ^Niedergefahren  in  die  Unterwelt,  am 
dritten  Tage  auferstanden  von  den  Toten",  Jakobus  sprach: 
,,Aufgefahren  gen  Himmel,  sitzt  zur  Rechten  Gottes  des 
allmachtigen  Vaters",  Philippus  sprach:  nVon  dannen  wird 
er  kommen  zu  richten  die  Lebendigen  und  die  Toten", 
Bartholomaus  sprach:  ^Ich  glaube  an  den  heiligen  Greist", 
Matthaus  sprach:  ^Eine  heilige,  katholische  Kirche,  Q-e- 
meinschaft  der  Heiligen",  Simon  sprach:  ,,Siindenver- 
gebung",  Thaddaus  sprach:  ,,Auferstehung  des  Fleisches", 
Matthias  sprach:  ,,Ewiges  Leben"." 

Diese  Auffassung  vom  Ursprung  des  Symbols  hat 
meines  Wissens  ungebrochen  und  von  niemandem  ange- 
tastet  im  ganzen  Mittelalter  und  im  gesamten  Q-ebiet  der 
romischen  Kirche  geherrscht;  nur  die  Griechen  erklarten, 
dafi  sie  von  einem  apostolischen  Symbol  nichts  wuBten. 
Man  kann  sich  vorstellen,  welche  Autoritat  ein  Bekenntnis 
besitzen  muCte,  das  man  sich  so  entstanden  dachte!  Un- 
bedenklich  wurde  es  der  heiligen  Schriffc  gleichgestellt.  Es 
erschien  daher  als  ein  furchtbarer  Schlag,  der  den  christ- 
lichen  Grlauben  zu  vernichten  drohte,  als  Laurentius 
Valla  kurz  vor  der  Reformation  gegen  die  IJberlieferung 


Das  apostolische  G-laubensbekenntnis.  229 

auftrat  und  auch  Erasmus  Zweifel  auBerte.  In  der  ganzen 
Greschichte  des  Symbols  hat  es  keinen  kritischeren  Moment 
gegeben.  War  doch  die  ganze  abendlandische  Christenheit, 
Q-eistliche  und  Laien,  unteirichtet  worden,  das  Symbol  sei 
von  den  Aposteln  in  der  angegebenen  Weise  verfafit,  und 
nun  sollte  sich  die  Kirche  die  Jahrhunderte  hindurch  ge- 
irrt  haben!  "Welche  bedenkliche,  schwer  zu  ertragende 
Erschiitterung  des  Q-laubens !  Die  Pariser  Theologische 
Fakultat  zensurierte  die  Zweifel  des  Erasmus.  Sie  berief 
sich  auf  die  Tradition,  die  Erasmus  nicht  zu  kennen 
scheine:  »Haec  nescientia  impietati  deserviens  scandalose 
proponitur«,  rief  sie  dem  Gelehrten  zu.  Aber  auch  Pro- 
testanten  traten  zuerst  fur  die  Wahrheit  der  bedrohten 
Uberlieferung  ein.  Allein  bald  anderte  sich  das  Urteil  in 
ihren  Reihen,  und  sie  gaben,  dem  erdruckenden  geschicht- 
liehen  Beweise  folgend ,  mutig  die  Uberlieferung  preis. 
Zogernd  folgten  die  Katholiken.  Der  Catechismus  Romanus 
halt  die  Abfassung  des  Symbols  durch  die  Apostel  fest, 
jedoch  behauptet  er  nicht  mehr  sicher,  dafi  jeder  Apostel 
einen  Satz  beigesteuert  habe.  In  den  evangelischen  Kirchen 
gilt  das  Symbol  nicht  mehr  um  seines  Ursprungs  willen 
fur  heilig,  und  doch  sind  sie  nicht  zusammengebrochen. 
Sie  haben  diese  Erschiitterung  uberstanden,  wie  so  manche 
andere,  aus  einer  geforderten  Erkenntnis  der  Greschichte 
stammende,  die  sie  genotigt  hat,  sich  von  der  Form  auf 
die  Sache,  von  der  aufieren  Autoritat  auf  den  Inhalt,  von 
dem  Buchstaben  auf  den  Q-eist  zuriickzuziehen. 

II. 

Aber  wie  ist  ein  provinzialkirchliches,  gallisches  Symbol 
—  als  ein  solches  erkannten  wir  das  Apostolikum  —  zu 
der  Ehre  der  Legende  gekommen,  es  sei  Satz  fur  Satz  von 
den  Aposteln  verfafit,  so  dafi  es  sich,  mit  dieser  Uberliefe 
rung  ausgestattet,  in  der  ganzen  romischen  Kirche  durch- 
gesetzt  hat?  Diese  Tatsache  ware  schlechthin  unerklarlich, 


230  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

ware  jene  Legende  nicht  frliher  schon  von  einem  anderen 
bedeutenderen  Symbole  ausgesagt  und  spater  auf  das  gal- 
lische  Bekenntnis  iibertragen  worden. 

In  der  Zeit  zwischen  ca.  250  und  ca.  460  (und  noch 

daruber  hinaus)  hatte  die  romische  Kirche  im  gottesdienst- 

lichen  Q-ebrauch  ein  Symbol,    das    sie   in   hochsten  Ehren 

hielt,  zu  dem  sie  keine  Zusatze  duldete,  das  sie  direkt  von 

den  zwolf  Aposteln  in  der  Fassung,  in  der  sie  es  besafi, 

ableitete,  von  dem  sie  annahm,  Petrus  habe  es  nach  Rom 

gebracht.     Dieses  Symbol   liegt   uns   in   einer  Anzahl  von 

Texten  vor,  so  dafi  wir  es  mit  fast  vollkommener  Sicherheit 

so  wiederzugeben  vermogen,  wie  es  einst  gelautet  hat,  namlich : 

,jlch  glaube  an  Q-ott  den  Vater,  Allmachtigen,  und  an 

Christus  Jesus  seinen  eingeborenen  Sohn,  unseren  Herrn, 

der  geboren  ist  aus  heiligem  G-eist  und  Maria  der  Jung- 

frau,  der  unter  Pontius  Pilatus  gekreuzigt  und  begraben 

ist,  am  dritten  Tage  auferstanden  von  den  Toten,  auf- 

gefahren  in  die  Himmel,  sich  setzend  zur  Recliten  des 

Vaters,  woher   er   kommt   zu   richten   Lebendige   und 

Tote,  und  an  heiligen  Greist,  heilige  Kirche,  Yergebung 

der  Siinden,  Fleisches  Auferstehung. " 

Rufinus  und  Ambrosius  (am  Ende  des  4.  Jahrhunderts) 

erzahlen  uns,  dafi  dieses  Symbol  von  den  Aposteln  verfafit 

sei,  ja  man  darf  daraus,  daB  es  Ambrosius  bereits  in  zwolf 

Satze   eingeteilt   wissen  will,   vielleicht  schliefien,  dafi  die 

Sage,   jeder  Apostel   hatte   ein   einzelnes  GQied  als    seinen 

Beitrag  zum  Symbol  beigesteuert,    schon  damals   bekannt 

gewesen  ist.     Indes  Rufinus,  der  etwas  spater  geschrieben 

hat,  kennt  sie  noch  nicht,   sondern  weiJJ  nur  von  der  ge- 

meinsamen  Abfassung  des  Symbols  durch  die  Apostel  bald 

nach  Pfingsten,  bevor  sie  sich  trennten,  um  die  Weltmission 

zu   beginnen.     Doch   kommt   auf  diesen   Punkt,    ob   jeder 

Apostel  einen  bestimmten  Satz  beigesteuert  habe  oder  ob 

sie  in  anderer  Weise  als  an  der  gemeinsamen  Abfassung 

beteiligt  vorgestellt  wurden,  wenig  an.  Die  gemeinsame  Ab- 


Das  apostolische  G-laubensbekenntnis.  231 

fassung  durch  die  Apostel  stand  fest,  und  zwar  wauf  Grund 
einer  alten  Tradition",  wie  Rufinus  sagt.  Jedenfalls  schon 
im  Anfang  des  4.  Jahrhunderts ,  wahrscheinlich  bereits  im 
dritten,  war  der  CHaube  an  sie  in  Rom  herrschend.  Die 
Folge  war,  dafl  man  mit  angstlicher  Sorgfalt  iiber  jedem 
Worte  des  Symbols  wachte.  „  Wenn  schon  den  Schriften  eines 
Apostels",  schreibt  Ambrosius,  wnichts  entzogen  und  nichts 
hinzugefiigt  werden  darf ,  so  diirfen  wir  dem  Symbol,  das 
wir  als  von  den  Aposteln  iiberliefert  und  verfafit  empfangen 
haben,  nichts  entziehen  und  nichts  hinzufugen.  Das  aber 
ist  das  Symbol,  welches  die  romische  Kirche  besitzt,  wo  der 
erste  der  Apostel,  Petrus,  gesessen  hat  und  wohin  er  ,,die 
allgemeine  Formel"  (communem  sententiam)  gebracht  hat.u 
Allein  diese  Vorstellung  der  romischen  Kirche  von 
ihrem  Taufbekenntnis  kann  nicht  so  alt  sein  wie  das  Tauf- 
bekenntnis  selbst.  Es  geht  das  schlagend  aus  der  Tat- 
sache  hervor,  daB  die  anderen  abendlandischen  Kirchen 
(vom  Ende  des  2.  Jahrhunderts  bis  zum  9.  u.  langer)  Tauf- 
bekenntnisse  besessen  haben,  die  sich  zwar  samtlich  als 
Tochter  des  alten  romischen  erweisen,  aber  von  demselben 
durch  mehr  oder  weniger  zahlreiche  Zusatze  unterscheiden. 
Wir  kennen  jetzt  eine  sehr  grofie  Anzahl  von  alten  Tauf- 
bekenntnissen  des  Abendlandes,  z.  B.  karthaginiensisch- 
afrikanische ,  ravennatische ,  mailandische ,  aquilejensische, 
sardinische,  spanische,  gallische,  irische  usw.  Sie  alle  er 
weisen  sich  ohne  Ausnahme  als  aus  dem  alten  romischen 
Symbol  geflossen;  aber  kaum  ein  einziges  gibt  dieses 
Symbol  wortlich  genau  wieder,  sondern  sie  gestatten  sich 
Modifikationen,  Umstellungen  und  oft  sehr  belangreiche 
Zusatze  (Weglassungen  sind  wenigstens  nicht  mit  voller 
Sicherheit  zu  konstatieren).  Diese  Freiheiten  waren  un- 
denkbar,  wenn  jene  Kirchen,  als  sie  das  Symbol  von  Rom 
empfingen,  bereits  die  Legende  mitempfangen  hatten,  dafi 
das  Symbol  wortlich  von  den  Aposteln  verfafit  und  dafi 
deshalb  sein  Wortlaut  heilig  sei.  Wie  hatte  z.  B.  die 


232  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

afrikanische  Kirclie  den  3.  Artikel  so  fassen  konnen:  »  Credo 
remissionem  peccatorum,  resurrectionem  carnis  et  vitam 
aeternam  per  sanctam  ecclesiam«  (,,Ich  glaube  Siindenver- 
gebung,  Fleischesauferstehung  und  ewiges  Leben  durch 
die  heilige  Kirclie"),  wenn  ihr  em  anderer  Wortlaut  als 
apostolisch  zugegangen  ware?  Wie  liefien  sich  die  zahl- 
reichen  Zusatze  erklaren,  wenn  jene  Kirchen  das  Symbol 
so  betrachtet  hatten  wie  Ambrosius,  d.  h.  als  apostolisch 
und  daher  in  seinem  Wortgefiige  unverletzlich? 

Die  Vorstellung  vom  strikt  apostolischen  Ursprung  des 
Tanfbekenntnisses  ist  somit  eine  Neuerung  in  Rom  ge- 
wesen,  die  nach  der  Zeit  fallt,  da  von  Rom  aus  das  Evan- 
gelium  und  mit  ihm  auch  das  Symbol  in  die  Provinzen 
getragen  worden  ist.  Das  lehren  uns  die  provinzialkirch- 
lichen  Tanfbekenntnisse.  Sie  lehren  uns  aber  ferner,  dafi 
in  alien  Provinzen  der  Kirclie  des  Abendlandes  eine  ge- 
wisse  Freiheit  der  Symbolbildung  Jahrhunderte  hindurch 
generrscht  hat.  Das  romische  Bekenntnis  war  iiberall  die 
Q-rundlage.  Aber  auf  dieser  Grundlage  bauten  die  ein- 
zelnen  Kirchen  ihre  Taufbekenntnisse  nach  ihren  Bedurf- 
nissen  selbstandig  und  frei  aus.  So  finden  wir  z.  B.  in 
der  Kirche  zu  Aquileja  gleich  im  ersten  Artikel  als  Zusatz 
zu  wG-ott  den  allmachtigen  Vater"  die  Worte  ,,den  unsicht- 
baren  und  leidensunfahigen"  usw.  Wir  lernen  hier  die 
Bedeutung  Roms  fur  die  Kirche  des  Abendlandes  aufs 
neue  ermessen.  Das  Symbol  der  Stadt  Rom  beherrscht  die 
gesamte  Symbolbildung.  Aber  noch  waltete  auOerhalb 
Roms  kein  angstlicher  Zwang  des  Buchstabens.  "Wahrend 
die  romische  Kirche  in  ihren  Grenzen  den  Wortlaut  ihres 
Taufbekenntnisses  skrupulos  bewahrte  und  zur  Sicher- 
stellung  desselben  die  Legende  von  dem  apostolischen  Ur 
sprung  des  Symbols  erzeugte,  liefi  sie  es  geschehen,  daB 
in  den  Provinzialkirchen  iiberall  geandert  wurde.  Wie  sie 
das  ertragen  hat,  wissen  wir  nicht.  Aber  das  wissen  wir, 
dafi  zuerst  Rom  aus  einem  Q-laubenszeugnis  der  Kirche  ein 


Das  apostolische  G-laubensbekenntnis.  233 

strenges  Qesetz  geinacht  und  die  gefalschte  Legende  vom 
apostolischen  Ursprung  aufgebracht  hat. 

Aber  nocli  etwas  anderes  lernen  wir  durch  eine  Ver- 
gleichung  der  provmzialkirchlichen  Symbole  mit  dem  alten 
romischen.  Man  kann  auf  direktem  "Wege  das  Alter  dieses 
Symbols  hochstens  bis  in  die  zweite  Halfbe  des  3.  Jahr- 
hunderts  zurdckfuhren.  Aber  die  Tatsache,  dafl  sich  alle 
abendlandischen  Provinzialsymbole  als  Abwandelungen  des 
romischen  erweisen,  verlangt,  daft  wir  noch  urn  ein  Jahr- 
hundert  hinaufsteigen.  Hatte  die  afrikanische  Kirche  be- 
reits  zur  Zeit  Tertullian's  (urn  d.  J.  200)  ein  festes  Tauf- 
bekenntnis  und  war  dasselbe,  wie  nicht  zweifelhafb,  eine 
Tochterrezension  des  romischen,  so  mufl  dieses  selbst  be- 
reits  um  die  Mitte  des  2.  Jahrhunderts  entstanden  sein. 
Dieses  Ergebnis,  welches  durch  die  auBeren  Zeugnisse  ge- 
wonnen  ist,  wird  aber  bestatigt  durch  eine  genaue  Unter- 
suchung  des  Inhalts  des  altromischen  Symbols.  Diese 
Untersuchung  macht  es  iiberaus  wahrscheinlich,  dafi  das 
Symbol  um  die  Mitte  des  2.  Jahrhunderts  entstanden  ist, 
wie  sie  es  andererseits  widerrat,  betrachtlich  hoher  mit  der 
Abfassungszeit  hinaufzugehen.  Man  darf  es  als  ein  ge- 
sichertes  Ergebnis  der  Forschung  bezeichnen:  das  alte 
romische  Symbol,  dessen  Wortlaut  wir  oben  mitgeteilt 
haben,  ist  um  die  Mitte  des  2.  Jahrhunderts  entstanden. 
Es  ist  in  Rom  selbst  abgefafit  worden  (wenn  es  aus  der 
orient alischen  Kirche  nach  Rom  gebracht  worden  ware. 
miiCten  sich  sicherere  Spuren  desselben  im  Orient  finden, 
als  wir  kennen;  es  ist  nicht  einmal  das  gewifi,  dafi 
es  ein  ahnliches  oder  iiberhaupt  ein  ausgefuhrtes  und 
fixiertes  Taufbekenntnis  im  2.  Jahrhundert  im  Orient  ge- 
geben  hat;  doch  waren  die  orientalischen  Grlaubensregeln 
besonders  die  christologischen  dem  romischen  Symbol  sehr 
verwandt)  und  hat  dort  zunachst  nicht  als  7,apostolischu 
im  strengen  Sinn  gegolten.  Die  Legende  des  apostolischen 
Ursprungs  ist  vielmehr  erst  in  der  Folgezeit,  etwa  zwischen 


234  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

den  Jahren  250  und  330,  in  Rom  aufgekommen,  nachdem 
sich  das  Symbol  schon  in  die  abendlandischen  Provinzen 
verbreitet  hatte.  Erwachsen  ist  sie  aus  der  alteren  An- 
nahme,  dafi  die  kirchliche  Lehrtradition  uberhaupt  und 
die  Grrundeinrichtungen  der  Kirche  auf  die  Apostel  zuruck- 
gehen.  Doch  dachte  man  sich.  urspriinglich  diese  TJber- 
lieferung  als  eine  freiere.  Ob  nicht  aber  schon  Irenaus 
ein  engeres  Verhaltnis  zwischen  den  Aposteln  und  dem 
Taufbekenntnis  angenommen  hat,  ist  noch  zu  untersuchen. 

ni. 

Die  Verbindung  dessen,  was  wir  im  ersten  Abschnitt 
dargelegt  haben,  mit  dem  im  zweiten  Ausgefiihrten  ist  nun 
moglich.  Das  ,,apostolische  Grlaubensbekenntnis",  welches 
wir  jetzt  brauchen  und  welches  wir  als  das  siidgallische 
Symbol  der  2.  Halfte  des  5.  Jahrh.  erkannt  haben,  ist  eine 
der  Tochterrezensionen  des  alten  romischen.  Es  unter- 
scheidet  sich  von  ihm  —  von  kleineren  stilistischen  Diffe- 
renzen  abgesehen  —  durch  folgende  wichtigere  Zusatze 
bez.  Erweiterungen:  1.  Schopfer  Himmels  und  der  Erde. 
2.  Empfangen  vom  heiligen  Greist,  geboren  aus  der  Jung- 
frau  Maria  (fur:  „ geboren  aus  heiligem  Greist  und  Maria 
der  Jungfrau").  3.  Qelitten.  4.  G-estorben.  5.  Niederge- 
fahren  in  die  Unterwelt.  6.  Katholisch  (als  Zusatz  zu 
,,heilige  Kirche").  7.  G^emeinschaft  der  Heiligen.  8.  Ewiges 
Leben.  Von  alien  diesen  Zusatzen,  die  wir  unten  naher 
betrachten  werden,  bis  auf  einen  (Communio  sanctorum) 
gilt,  dafi  sie  sich  in  anderen  Taufsymbolen  und  in  der 
kirchlichen  Uberlieferung  —  das  eine  Stuck  hier,  das  an- 
dere  dort  —  bereits  lange  vor  dem  Jahre  500  finden,  nur 
nicht  in  dieser  Zusammenstellung.  Aber  die  Frage  ist 
noch  nicht  beantwortet,  wie  es  geschehen  konnte,  dafi  die 
romische  Kirche  ihr  altes  Symbol,  das  sie  nachweisbar  bis 
ins  5.  Jahrhundert  und  daruber  hinaus  uber  alles  hoch- 
schatzte  und  an  dem  sie  nicht  die  geringste  Veranderung 


Das  apostolische  Glaubensbekenntnis.  235 

zuliefi,  im  8.  oder  9.  (10?)  Jakrhundert  doch  preisgegeben 
und  mit  dem  Toclitersymbol ,  dem  gallischen,  vertauscht 
hat?  Das  Dunkel,  das  iiber  dieser  Vertauschung  liegt,  ist 
noch  nicht  vollig  gelichtet,  aber  doch  wesentlich  erhellt. 
Seit  dem  letzten  Drittel  des  5.  Jahrhunderts  zogen  ariani- 
sche  Christen  in  Scharen  in  B/om  ein,  und  bald  wurden 
sie  die  Beherrscher  Italiens  und  seiner  Stadt.  Im  Gegen- 
satz  zu  diesen  arianischen  Christen,  den  Ostgoten,  wird 
sich  die  romische  Kirche  entschlossen  haben,  ihr  uraltes 
Symbol  bei  der  Taufe  aufzugeben  und  dafur  das  nicanisclie 
(konstantinopolitanische)  Symbol  zu  brauchen,  um  schon 
bei  dieser  heiligen  Handlung  ihre  abweisende  Stellung  ge- 
geniiber  dem  Arianismus  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Das 
altromische  Symbol  ist  namlich,  wie  man  sich  leicht  iiber- 
zeugen  kann,  dem  Q-egensatz  zwischen  Orthodoxie  und 
Arianismus  gegeniiber  neutral.  Auch  ein  Arianer  kann  es 
bekennen;  denn  er  leugnet  nicht,  dafi  Christus  der  einge- 
borene  Sohn  G-ottes  ist,  sondern  behauptet  es  und  ebenso 
alle  Tatsachen,  die  im  Symbol  zusammengestellt  sind.  Um 
also  die  orthodoxe  nicanische  Lehre  bei  der  Taufe  zu  be 
kennen  und  sich  auf  diese  Weise  bestimmt  gegen  die  aria 
nischen  Ostgoten  (spater  gegen  die  gleichfalls  arianischen 
Langobarden)  abzugrenzen,  hat  die  romische  Kirche  seit 
dem  Ausgang  des  5.  Jahrhunderts  ihr  altes  Symbol  im 
liturgischen  Gebrauch  allmahlich  fallen  gelassen.  Indessen 
ist  es  moglich,  dafi  der  Gregensatz  gegen  den  Arianismus 
bei  dieser  Vertauschung  keine  Holle  gespielt  hat,  sondern 
Eom  im  6.  Jahrhundert  zum  Symbol  von  Konstantinopel 
iibergegangen  ist  (resp.  erst  am  Ende  des  6.  Jahrh.),  weil 
es  in  dieser  Zeit  iiberhaupt  in  starke  Abhangigkeit  von 
dem  byzantinischen  Reiche  geriet.  Ob  die  Vertauschung 
Kampfe  gekostet  und  wie  sie  sich  vollzogen  hat,  wissen 
wir  nicht';  nur  die  Tatsache  selbst  ist  uns  bekannt.  Aber 
nachdem  das  alte  romische  Symbol  einmal  aus  dem  litur 
gischen  Q-ebrauch  entfernt  war,  scheint  es  in  Rom  selbst 


236  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

allmahlich  in  Vergessenheit  geraten  zu  sein.  Etwa  zwei 
bis  drei  Jahrhunderte  hindurch  gebrauchte  Rom  bei  der 
Taufe  das  Symbol  von  Konstantinopel.  Das  ist  eine  lange 
Zeit,  nnd  sie  geniigt,  um  es  zu  erklaren,  dafi  das  Symbol 
mehr  und  mehr  aus  dem  Gedachtnis  entschwand;  denn  da- 
mals  behanptete  sich  im  kirchlichen  Leben  nur,  was  in 
dem  Gottesdienste  gebraucht  wurde.  Die  liturgischen 
Handschriften  waren  die  Trager  der  gottesdienstlichen 
und  kirchlichen  Tradition.  Immerhin  aber  bleibt  es  eine 
sehr  bemerkenswerte  Tatsache,  dafi  selbst  eine  so  exor- 
bitante  Legende,  wie  die  von  dem  Ursprung  des  Symbols, 
es  auf  die  Dauer  nicht  zu  schiitzen  und  vor  dem  Unter- 
gang  zu  bewahren  vermocht  hat.  Nur  in  verborgenen 
Winkeln  der  Uberlieferung  ist  das  alte  romische  Symbol 
im  17.  Jahrhundert  und  in  unserer  Zeit  wieder  aufge- 
funden  worden;  in  der  grofien  Tradition  der  Kirche  ist  es 
fast  spurlos  verschwunden,  vor  allem  in  Rom  selbst. 

Mit  der  zweiten  Halfte  des  8.  Janrhunderts  anderten 
sich.  in  Rom  die  Verhaltnisse.  Das  Band  mit  Konstanti 
nopel  war  gelockert,  ja  fast  zerrissen.  Der  Arianismus  war 
im  Aussterben.  Eine  Q-efahr  von  dieser  Seite  her  war 
nicht  mehr  zu  befurchten,  der  G-ebrauch  eines  gegen  die 
Arianer  gerichteten  Symbols  daher  nicht  mehr  gefordert. 
Dagegen  war  Rom  und  seine  Kirche  in  sehr  enge  Bezieh- 
ungen  zu  den  Franken  getreten.  Sie  waren  schon  seit 
Jahrhunderten  katholisch  und  wurden  unter  Karl  dem  Q-ro- 
fien  die  Herren  von  Rom.  Der  Papst  und  seine  Kirche 
gerieten  in  voile  Abhangigkeit  von  dem  groUen  franki- 
schen  Konige.  Damals  oder  etwas  spater  mufi  die  zweite 
Vertauschung  in  der  romischen  Kirche  stattgefunden  ha- 
ben.  Sie  liefi  das  konstantinopolitanische  Symbol  bei  der 
Taufe  fallen  und  kehrte  zu  einem  kiirzeren  Taufbekennt- 
nis  zuriick.  Aber  nicht  zu  ihrem  alten  —  dieses  war  ihr 
entschwunden  —  sondern  zu  dem  gallischen,  welches  nun 
das  frankische  geworden  war.  Sie  rezipierte  dieses  Sym- 


Das  apostolische  Glaubensbekenntnis.  237 

bol.  Nun  aber  geschah  das  Paradoxeste:  sie  iibertrug 
jetzt  die  Legende  von  dem  strikten  apostolischen  Ursprung 
des  Taufbekenntnisses ,  die  sich  doch  auf  das  altromische 
Symbol  bezogen  hatte  und  bei  Ambrosius,  Rufin  u.  a.  zu 
lesen  stand,  ohne  "Weiteres  auf  das  Toclitersymbol,  von  dem 
sie  nie  gegolten  hatte  und  welches  auch  eine  neue  Ver- 
teilung  der  Artikel  auf  je  einen  der  zwolf  Apostel  erheischte, 
weil  es  mehr  Grlieder  zahlte  als  das  altromische. 

Welch  ein  wunderbarer  Gang  der  G-eschichte!  Die 
romische  Kirche  tragt  ihr  altes  Symbol  nach  G-allien. 
Dort  wird  es  im  Lauf  der  Zeiten  vermehrt.  Unterdessen 
bildet  die  romische  Kirche  die  Legende  von  dem  strikt 
apostolischen  Ursprung  ihres  unveranderten  Symbols  aus. 
Dann  lafit  sie  es  unter  dem  Druck  aufierer  Verhaltnisse  doch 
fallen,  und  es  verschwindet.  Unterdessen  dringt  das  Toch- 
tersymbol  von  G-allien  ins  Frankenreich  und  erobert  sich 
dort  den  entscheidenden  Platz.  Das  Frankenreich  wird  zum 
Weltreich,  macht  sich  zum  Herrn  von  Rom.  Rom  erhalt 
von  dorther  sein  eigenes  Symbol,  aber  in  erweiterter  Ge- 
stalt,  zuriick,  es  nimmt  das  Greschenk  an,  verleiht  der  neuen 
Form  romische  Autoritat  und  kront  die  Tochter  mit  der 
Krone  der  Mutter,  indem  es  die  Legende  von  dem  strikt 
apostolischen  Ursprung  auf  sie  iibertragt.  Das  Interessan- 
teste  an  diesen  geschichtlichen  Prozessen  ist  die  Bedeutung 
des  Frankenreichs  fiir  die  romische  Kirche  der  Karolinger- 
zeit.  So  gewaltig,  so  schlagend  tritt  sie  vielleicht  an  kei- 
nem  anderen  Punkte  hervor.  Das  Reich  Karls  des  Gro- 
fien  hat  Rom  sein  Symbol  gegeben.  Ja  es  hat  damals  Rom 
und  durch  Rom  der  abendlandischen  Christenheit  noch  ein 
zweites  Symbol  geschenkt,  das  sog.  athanasianische.  Zwei 
von  den  sog.  okumenischen  Symbolen  sind  gallisch,  resp. 
frankisch.  Aber  man  darf  vielleicht  annehmen  -  -  direkt 
wissen  wir  freilich  dariiber  nichts  — ,  dafi  die  romische 
Kirche  Umstande  gemacht  hatte,  das  frankische  Symbol 
als  Taufsymbol  zu  rezipieren,  wenn  sie  es  nicht  als  einen 


238  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  1. 

alien  Bekannten  erkannt  katte.  Es  ist  dock  wakrsckein- 
lich,  dafi  in  Rom  noch  soviel  geschichtliche  Uberlieferung 
vorhanden  war,  dafi  man  durch  das  frankiscke  Bekenntnis 
an  das  eigene  alte,  einst  so  kockgeekrte  erinnert  wurde. 
Die  Drfferenzen  iibersak  man  oder  Melt  sie  nickt  fur  erkeb- 
lick.  So  wackte  an  dem  neuen  Symbol  die  Legende,  die 
das  alte  umstrahlt  katte,  wieder  auf  und  wurde  wiedemm 
und  fur  lange  Zeit  eine  Macht  in  der  Kirche,  bis  sie  im 
Zeitalter  der  Renaissance  und  Reformation  gestiirzt  wurde. 

IV. 

Man  sollte  erwarten,  dafi  der  Wortlaut  des  Symbols 
nach  der  neuen  Rezeption  mit  peinlichster  Treue  im  Mittel- 
alter  behiitet  worden  ist.  Im  allgemeinen  ist  das  auck  der 
Fall  gewesen.  Dock  feklen  Sckwankungen  nickt  ganz  zum 
Beweise,  dafi  eine  lebendige  Kircke  nickt  am  Buckstaben 
kleben  kann,  wenn  sie  ein  besseres  Wort  weifi  oder  dem 
Buckstaben  einen  sickeren  Sinn  nickt  abzugewinnen  vermag. 
So  ist  in  einigen  mittelalterlicken  Forrneln  das  ^nieder- 
gefakren  in  die  Unterwelt"  weggelassen.  Ferner  kat  das 
Nebeneinander  der  beiden  Grlieder  wkeilige  Kircke"  und 
7,Gremeinsckaft  der  G-laubigen"  dem  Verstandnis  Sckwierig- 
keiten  bereitet.  Daker  niefien  beide  in  einigen  Formeln  in 
eins  zusammen  oder  das  zweite  Grlied  erkalt  Zusatze.  Statt 
„ Kircke"  nndet  sick  das  Wort  ,,Ckristenkeit";  ja  in  einigen 
Formeln  ist  das  Wort  ,,katkoliscku  weggelassen  oder  dafiir 
,,ckristlick",  bezw.  ,,glaubigu  gestellt.  Diese  Anderung  ist 
deskalb  wicktig,  weil  Lutker  und  die  lutkeriscke  Kircke  sie 
rezipiert  kaben.  Sie  kaben  in  dem  deutscken  Symbol  ,,Eine 
keilige  ckristlicke  Kircke"  fur  ^Sanctam  ecclesiam  catkoli- 
camtt  gesetzt.  Zusatze  zu  dem  Symbol  finden  sick  in 
mancken  mittelalterlicken  Formeln,  teils  aus  dem  Constan- 
tinopolitanum  genommene,  teils  frei  kinzugefugte.  ^Beson- 
ders  mackt  sick  das  Bediirfnis  geltend,  was  in  der  alten 
Kircke  nur  ganz  vereinzelt  auffcritt,  das  Leben  Ckristi  auf 


Das  apostolisclie  Glaubensbekenntnis.  239 

Erden  in  historischen  Ziigen  auszufuhren. "  Nachdem  Bern- 
hard  von  Clairvaux  und  Franziskus  von  Assisi  die  Ziige 
des  geschichtlichen  Christus  in  seiner  Demut  und  Armut, 
Liebe  und  Leiden  vor  die  Seele  gestellt  hatten,  ist  es  wohl 
verstandlich,  dafl  die  wenigen  Tatsachen,  die  im  Symbol 
verzeichnet  sind,  nicht  mehr  geniigten.  Wie  weit  aber  das 
Bestreben,  den  geschichtlichen  Christus  in  jenen  Ziigen  im 
Symbol  anzuschauen,  auf  die  Erklarung  resp.  auch  die  Ge- 
staltung  des  Symbols  selbst  im  Mittelalter  eingewirkt  hat, 
verlangt  noch  eine  Untersuchung. 

Luther,  der  das  Symbol  aufs  hochste  schatzte,  hat 
doch  an  zwei  Satzen  leisen  Anstofi  genommen.  Es  ist 
charakteristisch,  wie  er  sich  daruber  im  GmGen  Katechismus 
ausgesprochen  hat.  Zu  „  Sanctorum  communionem"  bemerkt 
er:  ^Aber  recht  deutsch  zu  reden,  sollt  es  heiCen  eine  Ge- 
meine  der  Heiligen,  das  ist,  eine  Gemeine,  darin  eitel 
Heilige  sind,  oder  noch  klarlicher  eine  heilige  Gemeine 
[beides  heifit  es  aber  nicht].  Das  rede  ich  darum,  dafi  man 
die  Worte:  Gemeinschafb  der  Heiligen,  verstehe,  weil  es 
so  in  die  Gewohnheit  eingerissen  ist,  dafl  schwerlich  wieder 
heraus  zu  reifien  ist,  und  muG  bald  Ketzerei  sein,  wo  man 
ein  Wort  andert"  (,,et  statim  haeresim  esse  oporteat,  ubi 
verbulum  aliquod  immutatum  fuerit").  Und  zur  ,,Auf- 
erstehung  des  Fleisches"  sagt  er:  7)Dafi  aber  hie  stehet 
Auferstehung  des  Fleisches  ist  auch  nicht  wohl  deutsch 
geredt  [aber  der  Originaltext  bietet  denselben  Anstofi;  die 
Ubersetzung  tragt  keine  Schuld].  Denn  wo  wir  Deutschen 
Fleisch  horen,  denken  wir  nicht  weiter  denn  an  die  Scharren 
[Metzgerbank].  Auf  recht  deutsch  aber  wiirden  wir  also 
reden:  Auferstehung  des  Leibes  oder  Leichnams;  doch  liegt 
nicht  grofie  Macht  dran,  so  man  nur  die  Worte  recht  versteht." 

V. 

In  dem  vorstehenden  ist  der  Versuch  gemacht,  den 
Ursprung  und  die  Grundziige  der  auCeren  Geschichte  des 


240  Erster  Band,  zweite  Abteiltmg.     Aufsatze:  I. 

Apostolikums  bis  zur  Reformation  darzulegen.  Sieht  man 
von  den  acht  Zusatzen,  die  oben  angegeben  sind,  und  von 
der  lutherischen  Vertauschung  des  ?,Katholischu  in  wChrist- 
lich"  ab,  so  darf  man  sagen,  dafi  das  Symbol  aus  der  nach- 
apostolischen  Zeit  stammt  und  zwar  ans  der  Hauptkirche 
des  Abendlandes,  Rom.  Wer  es  dort  verfaflt  hat,  ist  un- 
bekannt.  Der  Zweck,  um  des  sen  willen  es  aufgestellt 
worden  ist,  lafit  sieh  aus  seinem  G-ebrauehe  mit  Sicherheit 
feststellen:  es  ist  aus  der  missionierenden  und  katechetischen 
Funktion  der  Kirche  hervorgegangen  und  war  urspriinglich 
lediglich  Tauf symbol  (wTer  mergitamur,  amplius  aliquid 
respondentes  quam  dominus  in  evangelio  determinavit", 
d.  h.  fldreimal  werden  wir  untergetaucht  und  erwidern 
[dem,  der  die  Handlung  an  uns  vollzieht]  dabei  einige 
Worte  mehr  als  der  Herr  im  Evangelium  [s.  den  Tauf  befehl] 
angeordnet  hat").  Die  Meinung  alterer  und  neuerer  Gre- 
lehrter,  dafl  das  Symbol  der  allmahlich  entstandene  Nieder- 
schlag  aus  GHaubensregeln  ist,  die  gegen  die  Grnostiker  auf 
gestellt  wurden,  dafi  es  also  aus  der  Polemik  stammt,  lafit 
sich  nicht  halten;  vielmehr  gilt  das  Umgekehrte:  die  ver- 
schiedenen  antignostischen  G-laubensregeln  setzen  ein  kurzes, 
festes,  formuliertes  Bekenntnis  voraus,  und  das  ist  im 
2.  Jahrhundert  eben  das  romische  Symbol  gewesen.  Es 
stammt  aus  der  Zeit  vor  dem  brennenden  Kampf  mit  der 
Haresie  oder  nimmt  doch  auf  diesen  Kampf  keine  Riicksicht. 
Ein  so  altes  Symbol,  welches  nur  um  etwa  zwei 
Menschenalter  von  der  apostolischen  Zeit  entfernt  liegt,  und 
direkt  oder  indirekt  die  Wurzel  aller  Symbole  der  Christen- 
heit  geworden  ist,  verlangt,  dafi  man  seinen  ursprunglichen 
Sinn  im  ganzen  und  in  den  einzelnen  Teilen,  sowie  sein 
Verhaltnis  zur  altesten  Verkiindigung  des  Evangeliums 
sorgfaltig  feststellt.  Kann  ihm  auch  nach  den  allgemein 
anerkannten  Grundsatzen  der  evangelischen  Kirchen  keine 
selbstandige  Autoritat  zukommen,  geschweige  eine  unfehlbare, 
riihrt  es  ferner  trotz  seines  hohen  Alters  aus  einer  Zeit  her, 


Das  apostolische  Glaubensbekenntnis.  241 

aus  der  sehr  vieles  stammt,  was  die  Reformationskirchen  ab- 
gelelint  haben,  so  verdient  doch  die  Frage:  Was  wollte  das 
Symbol  bekennen  und  sagen?  die  genaueste  Untersuchung. 

Auf  den  ersten  Blick  scheint  diese  Frage  uberaus  leicht 
beantwortet  werden  zu  konnen.  Ein  grofler  Teil  seiner 
Satze  laflt  sich  wortlich  aus  der  noch  alteren  christlichen 
Verkiindigung  belegen,  und  als  Ganzes  scheint  das  Be- 
kenntnis  so  durchsichtig  und  einfach,  dafi  es  keiner  Er- 
klarung  zu  bedurfen  scheint.  Allein  sieht  man  naher  zu 
und  vergleicht  man  die  christliche  Theologie  der  Zeit,  aus 
der  es  stammt,  so  stellt  sich  manches  in  anderem  Lichte  dar. 

Das  Symbol  ist  die  erweiterte  Taufformel:  das  mufi 
man  fur  seine  Erklarung  festhalten.  Demgemafi  ist  es 
dreigliederig  wie  jene.  Die  Zerteilung  in  zwolf  Abschnitte 
ist  offenbar  eine  spatere  kiinstliche  Operation,  gegen  die 
sich  das  ganze  Gefuge  des  Bekenntnisses  straubt.  Die 
Erweiterung  ist  so  erfolgt,  dafi  die  drei  Grlieder  der  Tauf 
formel  7,Vater,  Sohn  und  heiliger  Q-eist"  naher  bestimmt 
wurden.  Die  christliche  Gemeinde  hatte  das  Bediirfnis,  sie 
deutlich  zu  beschreiben,  um  zu  bekennen,  was  sie  an  ihnen 
und  durch  den  Glauben  an  sie  besitzt. 

Ein  voiles,  durch  keinen  anderen  Ausdruck  zu  er- 
setzendes  Zeugnis  des  Glaubens  ist  der  Satz  des  ersten 
Artikels:  wlch  glaube  an  Gott,  den  Vater,  Allmachtigen" 
(oder  vielleicht:  »Gott  den  allmachtigen  Vater").  Zwar 
wenn  man  die  gleichzeitigen  kirchlichen  Schriften  unter- 
sucht,  findet  man  in  ihnen  das  voile  evangelische  Ver- 
standnis  des  Vaternamens  nicht  mehr:  ihre  Verfasser  denken 
in  der  Eegel  nur  an  Gott  als  den  Vater  der  Welt,  wenn 
sie  ihn  Vater  nennen.  Auch  ist  der  Ausdruck  selbst  in 
ihnen  nicht  eben  haufig;  gewohnlich  wird  Gott  »der  Herr" 
(Despot)  genannt  oder  ^der  Schopfer".  Um  so  willkom- 
mener  ist  es,  daC  er  sich  in  dem  Symbol  findet.  Hat  ihn 
der  Verfasser  selbst  auch  wahrscheinlich  nicht  nach  Matth.  1 1 , 
25  ff.,  Rom.  8,  15  und  wie  Luther  gedeutet,  so  tritt  er  doch 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.Aufl.    I.  16 


242  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

einer  solchen  Deutung  nicht  in  den  Weg.  In  der  alten 
Kirche  verier  sie  sich  freilich  bald.  Bei  den  Erklarungen 
des  Vater-Unsers  blitzt  sie  hier  und  dort  anf  (so  bei  Ter- 
tullian  und  Origenes),  aber  bei  der  Erklarung  der  Grlaubens- 
regeln  sucht  man  sie  fast  iiberall  vergebens. 

Ebenso  einfach  und  gewaltig,  evangelisch  und  aposto- 
lisch  1st  die  Erweiterung  des  zweiten  Gliedes  „  Christus 
Jesus,  Grottes  eingeborener  Sohn,  unser  Herr".  Die  beiden 
entscheidenden  Pradikate  fur  Jesus  Christus,  die  alle  evan- 
gelischen  Aussagen  uber  ihn  einschliefien ,  sind  hier  zu- 
sammengestellt.  Aus  alien  Bezeichnungen,  die  sich.  in  der 
christlichen  Predigt  der  alteren  Zeit  finden,  sind  die  beiden 
umfassendsten  ausgewahlt  (ob  die  Voranstellung  des 
„  Christus"  vor  „  Jesus"  noch  eine  Erinnerung  daran  ent- 
halt,  dafi  Christus  =  Messias  ist,  lafit  sich  nicht  sagen). 
Der  Zusatz  ,,eingeboren"  findet  sich  im  Neuen  Testament 
nur  im  Johannes-Evangelium ;  aber  die  Sache  haben  auch 
Matthaus  und  Lukas  (s.  11,  27  f.  bez.  10,  22  f.),  und  sie 
wird  iiberhaupt  einhellig  von  der  altesten  G-emeinde  bezeugt: 
Jesus  Christus  ist  nicht  nur  ein  Sohn  G-ottes,  sondern  er 
ist  ,,der  Sohn",  also  der  einige  Sohn.  Das  Wort  ,,Herr" 
ist  in  dem  pragnanten  Sinne  zu  fassen,  den  die  alte  Zeit 
mit  ihm  verband.  Luther,  der  im  grofien  Katechismus  die 
ganze  Auslegung  des  2.  Artikels  in  die  Auslegung  des 
Wortes  jjHerr"  hineingezogen  hat  (vgl.  iibrigens  auch  das 
nsei  mein  Herr"  im  kleinen  Katechismus),  hat  damit  nicht 
nur  katechetisch  den  richtigen  Griff  getan,  sondern  er  hat 
auch  den  Sinn  des  Grlaubensbekenntnisses  in  seiner  Weise 
wiederhergestellt:  nDas  sei  nun  die  Sum  ma  dieses  Artikels, 
dafi  das  Wortlein  ,Herr'  aufs  einfaltigste  so  viel  heifie  als 
ein  Erloser,  das  ist,  der  uns  vom  Teufel  zu  G-ott,  vom  Tod 
zum  Leben,  von  Siinde  zur  Gerechtigkeit  bracht  hat  und 
dabei  erhalt."  Aber  noch  ist  eine  Erlauterung  zu  dem 
Bekenntnis  „ eingeborener  Sohn"  notig.  In  der  Zeit  nach 
dem  Nicanum  wird  bei  diesen  Worten  in  der  Kirche  durch- 


Das  apostolische  Giaubensbekenntnis.  243 

weg  an  die  vorzeitliche ,  ewige  Solinschaft  Christ!  gedacht 
und  jede  andere  Auslegung  gilt  als  Haresie.  So  hat  auch 
Luther  die  Worte  erklart:  wwahrhaftiger  Grott,  vom  Vater 
in  Ewigkeit  geboren."  Allein  diese  Fassung  verlangt,  auf 
das  Symbol  iibertragen,  eine  Umdeutung  desselben.  Es 
lafit  sich  nicht  nachweisen,  dafl  tun  die  Mitte  des  2.  Jahr- 
hunderts  der  Begrrff  weingeborener  Sohn"  in  diesem  Sinne 
verstanden  worden  ist;  vielmehr  lafit  es  sich  geschichtlich 
zeigen,  dafi  er  nicht  so  verstanden  worden  ist.  Wo  Jesus 
Christus  flSohn"  heifit,  wo  ein  ,,geboren  sein"  von  ihm 
ausgesagt  wird,  ist  in  jener  Zeit  an  den  geschichtlichen 
Christus  und  an  die  irdische  Erscheinung  gedacht:  der  ge- 
schichtliche  Jesus  Christus  ist  der  Sohn.  Erst  spekulierende 
christliche  Apologeten  und  die  gnostischen  Theologen  haben 
das  Wort  anders  verstanden  und  in  ihm  das  Verhaltnis 
des  vor geschichtlichen  Christus  zu  Q-ott  ausgedriickt  ge- 
funden.  Spater  noch  wurde  die  ganze  Zweinaturenlehre  in 
die  Worte  hineingelegt:  ,,der  eingeborene  Sohn"  bedeute 
die  gottliche  Natur  und  erst  in  dem,  was  folgt,  werde  die 
menschliche  Natur  bekannt.  Es  dauerte  aber  langere  Zeit, 
bis  sich  diese  Auslegung  in  der  Kirche  durchsetzte,  urn  dann 
die  allgemeine  zu  werden  und  die  altere  zu  verdrangen. 
Wer  also  die  „  ewige  Sohnschaft"  in  das  altromische  Sym 
bol  hineinlegt,  der  gibt  ihm  einen  anderen  Sinn  als  der  ur- 
sprungliche  lautete.  Aber  zum  Haretiker  ist  trotzdem  nach 
dem  3.  Jahrhundert  jeder  gestempelt  worden,  der  damals 
noch  bei  dem  urspriinglichen  Sinn  des  Symbols  stehen 
blieb  und  sich  weigerte,  die  neue  Deutung  anzuerkennen. 

Das  Taufbekenntnis  hat  sich  mit  dem  Zeugnis  von 
Christus  als  des  eingeborenen  Sohnes  und  unseres  Herrn 
nicht  begnugt,  sondern  es  hat  noch  fiinf  (sechs)  Satze  hin- 
zugefugt: 

nDer  geboren  ist  aus  heiligem  G-eist  und  Maria  der 
Jungfrau, 

der  unter  Pontius  Pilatus  gekreuzigt  und  begraben  ist, 

16* 


244  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

am  dritten  Tage  auferstanden  von  den  Toten, 

aufgefahren  in  die  Hi  mm  el, 

sich  setzend  zur  Rechten  des  Vaters,  woher  er  kommt 
zu  richten  Lebendige  und  Tote." 

Was  sollten  diese  Satze  besagen?  Man  hat  gemeint, 
sie  seien  nm  der  alttestamentlichen  Weissagung  willen  aus- 
driicklicli  hervorgehoben,  um  die  Erfiillung  derselben  aus- 
zusprechen,  so  wie  der  Apostel  Paulus  im  ersten  Korinther- 
brief  schreibt  (15,  3f.):  nlch  habe  euch  zuvorderst  gegeben, 
welches  ich  anch  empfangen  habe,  dafi  Christus  gestorben 
sei  fur  unsere  Siinden,  nach  der  Schrift,  und  dafi  er  be- 
graben  sei  und  dafl  er  auferstanden  sei  am  dritten  Tage, 
nach  der  Schrift."  Allein  wenn  das  die  Absicht  des  Ver- 
fassers  gewesen  ware,  so  hatte  sie  klarer  hervortreten 
mussen;  in  Wahrheit  ist  sie  durch  nichts  angedeutet. 
Andere  haben  gemeint,  dafi  der  Verfasser  die  wichtigsten 
einzelnen  Heilstatsachen  habe  hervorheben  wollen.  Diese 
Auffassung  kommt  dem  Richtigen  naher;  aber  sie  ist  in 
dieser  Form  doch  nicht  haltbar;  denn  sie  schiebt  etwas  ein, 
was  der  alten  Zeit  fern  lag.  Ihr  war  Jesus  Christus  der 
Erloser  und  sein  ganzes  Tun  ein  erlosendes;  aber  die  Zu- 
sammenstellung  einer  besonderen  Reihe  von  einzelnen  Heils 
tatsachen,  jede  fur  sich  ein  besonderes  Grut  einschlieCend, 
lag  ihr  fern.  Stiinde  an  dieser  Stelle  in  dem  Symbol  etwa 
nur  ,,der  gekreuzigt  ist  um  unserer  Siinden  willen  und  am 
dritten  Tage  auferwecket  ist"  und  sonst  nichts  weiteres,  so 
ware  freilich  gewLO,  dafi  das  Symbol  diese  Ereignisse  als 
Heilstatsachen  habe  hervorheben  wollen  (wie  Paulus),  aber 
angesichts  der  ganzen  Reihe  lafit  sich  nichts  anderes  be- 
haupten,  als  dafi  das  Symbol  einen  geschichtlichen  Bericht 
von  dem  Herrn,  dem  Sohne  Grottes,  hat  geben  wollen.  Die 
Haupttatsachen  seiner  Greschichte,  einer  Greschichte.  die  ihn 
von  alien  anderen  unterscheidet,  sollten  bekannt  werden. 
Was  er  ist,  bezeugt  der  Ein  gang:  wder  eingeborene  Sohn 
Grottes  und  unser  Herr";  seine  Geschichte  -  -  es  ist  die 


Das  apostolische  G-laubensbekenntnis.  245 

Geschichte    des   Erlosers    —    sollte   in   den   Zusatzen   aus- 
gesagt  werden. 

Die  Auswahl  dieser  Zusatze  deckt  sich  wesentlich  mit 
der  urspriinglichen  Verkiindigung  des  Evangeliums ,  aber 
doch  nicht  mehr  vollkommen.  Stiinden  allein  die  Worte 
in  dem  Symbol:  7,der  unter  Pontius  Pilatus  gekreuzigt  und 
begraben  ist,  am  dritten  Tage  auferstanden  von  den  Toten, 
sitzet  zur  Rechten  des  Vaters,  woher  er  kommt  zu  richten 
Lebendige  und  Tote",  so  ware  kein  Unterschied  vorhanden. 
Aber  dafi  der  Satz:  nder  geboren  ist  ans  heiligem  G-eist  und 
Maria  der  Jungfrau",  nicht  der  ursprunglichen  Verkiin- 
digung  des  Evangeliums  angehort,  ist  eine  der  sichersten 
geschichtlichen  Erkenntnisse;  denn  1.  er  fehlt  in  alien 
Briefen  des  Apostels  Paulus  und  uberhaupt  in  alien  Briefen 
des  Neuen  Testaments,  2.  weder  in  dem  Evangelium  des 
Markus  ist  er  zu  finden,  noch  sicher  in  dem  des  Johannes, 
3.  er  fehlte  auch  in  der  Vorlage  und  gemeinsamen  Quelle 
des  Matthaus-  und  Lukas-Evangeliums,  4.  die  Genealogien 
Jesu,  welche  diese  beiden  Evangelien  enthalten,  fuhren  auf 
Joseph  und  nicht  auf  Maria,  5.  alle  vier  Evangelien  be- 
zeugen  es  —  zwei  unmittelbar,  zwei  mittelbar  — ,  dafi  die 
urspriingliche  Verkiindigung  von  Jesus  Christus  mit  seiner 
Taufe  begonnen  hat.  So  gewifi  es  ist,  dafi  die  Q-eburt 
Jesu  aus  dem  heiligen  Geist  und  der  Jungfrau  Maria  be- 
reits  in  der  Mitte  des  2.  Jahrhunderts,  ja  wahrscheinlich 
schon  nicht  lange  nach  dem  Anfang  desselben,  ein  festes 
Stuck  der  kirchlichen  Uberlieferung  bildete,  so  gewifi  ist  es, 
dafl  sie  in  der  altesten  Verkiindigung  keine  Stelle  gehabt 
hat.  Diese  begann  mit  Jesus  Christus,  dem  Sohn  Davids 
nach  dem  Fleisch,  dem  Sohn  Gottes  nach  dem  Geist  (s. 
Rom.  1,  3f.),  bez.  mit  der  Taufe  Christi  durch  Johannes 
und  der  Herabkunfb  des  Geistes  auf  ihn.  Dafi  in  dem 
apostolischen  Symbolum  die  Davidssohnschaft,  die  Taufe 
und  die  Herabkunft  des  Geistes  auf  Jesum  weggelassen 
und  dafur  die  Geburt  aus  dem  heiligen  Geist  und  der 


246  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

Jungfrau  eingesetzt  1st,  ist  also  gegeniiber  der  altesten 
Verkundigung  eine  Neuerung,  die  da  zeigt,  dafl  das  Symbol 
nicht  der  altesten  Zeit  angehort,  so  wenig  wie  die  Evan- 
gelien  des  Matthaus  nnd  Lukas  die  alteste  Stufe  der  evan- 
gelischen  G-eschichte  darstellen.  Die  Kirche  hat  dann  weiter, 
schon  bald  nach  der  Zeit  der  Abfassung  unseres  Symbols, 
verlangt,  dafi  man  das  Pradikat  wJungfrau"  bei  Maria  von 
der  bleibenden  Jungfrauschaft  verstehe.  In  den  evangeli- 
schen  Kirchen  aber  ist  dieses  Verstandnis  zuriickgewiesen 
worden.  —  Mcht  ebenso  wichtig,  auch  nicht  sicher  zu 
fassen,  aber  doch  nicht  zu  iibergehen,  ist  noch  eine  Ab- 
weichung  von  der  altesten  Predigt:  es  ist  die  besondere 
Hervorhebung  der  Himmelfahrt.  In  der  altesten  Verkiin- 
digung  hat  diese  kein  besonderes  G-lied  gebildet;  aber  es  ist 
auch  nicht  ganz  sicher,  ob  das  Symbol  sie  so  fassen,  oder 
ob  es  nicht  mit  den  drei  "Worten  nauferstanden,  aufgefahren, 
sich  setzend"  einen  einzigen  Akt  beschreiben  wollte.  In 
dem  ersten  Korintherbrief  (15,  3f.),  in  den  Brief  en  des 
Clemens,  Ignatius  und  Polykarp,  im  Hirten  des  Hermas 
wird  die  Himmelfahrt  iiberhaupt  nicht  erwahnt;  aber  sie 
fehlt  auch  in  den  drei  ersten  Evangelien.  Was  wir  jetzt 
dort  lesen,  sind  spatere  Zusatze,  wie  die  Textgeschichte 
beweist.  In  einigen  der  altesten  Zeugnisse  wird  die  Auf- 
erstehung  mit  dem  sich  Setzen  zur  Eechten  Qottes  in  eins 
zusammengefafit,  ohne  Erwahnung  einer  Himmelfahrt;  im 
Barnabasbrief  sind  Auferstehung  und  Himmelfahrt  auf  einen 
Tag  verlegt;  nur  die  Apostelgeschichte  berichtet  im  Neuen 
Testament,  dafi  40  Tage  dazwischen  gelegen  hatten.  Andere 
alte  Zeugnisse  erzahlen  wieder  anders  und  setzen  gar  18 
Monate  dazwischen.  Aus  diesem  Schwanken,  welches  lange 
gedauert  hat,  geht  hervor,  dafi  die  alteste  Verkiindigung 
eine  einzige  Tatsache  mit  verschiedenen  Worten  beschrieben 
hat  und  dafi  die  Differenzierung  zu  mehreren  Akten  einer 
spateren  Zeit  angehort.  Eine  solche  Differenzierung  ist 
aber  nicht  unbedenklich ;  denn  sie  legt  es  nahe,  jedem 


Das  apostolische  Glaubensbekenntnis.  247 

Stiicke  erne  besondere  Bedeutung  fiir  sich  zu  geben  und 
damit  das  Gewicht  des  entscheidenden  Stiicks  zu  schwachen. 
Andererseits  —  das  ^Auferstanden  von  den  Toten"  ver- 
langte  allerdings  einen  Zusatz;  denn  nicht  an  einfache 
Wiederbelebung  sollte  geglaubt  werden,  sondern  an  eine 
Erhohung  zur  Macht  und  Herrschaft  im  Himmel  und  auf 
Erden.  Eben  dieses  driickte  die  alteste  Yerkiindigung  ent- 
weder  dureh  die  Himmelfahrt  oder  durch  das  Sitzen  zur 
Rechten  Gottes  aus. 

Das  dritte  Glied  der  Taufformel:  ,,Ich  glaube  an  den 
heiligen  Geist"  ist  nicht,  wie  die  beiden  vorigen,  personlich, 
sondern  sachlich  erganzt  (durch  die  drei  Stiicke:  „  Heilige 
Kirche,  Yergebung  der  Siinden,  Fleisches  Auferstehung"). 
Hiernach  scheint  es,  als  sei  in  dem  Symbol  der  heilige 
G-eist  selbst  nicht  als  Person  aufgefaflt,  sondern  als  Kraft 
und  Gabe.  Dem  ist  wirklich  so.  Man  kann  nicht  nach- 
weisen,  dafi  um  die  Mitte  des  2.  Jahrhunderts  der  heilige 
Greist  als  Person  geglaubt  worden  ist.  Diese  Yorstellung 
ist  vielmehr  eine  bedeutend  spatere,  die  noch  um  die  Mitte 
des  4.  Jahrhunderts  den  meisten  Christen  unbekannt  ge- 
wesen  ist,  sich  dann  aber  im  Zusammenhang  mit  der 
nicanischen  Orthodoxie  eingebiirgert  hat.  Entstanden  ist  sie 
aus  der  wissenschaftlichen  griechischen  Theologie;  denn  es 
lafit  sich  nicht  nachweisen,  daB  die  (scheinbare  oder  wirk- 
liche)  Personifikation  des  heiligen  G-eistes  im  Johannes- 
Evangelium  als  ,,des  Trosters"  hier  eingewirkt  hat.  Wer 
also  in  das  Symbol  die  Lehre  von  drei  Personen  der  Gott- 
heit  einfuhrt,  der  erklart  das  Symbol  wider  seinen  ur- 
spriinglichen  Sinn  und  deutet  es  um.  Eine  solche  Um- 
deutung  ist  allerdings  seit  dem  Ende  des  4.  Jahrhunderts 
von  alien  Christen  verlangt  worden,  wollten  sie  sich  nicht 
dem  Vorwurf  und  den  Strafen  der  Haresie  aussetzen. 

Als  Gabe  ist  der  heilige  Geist  in  dem  Symbol  gemeint, 
aber  als  eine  Gabe,  in  der  gottliches  Leben  den  Glaubigen 
dargeboten  wird;  denn  der  Geist  Gottes  ist  Gott  selbst  (in 


248  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

diesem  Sinn  1st  an  der  Personlichkeit  nicht  gezweifelt 
worden).  Hinzugefiigt  —  aber  sie  sind  nur  eine  Explikation 
der  einen  Gabe  —  werden  drei  Giiter,  und  hier  gibt  das 
Bekenntnis  die  apostolische  Predigt  vollkommen  wieder: 
flheilige  Kirche,  Vergebung  der  Siinden  und  Fleisch.es  Auf 
erstehung".  Alles,  was  der  Glaube  an  Jesus  Christus  ent- 
halt  und  schafft,  1st  in  diesen  "Worten  enthalten:  Die  von 
Christus  erloste,  mit  dem  heiligen  Geist  begabte  und  darum 
heilige  Gremeinde,  die  ihr  Biirgerrecht  im  Himmel  hat,  aber 
schon  hier  auf  Erden  den  heiligen  Geist  besitzt,  die  Er- 
neuerung  des  Einzelnen  durch  die  Vergebung  der  Siinden, 
und  die  Auferstehung  von  den  Toten.  So  gewifl  aber  diese 
drei  Stiicke  den  ganzen  Inhalt  der  evangelischen  Griiter  in 
sich  begreifen,  so  gewifl  ist  die  Fassung  des  letzten  Stiicks 
nicht  paulinisch  und  nicht  johanneisch.  Paulus  schreibt 
(I.  Kor.  15,  50):  ^Davon  sage  ich  aber,  Hebe  Briider,  dafl 
Fleisch  und  Blut  nicht  konnen  das  Reich  G-ottes  ererben; 
auch  wird  das  Verwesliche  nicht  erben  das  Unverwesliche", 
und  im  Johannes -Evangelium  steht  geschrieben  (6,  63): 
,,Der  G-eist  ist  es,  der  da  lebendig  macht,  das  Fleisch  ist 
kein  niitze".  In  der  Fassung  der  Auferstehung  und  des 
ewigen  Lebens  als  „ Auferstehung  des  Fleisches"  ist  mithin 
die  nachapostolische  Kirche  iiber  die  Linie  hinausgegangen, 
die  in  der  gemeinsamen  altesten  Verkiindigung  gegeben 
war.  Wohl  ist  schwerlich  daran  zu  zweifeln,  dafi  von  der 
friihesten  Zeit  her  einige  Christen  die  Auferstehung  des 
Fleisches  gepredigt  haben,  aber  eine  allgemeine  Lehre  war 
sie  nicht.  Auch  bieten  viele  Zeugnisse  der  alteren  Zeit 
statt  Auferstehung  des  Fleisches  „ Auferstehung"  oder 
,,ewiges  Leben".  Andererseits  bestand  die  Kirche,  als  sie 
bald  in  den  Kampf  mit  dem  Gnostizismus  eintreten  muCte, 
auf  der  Auferstehung  des  Fleisches,  um  nicht  die  Aufer 
stehung  iiberhaupt  zu  verlieren.  Aber  so  verstandlich  das 
ist  —  in  dem  damaligen  Kampfe  scheint  keine  andere 
Formel  ausgereicht  zu  haben  — ,  so  kann  die  Anerkennung 


Das  apostolische  Glaubensbekenntnis.  249 

dessen,  dafi  sich  die  Kirche  damals  in  einem  Notstand  be- 
fand,  das  Recht  der  Formel  nicht  schiitzen. 

Wir  haben  bisher  den  Wortlaut  des  altromischen  Sym 
bols  betrachtet  und  von  den  acht  Zusatzen  des  gallischen, 
neuromischen  Symbols  (unseres  jetzigen  Apostolikums)  ab- 
gesehen,  die  wir  oben  bezeichnet  haben.  Fiinf  von  ihnen 
verlangen  keine  Besprechung;  denn  sie  sind  schlechterdings 
nichts  anderes  als  Explikationen.  Dafl  7,gelitten"  zu  ,,ge- 
kreuzigt",  ,,gestorben"  vor  ,,begraben",  ,,ewiges  Leben" 
nach  wFleisches  Auferstehung"  gestellt  ist,  dafi  Grott  der 
allmachtige  Vater  ausdriicklich  als  wSchopfer  Himmels  und 
der  Erde"  bezeichnet,  dafl  endlich  fur  ,,geboren  aus  heiligem 
Greist  und  Maria  der  Jungfrau"  gesagt  wird,  7,empfangen 
vom  heiligen  Greist,  geboren  aus  der  Jungfrau  Maria"  andert 
an  dem  sachlichen  Inhalt  und  dem  Sinn  des  alten  Symbols 
gar  nichts.  Man  konnte  hochstens  sagen,  dafi  das  letzte  Stiick 
eine  Ausmalung  darstellt,  die  das  alte  Symbol  in  berechtigter 
Scheu  vermieden  habe.  Anders  steht  es  mit  den  drei  noch 
iibrigen  Zusatzen,  namlich  mit  „  niedergef ahren  zur  Holle", 
,,katholische  (Kirche)"  und  ?,Gremeinschaft  der  Heiligen". 

Das  »descendit  ad  inferna«  (inferos)  kommt  meines 
Wissens  zuerst  im  Taufsymbol  der  Kirche  von  Aquileja, 
dann,  aufier  in  den  gallischen  Symbolen,  auch  in  dem  iri- 
schen  usw.  vor.  Im  Orient  erscheint  es  zuerst  in  der  Formel 
der  4.  Synode  von  Sirmium  (i.  J.  359).  Das  nicanische  und 
konstantinopolitanische  Symbol  bieten  es  nicht.  Aber  in 
Schriften  des  2.  Jahrhunderts ,  und  zwar  bei  kirchlichen 
Schriftstellern  und  Haretikern,  findet  sich  bereits  der  Gre- 
danke,  dafi  Christus  -  -  vor  ihm  Johannes  der  Taufer,  nach 
ihm  die  Apostel  —  in  die  Unterwelt  hinabgestiegen  sei  und 
dort  gepredigt  habe.  Ob  die  Stelle  I.  Petri  3,  19  fur  alle 
diese  Erzahlungen  den  Ausgangspunkt  gebildet  hat,  wissen 
wir  nicht.  Seitdem  das  Stiick  in  den  Symbolen  auftaucht, 
d.  h.  seit  der  2.  Halfte  des  4.  Jahrhunderts,  wird  es  auch 
in  den  Auslegungen  miterklart.  Aber  die  Erklarungen 


250  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

lauten  verschieden.  An  die  ?,H6lleu  hat  im  Altertum 
meines  Wissens  kaum  einer  gedacht,  sondern  an  die  Unter- 
welt,  den  Hades,  das  Reich  der  Toten.  Die  einen  fassen 
die  Worte  lediglicK  als  Erganzung  zu  ?,begraben"  und 
nnden  nur  den  Sinn  in  ihnen,  dafi  der  Herr  wirklich  an 
den  Ort  der  Toten  gekommen  ist.  Die  anderen  folgen  dem 
1.  Petrusbrief  und  sprechen  von  einer  Predigt  Christi  in 
der  Unterwelt  und  der  Herausfuhrung  der  alttestamentlichen 
G-erechten  aus  dem  Hades.  Die  Erklarung,  die  Luther  in 
einer  Predigt  vorgetragen  und  die  Konkordienformel  vor- 
geschrieben  hat  (»Wir  glauben  einfaltig,  dafi  die  ganze 
Person,  Grott  und  Mensch,  nach  dem  Begrabnis  zur  Holle 
gefahren,  den  Teufel  iiberwunden,  der  Hollen  G-ewalt  zer- 
storet  und  dem  Teufel  alle  seine  Macht  genoinmen  habe"), 
findet  sich  bei  den  alten  Erklarern  nicht,  ja  sie  wird  fast 
von  alien  streng  ausgeschlossen.  Als  selbstandiges,  ebenbiir- 
tiges  G-lied  neben  den  anderen  zu  stehen,  dazu  ist  der  Satz 
zu  schwach,  und  darum  fehlte  er  mit  Recht  in  den  Symbolen 
der  Kirche  vor  Konstantin,  mag  man  nun  diese  oder  jene 
Erklarung  oder  die  seltsame  Umdeutung  Luthers  bevorzugen. 
Der  Zusatz  ,,katholisch"  zur  ,,heiligen  Kirche"  ist  in 
den  evangelischen  Kirchen  getilgt  und  durch  ,,christlich" 
ersetzt  worden.  Wir  haben  es  daher  eigentlich  nicht  notig, 
auf  ihn  einzugehen.  Allein  da  er  im  lateinischen  Text 
(s.  z.  B.  Luthers  grofien  und  kleinen  Katechismus)  stehen 
geblieben  ist,  so  verlangt  er  doch  ein  kurzes  "Wort.  Die 
Bezeichnung  der  Kirche  als  wkatholischtt  ist  in  der  kirch- 
lichen  Literatur  sehr  alt,  mindestens  so  alt  wie  das  alt- 
romische  Symbol,  und  zwar  findet  sie  sich  zuerst  im  Orient. 
Sie  bedeutete  ursprunglich  nichts  anderes  als  die  wallgemeine" 
Kirche,  die  ganze  Christenheit ,  die  unter  dem  Him m el  ist 
und  die  Gott  berufen  hat.  An  die  verfaBte  sichtbare  Kirche 
ist  noch  nicht  gedacht.  Hatte  das  Wort  also  bereits  in 
dem  altromischen  Symbol  Aufnahme  gefunden,  so  ware  es 
dort  in  diesem  Sinne  zu  deuten.  Allein  seit  dem  Uber- 


Das  apostolische  Glaubensbekenntnis.  251 

gang  des  2.  zum  3.  Jahrhundert  bekam  das  Wort  noch 
einen  Nebensinn,  der  dann  allmahlich  im  Abendlande  zum 
ebenbiirtigen  Sinn  wurde.  Es  bezeichnete  die  sichtbare,  in 
bestimmten  Ordnungen  verfaflte,  um  die  Apostelgemeinden, 
vor  allem  um  Rom  sich  gruppierende  orthodoxe  Kirche  im 
Unterschied  von  den  haretischen  Gremeinschaften.  Es  ist 
namentlich  Afrika  (und  in  Afrika  Cyprian)  gewesen,  das 
den  Begriff  in  dieser  Richtung  ausgebildet  hat.  Wir  sind 
deshalb  verpflichtet,  die  Bezeichnung,  nachdem  sie  in  die 
lateinischen  Symbole  vom  3.  Jahrhundert  an  aufgenommen 
wurde  (heimisch  wurde  sie  in  den  Symbolen  erst  im  5.  Jahr 
hundert),  dort  auch  in  dem  angegebenen  Sinne  zu  verstehen, 
also  auch  in  unserem  Apostolikum.  Dann  aber  ist  offenbar, 
dafi  die  Kirche  der  Reformation  die  so  zu  deutende  Bezeich 
nung  nicht  stehen  lassen  konnte.  Sie  muGte  sie  umdeuten 
oder  entfernen.  Jenes  ist  in  Bezug  auf  den  lateinischen  Text 
geschehen  —  Luther  kehrt  aber  mit  dieser  Umdeutung 
zum  altesten  Sinn  des  Wortes  wieder  zuriick,  iiber  den 
Symbolsinn  hinwegschreitend  — ,  dieses  in  Bezug  auf  den 
deutschen  Text. 

Am  dunkelsten  ist  die  Entstehung  und  der  urspriing- 
liche  Sinn  des  Zusatzes  ,,G-emeinschaft  der  Heiligen".  Man 
hat  versucht,  diesen  Begriff  in  Verbindung  zu  setzen  mit 
dem  Stuck  nNiedergefahren  zur  Holle".  Dort  soil  die 
himmlische  Q-emeinschaft  der  Heiligen,  hier  die  der  alt- 
testamentlichen  Grerechten,  die  aus  dem  Hades  ausgefuhrt 
seien,  gemeint  sein.  Aber  diese  Verbindung  ist  kiinstlich 
und,  wenn  sie  je  wirklich  stattgefunden,  spat.  Man  mufi 
das  Q-lied  fiir  sich  betrachten.  Auf  griechischem  Boden 
kommt  es  als  Glied  im  Symbol  iiberhaupt  nicht  vor  (genau 
in  das  Griechische  ubersetzt,  wiirde  der  Ausdruck  ,,Anteil 
am  Heiligen"  d.  h.  am  Kultus,  vor  allem  am  heiligen  Abend- 
mahl,  bedeuten).  Es  ist  als  Symbolglied  eine  rein  lateini- 
sche  Bildung,  und  zwar  begegnet  der  Begriff  in  der  kirch- 
lichen  lateinischen  Literatur  nicht  vor  Augustin  und  dem 


252  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

donatistischen  Streit  (in  den  Symbolen  ist  er  auch  damals 
noch  nicht  zu  finden).  Hier  aber  war  er  ein  Hauptbegriff, 
der  umstritten  wurde:  Augustin  und  seine  Gregner  fassen 
ihn  als  ,,die  Gremeinschaft  der  wahrhaft  Heiligen  (Grlaubigen) 
auf  Erden";  aber  beide  bestimmen  das  Verhaltnis  der  em- 
pirischen  katholischen  Kirche  zu  ihm  anders.  (Augustin  im 
Sinne  der  wesentlichen  Identitat).  Hiernach  sollte  man  er- 
warten,  dafl  der  Begriff  dort,  wo  er  znerst  in  den  Sym 
bolen  auftaucht,  ebenfalls  als  eine  nahere  Erklarung  zu 
,,heilige  katholische  Kirche",  als  ,,die  G-emeinschaft  der 
Heiligen,  welche  die  katholische  Kirche  ist",  verstanden 
werden  wurde.  Es  lage  dann  hier  der  seltene  Fall  vor, 
dafi  das  Taufbekenntnis  infolge  einer  kirchlichen  Streitig- 
keit  einen  Zusatz  erhalten  hatte.  Allein  die  altesten  Sym- 
bolerklarungen  deuten  den  Ausdruck,  nachdem  er  in  die 
gallischen  Symbole  gekommen  war,  nicht  im  augustinischen, 
antidonatistischen  Sinne,  sondern  fassen  ihn  als  nGremein- 
schaft  mit  den  vollendeten  Heiligen"  (oder:  der  vollendeten 
Heiligen).  Ja  man  mufi  vielleicht  noch  urn  einen  Schritt 
weiter  gehen.  Wahrscheinlich  nicht  nur  die  alteste  Aus- 
legung  des  Symbols,  in  der  der  Ausdruck  vorkommt,  ist 
die  des  Gralliers  Faustus  von  Reji,  sondern  er  bietet  iiber- 
haupt  eines  der  altesten  Zeugnisse  fur  die  Existenz  des 
Grliedes  ,,Communionem  sanctorum"  in  einem  Symbol.  Wie 
aber  hat  Faustus  die  Worte  erklart?  Er  schreibt:  ^Wir 
wollen  zur  ,G-emeinschaft  der  Heiligen'  iibergehen.  Dieser 
Ausdruck  widerlegt  diejenigen,  welche  lasterlich  behaupten, 
daB  man  die  Asche  der  Heiligen  und  Freunde  Grottes  nicht 
in  Ehren  halten  diirfe,  welche  nicht  glauben,  daB  das  ruhm- 
reiche  G-edachtnis  der  seligen  Martyrer  durch  die  Verehrung 
ihrer  heiligen  Statten  zu  feiern  sei.  Solche  Leute  haben 
unredlich  gegen  das  Symbol  gehandelt  und  Christo  bei  der 
Taufe  gelogen  und  haben  durch  diesen  Unglauben  mitten 
im  Schofi  des  Lebens  dem  Tode  Raum  gegeben"  (,,Ut 
transeamus  ad  ,Sanctorum  Communionem'.  Illos  hie  sen- 


Das  apostolische  G-laubensbekenntnis.  253 

tentia  ista  confudit,  qui  Sanctorum  et  Amicorum  Dei  cineres 
non  in  honore  debere  esse  blasphemant,  qui  beatorum  mar- 
tymm  gloriosam  memoriam  sacrorum  reverentia  monumen- 
torum  colendam  esse  non  credunt.  In  Symbolum  prae- 
varicati  sunt,  et  Christo  in  fonte  mentiti  sunt,  et  per  hanc 
infidelitatem  in  medio  sinu  vitae  locum  morti  aperuerunt"). 
Faustus  bezieht  also  die  Worte  auf  die  Anhanger  des  Vi- 
gilantius,  auf  die  Gregner  des  Heiligenkultus.  Er  weiB  es 
nicht  anders,  als  daB  der  Ausdruck  im  Symbol  die  ,,Hei- 
ligen"  (im  pragnanten,  katholischen  Sinn  des  Wortes)  bedeu- 
tet,  und  dafl  er  den  Heiligenkult  enthalt  und  schiitzt.  Fau- 
stus'  Symbol  aber  ist,  wie  bemerkt,  eines  der  altesten  Sym- 
bole,  welches  wir  kennen,  das  die  Worte  „  Sanctorum  com- 
munionem"  enthalt.  Darauf  hin  und  in  Erwagung,  dafi 
die  Worte  zuerst  in  Siidgallien  (in  der  zweiten  Halfte  des 
5.  Jahrhunderts)  im  Symbol  auftauchen,  dafi  aber  Vigilantius 
in  der  ersten  Halfte  desselben  Jahrhunderts  in  der  Nahe, 
namlich  in  Barcelona,  wirkte  und  Anhanger  fand,  wird 
man  es  nicht  fur  unwahrscheinlich  halten  konnen,  dafi  die 
fraglichen  Worte  wirklich  ^Gremeinschaft  mit  den  Mar- 
tyrern  und  den  besonders  Heiligen"  bedeuten  sollten.  Sie 
waren  in  diesem  Falle  urspriinglich  keine  Explikation  des 
Ausdruckes  wheilige,  katholische  Kirche",  sondern  eine  Fort- 
setzung  desselben.  Sicher  ist  jedoch  dieses  Verstandnis  der 
Worte  nicht;  ist  aber  der  urspriingliche  Sinn  der  ange- 
gebene,  dann  war  es  fur  die  Kirchen  der  Reformation  not- 
wendig,  ihn  umzudeuten.  Diese  Umdeutung  konnte  um  so 
leichter  geschehen,  als  man  eine  passende  und  wertvolle 
Auslegung,  die  allerdings  im  Symbol  nicht  die  urspriing 
liche  ist,  bei  Augustin  fand.  Sie  war  auch  wahrend  des 
ganzen  Mittelalters  nie  vergessen  worden. 

Wer  von  der  Lektiire  der  apostolischen  Vater  und  der 
Apologeten  an  das  altromische  Taufbekenntnis  herantritt, 
der  muB  mit  dankbarer  Bewunderung  die  Glaubenstat  der 


254  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

romischen  Kirche  in  diesem  Tauf  bekenntnis  erkennen.  Uber- 
schlagt  man,  welche  fremde  und  seltsame  Gredanken  schon 
damals  an  das  Evangelium  herangeriickt  wurden,  wie  diirf- 
tig  haufig  die  Betrachtung  desselben  war,  wie  der  Chilias- 
mus  und  die  Apokalyptik  einerseits,  der  Nomismus  und  die 
griechische  Philosophie  andererseits  das  Evangelium  zu  um- 
stricken  drohten,  so  erscheint  das  altromische  Symbol  doppelt 
groJS  und  ehrwiirdig.  Was  ihm  den  hochsten  und  bleibenden 
Wert  verleiht,  das  ist,  neben  dem  Bekenntnis  zu  Q-ott 
als  dem  allmachtigen  Vater,  das  Bekenntnis  zu  Jesus 
Christus,  dem  eingeborenen  Sohn  G-ottes  unserm  Herrn, 
und  das  Zeugnis,  dafi  durch  ihn  die  heilige  Christenheit, 
Vergebung  der  Siinden  und  ewiges  Leben  geworden  sind. 
Allein  man  vermifit  den  Hinweis  auf  seine  Predigt,  auf  die 
Ziige  des  Heilandes  der  Armen  und  Kranken,  der  Zollner 
und  Sunder,  auf  die  Personlichkeit,  wie  sie  in  den  Evan- 
gelien  leuchtet.  Das  Symbol  enthalt  eigentlick  nur  Uber- 
schriften.  In  diesen  Sinne  ist  es  unvollkommen ;  denn  kein 
Bekenntnis  ist  vollkommen,  das  nicht  den  Heiland  vor  die 
Augen  malt  und  dem  Herzen  einpragt. 


JSTachwort  (1892). 

Erneute  heftige  Angriffe  auf  meinen  theologischen 
Standpunkt  und  meine  Person  haben  mich  veranlafit,  vor- 
stelienden  geschiclitliclien  Bericht  zu  veroffentlichen.  Die 
Ergebnisse  desselben  sind  zum  kleinsten  Teil  Friiclite  meiner 
Forschung.  Sie  sind  die  E/esultate  einer  langen  Arbeit  der 
protestantischen  Wissenschaft,  an  der  ich  mich  seit  20  Jahren 
auch  beteiligt  habe  (s.  meinen  Artikel  „  Apostolisch.es  Symbol" 
in  Herzogs  R/eal-Encyklop.  2.  Aufl.  1877  und  meine  Ab- 
handlung  »Vetustissimum  ecclesiae  Romanae  symbolum  e 
scriptis  virorum  Christianorum  qui  I.  et  II.  p.  Chr.  n.  saeculo 
vixerunt  illustratum«  in  debhardts  Ausgabe  der  Apostol. 
Vater  I,  2  1878,  vgl.  auch  mein  Lehrbuch  der  Dogmen- 


Das  apostolische  G-laubensbekenntnis.  255 

geschichte).  "Was  ich  hier  vorgetragen,  habe  ich  in  den 
Grrundziigen  ebenso  seit  der  angegebenen  Zeit  anf  den 
Universitaten  Leipzig,  Griefien  und  Marburg  gelehrt,  und 
es  steht  in  meinen  Schriften  zu  lesen.  Es  ist  aber  kein 
Jahr  vergangen,  in  dem  ich  nicht  meine  Stndien  iiber  den 
groflen  Gegenstand  fortgesetzt  hatte.  Weitere  Belehrung 
oder  Berichtigung,  wenn  sie  von  Sachverstandigen  kommt, 
will  ich  gern  empfangen. 

Die  ernenten  Angriffe  auf  mich  sind  die  Folge  eines 
Artikels  gewesen,  den  ich  in  der  wChristlichen  Welt"  No.  34 
d.  J.  veroffentlicht  habe.  Im  Lanfe  des  Sommersemesters 
wurde  ich  durch  die  Anfrage  aus  einem  mir  personlich 
ganz  unbekannten  Kreise  von  Studierenden  iiberrascht,  ob 
sie  zusammen  mit  Kommilitonen  anderer  Hochschulen  eine 
Petition  wegen  Abschaffung  des  Apostolikums  an  den  Ober- 
kirchenrat  richten  sollten.  Es  war  der  7,Fall  Schrempf", 
der  die  Gremuter  der  Jugend  machtig  erregt  hatte.  Da  ich 
in  der  Yorlesung  iiber  Kirchengeschichte  des  19.  Jahr- 
hunderts  die  Bewegnngen  iiber  das  Bekenntnis  (Preuflische 
Generalsynode  von  1846)  demnachst  zu  besprechen  und  zu 
beurteilen  hatte,  so  beschloC  ich  einen  Teil  der  Stunde  vor- 
wegzunehmen,  den  Studierenden  in  der  Vorlesung  ausfuhr- 
lich  zu  antworten  und  den  Fragestellern,  um  Mifiverstand- 
nisse  zu  vermeiden,  die  Hauptpunkte  meiner  Antwort  schrift- 
lich  zu  geben.  Es  gelang  mir,  die  keimende  Agitation  zu 
unterdriicken;  aber  damit  iibernahm  ich  selbst  eine  einzu- 
losende  Verpflichtung.  An  eine  Veroffentlichung  meiner 
Antwort  an  die  Studenten  habe  ich  urspriinglich  doch  nicht 
gedacht.  Aber  welch  ein  Heer  von  Entstellungen  und  Ver- 
leumdungen  ware  iiber  die  Vorlesung  in  die  Welt  gesetzt 
worden,  wenn  die  Veroffentlichung  durch  den  Druck  unter- 
blieben  ware!  Was  mir  da  bevorstand,  wuCte  ich  aus 
meiner  hiesigen  vierjahrigen  Erfahrung,  und  es  kundigte 
sich  auch  jetzt  wieder  an. 

Von  dem,  was  ich  geschrieben  habe,   habe  ich  nichts 


256  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

zuriickzunehmen  und  habe  auch  eine  Verteidigung  nicht 
notig.  Ich  hoife,  dafl,  wer  guten  Willens  1st,  mein  Recht 
und  meine  Pflicht,  den  Studierenden  so  zu  antworten,  wie 
ich  geantwortet  habe,  auf  Grund  vorstehenden  Berichts 
anerkennen  wird;  gegen  den  bosen  Willen  sind  wir  alle 
machtlos.  Auf  die  Proteste,  Schmahungen,  Unterschiebungen 
und  Entstellungen  werde  ich  so  wenig  antworten,  wie  vor 
vier  Jahren.  Es  ist  nicht  meines  Amtes,  die  Frage  zu  er- 
wagen,  ob  ein  solches  Treiben,  wie  es  jetzt  wieder,  wie 
auf  Kommando,  entfesselt  ist,  in  der  evangelischen  Kirche 
geduldet  werden  darf. 

Nur  auf  zwei  sachKche  Vorhaltungen  mufl  ich  zum 
Schlufl  eingehen.  Die  Protestanten-Vereins-Korrespondenz 
No.  36  preist  mir  ihren  eigenen  Standpunkt  an  und  rat  mir, 
mich  von  meiner  ,,Vermittelungstheologie"  auf  denselben 
zuriickzuziehen ;  dann  seien  alle  Notstande  und  Kollisionen 
niit  einem  Schlage  beseitigt,  in  denen  das  Gewissen  zu 
brechen  drohe.  Sie  lafit  dabei  deutlich  genug  durchblicken, 
dafi  sie  mich  fur  minder  gewissenhaft  halt  als  ihre  Freunde. 
Aber  welches  ist  der  Standpunkt  der  Protestanten-Vereins- 
Korrespondenz?  Man  soil  sich  der  tiberzeugung  hingeben, 
daJB  alle  kirchlich  theologischen  Bekenntnisse  der  Vergangen- 
heit  keinen  dogmatisch  bindenden  Charakter  mehr  bean- 
spruchen  konnen:  ^Es  sind  denkwiirdige  Dokumente  einer 
vergangenen  Epoche  der  Kirche."  Aber  so  betrachtet  sie 
die  evangelische  Kirche  doch  noch  nicht,  wenn  sie  an  ihre 
Pfarrer  die  Forderung  stellt,  das  apostolische  Grlaubensbe- 
kenntnis  am  Sonntag  vorzulesen  und  wenn  sie  von  alien 
ihren  Grliedern  verlangt,  daB  sie  sich  bei  der  Taufe  und  der 
Konfirmation  zu  ihm  bekennen.  Sie  sollen  also  zu  diesem 
Bekenntnis  innerlich  Stellung  nehmen,  eine  Stellung,  die 
iiber  das  „  denkwiirdige  Dokumente  einer  vergangenen 
Epoche"  hinausfuhrt.  Ich  verstehe  nicht,  wie  die  Protest.- 
Ver.-Korresp.  um  diesen  Tatbestand  herumkommt,  bescheide 
mich  aber.  Zwischen  dem  ^dogmatisch  bindenden  Charakter" 


Das  apostolische  Glaubensbekenntnis.  257 

und  den  ^denkwurdigen  Dokumenten  einer  vergangenen 
Epoche"  liegt  doch  noch  etwas  dazwischen,  und  man  kann 
es  sehr  kurz  sagen,  um  was  es  sich  dabei  handelt  —  um 
die  Person  Christi.  In  einer  Zeitschrift  stand  neulich 
ungefahr  folgendes  zu  lesen:  Die  7,historische  Spezialitat" 
der  Person  Christi  sei  nicht  die  Hauptsache  im  Christen- 
tum,  wie  die  Kitschlsche  Theologie  annehme.  Ich  bin  dem 
Verf.  fur  diesen  allerdings  nicht  schonen  Ausdruck  dank- 
bar;  denn  er  bezeichnet  genau  das,  was  uns  von  manchen 
Freunden  der  Pro  test. -Ver.-Korresp.  trennt.  Uns  ist  die 
,,historische  Spezialitat"  der  Person  Christi,  klar  und  sieher 
erkannt,  so  wichtig  wie  seine  Lehre;  denn  einem  Christen- 
tum  ohne  Christus  fehlt  die  Kraft.  In  dieser  TJberzeugung 
wunschen  wir  ein  freies,  aber  deutliches  Bekenntnis  und 
ertragen  die  Unvollkommenheiten  der  alten  Bekenntnisse. 
Aber  wir  halten  uns  fur  verpflichtet,  auf  diese  Unvollkommen 
heiten  hinzuweisen ,  darauf  zu  dringen,  daB  nicht  gerade 
sie  fur  das  Wesentliche  erklart  werden,  und  ihre  Fortbildung 
vorzubereiten.  Die  Differenz  zwischen  den  alten  Bekennt- 
nissen  und  der  geschichtlichen  Betrachtung  unserer  Zeit 
empfinden  wir  so  stark  wie  die  Freunde  der  Protest. -Ver.- 
Korresp.,  aber  wir  empfinden  ihn  als  einen  Notstand.  Wer 
seine  Kirche  lieb  hat,  der  kann  ihn  ertragen;  aber  er  weifi 
auch,  dafi  der  Notstand  damit  nicht  gehoben  ist,  dafl  man 
die  alten  Bekenntnisse  als  )3denkwurdige  Dokumente  einer 
vergangenen  Epoche"  betrachtet,  sondern  dafi  man  zugleich 
das  alte  Evangelium  in  den  neuen  Formen  unserer  Erkennt- 
nis  so  fest  und  sieher  zu  fassen  vermag,  wie  die  alte  Kirche 
und  die  Heformationszeit  es  in  ihren  Formen  verstanden 
haben.  Andernfalls  wird  das  allein  iibrig  bleiben,  was  ein 
frivoler  Englander  neulich  im  Gregensatz  zu  dem  gleichfalls 
von  ihm  verachteten  kirchlichen  Christentum  ^Amateur- 
Christentum"  genannt  hat.  Ich  bin  weit  entfernt,  iiber 
ein  solches  zu  richten,  aber  die  gegebenen  Kirchen  kann 
man  mit  ihm  nicht  weiter  bauen. 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Anfl.    I.  17 


258  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

Die  andere  Vorhaltung,  die  mir  zuteil  geworden  ist, 
stammt  von  dem  Vorstand  der  evangelisch-lutherischen 
Konferenz  in  der  preufiischen  Landeskirche  und  den  Vor- 
sitzenden  der  lutherischen  Vereine  in  den  Provinzen.  Die- 
ser  Vorstand  hat  es  fur  notig  gehalten,  eine  Erklarung 
wider  mich  zu  veroffentlichen.  Ich  lasse  die  zahlreichen 
Fahrlassigkeiten  in  dem  Referate  iiber  das,  was  ich  ge- 
schrieben  habe  —  kein  Satz  ist  riehtig  wiedergegeben  - 
beiseite  und  halte  mich  an  den  Schlufi  der  Erklarung;  er 
lautet:  ,,Dafi  der  Sohn  Grottes  ,,empfangen  ist  von  dem 
heiligen  Greiste,  geboren  von  der  Jungfrau  Maria",  das  ist 
das  Fundament  des  Christentums ;  es  ist  der  Eckstein,  an 
welchem  alle  "Weisheit  dieser  "Welt  zerschellen  wird."  Ich 
erwidere:  Wenn  das  der  Fall  ware,  stande  es  schlimm  um 
Markus,  schlimm  um  Paulus,  schlimm  um  Johannes,  schlimm 
um  das  Christentum.  Diese  Behauptung,  wenn  sie  wort- 
lich  so  genommen  wird,  wie  sie  lautet,  widerspricht  dem 
Urchristentum  und  verwirrt  den  Grlauben.  Dafi  Jesus 
Christus  der  Sohn  Grottes  ist  oder  —  der  Ausdruck  stammt 
erst  aus  der  griechischen  Theologie,  der  G-edanke  ist  evan- 
gelisch  —  der  Gottmensch,  in  dem  Grott  erkannt  und 
ergriffen  wird :  das  ist  Fundament  und  Eckstein  des 
Christentums.  Aber  dieser  Grlaube  ist  unabhangig  von  den 
beiden  widerspruchsvollen  Erzahlungen  iiber  die  wunder- 
bare  Entstehung  Jesu,  sonst  hatten  ihn  alle  die  Vielen 
nicht  besitzen  konnen,  die  von  dieser  Entstehung  nichts 
gewufit  haben.  Ich  will  mich  hier  einmal  auf  eine  Auto- 
ritat  beziehen,  auf  einen  Mann,  dessen  Name  in  alien 
Kreisen  der  evangelischen  Theologie,  auch  bei  den  Kon- 
servativen,  den  besten  Klang  besitzt  und  der  sein  ganzes 
Leben  der  Erforschung  des  Neuen  Testaments  gewidmet 
hat,  den  Oberkonsistorialrat  H.  A.  W.  Meyer  in  Hannover: 
Er  hat  in  seinem  Kommentar  zum  Lukas  -  Evangelium 
(5.  Aufl.  1867  S.  254)  Kap.  1,  5—38  geschrieben:  wMit 
Recht  haben  Markus  und  Johannes  diese  "Wunder  der 


Das  apostolisclie  G-laubensbekenntnis.  259 

Vorgeschichte  aus  dem  Kreise  der  evangelischen  Greschichte, 
die  erst  mit  dem  Auffcritt  des  Taufers  anhob,  ausgesclilossen, 
wie  sich  denn  Jesus  selbst  nirgends,  auch  im  vertrauten 
Kreise  nicht,  darauf  bezieht,  der  Unglaube  der  eigenen 
Briider  aber  Joh.  7,  5,  ja  selbst  das  Benehmen  der  Maria 
Mark.  3,  21  ff.  unvereinbar  damit  ist."  Und  gegen  Phi- 
lippi  bemerkt  derselbe  Grelehrte  (Kommentar  z.  Matth. 
5.  Aufl.  1864  S.  61):  ,,Es  ist  ein  gefahrliches,  aber  unrich- 
tiges  Dilemma,  dafi  die  Idee  des  G-ottmenschen  mit  der 
jungfraulichen  Greburt  stehe  und  falle."  Wohl  wissen  wir, 
dafi  viele  Christen  so  denken  wie  Philippi.  Wir  ehren 
auch  diese  Grestalt  ihres  Qlaubens,  lehren  sie  die  zukiinf- 
tigen  Pfarrer  verstehen  und  wollen  sie  niemandem  nehmen, 
dem  damit  das  Christentum  genommen  wird.  Aber  man 
darf  das  nicht  in  der  Kirche  als  Haupt-  und  Fundamental- 
artikel  des  Grlaubens  aufrichten,  was  nicht  zum  Inhalt  des 
Evangeliums  Christi  gehort,  im  besten  Falle  eine  Erklarung 
und  Hilfslinie,  fur  viele  in  unseren  Tagen  aber  ein  Stein 
des  Anstofies  und  ein  Mittel  der  Entfremdung  vom  Evan- 
gelium  ist.  Darum  miissen  wir  darauf  hinarbeiten,  dafi 
eine  Zeit  komme,  in  der  diese  Anstofie  und  ahnliche  be- 
stimmter  und  sicherer  iiberwunden  werden,  als  es  jetzt 
moglich  ist.  Dazu  gehort  aber  auch,  dafi  die  Grewissen 
nicht  mit  Formeln  beschwert  werden,  die  nicht  den  Heils- 
glauben  enthalten,  auch  wenn  sie  wortlich  der  Bibel  oder 
der  altesten  Verkiindigung  entsprechen;  denn  diese  sind 
doch  selbst  von  den  verganglichen  Ziigen  ihrer  Zeit  nicht 
frei.  Nach  den  Meinungen  des  Tages  soil  das  Evangelium 
nicht  gemodelt  werden,  und  so  toricht  oder  frivol  ist 
wohl  niemand,  dafi  er  erwartet,  der  schmale  Weg  werde 
zum  breiten  werden,  wenn  man  nur  jene  Anstofie  beseitigt. 
Aber  mancher  Stein,  der  in  alteren  Zeiten  hat  mittragen 
helfen,  ist  im  Wechsel  der  Zeit  zum  Stein  geworden,  der 
im  "Wege  liegt.  Es  ist  das  Vorrecht  und  die  heilige  Pflicht 
evangelischer  Theologen,  unbekiimmert  um  Grunst  oder 

17* 


260  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

Ungunst,  an  der  reinen  Erkenntnis  des  Evangeliums  zu 
arbeiten  und  offen  zu  erklaren,  was  nach  ihrer  Uberzeu- 
gung  der  Wahrheit  entspricht  und  was  niclit.  Ihre  Pnicht 
ist  es  auch,  im  Namen  der  zah.lreich.en  Grlieder  der  evan- 
gelischen  Kirche  zu  sprechen,  die  aufrichtige  Christen  sind 
und  sich  durch  manche  Satze  des  Apostolikums ,  wenn  sie 
sie  als  ihren  Grlauben  bekennen  sollen,  in  ihrem  G-ewissen 
bedriickt  fuhlen.  Mehr  als  ein  Weg  ist  moglich,  urn  den 
Notstand,  der  fur  manchen  Christen  besteht,  zu  heben, 
und  die  Liebe  und  der  gemeinsame  Grlaube  werden  den 
rechten  "Weg  in  der  evangelischen  Kirche  gewifi  finden. 
Einen  hat  die  Preufiische  Greneralsynode  im  Jahre  1846 
vergeblich  betreten;  ein  anderer  ist  von  manchen  evange 
lischen  Landeskirchen  schon  gefunden :  der  fakultative  litur- 
gische  Grebrauch.  des  Apostolikums.  Evangelische  Theologen 
warten  ihres  Amtes,  wenn  sie  auf  diese  und  ahnliche  "Wege 
hinweisen  und  dabei  die  verschiedenen  Richtungen  in  der 
Kirche  zu  gegenseitigem  Verstandnis  anleiten,  damit  die 
eine  die  Last  der  anderen  tragen  lerne.  ,,Nun  sucht  man 
nicht  mehr  an  den  Haushaltern,  denn  daC  sie  treu  erfunden 
werden. " 


Das  apostolisehe  G-laubensbekenntnis.  201 


Zusa"tze. 

Zu  S.  227  Absatz  1.  Kattenbusch,  Das  apostolisehe 
Symbolum,  2.  Bd.  (1900),  hat  gegen  diese  Feststellungen 
allerlei  Zweifel  aufgebracht,  auf  die  ich  hier  nicht  einzu- 
gehen  vermag.  Auch  mag  es  hier  auf  sich  beruhen  bleiben, 
in  welchem  Verhaltnis  das  sudgallische  Symbol  zu  einem 
sehr  verwandten  Symbol  steht,  welches  uns  aus  einer  Kirche 
in  Dacien  (Anfang  des  5.  Jahrhunderts)  iiberliefert  ist. 

Zu  S.  233.  Kattenbusch  u.  a.  glauben  zeigen  zu 
konnen,  dafi  das  Symbol  um  d.  J.  100  oder  bald  nachher 
entstanden  ist.  Ihre  Beweise  haben  mich  aber  nicht  uber- 
zeugt. 

Zu  S.  233.  Am  energischsten  hat  Loofs  (Symbolik 
Bd.  I,  1902,  S.  6ff.)  die  Ansicht  verfochten,  dafi  der  Orient 
ein  uraltes  Taufsymbol  besessen  hat,  dem  gegeniiber  das 
altromische  Symbol  sekundar  ist.  Ich  bleibe  bei  der  im 
Text  vorgetragenen  Ansicht. 

Zu  S.  238  £  Sehr  bemerkenswert  ist,  dafi  Luther  in 
sein  ,,Taufbuchleinu  (1523.  1526.  Erlanger  Ausgabe  Bd.  22, 
S.  162.  293)  nicht  das  Apostolisehe  Grlaubensbekenntnis  auf- 
genommen  hat,  sondern  eine  verkurzte  Form  desselben,  die 
aus  dem  fruhen  Mittelalter  stammt:  ,,0-laubst  du  an  Qott, 
den  allmachtigen  Vater,  Schopfer  Himmels  und  der  Erden? 
Glaubst  du  an  Jesum  Christ,  seinen  einigen  Sohn,  unsern 
Herrn,  geboren  und  gelitten?  Grlaubst  du  an  den  heiligen 
Greist,  eine  heilige  christliche  Kirche,  Gemeine  der  Heiligen, 
Vergebung  der  Siinden,  Auferstehung  des  Fleisches  und 
nach  dem  Tod  ein  ewiges  Leben?" 


262  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

Zu  S.  245.  Hinzuzufiigen  ist,  daB  viele  sehr  alte  Zeugen 
Luk.  3,  22  (Erzahlung  der  Taufe  Jesu)  folgenden  Wortlaut 
bieten:  ,,Du  bist  mein  Sohn;  ich  habe  dich  heute  gezeugt." 
Also  leitete  man  die  Sohnschaft  Jesu  von  der  Herabkunft 
des  Geistes  auf  ihn  ab,  betrachtete  sie  mithin  nicht  als 
eine  physische.  —  Das  Mcanische  Symbolum  enthalt  die 
Greburt  aus  der  Jungfrau  nicht. 

Zu  S.  246  Z.  6f.  AUerdings  bieten  noch  die  Schmal- 
kaldischen  Artikel  (lat.  Text)  ,,Maria  sancta  semper  virgo". 

Zu  S.248  Z.  lOf.  ,,Auferstehung  von  den  Toten"  statt 
,,Auferstehung  des  Fleisches"  findet  sich  in  Symbolen  nnd 
Grlaubensregeln  haufig. 

Zu'S.  249  Z.20ff.  EicMig  Huther  zn  I.  Petr.  3,  19  (in 
Meyers  Kommentar  zum  Neuen  Testament  XII.  Abt.  3.  Anfl. 
S.  177):  ,,Diese  Stelle  sagt  nichts  liber  die  Existenz  Christi 
zwischen  seinem  Tode  und  seiner  Anferstehnng  ans  .  .  .  Zu 
bemerken  ist  noch,  dafi  weder  die  Lehre  der  Form.  Concord., 
noch  auch  die  Lehren  der  Katholiken  von  dem  limbus 
patrum  und  dem  Purgatorium  in  dieser  Stelle  irgend  einen 
Grrund  haben."  Die  ,,H6llenfahrt",  von  der  das  Symbol 
spricht,  entbehrt  der  biblischen  Begriindung. 

Zu  S.  254  Z.  8ff.  Was  ich  hier  zusammengefafit  habe, 
entspricht  wesentlich  der  Fassung  Luthers  in  seinem  Tauf- 
biichlein  (s.  oben),  ohne  dafi  ich  an  Luther  gedacht  hatte. 
-  Zeigt  man  den  G-egnern,  dafi  nicht  alle  Satze  des  Sym 
bols  biblisch  begriindet  sind,  so  erwidern  sie:  ,,aber  es  ist 
das  uralte  Bekenntnis  der  ganzen  Christenheit."  Weist 
man  ihnen  nach,  dafi  es  das  nicht  ist,  so  entgegnen  sie: 
7,aber  es  ist  biblisch  begriindet".  DaJS  der  Wortlaut  — 
um  diesen  handelt  es  sich  —  nicht  durchweg  sicher  aus 
der  Bibel  begriindet  werden  kann,  ist  schwer  zu  bestreiten. 
Aber  selbst  wenn  das  moglich  ware,  ware  noch  nichts  ent- 
schieden.  Denn  ein  Grlaubenssatz  ist  noch  nicht  deshalb 
ein  Grlaubenssatz  in  der  evangelischen  Kirche,  weil  es  irgend 
eine  Stelle  in  der  Bibel  gibt,  mit  der  man  ihn  belegen 


Das  apostolische  Glaubensbekenntnis.  263 

kann,  sondern  Grlaubenssatz  ist  nur,  was  zum  Inhalt  des 
Evangeliums  gehort. 

Zu  S.  256  Z.  8  ff.  Man  hat,  ohne  daB  ich  Anlafl  dazu 
gegeben  hatte,  diese  Worte  so  verstanden,  als  bezeichnete 
ich  jeden  Angriff  auf  mich  als  ein  ,,Treiben".  Das  ist  mir 
natiirlich  nicht  in  den  Sinn  gekommen.  Ernstliche  sach- 
liche  Vorhaltnngen  ehre  ich  und  verstehe,  daft  sie  gekom- 
nien  sind.  Dafi  aber  ein  ?,Treibenu  mit  Schmahungen, 
Unterschiebungen  und  Entstellungen  wider  mich  entfesselt 
ist,  und  dafi  daneben  nur  sehr  wenige  ruhige  und  besonnene 
Gegner  aufgetreten  sind,  liegt  am  Tage. 

Zu  S.  259  Z.  19.  Aus  den  Worten  meiner  Erklarung 
in  der  nChristlichen  "Welt"  (oben  S.  222  £):  ,,Die  Anerken- 
nung  des  Apostolikums  in  seiner  wortlichen  Fassung  ist 
nicht  die  Probe  christlicher  und  theologischer  E/eife;  im 
Gregenteil  wird  ein  gereifter,  an  dem  Verstandnis  des  Evan 
geliums  und  an  der  Kirchengeschichte  gebildeter  Christ 
Anstofi  an  mehreren  Satzen  des  Apostolikums  nehmen 
miissen",  hat  man  Anmafiung,  Beleidigung  des  Pastoren- 
standes  und  der  Glaubigen  und  alles  mogliche  Schlimme 
herausgelesen.  Demgegeniiber  bemerke  ich  um  des  Friedens 
willen,  1.  dafi  mir  jede  Absicht  einer  Beleidigung  vollig 
fern  gelegen  hat,  2.  dafi  nach  dem  deutschen  Sprach- 
gebrauch  ,,wird  mussen"  nicht  die  absolute  Notwendigkeit 
bezeichnet,  sondern  die  sichere  Erwartung  des  Eintritts 
eines  Zustandes,  3.  dafi  ich  nicht  von  gebildeten  Christen 
schlechtweg,  sondern  von  ,,an  der  Kirchengeschichte  ge 
bildeten  Christen"  gesprochen  habe,  4.  dafi,  soviel  ich  aus 
den  Kundgebungen  meiner  Gregner  ersehen  kann,  auch  in 
ihren  Reihen  AnstoB  am  Wortlaut  und  ursprunglichen  Sinn 
des  Apostolikums  nicht  ganz  fehlt,  mo  gen  sie  sich  auch 
durch  Erklarungen  d.  h.  Umdeutungen  iiber  diesen  AnstoU 
tauschen. 

Zu  S.  260  Z.  12  ff.  Die  Preufiische  Greneralsynode  im 
Jahre  1846  beschloB,  das  Apostolikum  aus  der  Ordinations- 


264  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

formel  wegzulassen,  well  es  teils  zu  viel,  tells  zu  wenig 
entlialte.  Sie  nahm  dafiir  eine  neue,  dem  Apostolikum  nnr 
zum  Teil  nachgebildete,  in  mancher  Hinsicht  treffliche  For 
mel  an,  in  der  die  Greburt  aus  der  Jungfrau,  die  Himmel- 
fahrt  und  die  Auferstehung  des  Fleisches  fehlten,  weil  man 
sie  nicht  zu  den  Hauptstiicken  des  Grlaubens  rechnete. 


ADOLF  HARNACK  •  REDEN  UND  AUFSATZE 
$^  ERSTER  BAND  •  ZWEITE  ABTEILUNG 


AUFSATZE:  II 

ANTWORT  AUF  DIE  STREITSCHRITF 

D.  CREMERS: 
ZUM  KAMPF  UM  DAS  APOSTOLIKUM 


Erscliienen  als  Nr.  3  der  ,,Hefte  zur  Christlichen  Welt"  1892  bei  Fr.  Wilh. 
Grunow  in  Leipzig,  jetzt  bei  J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck)  in  Tubingen. 


D.  Cremer  hat  eine  ,,Streitschrift"  wider  mioh  ausgehen 
lassen,  die  ich  sowohl  nm  des  Autors  als  um  der  Sache 
willen  nicht  unbeantwortet  lassen  darf.  Fur  die  Art  nnd 
den  Ton  seiner  Polemik  bin  ich  ihm  zu  Dank  verpfl.ich.tet. 

Mein  G-egner  hat  die  Freundlichkeit  gehabt,  das  kleine 
Schriftchen,  das  ich  unter  dem  Titel  ,,Das  Apostolische 
Grlaubensbekenntnis"  habe  ausgehen  lassen,  sehr  genan  zu 
priifen.  Er  hat  infolge  dieser  Prufung  eine  Eeihe  von 
Ausstellungen  im  einzelnen  erhoben,  nnd  er  hat  sodann 
geglaubt,  eine  prinzipielle  Ausfiihrnng  in  Bezug  anf  die 
Person  Jesu  Christi  mir  entgegenhalten  zu  miissen.  Ein 
Nachwort  beschliefit  seine  Schriffc.  Es  erscheint  schicklich, 
die  Replik  diesen  Vorhaltungen  gemafi  einzurichten.  Allein 
ich  mufi  —  wenn  ich  so  verfahre  —  allerdings  den  Ein- 
wand  meines  G-egners  befiirchten,  daC  ich  die  letzten  Ab- 
sichten  seiner  Erwiderang  verkannt  hatte.  Er  hat  namlich  — 
vom  Nachwort  abgesehen  —  seine  Streitschriffc  in  drei 
Teile  geteilt  und  jedem  dieser  Teile  in  gesperrter  Schrift 
einen  Satz  vorangestellt ,  der  das  Thema  fur  das  Folgende 
enthalten  soil.  Die  Satze  lauten: 

1.  In  dem  gegenwartigen  Streite  urn  das  apostolische 
Glaubensbekenntnis  handelt  es  sich  weder  um  neue  Ergeb- 
nisse,  noch  uberhaupt  um  Ergebnisse  historischer  Forschung 
(S.  3); 

2.  Denn  die  Frage  nach  der  Person  Christi  oder  die 
Frage,  wer  und  was  Jesus  ist,  kann  nimmermehr  auf  dem 
Wege    und   mit   den   Mitteln   historischer   Forschung   ent- 
schieden  Averden  (S.  32); 


268  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  II. 

3.  1st  das  die  eigentliche  Frage,  wer  und  was  Christus 
sei,  so  richtet  sich  nacli  ihrer  Entscheidung  auch  die  Kritik 
des  Symbols  (S.  41). 

Diese  Satze  besagen  teils  sehr  viel  mehr,  teils  weniger, 
als  die  ihnen  folgenden  Ausfiihrungen  enthalten.  Ich  be- 
finde  mich  daher  der  Streitschrift  gegeniiber  in  einer 
schwierigen  Lage:  soil  ich  jene  Satze,  die  ich  teils  fur 
irrig,  teils  fur  halbwahr  halte,  priifen,  oder  vielmehr  die 
Ausfiihrungen,  die  sie  angeblich  begriinden?  In  dem  erstern 
Falle  fehlen  mir  in  der  Schrift  meines  Gregners  z.  T.  die 
Anhaltspunkte  und  Grundlagen,  in  dem  andern  mufi  ich, 
wie  bemerkt,  die  Erwiderung  befurchten,  die  letzten  Ab- 
sichten  seiner  Entgegnung  verkannt  zu  haben.  In  diesem 
Dilemma  meine  ich  mich  doch  vor  allem  an  die  direkten 
Ausfiihrungen  gegen  mich  und  nicht  an  die  Uberschriften 
halten  zu  miissen.  Ich  bin  dann  wenigstens  gewifi,  keine 
Nyktomachie  aufzufuhren.  Am  Schlufi  werde  ich  ver- 
suchen,  auch  auf  jene  weittragenden  Uberschriften  in  mog- 
lichster  Kiirze  einzugehen. 


1.  Die  einzelnen  Einwiirfe  D.  Cremers. 

In  dem  ersten  Teile  der  Streitschrift  (S.  3 — 32)  kon- 
statiert  D.  Cremer,  dafi  meine  Forschungen  den  bisher  ge- 
wonnenen  Ergebnissen  in  Bezug  auf  das  Apostolikum 
nichts  wesentlich  neues  hinzugefugt  hatten,  und  bemerkt 
dann,  dafi  ich  nunbeschadet  der  Kon^ektheit  manches  hatte 
an  der  s  formulieren  diirfen"  und  in  manchem  irrige  An- 
sichten  vertrete.  Sehe  ich  recht,  so  bezieht  sich  sein  Tadel, 
auch  Kleinigkeiten  mit  eingerechnet,  auf  elf  Punkte.  Grerne 
wiirde  ich  dieses  oder  jenes,  was  ich  geschrieben  habe,  be- 
richtigen.  Allem  ich  mufi  nach  sorgfaltiger  Prufung  alles 
das,  was  ich  ausgefuhrt  habe,  und  was  D.  Cremer  bean- 
standet,  aufrecht  erhalten,  und  zwar  bis  aufs  Wort.  Der 


Antwort  auf  die  Streitschrift  Cremers.  269 

Leser  moge  entschuldigen ,  wenn  einige  scheinbare  oder 
wirkliche  Quisquilien  dabei  mit  unterlaufen:  ich  habe  diese 
Punkte  nicht  zur  Diskussion  gestellt. 

1.  D.  Cremer  beanstandet  meinen  Satz:   ,,dafi  die  ro- 
mische  Kirche  zur  Sicherstellung  des  Wortlauts  ihres  Be- 
kenntnisses   die  Legende  von  dem  apostolischen  Ursprung 
des   Symbols  erzeugt  habe."     Statt  „  erzeugt"  will  er   nge- 
pflegt"   gesetzt  wissen;    ,,denn  Legenden  werden  nicht  ab- 
sichtsvoll   erzeugt."      Demgegeniiber   bemerke   ich,    1.    daB 
ich  von  75absichtsvoll"  nicht  geredet  habe,  und  2.  dafi  wir 
von  der  Zeit  und  den  Umstanden  der  Bildung  jener  Le 
gende  nichts  wissen,  also  auch  nicht  wissen,  wieviel  Instinkt 
und  wieviel  bewufite  Absicht  hier  gewaltet  hat.    Das  Wort 
,,gepflegt"  wird  sich  aber  niemand  hier  so  leicht  aneignen 
wollen;   denn  man  kann  doch  nur  pflegen,  was  schon  vor- 
handen  1st.     Daft  die  romische  Gremeinde  die  Legende  vom 
apostolischen  Ursprung  des  Symbols  von  auswarts  erhalten 
hat,  ist  nicht  anzunehmen  und  nimmt,  soviel  ich  sehe,  auch 
D.  Cremer  nicht  an.    Endlich  der  Satz:  n Legenden  werden 
nicht  absichtsvoll  erzeugt",  ist  in  dieser  Allgemeinheit  nicht 
aufrecht   zu   erhalten.     Oder   sind   alle  Legenden,    die  die 
romische  Kirche  zu  ihrer  eignen  und  des  Papstes  Yerherr- 
lichung   erdichtet   hat,    lediglich   Produkte   der   absichtslos 
waltenden  Phantasie? 

2.  ,,Aufierdem   —   heifit   es  S.  4  -  -  hatte  auch  nicht 
iibergangen  werden  sollen,  daC  neben  dieser  Legende  auch 
richtigere  Vorstellungen  sogar  bei  denselben  Schriftstellern 
sich  finden,  wie  z.  B.  bei  Augustin  im  Eingang  seiner  Rede 
uber  das  Symbol  an  die  Katechumenen :  >  Diese  Worte,  die 
ihr  gehort  habt,  finden  sich  in  den  h.  Schriften  verstreut 
und  sind  von  dorther  gesammelt  und  zu  einer  Einheit  ver- 
bunden.«"      Diesen    mir    wohlbekannten    Satz    konnte    ich 
nicht  anfuhren;  denn  1.  enthalt  er  kein  romisches  Zeugnis, 
sondern   ein    aufierromisches ,    2.    stammt    er  aus   so   spater 
Zeit,   dafi  er  fur  die  geschichtliche  Frage  ohne  Belang  ist, 


270  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  II. 

3.  1st  er  nicht  als  Korrektur  der  Legende  vom  apostolischen 
Ursprung  des  Symbols  gemeint,  und  4.  enthalt  er  den 
schlimmsten  historischen  Verstofi;  derm  dafi  die  einzelnen 
Satze  des  Apostolikums  wirklich  aus  den  heiligen  Schriften, 
d.  h.  aus  dem  Neuen  Testament  zusammengeklaubt  seien 
und  so  der  Vorgang  der  Entstehung  des  Symbols  gedacht 
werden  miisse,  1st  doch  —  wenn  man  seine  Ursprungszeit 
bedenkt  -  -  ziemlich  das  Verkehrteste ,  was  sich  hier  sagen 
laflt.  Wie  D.  Cremer  diese  Ansicht  als  ,,richtigere"  Vor- 
stellung  bezeichnen  kann,  ist  mir  unverstandlich ,  und  ich 
wiirde  daher  hier  gern  an  einen  lapsus  calami  glauben, 
kame  D.  Cremer  nicht  S.  15  auf  Augustins  wZeugnis" 
wieder  zurdck. 

3.  Seite  4  heifit  es  weiter:  ^Ferner  diirfbe  auch  der 
Satz  eine  andre  Fassung  erheischen:  »Man  darf  es  als 
gesichertes  Ergebnis  der  Forschung  bezeichnen:  das  alte 
romische  Symbol  ist  um  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts 
entstanden.«  Dieses  >entstanden«  geht  iiber  das  Mafi  der 
zulassigen  Grenauigkeit  in  der  Formulierung  der  Ergebnisse 
wissenschaffclicher  Forschung  hinaus.  Uber  den  Zeitpunkt 
der  Entstehung  dieser  Formel  vermogen  wir  bislang  nichts 
zu  sagen."  D.  Cremer  beruft  sich  nun  auf  Irenaus-Poly- 
karp  und  auf  meinen  Artikel  ,3Apostolisches  Symbolum" 
in  der  Realenzyklopadie ,  um  die  Moglichkeit,  dafi  das 
Symbol  bereits  um  das  Ende  des  ersten  Jahrhunderts  ent- 
standen  sei,  offen  zu  halten. 

Um  ganz  abstrakte  Moglichkeiten  streite  ich  nicht; 
auch  gesicherte  Ergebnisse  historischer  Forschung  sind 
gegeniiber  „ Moglichkeiten"  wehrlos.  Yon  dieser  Erkenntnis 
bin  ich  tief  durchdrungen  und  raume  daher  meinem  Gregner 
bereitwillig  ein,  dafi  die  Abfassung  des  Apostolikums  in 
seiner  altromischen  Qestalt  um  das  Ende  des  ersten  Jahr 
hunderts  nicht  unmoglich  ist.  Aber  ich  ziehe  deshalb 
meine  Behauptung  von  dem  gesicherten  Ergebnis  der  For 
schung  —  dafi  das  Symbol  um  die  Mitte  oder  kurz  vor  der 


Antwort  auf  die  Streitschrift  Cremers.  271 

Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts*)  entstanden  1st  —  nicht 
zuriick.  In  Kiirze  dafiir  den  Beweis  zu  liefern,  1st  nicht 
leicht;  denn  direkte  aufiere  Zeiignisse  fehlen,  und  innere 
Grande  stehen  bei  vielen  nicht  hoch  im  Kurse.  Anch 
haben  die  schlagendsten  unter  ihnen  nur  fiir  den  voile 
Beweiskraft,  der  das  Q-esamtbild  geschichtlicher  Anschauung 
anerkennt,  aus  dem  sie  stammen.  "Wie  konnte  ich  aber 
ein  solches  hier  entwickeln  und  beweisen?  Dennoch  werde 
ich  es  versuchen,  einen  Teil  der  Beobachtungen  zusammen- 
zustellen,  die  hier  in  Betracht  kommen,  und  von  denen 
ich  annehmen  darf,  dafi  auch  solche  Gelehrte  sie  anerkennen 
werden,  die  liber  die  Entwicklung  des  nachapostolischen 
Zeitalters  anders  denken  als  ich.  Was  den  terminus  ad 
quern  betrifft,  der  tibrigens  zurzeit  nicht  zur  Frage  steht, 
so  mag  der  Hinweis  genugen,  dafi  das  Symbol  nicht  aus 
der  Zeit  des  brennenden  Kampfes  mit  dem  Gnostizismus 
stammen  kann.  Eine  Kirche,  die  im  Streit  auf  Leben  und 
Tod  mit  Marcioniten  und  Valentinianern  stand,  kann  diese 
Formel  nicht  geschaffen  haben.  Also  ist  sie,  da  sie  nicht 
jiinger  (etwa  erst  aus  der  Zeit  um  das  Jahr  200)  sein  kann, 
alter.  Um  wieviel  alter?  D.  Cremer  hatte  Anhaltspunkte 
fur  die  Beantwortung  dieser  Frage  gewinnen  konnen,  wenri 
er  meine  Abhandlung  iiber  das  alteste  Symbol  der  romi- 
schen  Ejirche  in  meiner  Ausgabe  der  Schriften  der  aposto- 
lischen  Vater  (1878)  nicht  entweder  ignoriert  oder  fur  un- 
wert  gehalten  hatte.  Er  bemerkt  -  -  auch  die  meisten 
meiner  andern  Gregner  betonen  diesen  Satz  — ,  dafi  meine 
Forschungen  denen  von  Caspari  und  v.  Zezschwitz 
nichts  wesentlich  Neues  hinzugefugt  hatten.  Ich  bin  dem- 
gegeniiber  in  der  peinKchen  Lage,  darauf  hinweisen  zu 
miissen,  dafi  jene  beiden  hochst  verdienten  Gelehrten  iiber 
das  Verhaltnis  des  Symbols  zum  zweiten  Jahrhundert  der 
christlichen  Kirche  ganz  ungeniigend  orientieren,  und  dafi 


*)  So  habe  ich  mich  ausgedruckt  (S.  233). 


272  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  II. 

die  oben  zitierte  Abhandlung  allein  daruber  ausfuhrlicher, 
freilich  immer  nock  nicht  ausfuhrlich  genug,  belehrt.  Der 
terminus  a  quo  bestimmt  sich  auf  Grrund  folgender  Er- 
wagungen : 

a)  Der  Hirte  des  Hermas  eroffnete  seine  Mandate,  in 
dent   er   als    erstes   Grebot    lediglich   den   Glauben   an   den 
einen  Grott  einscharft.     Dieses  Argument  beweist   an    sich 
allerdings  nichts,  weil  zu  viel;    denn  der  Schlufl:   also  exi- 
stierte  damals  die  dreigliedrige  Taufformel  noch  nicht,  ware 
irrig.     Hernias   selbst  zeigt  an  andern  Stellen,   dafi  er  den 
Vater,  den  heiligen  Greist  als  den  ewigen  Sohn,  und  den 
adoptierten    Sohn    (den    Menschen    Jesus    Christus)   unter- 
scheidet.     Aber   eben   diese  Unterscheidung   macht   es    im 
hochsten  Grade   unwahrscheinlich,    dafi   ihm  das  romische 
Symbol   mit   seiner   scharfen  Unterscheidung   des  einzigen 
Grottes  -  Sohnes   und  des  heiligen  Greistes  schon  vorgelegen 
hat.     Ich  wenigstens  vermag  beides   schlechterdings   nicht 
vermittelt  zu  denken.    Hatte  aber  Hermas  ferner  so  schreiben 
konnen,   wie  er  im  ersten  Mandat  geschrieben  hat,  wenn 
das  Verstandnis   der  Taufformel   durch  die  Ausfuhrung  in 
dem  Symbol  schon  sichergestellt  gewesen  ware?*)   Ich  mufi 
es  demgemaC  fur  ganz  unwahrscheinlich  halten,    dafi  zur 
Zeit   des   Hirten   das   romische   Symbol   im   Grebrauch   der 
Kirche  vorhanden  war. 

b)  Nicht   nur   die   abendlandischen  Valentinianer ,    die 
sich  an  die  kirchlichen  Grlaubensregeln  moglichst  anschlossen, 
lehrten  in  ihren  Formeln,  dafi  Christus  7, durch"  (nicht  ,,aus") 
Maria  geboren  sei  (s.  Iren.  I,  7,  2  und  Tertull.  de  carne  20), 
sondern  auch  Justin  braucht  sehr  haufig  jene  Praposition. 
Die  Zeit  kann  also  nicht  weit  hinter  der  Mitte  des  zweiten 
Jahrhunderts  zuriickliegen,  in  der  in  der  romischen  Kirche 
jenes  ,,ausu  noch  nicht  festgestellt  war. 

*)  Dahingestellt  lasse  ich  es,  ob  die  Darlegungen  in  dem  fiinften 
Gleichnis  sich  mit  der  symbolischen  Geltung  des  Satzes  von  der  Jung- 
frauengeburt  vertragen. 


Antwort  auf  die  Streitschrift  Crcmers.  273 

c)  Das  romische  Symbol  erwahnt  die  Taufe  Jesu  durch 
Johannes  resp.  die  Herabkunft  des  heiligen  Greistes  bei  der 
Taufe   nicht.      Dafi    dieses    Stiick   urspriinglich   als   hochst 
wichtig  gegolten,   ja  die  Aussagen  iiber  Christus  eroffnet 
hat,  ist  bekannt.     Noch  Ignatius  hat  es  ad  Smyrn.  1  und 
ad  Ephes.  18  aufgenommen.*) 

d)  Der    Ausdruck    ,,seinen    eingeborenen    Sohn"    im 
Symbol  weist  auf  das  vierte  Evangelium  zuriick;  wenigstens 
ist  uns  eine  andre  Quelle  nicht  bekannt. 

e)  Die    scharfe    Unterscheidung    der    Glieder    7,aufer- 
standen",     7,aufgefahrenu    und    wsitzenda    spricht    fur    das 
zweite  Jahrhundert  (s.  daruber  unten). 

f)  Die   "Weglassung    der   chiliastischen   Hoffnung,    die 
doch  Justin  zur  vollen  Orthodoxie  rechnet,    fallt  stark  ins 
Gewicht. 

Diese  Argumente  mogen  geniigen.  Ich  berufe  mich 
nicht  auf  den  Gresamtcharakter  des  Symbols  (z.  B.  in  seinem 
Verhaltnis  zu  den  ,,Lehren  des  Herrn  durch  Vermittelung 
der  zwolf  Apostel"),  um  zu  zeigen,  dafi  das  ganze  Unter- 
nehmen  im  ersten  Jahrhundert  hochst  auffallend  ist  und 
dafi  es  bereits  katholische  Art  an  sich  tragt;  denn  dieser 
Nachweis  kann  in  Kiirze  nicht  gefiihrt  werden.  Nicht  nur 
fallt  die  Beweislast  dem  zu,  der  das  Symbol  vor  c.  140  an- 
setzt,  sondern  man  darf  auch  sagen:  der  Beweis  ist  nicht 
gefiilirt  worden  und  kann  nicht  gefiihrt  werden.  Die  Be- 
rufung  auf  Irenaus-Polykarp  verschlagt  nicht;  denn  dafi 
Polykarp  ein  formuliertes  Symbol  besessen  und  dem  Irenaus 
iiberliefert  hat,  davon  wissen  wir  schlechterdings  nichts. 
Auf  die  sichere  und  einheitliche  Formulierung  aber  kommt 
es  an;  dafi  einzelne  Satze  sehr  friihe  feste  Formen  erhalten 
haben,  z.  B.  der  77gekreuzigt  unter  Pontius  Pilatus",  darauf 
habe  ich  selbst  mehr  als  einmal  hingewiesen;  aber  damit 


*)   Anch   das   Fehlen   des   nHerodes"   neben  Pontius   Pilatus,   den 
altere  Formeln  bieten,  verdient  Erwahnung. 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    T.  18 


274  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  II. 

ist  weder  die  Existenz  des  romischen  Symbols  noch  eines 
andern  ihm  gleichartigen  angedeutet,  geschweige  sicher- 
gestellt. 

4.  D.  Cremer  macht  rair  einen  Vorwurf  daraus  (S.  7), 
dafi  ich  in  meiner  Schrift  die  Satze,    die  ich  vor  seclizelin 
Jahren  in  meinem  Artikel  nApostolisches  Symbolum"  iiber 
den  Archetypus  der  orientalischen  Symbole  niedergeschrieben, 
nicht  wiederholt   habe.     Er  selbst  eignet  sie  sich  an  und 
bemerkt,    es    sei   nicht  bekannt  geworden,    dafi  irgend  ein 
Grand  von  irgend  jemandem  geltend  gemacht  worden  sei, 
der   meine   fruhern  Ausfuhrungen  zu   entkraften   geeignet 
ware.     Letzteres   ist   richtig;    aber   ich   selbst   habe   meine 
Studien    fortgesetzt    und    erkannt,    dafi    ein    orientalischer 
Symbol- Archetypus  for  die  Mitte,   ja  noch  fur  die  zweite 
Halfte  des  zweiten  Jahrhunderts  nicht  erreichbar  ist.    Ein- 
zelne   gemeinsame  Formeln   und   ein   Kerygma   von  Jesus 
Christus,  dessen  Satze  zum  Teil,  aber  nur  zum  Teil  stehend 
waren,  lassen  sich  bis  ins  zweite  Jahrhundert  hinauffuhren, 
aber  auch  nicht  mehr  —  vor  allem  kein  geschlossenes  Sym 
bol.     Darum  habe  ich  von  dem  orientalischen  Archetypus 
absehen  miissen.    Er  ist  mir  eine  Fata  Morgana  geworden. 
Will  D.  Cremer  sich  dieses  Archetypus  mit  geschichtlichen 
Nachweisen  annehmen,    so  werde  ich  ihm  gern  Rede  und 
Antwort    stehen.     Nur    kommen   wir    dabei    nicht   weiter, 
wenn  wir  nicht  zwischen  fliissigem  Kerygma,  festem  Sym 
bol  und   fliissigen   (antignostischen)  Q-laubensregeln  unter- 
scheiden. 

5.  Seite  9ff.   schreibt  D.  Cremer:    7,Auch    dies    diirfte 
nicht  unter   den  Titel   eines  Ergebnisses  historischer  For- 
schung  befafit  werden  diirfen  [sic],  dafi  in  dem  Symbol  der 
heilige  Greist  nicht  als  Person,  sondern  als  Kraft  und  G-abe 
aufgefafit   sei."      Meinem   Satze,    man    konne   nicht   nach- 
weisen,    dafi    um   die  Mitte   des  zweiten  Jahrhunderts   der 
heilige  Greist  als  Person  geglaubt  worden  sei,  halt  D.  Cremer 
entgegen,    1.    dafi  das  Symbol   nden  unwandelbaren  Inhalt 


Antwort  auf  die  Streitschrift  Cremer  3.  275 

der  apostolischen  Verkiindigung  im  Lapidarstil  monumen- 
taler  Form  hat  bewahren  wollen,  es  also  gar  nicht  darauf 
ankomme,  welches  Mafl  von  Verstandnis  die  alte  Kirche 
ihrerseits  damit  verbunden  habe",  2.  dafi  Johannes,  Paulus 
und  iiberhaupt  die  apostolische  Verkiindigung  sich  den 
heiligen  Geist  nicht  nur  als  unpersonliche  Kraft  gedacht 
haben:  der  Begriff  der  Personlichkeit  fehlte,  aber  nicht  die 
Sache.  Ich  vermag  in  beiden  Entgegnungen  nur  ein  Aus- 
weichen  der  bestimmten  Fragestellung  gegeniiber  zu  er- 
kennen.  Was  sich  Paulus  oder  Johannes  gedacht  haben, 
gehort  mindestens  so  lange  nicht  hierher,  als  das  Symbol 
selbst  eine  Antwort  gibt.  Diese  ist  aber  in  der  einfachen 
Zusam m enordnung ' n heiliger  Greist",  ?)heilige  Kirche",  ,,Sun- 
denvergebung",  ,,Fleischesauferstehung"  deutlich  genug, 
und  sie  wird  durch  den  dogmengeschichtlichen  Befund  in 
Bezug  auf  das  zweite  Jahrhundert  bestarkt.  Zwei  Hypo- 
stasen  der  Gottheit,  nicht  drei,  sind  bekannt.  Selbst  noch 
der  romische  Presbyter  Hippolyt  am  Anfang  des  dritten 
Jahrhunderts  unterscheidet  ausdriicklich  zwei  gottliche  Per- 
sonen  und  drei  gottliche  Okonomien.  Wenn  aber  D.  Cremer 
S.  10  die  montanistischen  Streitigkeiten  streift,  um  das 
Dogma  von  den  drei  Personen  der  Q-ottheit  fur  jene  Zeit 
zu  retten,  so  lafit  sich  aus  den  echten  Spriichen  Montans 
und  seiner  Prophetinnen  leichter  abnehmen,  daft  sie  nur 
eine  gottliche  Hypostase  anerkannt  haben  als  zwei  oder 
gar  drei.  Die  Unterscheidung  von  Kraft  und  Hypostase 
war  iibrigens,  wie  die  Gnostiker  und  namentlich  Justin 
(Dial.  128)  beweisen,  jener  Zeit  nicht  fremd.  Justin  aber 
hat  nirgendwo  in  seinem  weitschichtigen  Dialog  Grelegen- 
heit  genommen,  die  personliche  Selbstandigkeit  des  Geistes 
zu  behaupten,  wie  er  die  des  Logos  behauptet  hat.  Der 
heilige  Geist  ist  ihm  einfach  wder  prophetische  Geist". 
Wenn  endlich  D.  Cremer  in  meiner  Ubersetzung  ,,und  an 
heiligen  Geist"  den  Artikel  vermifit,  so  habe  ich  natiirlich 
nichts  dagegen,  ihn  in  der  Ubersetzung  einzuschalten,  vor- 

18* 


276  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  II. 

ausgesetzt,  dafi  man  ihn  auch  noch  vor  7,heilige  Kirche" 
usw.  einschaltet.  Die  Trennung  und  die  verschiedene  Be- 
handlung  der  vier  Grlieder  des  dritten  Artikels  ist,  wie  auch 
D.  Cremer  einraumt,  viel  spater  erfolgt,  namlich  erst,  nach- 
dem  das  Dogma  von  der  Trinitat  ausgearbeitet  war. 

6.  Seite  13  wird  es  mir  als  eine  —  allerdings  dankbar 
zu  verzeichnende  —  Inkonsequenz  vorgehalten,  dafi  ich  bei 
der  Erklarung  des  Wortes    ,,Vater"  im  ersten  Artikel  auf 
das  apostolische  Verstandnis  zuriickgehe,  wahrend  ich  sonst 
diese  Art  Erklarung    als    unhistorisch   verwerfe   und    auch 
hier  bemerke,  dafi  der  Verfasser  des  Symbols  den  Ausdruck 
?,Vateru    wahrsclieinlicli    nicht    nach   Matth.  11,  25  if.    und 
Rom.  8,  15  gedeutet  habe.    Aber  eben  nur  ,,wahrscheinlicha 
nicht.     Nach  dem,  was  ich  in  meiner  lateinischen  Abhand- 
lung  iiber  den  Ausdruck  im  romischen  Symbol  (1.  c.  S.  134) 
ausgefdhrt  habe,   mufi   es   offen  bleiben,   ob  nicht  doch  das 
Wort  nVater"  noch  evangelisch  verstanden  ist.    Eben  des- 
halb  habe  ich   hier  auf  das   alteste  Verstandnis  Riicksicht 
genommen,  um  nicht  parteiisch  zu  erscheinen.  sondern  dem 
Symbol  alles  zu  lassen,    was  ihm  geschichtlich  irgend  ge- 
biihren   konnte.      Das   Ausrufungszeichen   aber,    das    mein 
Gegner  zu  meinem  Ausdruck:  ,,Der  Verfasser  des  Symbols" 
gemacht  hat,  will  ich  lieber  nicht  verstehen;  denn  dafi  das 
Symbol  oifenbart   oder   durch  Inspiration  als  Zeugnis  des 
heiligen   Greistes    in    der    alten   Kirche   geheimnisvoll   ent- 
standen  sei,  kann  D.  Cremer  nicht  meinen. 

7.  Dem,    was   ich   iiber    ,,Gremeinschaffc   der   Heiligen" 
ausgefuhrt  habe,  hatte  D.  Cremer  eine   wvorsichtigere  Fas- 
sung"  gewiinscht  (S.  13).    Ich  glaube,  den  Tatbestand  kor- 
rekt  zum  Ausdruck  gebracht  zu  haben.     Ich  habe  1.   be- 
merkt,    dafi    die   Entstehung   und   der   urspriingliche    Sinn 
jenes  Zusatzes  am  dunkelsten  ist,    2.  gesagt,  dafl  der  Aus 
druck  zuerst  im  donatistischen  Streit  und  bei  Augustin  sich 
fande,  und  dafi  man  demgemafi  erwarten  miisse,  er  bedeute 
auch   im  Symbol   dasselbe   wie  dort,    namlich  eine  nahere 


Antwort  auf  die  Streitschrift  Cremers.  277 

Erklarung  zu  7,heilige  katholische  Kirche",  3.  darauf  hin- 
gewiesen,  dafl  der  Ausdruck  im  Symbol  erst  in  spaterer 
Zeit  (und  zwar  in  Grallien)  vorkomme  nnd  dort  durch  den 
altesten  Zeugen  als  »G-ememschaft  mit  den  vollendeten 
Heiligen"  erklart  werde.  Demgemafi  habe  ich  es  for  ^sehr 
wahrscheinlich"  gehalten,  dafi  die  Worte  im  gallischen  Sym 
bol  wirklich  ,,Gremeinschaft  mit  den  Martyrern  und  den 
besonders  Heiligen"  bedeuten  sollten  (gegen  Vigilantius) 
und  ursprunglich  keine  Explikation  des  Ausdrucks  ,,heilige 
katholische  Kirche",  sondern  eine  Fortsetzung  desselben 
waren.  Auf  die  mir  wohlbekannte  Auslegung  des  Nicetas 
von  Romatiana  bin  ich  nicht  eingegangen,  weil  ich  weder 
iiber  die  Zeit  noch  iiber  den  Ort  dieses  Bischofs  ein  Urteil 
besafi.  Aber  auch  die  Tatsache,  dafi  die  Gregner  der  Heiligen- 
verehrung  z.  Z.  des  Faustus  von  Reji  die  Worte  in  ihrem 
Symbol  gehabt  haben,  glaubte  ich  nicht  erwahnen  zu 
durfen,  da  sie  fur  die  Frage  nach  dem  urspriinglichen  Sinn 
im  Symbol  gleichgiiltig  ist;  denn  Faustus  hat  die  Vereh- 
rung  der  Heiligen  und  Reliquien  jedenfalls  lediglich  ein- 
getragen. 

D.  Cremer  meint  nun,  die  Worte  konnten  (miiBten) 
biblisch  verstanden  werden,  nund  darum  bedarf  es  nicht 
einer  Umdeutung,  um  sie  in  dem  Symbol  belassen  zu  konnen, 
sondern  nur  desjenigen  Verstandnisses,  das  fur  alle  Aus- 
sagen  desselben  nach  Augustins  oben  angefiihrtem  Aus- 
spruch  iiber  die  Entstehung  und  den  Willen  des  Symbols 
mafigebend  ist,  namlich  die  uns  die  neutestamentlichen 
Schriften  an  die  Hand  geben".  Diese  Worte  bezeichnen 
sehr  deutlich  den  prinzipiell  verschiednen  Standpunkt,  den 
mein  Gegner  und  ich  behaupten,  erstlich,  sofern  er  sich 
hier  auf  Augustins  Meinung  beruft  und  sie  fur  mafigebend 
halt  (s.  oben  S.  269  f.),  das  Symbol  sei  ein  Exzerpt  aus  neu 
testamentlichen  Schriften,  zweitens  sofern  er  demgemafi  den 
Versuch  einer  historischen  Erklarung  der  einzelnen  Satze 
des  Symbols  aus  ihrer  Zeit  fur  ubernussig,  ja  im  Grrunde 


278  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  II. 

far  unstatthaft  halt.  Die  Konsequenzen  seines  Verfahrens 
sind  uniibersehbar:  selbst  zugestanden,  das  Apostolikum 
ware  -  -  auch  nocli  in  seinen  jungs ten  Bestandteilen  —  ein 
Exzerpt  aus  dem  Neuen  Testament,  diirffce  man  es  deshalb 
nach  den  Q-laubensiiberzeugungen  der  neutestamentlichen 
Schriftsteller  erklaren?  Die  Formeln  der  Semiarianer  waren 
auch  Exzerpte  aus  dem  Neuen  Testament:  diirfen  wir  sie 
deshalb  nach  dem  Neuen  Testament  auslegen,  oder  sind  wir 
nicht  vielmehr  verpflichtet,  wenn  wir  die  Dogmengeschichte 
nicht  uberhaupt  sprengen  wollen,  sie  nach  der  Theologie 
des  vierten  Jahrhunderts  zu  verstehen?  Die  abstrakte  Aus- 
legung  des  Apostolikums  nach  Maflgabe  der  neutestament 
lichen  Schriften  ist  lediglich  ein  Rest  der  altkirchlichen 
Vorstellung,  dieses  Symbol  stamme  von  den  Aposteln.  Man 
sagt  das  nicht  mehr,  aber  man  verfahrt  so;  denn  durch 
den  Hinweis,  das  Symbol  sei  ein  Exzerpt  aus  apostolischen 
Schriften,  ist  augenscheinlich  das  Recht,  bei  seiner  Er- 
klarung  von  der  Kirchengeschichte  abzusehen,  noch  langst 
nicht  erwiesen. 

8.  Den  eben  gewonnenen  Grundsatz,  das  Apostolikum 
ist  nach  den  neutestamentlichen  Schriften  zu  erklaren, 
wendet  D.  Cremer  nun  sofort  auf  die  sogenannte  Hollen- 
fahrt  an.  wDie  alte  Kirche  hat  mit  der  Aufnahme  dieses 
Zusatzes  nicht  s  andres  get  an  als  einer  im  Neuen  Testa 
ment  bezeugten  Tatsache  einen  Ausdruck  gegeben,  der  in 
seiner  objektiven,  rein  geschichtlichen  Fassung  ebensosehr 
dem  energischen  Willen  der  romischen  Kirche  entspricht 
[aber  aus  dieser  Kirche  stammt  der  Zusatz  nicht],  alle  lehr- 
haft  gehaltenen  antiharetischen  (theologischen)  Zusatze  aus- 
zuschliefien,  als  in  seinem  Lapidarstil  alien  iibrigen  Aus- 
sagen  vollkommen  ebenbiirtig  ist." 

Ich  hatte  gehofft,  dafi  D.  Cremer  wenigstens  an  diesem 
exponierten  Punkte  einer  geschichtlichen  Betrachtung  Raum 
geben  wurde;  aber  auch  hier  ist  sie  ausgetilgt.  Erstlich  be- 
zeugt  das  Neue  Testament  mindestens  eine  vor  der  Wieder- 


Antwort  auf  die  Streitschrift  Cremers.  279 

erweckung  Christi  geschehene  Hollenfahrt  nirgends;  zwei- 
tens  —  selbst  diese  „  Tatsache"  vorausgesetzt  —  vermag 
auch  D.  Cremer  uber  sie  nur  zu  sagen,  dafl  der  Zusatz  nin 
seinem  Lapidarstil  alien  iibrigen  Aussagen  vollkommen  eben- 
biirtig  ist".  Ja  wenn  es  nur  auf  den  Lapidarstil  ankame  — 
dafi  die  Tatsache  selbst  alien  iibrigen  Aussagen  ebenbiirtig 
ist,  scheint  auch  D.  Cremer  hier  nicht  behaupten  zu  wollen. 
Was  geht  uns  dann  aber  die  Grleichheit  des  Lapidarstils 
an!  D.  Cremer  fahrt  fort:  ,,Was  die  alte  Kirche  sich  bei 
dieser  Aussage  gedacht  hat,  ob  sie  mehr  an  Eph.  4,  8 — 10; 
Koloss.  2,  15  (?)  oder  wie  Rufinus  daneben  auch  an  1.  Petr. 
3,  19  f.;  4,  6  gedacht  hat,  interessiert  die  Dogmenge- 
schichte,  uns  aber  insoweit,  als  wir  bei  jedem  Punkte  des 
Bekenntnisses  unterscheiden  miissen  zwischen  der  damit 
beabsichtigten  Reproduktion  apostolischer  Bezeugung  von 
Tatsachen  und  tatsachlichem  Sachverhalt  einerseits  und 
dem  in  der  damaligen  Christenheit  vorhandnen  Verstand- 
nis  andrerseits."  Also  die  nackte  Tatsache  soil  damals,  als 
der  Zusatz  entstand,  und  jetzt  gelten,  sie  soil  fur  den 
Grlauben  mafigebend  sein  —  dazu  eine  Tatsache,  die  jeder 
anders  versteht!  Und  warum  soil  sie  mafigebend  sein?  Hatte 
wohl  irgend  ein  evangelischer  Christ  sie  fur  eine  mafi- 
gebende  wHeilstatsache"  gehalten,  wenn  es  nicht  einigen 
Bischofen  vor  funfzehnhundert  Jahren  gefallen  hatte,  sie 
in  ihr  Taufsymbol  aufzunehmen  ?  Nein  —  diese  „  Tat 
sache"  wird  lediglich  (und  dies  in  evangelischen  Kirchen!) 
deshalb  fur  mafigebend  gehalten,  weil  sie  im  Apostolikum 
steht,  wobei  jeder  allerdings  auch  von  Kirchen  wegen  die 
Freiheit  hat,  iiber  sie  zu  denken,  wie  er  will!  Ist  dies  evan 
gelischer  Grlaube  und  nicht  vielmehr  der  purste  Formel- 
glaube,  iiber  den  wir  uns  sehr  erhaben  diinken,  wenn  wir 
z.  B.  iiber  die  griechische  Kirche  mit  ihrem  traditionellen 
Glaubensritualismus  urteilen?  Photius  wird  gescholten,  weil 
er  den  Abendlandern  nicht  nur  das  filioque  vorwarf,  sondern 
es  ihnen  als  die  grofiere  Haresie  anrechnete,  dafi  sie  am 


280  Erster  Band,  zweite  Abteilung.    Aufsatze:  II. 

heiligen  Symbol  eine  Veranderung  vorgenommen  hatten: 
sind  wir  denn  in  den  evangelischen  Kirchen  tausend  Jahre 
spater,  trotzdem  uns  Luther  wieder  gelehrt,  was  G-laube  sei, 
wirklich  weiter  gekommen? 

9.  D.  Cremer  hat  sub  7  und  8  die  Notwendigkeit  einer 
Umdeutung  des  symbolischen  Ausdrucks  abgelehnt:  nichts 
sei  umzudeuten;  denn  ans  dem  Neuen  Testament  empfange 
alles  seine  rechte  Dentung.  Aber  wie  steht  es  mit  der 
„  Auferstehung  des  Fleisches"?  Hier  raumt  D.  Cremer  ein: 
wDer  Ausdruck  als  solcher  deckt  sich  nicht  bloJJ  entschieden 
nicht  mit  der  apostolischen ,  speziell  Paulinischen  Verkiin- 
digung,  sondern  steht  rein  formell  betrachtet  im  Wider- 
spruch  mit  derselben.  Die  Abweichung  dieses  Artikels 
von  dem  apostolischen  Zeugnis  notigt  zu  der  Frage,  ob 
die  Kirche  sich  dadurch  in  Widerspruch  hat  setzen  wollen 
mit  der  apostolischen  Predigt,  oder  ob  sie  unbewuflt  sich 
in  solchem  Widerspruch  befunden  hat."  Soweit  ist  alles 
korrekt,  und  ich  freue  mich,  daB  D.  Cremer  den  Tatbe- 
stand  so  bestimmt  zum  Ausdruck  gebracht  hat.  Er  er- 
klart  nun  die  fraglichen  Worte  fiir  einen  ,,ungeschickten 
Ausdruck"  dessen,  was  unabweisbarer  Bestandteil  der 
apostolischen  Verkiindigung  ist;  sachlich  liege  kein  "Wider 
spruch  vor.  Im  wesentlichen  bin  ich  hier  mit  ihm  einig, 
wenn  auch  nicht  ganz  (im  zweiten  Jahrhundert  legte  man 
wirklich  auf  die  Auferstehung  des  Fleisches,  der  Knochen 
und  Haut  das  grofite  Grewicht).  Doch  das  mag  auf  sich 
beruhen.  Nur  zieht  D.  Cremer  die  Konsequenz  nicht,  die 
er  selbst  aufgedeckt  hat,  dafl  der  Ausdruck  entweder  umzu 
deuten  oder  zu  tilgen  ist.*)  Allerdings  verwahrt  er  sich 

*)  D.  Cremer  schreibt:  ,,Die  Angabe  [Harnacks],  dafi  viele  Zeug- 
nisse  der  altern  Zeit  statt  Auferstehung  des  Fleisches  ,, Auferstehung" 
oder  ,,ewiges  Leben"  bieten,  ist  nicht  korrekt."  Aber  diese  Angabe  ist 
ganz  korrekt.  D.  Cremer  hat  wohl  an  Symbole  gedacht  und  dort  die 
fraglichen  Worte  nicht  haufig  gefunden;  ich  aber  sprach  von  ,,Zeugnissen". 
Nach  dem  Zusammenhang  meiner  Worte  muBte  es  deutlich  sein,  daB 


Antwort  auf  die  Streitschrift  Cremers.  281 

hier  auch  nicht  ausdriicklich  gegen  den  Gredanken  einer 
Umdeutung  wie  zu  7  und  8.  Also  gibt  er  an  diesem 
Punkte  dock  einen  gewissen  Mangel  des  Symbols  zu. 

10.  Das  von  mir  iiber  die  Himmelfahrt  Ausgefiihrte 
bestreitet  D.  Cremer  S.  18 — 22.  Er  schreibt:  ,,Nicht  ein 
Ergebnis  historischer  Forschung,  sondern  prinzipieller  Kri- 
tik  1st  es,  dafi  die  Differenzierung  zu  mehreren  Akten 
( Auf erweckung ,  Himmelf akrt ,  Sitzen  zur  Rechten)  einer 
spateren  Zeit  angehort.  Mit  den  neutestamentlichen  Schrif- 
ten  --  und  dies  ist  hier  die  Hauptsache  —  steht  sie  keines- 
wegs  in  Widerspruch." 

Dafi  die  Himmelfahrt  mit  den  neutestamentlichen  Schrif- 
ten  ,,in  Widerspruch"  stehe,  habe  ich  nicht  behauptet;  auch 
die  prinzipielle  Kritik  ware  hier  sehr  am  Platze;  aber  ich 
habe  sie  nicht  angewendet.  Was  ich  behauptet  habe,  hat 
D.  Cremer  nicht  erschuttert,  namlich  dafi  die  Himmelfahrt 
in  der  altesten  Verkiindigung  kein  besondres  Grlied  gebildet 
hat,  und  dafi  es  sich  auf  geschichtlichem  Wege  wahrschein- 
lich  machen  lafit,  dafi  sie  nicht  zur  urspriinglichen  Ver 
kiindigung  gehorte.*)  Ich  habe  mich  dafur  erstlich  auf 
das  Fehlen  derselben  in  den  drei  ersten  Evangelien,  in  dem 
ersten  Korintherbrief,  in  den  Briefen  des  Klemens,  Ignatius 
und  Polykarp  und  im  Hirten  des  Hermas  berufen.  Hier 
beanstandet  D.  Cremer,  dafi  ich  die  Himmelfahrt  auch  im 
Lukasevangelium  vermisse.  Er  schreibt:  ,,Dafi  auch  der 
Schlufi  des  Lukasevangeliums  ein  spaterer  Zusatz  sei,  hat 
bis  jetzt  die  Textgeschichte  nicht  bewiesen  [habe  ich  auch 
nie  behauptet].  Ich  vermute,  dafi  Harnack  etwas  andres 


diese  Zeugnisse  nicht  in  Symbolen,   sondern  in  den  altesten  Schriften 
zu  suchen  sind. 

*)  Ich  habe  mich  tibrigens  so  behutsam  wie  moglich  ausgedriickt 
und  die  ErOrterung  dieses  Punktes  mit  den  Worten  (a.  oben  S.  246)  be- 
gonnen:  ,,Nicht  sicher  zu  fassen,  aber  doch  nicht  zu  tibergehen  ist 
noch  eine  Abweichung  von  der  altesten  Predigt,  es  ist  die  besondre 
Hervorhebung  der  Himmelfahrt." 


282  Brster  Band,  zweite  Abteilung.    Aufsatze:  II. 

im  Sinne  hat  als  textgeschichtliche  Forschung,  namlich 
Quellenforschung.  Oder  sollte  es  sich  urn  eine  neue,  bislier 
nicht  bekannt  gegebene  Entdeckung  auf  dem  G-ebiete  der 
Textgeschichte  handeln?"  Um  eine  alte  Erkenntnis  handelt 
es  sich,  die  D.  Cremer  wohl  nur  augenblicklich  entf alien 
ist.  Ein  Blick  anf  eine  kritische  Ansgabe  des  ISTeuen  Testa 
ments,  anf  Tischendorfs  Octava  oder  anf  Westcotts  nnd 
Horts  Edition,  wird  ihn  daran  erinnern,  dafi  die  Worte  in 
Lnkas  24,  51:  xai  avecpspero  etc  oupavo'v  —  das  einzige  Zeug- 
nis  der  Himmelfahrt  in  diesem  Evangelinm  —  in  den  Aus- 
gaben  als  spaterer  Znsatz  getilgt  sind.  Sie  sind  zwar  re- 
lativ  gnt  bezengt  nnd  jedenfalls  sehr  alt,  aber  da  Sinaiticus 
(erste  Hand),  viele  lateinische  Zengen  nnd  Angus  tin  sie 
nicht  bieten,  so  ist  kein  Verlafi  anf  sie.  In  Bezug  anf 
Panlns  (1.  Kor.  15)  bemerkt  D.  Cremer:  wDafi  Panlus  den, 
der  auferstanden  und  den  Jungern  erschienen  ist,  als  den 
nnnmehr  znr  Rechten  Q-ottes  Erhohten  weifi,  schliefit  die 
Entriicknng  des  durch  die  Auferstehung  in  das  Leben  nnd 
zn  den  Seinen  Znrnckgekehrten  ein,  nnd  dafi  diese  Ent- 
riickung  identisch  sein  soil  mit  der  Anferstehung,  ist  nicht 
Ergebnis  historischer  Forschung,  sondern  eine  Hypothese, 
welche  in  prinzipieller  Beurteilung  nnd  Kritik  der  Tat- 
sachen  der  Geschichte  Jesu  ihre  Wurzel  hat."  Dnrch  diese 
Bemerknng  wird  die  Streitfrage  verschoben:  nicht  darum 
handelt  es  sich,  was  sich  Paulus  implicite  oder  explicite  ge- 
dacht,  sondern  darum,  ob  er  die  Himmelfahrt  neben  der  Auf 
erstehung  besonders  erwahnt  hat.  Das  hat  er  nicht  getan, 
und  deshalb  ist  es  eine  einfache  Eintragung,  wenn  man  be- 
hauptet,  er  miisse  nm  eine  leibliche  Himmelfahrt  (um  diese 
handelt  es  sich,  nicht  um  irgend  eine  ,,Entruckung")  ge- 
wufit  und  diese  fur  eine  ^Heilstatsache"  gehalten  haben. 
Zweitens  hatte  ich  mich  auf  das  Zeugnis  des  Barnabas- 
brief  es  berufen,  der  Auferstehung  und  Himmelfahrt  auf 
einen  Tag  verlegt.  D.  Cremer  erwidert:  ^Wenn  dies  nn- 
zweifelhaft  die  Meinung  der  Stelle  15,  9  ware,  so  wiirde 


Antwort  auf  die  Streitschrift  Cremers.  283 

es  eine  absolut  vereinzelte  Annahme  des  Verfassers  sein, 
gegen  die  geltend  gemacht  werden  muG,  dafi  nirgends  im 
kirchlichen  Altertum  der  Sonntag  zugleich  als  Feier  der 
Himmelfahrt  erscheint.  Greschichtlichen  "Wert  hat  diese 
Notiz  eben  wegen  ikrer  Verbindung  mit  der  Sonntagsfeier 
nicht  einmal  als  Uberbleibsel  einer  abweichenden  Tradition." 
Demgegeniiber  bemerke  ich:  1.  D.  Cremer  hat  nicht  ange- 
geben,  wie  man  die  Stelle  im  Barnabasbrief  anders  ver- 
stehen  kann;  2.  vereinzelt  ist  die  Nachricht  nicht  (s.  jetzt 
auch  das  Petrusevangelium ;  noch  anderes  kommt  in  Be- 
tracht),  aber  die  Angabe  der  Apostelgeschichte,  Jesus  sei 
vierzig  Tage  nach  der  Auferstehimg  gen  Himmel  gefahren, 
ist  vereinzelt;  3.  dafi  im  Altertum  nirgends  der  Sonntag 
als  Festtag  der  Himmelfahrt  erscheint,  ware  nur  dann  ein 
xiennenswertes  Argument,  wenn  es  in  der  altern  Zeit  iiber- 
haupt  einen  Festtag  der  Himmelfahrt  gegeben  hatte.  G-anz 
besonders  verachtlich  behandelt  D.  Cremer  meinen  Hinweis 
darauf,  dafi  in  alten  Zeugnissen  achtzehn  Monate  zwischen 
Auferstehung  und  Himmelfahrt  gelegt  werden.  Er  neniit 
ihn  ,,eine  Mitteilung,  die  wie  nur  eine  die  Unkundigen  zu 
verbliiffen  imstande  istu;  denn  ich  hatte  ^es  unterlassen, 
dasjenige  mitzuteilen,  was  den  Wert  dieser  Notiz  zur  G-e- 
niige  charakterisiert ,  namlich  daC  sie  gnostischen  Kreisen 
entstammt  und  mit  gnostischen  Spekulationen  iiber  Aonen- 
reihen  zusammenhangt  (Iren.  I,  8,  2;  30,  14)".  Allein  dem- 
gegeniiber  ist  zu  sagen:  1.  Dafi  die  Angabe  mit  Speku 
lationen  iiber  Aonenreihen  zusammenhangt,  ist  nicht  er- 
wiesen;  2.  geschichtliche  Nachrichten  sind  damit  noch 
nicht  als  fur  die  grofie  Kirche  unerheblich  diskreditiert, 
dafi  wir  sie  in  gnostischen  Kreisen  antreffen,  am  wenigsten 
wenn  diese  Kreise  valentinianische  waren;  3.  dafi  diese 
Nachricht  gnostischen  Kreisen  entstammt,  ist  ungewifi,  ja 
unwahrscheinlich:  sie  findet  sich  namlich  keineswegs  nur 
dort,  wo  D.  Cremer  sie  angetroffen  hat,  namlich  bei  dem 
Valentinschuler  Ptolemaus  und  den  Ophiten,  sondern  auch 


284  Erster  Band,  zweite  Abteilung.    Aufsatze:  II. 

in  der  „  Himmelfahrt  des  Jesajas"  (und  hochst  wahr- 
scheinlich  bei  dem  Valentinschiiler  Herakleon).  Alles,  was 
D.  Cremer  sonst  noch  beibringt,  um  die  Himmelfalirt  als 
einen  urspriinglichen  Bestandteil  der  altesten  Verkiindigung 
zu  erweisen,  sind  verstandige  Erwagungen  dariiber,  dafi 
eine  leibhaftige  Auferstehung  eine  Himmelfahrt  fordere, 
und  dafi  diese  deshalb  von  Anfang  an  ein  besondres  Stiick 
des  Glaubens  gebildet  haben  miisse;  aber  D.  Cremer  ersetzt 
damit  nur  das  fehlende  geschichtliehe  Zeugnis :  Auferstehung 
und  Erhohung  sind  in  der  altesten  einhelligen  Verkiindigung 
nachweisbar ,  nicht  aber  Auferstehung  und  Himmelfahrt. 
Die  Wolke  von  Zeugen  aus  dem  Neuen  Testament,  die 
niein  G-egner  S.  21  f.  glaubt  anfuhren  zu  diirfen,  bitte  ich 
genau  zu  priifen;  man  wird  finden,  daU  sie  fur  die  von  mir 
scharf  gestellte  Frage  belanglos  sind.  Es  bleibt  also  dabei, 
dafi  man  aus  historischen  Grriinden  sich  genotigt  sieht,  zu 
erklaren:  Die  Himmelfahrt  hat  nicht  wie  der  Kreuzestod 
und  die  Auferstehung  von  Anfang  an  ein  besondres  Stiick 
in  der  Verkiindigung  von  Christus  gebildet,  so  gewifi  man 
von  Anfang  an  von  einer  Erhohung  oder  von  einer  Riick- 
kehr  Christi  zum  Vater  gesprochen  hat. 

11.  Ich  komme  schliefilich  zu  dem  Hauptstiick,  der 
Greburt  aus  der  Jungfrau.  Die  Art,  wie  D.  Cremer  hier 
die  Kontroverse  gefiihrt  hat,  kann  ich  nur  tief  bedauern. 
Erstlich  will  er  auch  hier  eine  historisch-kritische  Frage 
iiberhaupt  nicht  wahrnehmen  und  hat  fur  das  Gewissen 
des  Historikers  keine  Nachempfindung,  zweitens  spielt  er 
die  ganze  Frage  sofort  auf  das  G-ebiet  der  Christologie  und 
zwar  der  Praexistenz  iiber.  Ich  bin  diese  "Weise  der  Pole- 
mik  von  der  groCen  Zahl  meiner  Gegner  her  gewohnt; 
aber  es  befremdet  mich,  auch  D.  Cremer  in  ihren  Heihen 
zu  sehen.  Ich  hatte  mich  zu  ihm  eines  Bessern  versehen; 
denn  diese  Verschiebung  der  einfachen  Fragestellung  ist 
historisch  und  theologisch  betrachtet  verwerflich.  Histo- 
risch  aber  ist  sie  doppelt  verwerflich;  denn  noch  ist  das 


Antwort  auf  die  Streitschrift  Cremers.  285 

Urteil  nicht  widerlegt,  dafi  die  Vorstellung  von  der  person- 
lichen  Praexistenz  Christ!  und  die  Vorstellung  der  Ent- 
stehung  des  Grottessohns  aus  wunderbarer  Einwirkung  des 
heiligen  Greistes  auf  eine  Jungfrau  urspriinglich  zwei  ver- 
schiedene,  sich  widersprechende  tlberzeugungen  oder  sich 
widersprechende  Versuche  sind,  das  wunderbare  AVesen 
Jesu  zu  entschleiern.  Nachtraglich  kann  man  ja  wohl 
durch  dogmatische  Kunst  beide  Anschauungen  mitein- 
ander  vereinigen,  wie  sie  in  der  Tat  bald  vereinigt  worden 
sind;  aber  wie  sie  nrspriinglich  verschieden  sind,  so  sind 
sie  es  auch  in  der  Sache.  Wer  an  der  Praexistenz  Christi 
festhalt,  der  kann  nicht  glanben,  dafi  der  Sohn  Grottes 
durch  das  Wirken  des  heiligen  Greistes  in  der  Jungfrau 
erst  geworden  sei,  und  wer  an  dieses  Grewordensein  durch 
den  heiligen  Geist  glaubt,  der  gibt  damit  die  Praexistenz 
in  realistischem  Sinne  preis.  Aber  auch  wenn  es  anders 
ware  —  und  geschichtlich  ist  es  ja  anders  geworden  — , 
wo  liegt  das  Recht,  das  Dogma  von  der  Jungfrauenge- 
burt  so  zu  verteidigen,  dafi  man  zur  Verteidigung  der  Pra 
existenz  iibergeht?  Ich  vermag  hierin  nur  die  Yerhullung 
einer  Schwache  zu  sehen.  Urn  das  physiologische  Wunder 
der  Jungfrauengeburt  handelt  es  sich  beim  Wortlaut  des 
Apostolikums,  und  zunachst  urn  nichts  andres.  Mit  jenem 
Wunder  wird  eine  geschichtliche  Tatsache  behauptet,  und 
solche  Tatsachen  unterliegen  der  geschichtlichen  Klritik. 
Ich  verstehe  es  daher  nicht,  wie  D.  Cremer  sagen  kann, 
die  Frage  sei  keine  historische  Frage.  In  Wahrheit  kann 
auch  er  nicht  umhin,  nachdem  er  eine  langere  dogmatische 
Digression  gemacht  hat,  auf  die  Frage  als  auf  eine  histo 
rische  einzugehen.  Die  fiinf  Grrunde,  die  ich  beigebracht 
habe,  vermag  er  nicht  zu  entkraften;  denn  die  allgemeine 
Bemerkung:  ^die  Menge  der  Grimde  steht  in  der  Regel 
in  umgekehrtem  Verhaltnis  zu  ihrer  Beweiskraft, "  ware 
eine  sonderbare  Entkraftung.  D.  Cremer  zieht  sich  viel- 
mehr  darauf  zuriick,  dafi  das  nempfangen  vom  heiligen 


286  Erster  Band,  zweite  Abteilung.    Aufsatze:  II. 

Greist,  geboren  von  der  Jungfrau  Maria"  sachlich  begriindet 
sei,  und  dafl  die  Frage,  aus  welcher  Quelle  die  beiden 
Evangelien  dies  geschopft  haben,  fur  die  Sache  niehts 
austrage.  Wenn  er  sich  gegeniiber  einer  erzahlten  ge- 
schichtlichen  Tatsache  und  noch  dazu  einer  wunderbaren 
und  noch  dazu  einer  solehen,  deren  Quelle  man  nicht 
kennt  —  ich  glaube  sie  allerdings  zu  kennen:  Jesaj.  7, 
14  — ,  wirklich  damit  beruhigt,  daJJ  sie  ?,sachlichu  be 
griindet  sei,  und  sie  deshalb  fur  zuverlassig  hinnimmt,  so 
lafit  sich  dazu  nichts  bemerken.  Doch  bleibt  auch  auf 
diesem  Standpunkte  die  Frage  eine  historische;  D.  Cremer 
lost  nur  die  historische  Frage  durch  eine  dogmatische 
Erwagung,  die  ihm  so  sicher  ist  wie  ein  historisches  Zeug- 
nis,  ja  sicherer  als  ein  solches.  Auf  diesem  Wege  vermag 
ich  ihm  nicht  zu  folgen.*)  Hier  eiithullt  sich  ein  G-egen- 
satz  des  Grlaubens,  der  Methode  und  der  Kritik,  der  eine 
genauere  Darlegung  erheischt.  Ich  versuche  sie  im  fol- 

*)  In  welchem  Mafie  D.  Cremer  der  bestimmten  Frage,  die  Jung- 
f  rauengeburt  betreffend,  ausgewichen  ist,  zeigt  f olgender  Satz  auf  S.  29 
nSollte  aber  ein  Ausdruck  in  Harnacks  jiingster  Schrift,  was  ich  nicht 
annehme,  dahin  zu  verstehen  sein,  daB  der  Satz  »empfangen  vom 
heiligen  Geist,  geboren  von  der  Jungfrau  Maria «  in  der  Verkiindigung 
Jesu  selbst  nicht  zu  finden  sei,  so  miiBten  zunachst  Worte  wie  Joh.  8, 
58;  16,28;  17,  5  aus  der  Welt  geschafft  werden,  ehe  diese  Behauptung 
aufrecht  erhalten  werden  kOnnte."  Allein  an  den  drei  Stellen,  die 
D.  Cremer  hier  aufgefiihrt  hat,  ist  von  der  Jungfrauengeburt  schlechter- 
dings  nicht  die  Rede.  Die  erste  lautet:  MEhe  denn  Abraham  ward,  bin 
ich";  die  zweite:  ,,Ich  bin  vom  Vater  ausgegangen  und  gekommen  in 
die  Welt,"  und  die  dritte:  ,,Vater,  verklare  mich  bei  dir  selbst  mit  der 
Klarheit,  die  ich  bei  dir  hatte,  ehe  die  Welt  war."  Man  kann  sich 
glaubig  zu  dein  Inhalte  dieser  Stellen  bekennen  und  doch  die  Geburt 
aus  der  Jungfrau,  die  sie  nicht  enthalten,  dahingestellt  sein  lassen. 
Yon  der  Geburt  ohne  Zutun  eines  Mannes  spricht  Johannes  tibrigens 
an  einer  Stelle  wirklich  —  D.  Cremer  hat  diese  Stelle  auffallenderweise 
nicht  angefiihrt.  Hier  fafit  der  Evangelist  eine  solche  Geburt  als  ein 
Bild  und  behauptet,  alle  Gottes-Kinder  seien  so  geboren  (1,  13):  ,,nicht 
von  dem  Gebliit,  noch  von  dem  Willen  des  Fleisches,  noch  von  dem 
Willen  eines  Mannes,  sondern  von  Gott." 


Antwort  auf  die  Streitschrift  Cremers.  287 

genden  zu  geben,  nachdem  ich  im  vorstehenden  alle  Ein- 
wiirfe  widerlegt  zu  haben  glaube,  die  D.  Cremer  gegen 
meine  Ausfiihrungen  im  einzelnen  gerichtet  hat. 


2.  Die  prinzipiellen  Satze  D.  Cremers. 

Alle  Nebenfragen  mogen  hier  beiseite  bleiben.  Ich 
halte  mich  an  die  drei  Satze  D.  Cremers,  die  ich  oben  auf- 
gefiihrt  habe,  und  die  er  selbst  als  den  entscheidenden  In- 
halt  seiner  Schrift  hervorgehoben  hat.  Ich  will  dabei  das 
Mafi  der  Ubereinstinmmng,  das  zwischen  uns  besteht,  be- 
zeichnen;  denn  sonst  ist  jeder  Kampf  fruchtlos. 

1.  Der  erste  Satz  lautete:  ?,In  dem  gegenwartigen 
Streite  um  das  apostolische  Grlaubensbekenntnis  handelt  es 
sich  weder  um  neue  Ergebnisse,  noch  iiberhaupt  um  Ergeb- 
nisse  historischer  Forschung." 

Dafi  es  sich  nicht  um  neue  Ergebnisse  handelt,  habe 
ich  selbst  von  Anfang  an  ausgesprochen ,  und  es  mogen 
daher  auch  hier  meine  Arbeiten  iiber  das  apostolische  Symbol 
im  zweiten  Jahrhundert  beiseite  bleiben.  Andre  mogen 
dariiber  urteilen,  ob  sie  "Wertvolles  enthalten.  Aber  um  so 
bestimmter  muC  ich  es  aussprechen:  es  handelt  sich  bei 
dem  Streite  um  Ergebnisse  historischer  Forschung.  Der 
Streit  ist  auf  ein  andres  Gebiet  hiniibergespielt  worden, 
weil  man  es  iiberhaupt  nicht  zugeben  will,  dafi  die  ge- 
schichtliche  Erkenntnis  in  der  Religion  —  auch  zu  ihrer 
Berichtigung  —  eine  Rolle  spielt,  und  es  doch  auch  nicht 
offen  in  Abrede  stellen  darf.  Hier  liegt  die  ganze  Schwierig- 
keit  unsrer  gegenwartigen  Situation.  Bis  zum  achtzehnten 
Jahrhundert  begriindete  man  die  Religion  aus  der  Uberliefe- 
rung ;  im  achtzehnten  aus  der  Vernunft,  in  der  ersten  Halfte 
des  neunzehnten  aus  der  Spekulation  —  die  G-eschichte  spielte 
hier  uberall  letztlich  nur  die  Rolle  der  Magd;  denn  immer 


288  Erster  Band,  zweite  Abteilung.    Aufsatze:  II. 

kannte  man  hohere  Instanzen,  vor  denen  sie  zuriickzutreten 
habe.  Was  ein  Kardinal  offen  auszusprechen  den  Mut 
hatte:  ^Man  mufi  die  Greschichte  dureh  das  Dogma  auf- 
heben",  das  war  nnd  1st  fiir  Tausende  die  selbstverstand- 
liche  Richtschnur  ihres  Verfahrens.  Aber  langsam  hat  sich 
die  Frage:  ,,Was  ist  geschichtliche  Wirklichkeit  gewesen?" 
und  die  Einsicht,  dafi  diese  Frage  nur  mit  geschiclitlichen 
Mitteln  zu  beantworten  ist,  Bahn  gebrochen.  Nun  kann 
man  sie  nicht  mehr  totschlagen.  So  wenig  die  Methode 
reiner  Erkenntnis  der  Natur  durch  Naturphilosophie  ersetzt 
werden  kann,  so  wenig  kann  die  Einsicht,  dafi  die  G-e- 
schichte  der  geschichtlichen  Erkenntnis  gehort,  mehr  ge- 
raubt  werden.  Die  Religion,  sofern  sie  mit  einer  Greschichte 
in  der  "Welt  steht,  macht  davon  keine  Ausnahme.  Darum 
sind  Satze  wie  die:  ,,gehorte  die  Himmelfahrt  Jesu  der 
urspriinglichen  christlichen  Verkiindigung  an?",  nwie  sind 
die  Zeugnisse  fur  sie  beschaffen?",  ,,auf  welchen  Grrundlagen 
ruht  die  Uberlieferung,  dafi  Jesus  nicht  Josephs  Sohn  ge 
wesen  sei,"  unzweifelhaft  historische  Fragen,  die  nur  auf 
historischem  Wege  gelost  werden  konnen.  Sagt  die  ge- 
schichtliche  Untersuchung  —  vorausgesetzt,  daC  sie  sich 
nicht  irrt  — ,  dafi  die  Zeugnisse  unsicher  und  unzureichend 
sind,  so  kann  keine  Kunst,  keine  Philosophie,  keine  Dogmatik 
sie  sicher  und  zureichend  machen;  denn  die  Fahigkeit  ist 
keinem  Menschen  geschenkt,  eine  Tatsachenfrage  a  priori 
zu  entscheiden.  Der  romische  Stuhl  hat  sich  zwar  auch 
diese  Fahigkeit  angemafit;  aber  er  hat  sich  uberhaupt  ins 
tibermenschliche  gestellt.  Jene  Fragen  aber  sind  die  eigent- 
lichen  Hauptfragen  in  dem  gegenwartigen  Streit.  Also 
handelt  es  sich  bei  ihnen  um  historische  Fragen  und  bei 
ihrer  Beantwortung  um  Ergebnisse  historischer  Forschung. 
Jede  andre  Antwort  ist  unstatthaft.  Ich  kann  auch  nicht 
finden,  dafi  D.  Cremer  wirklich  Ernst  damit  macht,  jene 
Fragen  aus  der  Greschichte  auszuweisen;  denn  tate  er  das, 
so  mufite  er  auch  von  den  biblischen  Zeugnissen  absehen 


Antwort  auf  die  Streitschrift  Cremers.  289 

und,  wie  gewisse  Hegelianer,  die  Fakta  einfach  konstruieren. 
Dazu  hat  er  wohl  einen  schiichternen  Ansatz  bei  der  Jung- 
frauengeburt  gemacht;  aber  auch  nicht  mehr.  Also  soil 
letztlich  doch  das  geschichtliche  Zeugnis  gelten,  d.  h.  die 
Geschichte,  und  die  Frage  ist  nur  die,  ob  das  Zeugnis 
vollgiltig  ist  oder  nicht.  Dafi  aber  geschichtliche  Zeugnisse 
nur  nach  einer  Methode  gepriift  werden  konnen,  und  dafl 
eine  Kritik,  die  in  der  Mitte  anhebt  oder  plotzlich  Halt 
macht,  eine  Kritik  unter  der  Kritik  ist,  wird  D.  Cremer 
gewifi  selbst  bekennen. 

Seinem  ersten  Satze  stelle  ich  daher  den  Satz  gegen- 
iiber:  In  dem  gegenwartigen  Streit  um  das  apostolische 
Glaubensbekenntnis  handelt  es  sich  um  das  Recht  der  ge- 
schichtlichen  Forschung,  in  der  Kirche  zugelassen  und  ge- 
hort  zu  werden.  Wird  dieses  Recht  negiert,  so  wird  das 
Recht  der  Reformation  negiert;  denn  diese,  die  aus  dem 
Glauben  und  der  Kritik  an  der  Uberlieferung  geboren  ist, 
ware  in  diesem  Fall  eine  beklagenswerte  Revolution  ge- 
wesen.*) 

2.  Der  Streit  ist  wider  meine  Absicht  auf  das  Gebiet 
des  Glaubens  hiniibergespielt  word  en,  und  ich  folge  dem. 
Der  zweite  Satz  D.  Cremers  lautet:  ,,Denn  die  Frage  nach 
der  Person  Christi  oder  die  Frage,  wer  und  was  Jesus  ist, 
kann  nimmermehr  auf  dem  Wege  und  mit  den  Mitteln 
historischer  Forschung  entschieden  werden." 

Diesen  Satz  mufi  ich  zu  den  gefahrlichen,  halbwahren 
Satzen  rechnen,  vor  denen  man  sich  hiiten  sollte.  So  wie 

*)  In  den  neutestamentlichen  Einleitungen ,  in  den  Kommentaren 
zu  Matthaus  und  Lukas  und  in  dem  nLeben  Jesu"  ist  die  Greschichtlich- 
keit  der  Erzahlung  von  der  Jungfrauengeburt  unzahlig  oft  in  den 
letzten  fiinfzig  Jahren  bestritten  worden,  und  es  gab  nicht  mehr  Anlafl 
zu  einer  kirchlichen  Erregung.  Wenn  dieselbe  Erzahlung  aber  in  An- 
kniipfung  an  das  Apostolikum  bestritten  wird,  erhebt  sich  ein  Sturm. 
Wie  soil  man  die  Tatsache  deuten?  Soil  es  eine  doppelte  Wahrheit 
geben?  oder  soil  man  in  der  evangelischen  Kirche  die  geschichtliche 
Erkenntnis  verhullen? 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    I,  19 


290  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  II. 

er  lautet  und  in  alien  seinen  Konsequenzen  durchdacht, 
kann  ihn  nur  entweder  der  Schwarmgeist  oder  der  Katho- 
lik  oder  ein  spekulativer  Religionsphilosoph  (Hegelscher 
Farbung)  vertreten.  Der  Schwarmgeist  braucht  die  Gre- 
scliiclite  nicht;  denn  er  schopft  alles  aus  innerer  Offen- 
barung.  Der  Katholik  kann  sie  entbehren,  denn  er  halt 
sich  an  das  Christusbild ,  welches  die  Kirche  ihm  zeigt, 
und  vertraut  darauf,  dafi  die  Autoritat  der  Kirche  die 
"Wahrheit  des  Bildes  garantiere.  Der  spekulative  Religions- 
philosoph  endlich  kann  die  Greschichte  dahinten  lassen,  denn 
wenn  er  die  Moglichkeit  und  Notwendigkeit  der  Idee  der 
Grottmenschheit  konstruiert  hat,  ist  er  beruhigt.  Aber  wir 
evangelische  Christen  brauchen  die  Greschichte;  denn  wir 
wollen  keinen  andern  Christus,  und  kein  andrer  kann  uns 
helfen,  als  der  wirkliche,  geschichtliche  Christus,  dessen 
"Wort  wir  noch  eben  vernehmen,  und  dessen  Ziige  wir  in 
unser  Herz  aufnehmen  konnen.  Wir  haben  ihn  kennen 
und  lieben  gelernt  aus  der  Verkiindigung  unsrer  Kirche; 
aber  wenn  wir  nun  zur  Miindigkeit  erwachen  —  wem  wird 
die  Frage  erspart:  Weifit  du  auch,  an  wen  du  glaubst? 
und  kannst  du  davon  iiberzeugt  sein,  dafi  er  so  ist,  wie 
du  ihn  glaubst?  Es  gibt  viele  lautere  und  treue  Christen, 
die  nie  zu  dieser  Frage  kommen:-  sie  haben  durch  Christus 
den  Zugang  zu  ihrem  Grott  gefunden  und  wissen  sich  ge- 
borgen.  Aber  wie  steht  es  mit  den  andern?  Diirfen  wir 
ihnen  die  Frage  abschneiden?  und  haben  wir  einen  andern 
Weg,  auf  den  wir  sie  weisen  konnen,  als  den:  Forschet 
seinem  Selbstzeugnis  nach  und  prufet,  was  seine  Zeugen 
von  ihm  gesagt  und  welche  Wirkungen  sie  von  ihm  er- 
fahren  haben;  euer  Streben,  den  wirklichen  Christus  zu  er- 
fassen,  ist  recht  und  gut;  erstickt  es  nicht  durch  irgend- 
welche  Beruhigungen  und  Beschwichtigungen ,  die  ihre 
Kraft  doch  bald  wieder  verlieren. 

Und   so    sollen   sie    Christus    als   ihren   Herrn   finden? 
Nein,  gewifi  nicht.    Hier  weifi  ich  mich  mit  meinem  Q-egner 


Antwort  auf  die  Streitschrift  Cremers.  291 

einig,  wenn  er  sagt:  ,,Nicht  der  historischen  Forschung 
kommt  es  zu,  das  letzte  Wort  iiber  Christus  zu  sprechen." 
Nur  wiirde  ich  mich  anders  ausdriicken.  Nicht  um  das 
letzte  Wort  handelt  es  sich,  sondern  um  ein  ganz  neues 
Wort.  Innerhalb  der  geschichtlichen  Frage  kann  nur  die 
geschichtliche  Untersuchung  Aufschlufl  geben:  versagt  sie, 
so  versagt  hier  uberhaupt  alles.  Aber  dafi  dieser  Christus, 
wie  ih.n  die  Geschichte  vorstellt,  als  mein  Herr  und  Erloser 
geglaubt  und  ergriffen  wird,  das  bringt  gewifi  keine  ge- 
.schichtliche  Erkenntnis  zuwege,  sondern  hier  gilt,  was 
Luther  im  Eingang  der  Erklarung  des  dritten  Artikels 
gesagt  hat,  und  was  der  Apostel  noch  kiirzer  zusammen- 
gefaflt  hat:  ,,Niemand  kann  Jesum  einen  Herrn  heifien 
ohne  durch  den  heiligen  Geist."  Ein  Christenmensch  ist 
ein  Mensch,  der  die  Erfahrung  gemacht  hat:  ,,An  mir  und 
meinem  Leben  ist  nichts  auf  dieser  Erd;  was  Christus  mir 
gegeben,  das  ist  der  Liebe  wert."  Diese  Erfahrung  liegt 
iiber  allem  Zwang,  den  geschichtliche  Erkenntnis  ausiibt. 
Aber,  wie  unsre  Bekenntnisschriften  sagen,  der  heilige 
Geist  wirkt  durch  das  Wort,  d.  h.  durch  die  Predigt  von 
Christus.  Nun  ist's  gewifi  mit  diesem  Wort  so  herrlich 
bestellt,  dafi  schon  ein  Strahl  aus  ihm  einen  Menschen  er- 
greifen  und  aus  der  Zerstreuung  und  dem  selbstischen 
Wesen  zur  Umkehr  und  zu  Gott  fuhren  kann.  Aber  die 
christliche  Gemeinschaft  kann  auf  die  Dauer  nur  bestehen 
und  gesund  bleiben,  wenn  das  Wort  lauter  und  rein  ge- 
predigt  wird.  Lauter  und  rein  —  es  gab  eine  Zeit,  in  der 
diese  Forderung  erfullt  schien,  wenn  man  Bibelstellen  zu- 
sammenstellte  und  sie  nach  der  analogia  fidei  erklarte. 
Heute  ist  es  nicht  mehr  so.  Wir  haben  gelernt,  was  Ge- 
schichte  ist  und  geschichtliche  Zeugnisse.  Deshalb  hat  die 
Forderung,  dafi  man  auf  festem  Boden  stehen  miisse,  einen 
andern  Sinn  als  friiher.  Wir  denken  heute  bei  n  lauter  und 
rein"  auch,  ja  in  erster  Linie,  an  ,,geschichtlich  zuverlassig a ; 
sonst  ist  uns  alles  dahin.  Damit  sind  wir  wieder  bei  der 

19* 


292  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  II. 

Geschichte  und  der  reinen  Erkenntnis  der  Geschichte;  wir 
werden  sie  niclit  los,  und  sie  lafit  uns  niclit  los;  denn  wir 
wollen  niclit  von  unsern  Gedanken  oder  von  falschen  Tat- 
sachen  leben,  sondern  von  dem,  was  gewiO  ist.  Das  ist 
der  Grand,  warum  wir  geschichtliche  Kritik  iiben  —  auch 
aus  einem  entscheidenden  Interesse  des  Glaubens  geschieht 
es.  D.  Frank  freilioh  meint,  ,,wir  schielten  angstlich  hin- 
iiber  auf  den  wirklichen  oder  vermeintlichen  Wahrheits- 
besitz  der  natiirlichen  Erkenntnis".  Wir  schielen  nicht 
blofi  hinuber,  sofern  er  ein  wirklicher  ist,  sondern  wir  fassen 
ihn  fest  ins  Auge,  weil  wir  gewifi  sind,  daft  alle  Wahrheit, 
auch  die  ,,naturliche",  von  dem  Gott  der  Wahrheit  stammt 
und  keine  Wahrheit  ungestraft  uberhort  wird.  Auf  die 
merkwiirdige  Vorhaltung  D.  Cremers  aber,  der  7,Historizis- 
mus"  sei  nur  eine  andre  Form  der  romischen  Methode,  die 
alle  diejenigen,  die  der  wissenschaftlichen  Forschung  nicht 
zu  folgen  und  sie  nicht  zu  kontrollieren  vermogen,  zur 
fides  implicita  verdamme  und  nur  der  geistigen  Aristokratie 
eine  fides  explicita  ermogliche;  das  Christentum  sei  aber 
keine  Religion  fur  die  Aristokratie  der  Theologen,  und  die 
Frage:  was  diinket  euch  urn  Christo?  konne  von  jedem, 
der  nur  guten  Willens  ist,  entschieden  werden  —  erwidere 
ich,  dafi  D.  Cremer  auf  keine  Weise  den  Unterschied  ver- 
schiedener  Stufen  christlicher  Erkenntnis  aus  der  Welt 
schaffen  kann,  dafi  er  aber  hier  ganz  Disparates  in  eins 
gesetzt  hat.  Ware  die  christliche  Eeligion  nichts  andres 
als  Glaube  an  eine  geschichtliche  Person,  so  hatte  er 
freilich  recht:  der  vollkommene  Historiker  ware  der  voll- 
kommene  Christ;  aber  sie  ist  Religion.  Sie  hat  es  deshalb 
letztlich  mit  nichts  andrem  zu  tun,  als  dafi  die  Seele  ihren 
Gott  finde  und  ihn  halte.  Das  Wort:  nDu  Herr  hast  uns 
auf  dich  hin  geschaffen,  und  unser  Herz  ist  unruhig,  bis 
es  Ruhe  findet  in  dir",  gilt  von  alien  Menschen.  Findet 
ein  Mensch  durch  ein  Wort,  das  ihm  in  die  Seele  failt, 
den  lebendigen  Gott,  erlebt  er  in  sich  durch  die  Gnade 


Ant  wort  auf  die  Streitsohrift  Cremers.  293 

G-ottes,  wie  sie  in  der  christlichen  Gemeinschaft  verkundigt 
wird,  jene  Umkehr,  die  ihn  aus  der  Sclmld  und  dem  elen- 
den  Treiben  der  "Welt  herausfuhrt,  und  halt  er  sicli  nun 
zu  Gott  als  seinem  Vater  und  dem  Fels  seines  Lebens,  so 
ist  er  ein  Christ,  mag  seine  Kenntnis  von  Christus  noch 
so  unvollkommen  sein.  Ein  Religionslehrer  in  Worten 
wird  er  vielleicht  nicht  sein  konnen  trotz  seiner  fides  ex- 
plicita;  aber  sein  Leben  wird  eine  deutliche  und  kraftige 
Predigt  sein.  In  Summa:  der  Unterschied  von  fides  ex- 
plicita  und  implicita  wird,  auf  die  Religionslehre  gesehen, 
immer  bestehen  bleiben;  aber  im  evangelischen  Sinn  hat 
auch  das  kananaische  Weib  nicht  die  fides  implicita,  son- 
dern  den  rechten  Glauben  besessen.  Aber  nur  der  ^Histori- 
zismus"  schiitzt  unsre  Kirche  davor,  dafi  ihr  Glaube  nicht 
von  Schlinggewachsen  iiberwuchert  wird ;  der  einzelne 
Christ,  auf  den  verschiednen  Stufen  der  Erkenntnis  und 
Bildung,  kann  auch  unter  dem  Schutt  von  hundert  falschen 
Uberlieferungen  und  Lehren,  die  er  fur  wahr  halt,  ein 
freies  Gotteskind  werden  und  bleiben,  wie  er  umgekehrt, 
ohne  Verstandnis  for  den  ganzen  E/eichtum  religioser  Er 
kenntnis,  von  einem  Worte  Gottes  zu  leben  vermag.  Dem 
zweiten  Satze  D.  Cremers  stelle  ich  daher  den  Satz  gegen- 
tiber:  Die  Frage,  wer  und  was  Jesus  ist,  kann  —  wenn 
die  kirchliche  Uberlieferung  iiber  ihn  an  irgend  einem 
Punkte  erschiittert  ist  —  nur  auf  dem  "Wege  und  mit  den 
Mitteln  historischer  Forschung  festgestellt  werden;  aber  die 
"Uberzeugung ,  dafi  dieser  geschichtliche  Jesus  der  Erloser 
und  der  Herr  ist,  folgt  nicht  aus  der  geschichtlichen  Er 
kenntnis,  sondern  aus  der  Siinden-  und  Gotteserkenntnis, 
wenn  ihr  Jesus  Christus  verkiindigt  wird. 

3.  Der  dritte  Satz  D.  Cremers  lautete:  ,,Ist  das  die 
eigentliche  Frage,  wer  und  was  Christus  sei,  so  richtet 
sich  nach  ihrer  Entscheidung  auch  die  Kritik  des  Symbols". 

In  diesem  Satz,  der  das  Ergebnis  aus  den  beiden  ersten 
zieht,  wird  das  Symbol,  das  doch  eine  historische  Urkunde 


294  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  II. 

1st,  aus  aller  Zeit  herausgehoben.  Es  soil  als  ein  Bekenntnis 
betrachtet  werden,  das  vollstandig  und  rein  verkiindigt, 
was  das  Evangelium  sagt,  einerlei,  ob  das  wirklich  mit 
dem  historischen  Befunde  des  Symbols  stimmt.  Dafi  ich 
ein  solches  Verfahren  geschichtlich  nicht  fur  statthaft  halte, 
habe  ich  bereits  ausgef'iihrt.  Unter  dieser  Bedingung  konnte 
man  sich  auch  auf  das  Tridentinum  verpflichten  lassen. 
Aber  diese  Seite  der  Sache  mag  hier  auf  sich  beruhen;  ich 
gebe  sogar  zu,  dafi,  solange  wir  nicht  ein  kurzes  evan- 
gelisches  Bekenntnis  haben,  es  —  innerhalb  des  praktischen 
G-ebrauchs  —  angezeigt  ist,  Luther  zu  folgen  und  das 
Symbol  evangelisch  zu  verstehen.  Aber  D.  Cremer  macht 
von  dieser  kirchengeschichtlichen  Erlaubnis  einen  sehr  weit- 
gehenden  Grebrauch,  indem  er  die  Praexistenz  Christi  als 
den  Hauptinhalt  des  Symbols  erscheinen  lafit,  und  indem 
er  andrerseits  den  Gregnern  ein  bereits  formuliertes  Symbol 
unterschiebt,  um  mit  der  triumphierenden  Frage  zu  enden: 
,,Wird  man  dann  noch  wagen  zu  bekennen:  ich  glaube  an 
eine  Vergebung  der  Siinden  und  ein  ewiges  Leben?"  "Uber 
jenes  noch  ein  kurzes  Wort;  iiber  das  erfundene  Symbol 
mochte  ich  schweigen,  da  dieses  Symbol  nicht  meines  ist. 
Die  Praexistenz  —  ich  erklare  zunachst  offen,  dafi  es 
mir  schwer  wird,  dariiber  zu  schreiben,  zumal  in  einer 
Streitschrift.  Einen  Spruch,  wie  den:  ,,Selig  sind  die  reines 
Herzens  sind;  denn  sie  werden  Grott  schauen"  zu  bedenken, 
ist  mehr  wert  als  alle  theologischen  Erwagungen  iiber  die 
Praexistenz.  Auch  hat  Jesus  Christus  nicht  das  Greheimnis 
seiner  Person  in  den  Mittelpunkt  des  Evangeliums  gestellt, 
sondern  Grott  den  Vater  und  sich  selbst,  wie  er  mensch- 
lichem  Auge  und  Ohr  und  menschlichem  Sinn  zuganglich 
war.  Und  die  Seligkeit  hat  er  denen  zugesprochen ,  die 
den  Willen  seines  Vaters  im  Himmel  tun,  nachdem  sie  den 
Vater  am  Sohne  erkannt  haben.  Dennoch  bin  ich  weit 
entfernt,  gering  von  den  Gedanken  zu  denken,  die  in  der 
Vorstellung  von  der  „ Praexistenz"  einen  Ausdruck  gefunden 


Ant  wort  auf  die  Streitschrift  Cremers.  295 

haben.     Sie  fuhren  bis  in  das  innerste  Heiligtum  der  Reli 
gion  hinein. 

Es  handelt  sich  hier  aber  nicht  um  ein  historisch.es 
Urteil  -  -  mit  der  gemeinen  Greschichte  hat  die  Frage  gar 
nichts  zu  tun  — ,  auch  nicht  um  ein  Urteil  aus  der  Region 
des  Verstandes,  sondern  um  ein  Urteil  des  Grlaubens  und 
um  ein  Zeugiiis  aus  der  "Welt  des  innern  Lebens.  Schon 
das  Bekenntnis  „ Chris tus  mein  Herr"  ist  ein  solches.  Man 
soil  es  nicht  anders  auf  die  Lippen  nehmen,  als  indem 
man  die  Schauer  der  Majestat  Grottes  und  den  Reichtum 
seiner  Liebe  empfindet,  sonst  ist's  eine  lose  Rede  und  eine 
klingende  Schelle.  Ich  fiihle  einen  heifien  Schmerz,  indem 
ich  in  Zeitungsinseraten  und  Massenkundgebungen  die  tief- 
sten  und  hochsten  Bekenntnisse  des  christlichen  Grlaubens 
zornig  oder  kaltbliitig  ausgesprochen  lese;  denn  dadurch 
werden  sie  profaniert:  wieviel  wirkliches  christliches  Leben 
und  wahrhaftiger  Reichtum  in  Grott  steht  denn  hinter  dieser 
Bewegung  der  Lippen?  Sind  die  alle,  die  jetzt  laut  be- 
kennen:  „  wahrhaftiger  Grott  vom  Vater  in  Ewigkeit  geboren 
und  auch  wahrhaftiger  Mensch  von  der  Jungfrau  Maria 
geboren",  innerlich  berechtigt,  ihren  ISTamen  unter  dies  Be 
kenntnis  zu  setzen?  Ich  habe  Manner  gekannt  und  kenne 
sie  noch,  die  es  durften,  auch  in  Zeitungen  durften;  denn 
ihr  ganzes  Leben  war  erfullt  von  diesem  Grlauben.  Aber 
sollten  ihrer  so  viele  sein?  Ware  ein  demiitiges  Bekenntnis, 
das  wirklich  Ausdruck  des  eignen  innern  Lebens  ist,  nicht 
mehr,  wenn  es  gilt  Unglauben,  vermeintlichen  oder  wirk- 
lichen,  zuriickzuweisen?  Ich  glaube  hierin  mit  D.  Cremer 
nach  dem,  was  er  S.  39  geschrieben  hat,  einig  zu  sein. 
Zur  Sache  aber  mag  mit  der  Zuriickhaltung,  die  ein  solches 
Wort  fordert,  folgendes  gesagt  sein:  Wer  an  einen  person- 
lichen  Grott  glaubt  und  in  ihm  lebt,  der  stellt  nicht  nur 
die  Greschichte  des  eignen  Lebens,  sondern  auch  das  Stuck 
Menschheitsgeschichte,  das  er  kennt,  unter  dieses  Licht  und 
schaut  sie  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Ewigkeit  an.  Er 


296  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  31. 

bekennt  mit  dem  Psalmisten:  ,,Deine  Augen  sahen  mich, 
da  ich  noch  unbereitet  war,"  und  er  versteht,  was  der 
Apostel  meint,  wenn  er  spricht:  wVon  ihm  und  durch  ihn 
und  zu  ihm  sind  alle  Dinge."  Wer  aber  Gott  als  seinen 
Vater  in  Christus  gefunden  hat  und  darum  Christus  als 
den  Herrn  bekennt,  der  ist  gewifl,  dafi  hier  das  Geheimnis 
entschleiert  ist,  das  wir  an  unsrer  eignen  Seele  als  Bestim- 
mung  ahnen,  dafi  wir  nicht  in  die  Zeit  gehoren,  sondern 
in  die  Ewigkeit:  wir  soil  en  das  werden,  was  er  war  und 
ist,  ein  Mensch  der  Ewigkeit,  dessen  inneres  Leben  Gott 
ist.  Der  Glaube  an  Jesus  Christus  kann  nicht  der  rechte 
sein,  der  nicht  im  Fortgang  seiner  Erkenntnis  auf  diese 
Erkenntnis,  die  liber  aller  ^natiiiiichen"  G-eschichte  liegt, 
gefuhrt  wird  und  sie  als  ein  teures  Gut  festhalt.  Aber 
wie  unfahig  sind  Verstand  und  Phantasie,  dies  Geheimnis 
zu  fassen!  Wie  verschiedenartig  haben  es  schon  die  alte- 
sten  Zeugen  beschrieben,  von  jenem  Wort  aus  dem  ersten 
Petrusbrief  an:  nDer  zuvor  versehen  ist,  ehe  der  Welt 
Grund  gelegt  ward,"  bis  zu  dem  Johanneischen:  7,Im  An- 
fang  war  das  Wort!"  Mcht  auf  die  Fassung  kommt  es 
an,  sondern  auf  die  Ehrfurcht,  mit  der  man  das  Geheimnis 
der  Person  Christi  umfafit  und  das  eigne  Leben  unter  den 
Geist  Christi  beugt.  Er  ist  der  Sohn  Gottes,  und  wir 
kennen  ihn  nur  als  den  zu  uns  Gekommenen,  der  nicht 
von  uns  ist,  obschon  er  unser  Bruder  ist.  Nicht  die  Natur 
bindet  oder  trennt  unter  geistigen  Wesen,  sondern  das,  was 
wir  den  innern  Menschen  nennen.  In  der  Natur  ist  er 
uns  gleich;  aber  der  Christus  ,,nach  dem  Geist"  ist  ein 
andrer  als  wir:  unser  Herr.  Mehr  vermag  ich  nicht  zu 
sagen;  denn  wer  ohne  Erfahrung  oder  Empfindung  hier 
etwas  sagen  wollte,  wird  zum  Sophisten;  ich  will  aber 
gerne  jedem  lauschen,  der  mit  Erfahrung  und  Empfindung 
hier  mehr  zu  sagen  versteht.  Nur  dafi  er  uns  nicht  mit 
einer  Formel  binde  und  meine,  er  habe  das  R-atsel  gelost 
und  den  absoluten  Ausdruck  gefunden.  Es  ist  nicht  notig, 


Antwort  auf  die  Streitschrift  Cremers.  297 

es  ist  nicht  moglich,  dafi  das  Wahre,  von  dem  unsre  Seele 
lebt,  sich  in  einer  Formel  verkorpere;  schon  genug,  wenn 
es  uns  innerlich  ergreifb  und  dauernd  fur  die  Ewigkeit 
stimmt.  Wenn  eine  einzige  Siinde  ein  ganzes,  reiclies, 
imposantes  Leben  zu  zertriimmern  vermag,  und  umgekehrt 
ein  Strahl  Gottes  ein  armes  und  gebrochenes  Leben  er- 
traglich  machen,  ja  in  Freude  verwandeln  kann,  so  ist  es 
gewiB,  dafi  das  Gute,  trotz  allem  Schein,  der  dagegen 
spricht,  die  Herzen  und  damit  die  Welt  regiert,  und  dafi 
das  Bose  das  einzige  Ubel  ist.  Jenes  Gute  aber  ist  nicht 
eine  Abstraktion,  sondern  ist  nur  als  personliches  Leben 
und  personlicher  Wille  vorhanden.  Wir  ahnen  es  in  vielen 
Menschen;  aber  aufgegangen  ist  es  uns  als  eine  und  als 
unsre  Wirklichkeit  in  Jesus  Christus.  Eben  darum  stellen 
wir  ihn  auf  die  Seite  Gottes  und  nicht  auf  die  Seite  der 
Welt.  Dort  sehen  wir  ihn  stehen,  wo  Gott  das  Weltall 
aufgerichtet  und  die  Menschheit  geschaffen  hat,  um  das 
Reich  der  Geister  zu  sich  zu  fiihren. 

Wem  die  Herrlichkeit  des  christlichen  Glaubens  nicht 
aufgegangen  ist,  der  halt  das  fur  eine  Torheit,  und  ich 
furchte,  auch  manche  von  denen  halten  es  fur  eine  Torheit, 
die,  wo  sie  ihre  dogmatische  Formel  nicht  vernehmen, 
nichts  horen,  als  ISTein  oder  eine  grandiose  Rede.  Hat  doch 
noch  neulich  ein  hervorragender  orthodoxer  Theologe  das 
iibermutige  Wort  wider  uns  ausgesprochen,  unser  christ- 
licher  Glaube  beruhe  auf  einer  „ Suggestion",  da  wir  den 
breiten  scholastischen  Untergrund  verwerfen,  den  er  teils 
iibernommen ,  teils  mit  vieler  Kunst  und  Miihe  sich  selbst 
gezimmert  hat.  Wir  lassen  uns  das  bose  Wort  gefallen,  wie 
auch  das  andre  vom  ,,Historizisnius".  Solange  sie  uns  nicht 
verstehen,  miCverstehen  sie  uns  immer  noch  am  wenigsten, 
wenn  sie  uns  mit  Historizismus  und  Suggestion  schelten. 


Ich  bin  zu  Ende  —  man  kann  in  der  Religion  nicht 
alles  sagen;    denn  sie  ist  ein  Leben,    und  ein  gutes  Stuck 


298  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  II. 

dieses  unsers  Innenlebens  ist  uns  selber  ein  G-eh.eim.nis. 
Aussprechen  sollen  wir  nur,  was  den  andern  zugnte  kommt; 
das  Tiefste  miissen  wir  fur  uns  behalten;  aber  Gott  gebe, 
dafi  es  auf  das,  was  wir  tun,  wie  der  niilde  Schein  einer 
verborgnen  Sonne  seinen  Glanz  breite.  "Was  wir  sagen 
konnen,  das  wechselt  mit  den  Zeitaltern  in  seinen  Formen, 
wenn  auch  der  Gehalt  derselbe  bleibt.  Wir  sind  eben  jetzt 
wieder  in  einer  Krisis;  umso  angstlicher  klammern  sich 
viele  der  Besten  an  die  Formeln.  Diese  Formeln  mogen 
bleiben,  solange  noch  ein  Tropfen  Leben  in  ihnen  ist;  aber 
das  intellektualistische  Zeitalter  der  Religion  wird  doch 
abgelost  werden  durch  ein  andres,  das  freier  sein,  aber  es 
dem  einzelnen  schwerer  machen  wird,  dem  Ernst  der  Reli 
gion  zu  entfliehen.  Unterdessen  haben  wir  Theologen  die 
Aufgabe,  den  christlichen  Glauben  sowohl  in  seinen  alten 
Formen  zu  deuten  und  verstandlieh  zu  machen,  als  den 
gebieterischen  Winken  cler  Geschichte  zu  folgen  und  in 
neuer  Weise  alte  Wahrheit  zu  lehren.  In  der  Bemuhung 
urn  jene  Aufgabe  weiB  ich  mich  mit  meinem  Gegner  in 
mancher  Hinsicht  einig,  wahrend  ich  zugleich,  wie  er, 
schmerzlich  den  Yerzicht  empnnde,  zu  voller  Einigkeit  zu 
gelangen.  In  solchen  Stunden,  wo  mir  die  Versehiedenheit 
der  religiosen  Erkenntnisse  und  der  kirehlichen  Arbeit,  das 
Heer  der  Mifiverstandnisse  und  das  Heer  widerstreitencler 
Gedanken  auf  die  Seele  fallt,  troste  ich  mich  mit  den  tief- 
empfundnen  Versen  eines  Mannes,  der  es  achtzig  Jahre 
ausgehalten  hat  und  nicht  stumpf,  matt  oder  erbittert  ge- 
worden  ist: 

Ziehn  wir  nun  die  achtzig  Jahr 
Durch  des  Lebens  Miihen, 
Miissen  auch  ini  Silberhaar 
Unsre  Pfliige  ziehen. 
Fiihrt  doch  durch  des  Lebens  Tor 
Traun,  so  manche  Gleise, 
Ziehn  wir  einst  im  Engelchor 
Greht's  nach  einer  "Weise. 


ADOLF  HARNACK  .  REDEN  UND  AUFSATZE 
S^  ERSTER  BAND  •  ZWEITE  ABTEILUNG 


AUFSATZE:  III 
ALS  DIE  ZEIT  ERFULLET  WAR. 

DER  HEILAND 


Erschienen  in  der  ^Christlichen  Welt"   1899  Nr.  51  nnd  1900  Nr.  2. 


Als  die  Zeit  erfiillet  war. 

,,Dieser  Tag  hat  der  ganzen  Welt  ein  andres  Aussehen 
gegeben;  sie  ware  dem  Untergang  verfallen,  wenn  nicht 
in  dem  nun  Gebornen  fur  alle  Menschen  ein  gemeinsames 
Gliick  aufgestrahlt  ware." 

,,Bichtig  urteilt,  wer  in  diesem  Geburtstag  den  Anfang 
des  Lebens  und  aller  Lebenskrafte  fur  sich  erkennt;  nun 
endlich  ist  die  Zeit  vorbei,  da  man  es  bereuen  muGte,  ge- 
boren  zu  sein." 

wVon  keinem  andern  Tage  empfangt  der  einzelne  und 
die  Gesamtheit  soviel  Q-utes  als  von  diesem  alien  gleich 
gliieklichen  Geburtstage. u 

flUnmoglich  ist  es,  in  gebiihrender  Weise  Dank  zu 
sagen  fur  die  so  grofien  Wohltaten,  welche  dieser  Tag  ge- 
bracht  hat." 

,,Die  Vorsehung,  die  iiber  allem  im  Leben  waltet,  hat 
diesen  Mann  zum  Heile  der  Menschen  mit  solchen  Q-aben 
erfullt,  dafi  sie  ihn  uns  und  den  kommenden  Geschlechtern 
als  Heiland  gesandt  hat;  aller  Fehde  wird  er  ein  Ende 
machen  und  alles  herrlich  ausgestalten." 

nln  seiner  Erscheinung  sind  die  HofFnungen  der  Vor- 
fahren  erfullt;  er  hat  nicht  nur  die  friihern  Wohltater  der 
Menschheit  samtlich  iibertroffen,  sondern  es  ist  auch  un- 
moglich,  daB  je  ein  Grofierer  kame." 

nDer  Geburtstag  des  Gottes  hat  fur  die  "Welt  die  an 
ihn  sich  kniipfenden  Freudenbotschaften  [Evangelien]  her- 
aufgefiihrt." 


302  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  HI. 

„  Von  seiner  G-eburt  mufi  eine  neue  Zeitrechnung  be- 
ginnen." 

Von  wem  wird  hier  gesprochen?  Wer  ist  der  Welt- 
heiland,  der  hier  begriifit  und  gefeiert  wird?  Der  romische 
Kaiser!  Wo  ist  so  von  ihm  geredet  worden?  In  der  Pro- 
vinz  Asien!  Und  wann  hat  man  ihn  so  verherrlicht?  Um 
das  Jahr  9  vor  Christi  Greburt! 

Wem  sind  bei  diesen  Worten  nicht  unsre  alten  Weih- 
nachtsspriiche  und  -lieder  eingefallen?  ,,Das  ewge  Licht 
geht  da  herein,  gibt  der  Welt  einen  neuen  Schein;"  ,,Ich 
lag  in  schweren  Banden,  du  kommst  und  machst  mich 
los;"'  j,Was  der  alten  Vater  Schar  hochste  Lust  und  Sehn- 
sucht  war."  Und  weiter:  ,,Siehe  ich  verkiindige  euch  grofie 
Freude,  die  allem  Volke  widerfahren  wird."  »Wir  singen 
dir,  Immanuel,  du  Friedefurst"  usw.  Die  oben  mitgeteilten 
Satze  klingen  wie  Reminiszenzen  aus  ihnen,  und  doch  sind 
sie  lange  vor  ihnen,  lange  vor  unsern  Evangelien,  ja  noch 
vor  Christi  Greburt  geschrieben. 

DaB  unter  dem  Kaiser  Augustus  in  der  Provinz  Kiein- 
asien  der  Julianische  Kalender  eingefuhrt,  und  dafi  dieses 
Ereignis  durch  Tafeln  mit  Inschriften,  die  in  den  Stadten 
aufgestellt  wurden,  verkiindigt  worden  ist,  wufite  man  seit 
langerer  Zeit.  Heste  soldier,  von  dem  asiatischen  Landtage 
gesetzter  Inschriften  kannte  man  aus  Apamea,  Eumenea 
und  Dorylaum,  aber  sie  waren  trummerhaffc.  Nun  ist  von  der 
deutschen  Expedition  eine  fast  vollstandig  erhaltene  grie- 
chische  Inschrift  (84  Zeilen  lang)  in  Priene  entdeckt  worden, 
und  Mommsen  und  von  Wilamowitz-Mollendorff  haben  sie  in 
den  Mitteilungen  des  Kaiserlich  Deutschen  Archaologischen 
Instituts  (Athenische  Abteilung)  Bd.  23,  Heft  3,  Seite  275 
bis  293  herausgegeben  und  bearbeitet.  Die  Inschrift  zer- 
fallt  in  zwei  Teile.  Der  erste  enthalt  den  Antrag  des 
Statthalters  an  den  Landtag  Asiens  wegen  der  Kalender- 
veranderung,  der  zweite  den  BeschluO  des  Landtags:  der 
Jahresanfang  und  der  Antrittstag  fur  samtliche  Magistrate 


Als  die  Zeit  erflillet  war.  303 

soil  auf  den  23.  September  verlegt  werden,  den  G-eburtstag 
des  Kaisers  Augustus.  Mommsen  hat  gezeigt,  dafi  die  In 
schrift  zwischen  die  Jahre  11  und  2  vor  Christi  G-eburt, 
wahrscheinlich  aber  in  das  Jahr  9  fallt.  Dieser  Inschrift 
sind  die  oben  iibersetzten  Stiicke  entnommen.  Wilamowitz 
hat  natiirlich  die  Bedeutung,  die  sie  fur  die  Geschichte  der 
religiosen  Sprache  und  insbesondre  fiir  die  Ausbildung  der 
christlichen  Sprache  haben,  sofort  erkannt.  Er  hat  dazu 
eine  andre  Inschrift  (aus  Halikarnafi)  verglichen,  die  sich 
jetzt  im  Britischen  Museum  befindet  (No.  994).  Sie  lautet: 

7,Da  die  ewige  und  unsterbliche  BTatur  des  Alls  [die 
Grottheit]  den  Menschen  das  hoehste  Gut  zu  ihren  iiber- 
schwanglichen  Wohltaten  bescherte,  hat  sie,  damit  unser 
Leben  gliicklich  werde,  den  Casar  Augustus  uns  gebracht, 
der  der  Vater  seines  Vaterlandes,  der  gottlichen  Roma,  ist, 
der  vaterliche  Zeus  aber  und  Heiland  des  ganzen  Menschen- 
geschlechts,  dessen  Vorsehung  die  Gebete  aller  nicht  nur 
erfullt,  sondern  auch  iibertroffen  hat.  Denn  es  erfreuen 
sich  Land  und  Meer  des  Friedens;  die  Stadte  bliihn  in 
wohlgeordnetem  Zustande,  in  Eintracht  und  in  Reichtum; 
jegliches  Gute  ist  in  Hulle  und  Fiille  vorhanden  . . .  Usw." 

Der  Weltheiland,  der  Kaiser,  hat  der  Welt  den  Frieden 
gebracht  und  fuhrt  das  goldne  Zeitalter  herauf !  Wilamo 
witz  meint,  niemand  diirfe  diese  Religion  in  ihrer  Auf- 
richtigkeit  bezweifeln: 

,,Wenn  der  Kaiser  selbst  den  Glauben  ausgesprochen 
hat:  flGottes  Gnade  wird  mich  in  die  himmlische  Glorie 
hinauffiihren"  (Sueton,  Augustus  71),  so  hatten  die  dank- 
baren  Asiaten  diesen  Glauben  schon  jetzt. u 

Ob  die  Aufrichtigkeit  wirklich  so  unzweifelhaft  ist, 
mag  dahingestellt  bleiben;  aber  unzweifelhaft  richtig  ist  es, 
wenn  Wilamowitz  fortfahrt: 

wlm  Hintergrunde  dieser  Religiositat  steht  die  stoische 
n Vorsehung",  die  der  Welt  den  Heiland  sendet,  den  man 
als  j,vaterlichen  Zeus"  bezeichnet,  weil  er  in  Rom  „ Vater 


304  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  HI. 

des  Yaterlands"  heLOt.  "Wenn  vor  seinem  Erscheinen  die 
Menschen  im  Chaos  der  Revolution*)  nur  wiinschten,  nicht 
geboren  zu  sein,  so  ist  es  jetzt  erne  Freud  e,  zu  leben.  Und 
mit  der  Freudenbotschaft,  den  ,,Evangelien",  hat  der  Tag 
begonnen,  wo  der  "Welt  der  Heiland  geboren  ward.  Dafi 
diese  Anschauung  und  dieser  Ausdnick  griechisch  ist,  dafi 
gerade  Asien  um  Christi  Greburt  in  diesem  Glauben  lebte, 
diirfte  keine  geringe  Bedeutung  haben." 

In  der  Tat  —  diese  Inschrift  ist  fur  die  G-eschichte 
des  ,jChristentums"  ungleich  wichtiger  als  die  meisten  christ- 
lichen  Inschriften.  Sie  lehrt  uns  aufs  neue  und  eindrucks- 
voller  als  irgend  ein  friiheres  Dokument,  welchen  Umfang 
wir  dem  Satze  ^Als  die  Zeit  erfullet  war"  zu  geben  haben. 
Als  der  Apostel  Paulus  seine  grofie  Mission  in  Asien  unter- 
nahm,  da  konnte  man  schon  seit  fast  zwei  Menschenaltern 
auf  den  Marktplatzen  aller  bedeutendern  Stadte  Asiens  diese 
Inschrift  lesen  von  dem  Weltheiland,  der  erschienen  sei,  der 
die  sehnsiichtigen  Wiinsche  aller  erfulle,  der  dem  Menschen- 
geschlecht  den  Frieden  bringe,  ja  das  Leben  erst  lebens- 
wert  mache.  Wenn  wir  nachmals  diese  Sprache  als  christ- 
liche  lesen  und  heute  nur  als  christliche  empfinden,  so  irren 
wir  uns:  sie  ist  von  den  Griechen  gepragt  und  zuerst  auf 
den  Casar  Augustus  gemlinzt  worden.  Das  Christentum 
hat  sie  einfach  iibernommen  und  auf  Jesus  Christus  iiber- 
tragen.  Das  konnte  geschehen  und  das  durfte  geschehen; 
denn  die  religiose  Sehnsucht  hatte  hier  eine  Tiefe,  die 
religiose  Hoffnung  einen  Umfang,  die  religiose  Sprache  eine 
Kraft  gewonnen,  die  sie  zum  Ausdruck  einer  geistigen 
Weltreligion  fahig  machten. 

Aber  alles  dies  war  angeschlossen  an  den  Kaiserkultus; 
er  gab  den  Worten  doch  ein  eudamonistisch-politisches  Gre- 

*)  Ob  nur  an  das  Chaos  der  Revolution  zu  denken  ist?  Ob  sich 
nicht  in  dem  Gestandnis  ,,nun  braucht  man  es  nicht  mehr  zu  bereuen, 
geboren  zu  sein",  ein  tiefer  Pessimismus  in  Bezug  auf  das  Leben  iiber- 
haupt  ausspricht? 


Als  die  Zeit  erfiillet  war.  305 

prage  und  liefi  den  Missionaren,  die  vom  Alten  Testament 
und  vom  Evangelium  her  kamen,  diese  Religion  als  eine 
Spottgeburt  erscheinen.  Paulus  hat  darum  nirgendwo  an 
den  Kaiserkult  angekniipft,  so  verlockend  es  sein  mochte, 
von  ihm  'auszugehen,  sondern  an  ,,den  unbekannten  Q-ott". 
Er  hat  auch  jene  religiose  Sprache  des  Kaiserkultus,  so 
zweckmafiig  es  scheinen  konnte,  sie  als  Grefafi  fiir  die 
Predigt  von  Jesus  Christus  zu  gebrauchen,  noch  nicht  be- 
niitzt.  Erst  in  den  Pastoralbriefen,  bei  Lukas  und  bei  Jo 
hannes  zeigt  sich  eine  Annaherung  an  sie.  Dann  gewinnt 
sie  die  Oberhand.  Aber  indem  man  sie  annahm,  weil  sie 
in  so  majestatischen  Hymnen  den  Weltheiland  feierte,  be- 
kampffce  man  um  so  nachdriicklicher  den  Kaiserkultus  selbst. 
Man  nahm  ihm  die  Waffen  weg;  man  bekampfte  ihn  mit 
den  eigenen  Waffen.  Der  Kampf  des  Christentums  gegeii 
das  Heidentum  war  im  zweiten  Jahrhundert  ein  Kampf 
gegen  die  Religion  des  Kaiser-Heilands.  Alle  ubrigen  Reli- 
gionen  kamen  als  Feinde  eigentlich  gar  nicht  in  Betracht, 
und  wenn  der  Apokalyptiker  Johannes  an  die  Gremeinde 
von  Pergamum  schreibt:  ,,Ich  weiG,  wo  du  wohnst  —  wo 
der  Thron  des  Satans  ist",  so  meint  er  den  Kaiserkult,  der 
in  jener  Stadt  seinen  Hauptsitz  hatte.  Nur  ein  Apologet 
des  zweiten  Jahrhunderts,  der  Bischof  Melito  in  der  klein- 
asiatischen  Stadt  Sardes,  hat  sich  (in  einer  hochst  bedenk- 
lichen  Ausfuhrung,  die  uns  Eusebius  in  seiner  Kirchen- 
geschichte  mit  Beifall  auf bewahrt  hat)  dazu  verleiten  lassen, 
die  Verkiindigung  vom  "Weltheiland  Augustus,  die  auch  er 
in  Sardes  auf  einer  Prunkinschrift  gelesen  haben  wird, 
friedlich  mit  der  Predigt  von  Jesus  Christus  zu  verbinden 
und  von  der  Milchschwesterschaft  des  Kaiserreichs  und  des 
Christentums  zu  sprechen.  Er  hat  mit  Hilfe  jener  Inschrift, 
oder  einer  ahnlichen,  das  Thema  7,Augustus  —  Jesus  Chri 
stus",  das  Lukas  angeschlagen  hatte,  in  einer  Weise  aus- 
gefuhrt,  die  dieser  weit  von  sich  gewiesen  hatte:  die  Welt 
hat  nach  diesem  Bischofe  zwei  Heilande,  die  gleichzeitig 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    I.  20 


306  Erster  Band,  zweite  Abteiltmg.     Aufsatze:  III. 

erschienen  sind,  den  Augustus  und  den  Christus!  Zum 
Gliick  sind  ihm  wenige  Christen  damals  noch  in  dieser 
Richtung  gefolgt. 

Aber  die  Sprache  des  Kaiserkultus  ist  die  christliche 
geworden.  Wir  beklagen  das  nicht;  sonst  miifiten  wir  sie 
heute  abstreifen;  aber  wir  haben  keine  bessere.  Oder  ist's 
moglich,  iiberall  zu  der  schlichten  Sprache  zuriickzukehren, 
die  Christus  selbst  gesprochen  hat?  Vielleicht  ist  das 
kommenden  Greschlechtern  beschieden.  Einstweilen  lernen 
wir,  jedem  das  Seine  zu  geben,  und  erkennen  immer  mehr, 
in  welchem  Mafie  die  GrefaCe  vorbereitet  waren,  um  das 
Evangelium  aufzunehmen.  Aber  noch  mehr:  das  Evan- 
gelium  selbst  stellt  gleichsam  nur  einen  neuen,  entscheiden- 
den  Kraftpunkt  dar.  Das  meiste  von  dem,  was  wir  sonst 
noch  der  Originalitat  des  Christentums  zuschreiben,  lag 
langst  teils  im  Judentum,  teils  in  der  ernsten  religiosen 
Arbeit  der  Griechen  fertig  vor  und  wurde  von  der  Kraft 
des  Evangeliums  einfach  in  Beschlag  genommen.  So  ent- 
stand  das  ,,Christentum". 


Der  Heiland, 


In  dem  kleinen  Aufsatz  wAls  die  Zeit  erfiillet  war" 
(Christl.  Welt  1899  Nr.  51)  habe  ich  auf  Grand  einer  neu- 
entdeckten  Inschrift  vom  Jahr  9  vor  Christi  Geburt  gezeigt, 
dafi  unsre  religiose  Sprache  in  Bezug  auf  Jesus  Christus 
ihre  Vorbereitung  auch  an  der  religiosen  Sprache  der  Grie- 
chen  gehabt  hat.  Genauer  noch  mufi  man  sagen,  dafl  die 
Christenheit  seit  dem  Ausgang  des  ersten  Jahrhunderts 
besonders  solche  Begriffe  und  Worte  bevorzugte,  die  ihr 
sowohl  von  dem  Alten  Testament  als  von  den  Griechen 
identisch  geboten  wurden.  Es  ist  namlich  eine  der  wichtig- 
sten  religionsgeschichtlichen  Erkenntnisse,  dafi  sich  im  Zeit- 
alter  der  Entstehung  des  Christentums  auf  der  jiidischen 
und  auf  der  griechischen  Linie  zahlreiche  religiose  Begriffe 
und  Ausdriicke  finden,  die  sich  decken  und  also  einfach 
ineinander  iibergehen  konnten.  Diese  merkwiirdige  Er- 
scheinung  ist  zum  Teil  dadurch  bedingt  gewesen,  daB  das 
Griechentum  seit  den  Tagen  Alexanders  des  Grofien  auf 
das  Judentum  eingewirkt  hat,  und  dafi  in  bescheidenen 
Grenzen  auch  das  Umgekehrte  der  Fall  gewesen  ist.  Aber 
ein  anderer  Teil  der  Erscheinungen  lafit  sich  so  nicht  er- 
klaren;  vielmehr  hat  die  innere  Entwicklung  der  Religion 
dort  und  hier  dieselben  Empfindungen,  Erkenntnisse  und 
Ausdriicke  hervorgerufen.  Die  wichtige  Aufgabe,  alle  diese 
Begriffe  und  Worte  zusammenzustellen,  urn  sie  einheitlich 
zu  iiberschauen,  ist  bisher  noch  nicht  in  Angriff  genommen, 
geschweige  gelost.  Und  doch  wird  man  erst  dann  ein 

20* 


308  Erster  Band,  zweite  Abteilung.    Aufsatze:  III. 

sicheres  Urteil  iiber  die  Originalitat  und  iiber  die  Anpas- 
sungskraft  des  Evangeliums  gewinnen  konnen. 

Der  Prozefl  aber,  wie  die  altesten  Christen  Sckritt  fur 
Schritt  die  religiose  Spraclie  der  Grriechen  aufgenommen 
haben,  lafit  sich  in  seinen  fruhesten  Stadien  schon  im  Neuen 
Testamente  verfolgen,  wenn  man  die  alteren  Schriffcen  darin 
mit  den  jiingeren  vergleicht.  Durchweg  erkennt  man,  daft 
Markus,  Matthaus  und  Paulus  am  wenigsten  von  der  reli- 
giosen  Sprache  der  Griechen  beeinfluflt  waren,  wahrend 
Lukas,  Johannes  und  namentlich  der  Verfasser  der  Pastoral- 
briefe  und  des  2.  Petrusbriefs  viel  starker  von  ihr  abhangig 
sind.  Es  ist  ein  neuer  Beweis  fur  die  wunderbare  Origi 
nalitat  und  Kraft  des  Paulus,  dafi  er,  obgleich  er  Jahr- 
zehnte  unter  den  Griechen  wirkte,  doch  aus  ihrer  religiosen 
Sprache  so  wenig  aufgenommen  hat.  Umgekehrt  hat  Lukas 
den  Versuch  gemacht,  die  ihm  schon  in  festen  Sprach- 
formen  iiberlieferte  evangelische  Greschichte  mit  schonender 
Hand  sprachlich  zu  korrigieren  und  der  Empfindung,  der 
Begriffswelt  und  dem  Verstandnis  der  Grriechen  naher  zu 
bringen.  Darauf  ist  man  langst  aufmerksam  geworden; 
in  neuester  Zeit  aber  hat  namentlich  Professor  Nor  den  in 
seinem  schonen  Buche  iiber  die  ,,antike  Kunstprosa"  eine 
Reihe  vortrefflicher  Beobachtungen  iiber  diesen  Punkt  an- 
gestellt.  Von  ganz  besonderem  Interesse  ist  iibrigens  in 
dieser  Bichtung  die  dem  Lukas  eigentiimliche  Vorgeschichte 
Jesu  (Luk.  1  u.  2).  Unzweifelhaft  hat  er  hier  eine  juden- 
christliche  Quelle  benutzt  —  es  gibt  kaum  einen  grofieren 
Abschnitt  im  Neuen  Testament,  der  uns  so  7,alttestament- 
lich"  in  seiner  Sprache  anmutet  wie  jene  Kapitel  — ,  aber 
er  hat  es  verstanden,  ohne  das  Sprachkolorit  zu  verwischen, 
so  nachzuerzahlen,  dafi  jene  Yerkiindigungs-  und  Greburts- 
geschichten  grade  auch  den  echten  Grriechen  besonders 
verstandlich  und  erbaulich  sein  mufiten. 

Im  folgenden  will  ich  an  einem  Beispiele  zeigen,  wie 
ein  Wort  sich  eingeburgert  hat,  das  fur  uns  heute  zum 


Der  Heiland.  309 

eisernen  Bestande  der  ckristlichen  Sprache  gehort,  aber 
urspriinglich  in  ihr  gefehlt  hat  —  das  Wort  Heiland  fiir 
Jesus  Christus. 

In  den  Evangelien  des  Markus  und  Matthaus  sucht 
man  es  vergebens:  weder  im  Munde  Jesu  noch  in  den  Be- 
ricliten  der  Evangelisten  kommt  es  vor.  Freilich,  wenn 
Jesus  dem  Taufer  Johannes  auf  dessen  Frage,  ob  er  der 
Messias  sei,  antworten  lafit:  ,,Die  Blinden  sehen  usw.,a  so 
ist  keine  Bezeichnung  fiir  ihn  zutreffender  als  die  des 
,,Heilandes".  Allein  das  Wort  ist  nicht  gebraucht.  Das 
ist  urn.  so  bemerkenswerter,  als  die  griechische  Ubersetzung 
des  Alten  Testaments  die  Bezeichnung  „  Heiland"  (fiir  Grott 
selbst)  wohl  kennt;  erinnert  sei  nur  an  die  beriihmte  Stelle 
im  Hiob:  ,,Ich  weifi,  dafi  mein  Eiioser  lebt."  Aber  unter 
den  vielen  Bezeichnungen  des  zukiinftigen  Messias  im 
Judentum  fehlt  die  Bezeichnung  j,Heiland".  Darum  ist  sie 
auch  nicht  in  die  urspriingliche  evangelische  Verkiindigung 
gekommen. 

Dagegen  war  bei  den  Griechen  das  Wort  ,,Heiland" 
eine  sehr  haufige  Bezeichnung  der  Grdtter.  Ursprunglick 
bedeutete  es  ?,Nothelfer"  in  den  vielen  kleinen  und  grofien 
Kalamitaten  des  Lebens.  Die  Dioskuren  waren  die  ,,Hei- 
lande"  der  Schiffer,  der  Nil  war  der  ^Heiland"  Agyptens; 
auch  Feldherrn  wurden  mit  dem  Ehrentitel  ,,Heiland"  ge-^ 
ehrt.  In  dem  Mafie  aber  als  sich  die  Religion  erweiterte 
und  vertiefte,  bekam  auch  das  Attribut  wHeiland"  fiir  die 
Grottheit  eine  weitere  und  tiefere  Bedeutung:  der  Mensch 
bedarf  des  Heilands  iiberhaupt.  G-ottes  hochste  Kraft  ist, 
dafi  er  Heiland  ist;  die  gottliche  Vorsehung  ist  die  des 
,,Heilandes".  So  bekam  die  uralte  Formel  ,,Zeus  der  Hei 
land",  ,,Qott  der  Heiland",  einen  neuen  umfassenden  Sinn, 
und  als  der  irdische  Gott,  der  Kaiser,  neben  den  Zeus  trat, 
wurde  auch  er  als  Heiland,  ja  als  Weltheiland,  gefeiert. 

Grrund  genug  fiir  Paulus,  die  Formeln  nGrott  der  Hei 
land",  „ Christus  der  Heiland"  beiseite  zu  lassen.  Sie  war 


310  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  III. 

ihm  wohl  niclit  bezeiclmend  genug.  Nur  zweimal  in  seinen 
echten  Briefen  hat  er  das  Wort  ,,Heiland"  fiir  Christus 
gebraucht,  aber  nicht  als  Name:  Epheser  5,  23  und  Phi- 
lipper  3,  20.  Die  erstere  Stelle  diirfen  wir  beiseite  lassen 
—  die  Auslegung  ist  strittig  — ;  an  der  zweiten  schreibt 
er:  ,,Unser  Staatswesen  ist  im  Himmel,  von  dannen  wir 
auch  den  Herrn  Jesus  Christus  als  Heiland  erwarten."  Der 
G-egensatz  ist  klar:  ,,Unser  Staatswesen  ist  nicht  das  ro- 
mische  Reich  mit  seinem  Kaiser-Heiland."  Weit  entfernt 
also,  dafi  man  aus  unserer  Stelle  entnehmen  diirfte,  dem 
Apostel  sei  der  Ausdruck  ,,Heiland"  fur  Christus  gelaufig 
gewesen,  folgt  vielmehr  umgekehrt  aus  ihr,  dafi  er  nur  um 
des  Gegensatzes  willen  zu  ihm  gegriffen  hat. 

Aber  nicht  lange  nach  der  Zeit  des  Paulus  wurde  es 
anders.  Lukas  und  der  Verfasser  der  Pastoralbriefe*)  be- 
zeichnen  den  Umschwung,  und  zwar  nehmen  sie  sowohl 
die  antike  (und  zugleich  alttestamentliche)  Formel  ,,Grott 
der  Heiland"  auf,  als  sie  auch  die  neue  Formel  „  Christus 
der  Heiland",  „  Christus,  der  Herr  und  Heiland"  bilden. 
Lukas  bietet  bereits  in  seiner  Yorgeschichte  Jesu  beide;  er 
laJBt  Elisabeth  (1,  47)  7,Gott  mein  Heiland"  aufjubeln,  und 
er  hat  den  Satz  an  den  Anfang  der  heiligen  Greschichte  ge- 
stellt  (2,  11):  7,Euch  ist  heute  der  Heiland  geboren."  Der 
ganze  Vers  ist  in  alien  seinen  Worten  so  gestaltet,  dafi  er 
Juden  und  Griechen  gleich  heimisch  lautete  —  das  Neue 
war,  dafi  ,,Christus  der  Herr  in  der  Stadt  Davids"  dieser 
Heiland  ist,  dessen  Frohbotschaft  ,,allem  Volke"  gilt.  Auch 
in  der  Apostelgeschichte  hat  Lukas  noch  zweimal  (5,  31; 
13,  23)  von  dem  gesprochen,  ,,den  Grott  zum  Fiirsten  und 
Heiland"  erhoben  hat,  oder  von  dem  ,,Heiland  Jesus". 

In  den  Pastoralbriefen,  so  kurz  sie  sind,  wird  Q-ott 
selbst  nicht  weniger  als  sechsmal  ,,G-ott  der  Heiland  ge- 


*)  Diese  Brief e  kOnnen  nicht  von  Paulus  geschrieben  sein;   doch 
liegen  ihnen  httchst  wahrscheinlich  Paulinische  Briefzettel  zu  Grunde. 


Der  Heiland.  311 

nannt,  Christus  aber  heiBt  viermal  nunser  Heiland".  Eine 
Stelle  1st  ganz  besonders  merkwiirdig;  denn  sie  lautet  mit 
antiker  Eeierlichkeit:  ,,Wir  erwarten  die  herrliche  Zukunft 
nnseres  groCen  G-ottes  und  Heilandes  Christus  Jesus." 
Ahnlich  heiflt  es  im  2.  Petrusbrief:  ,,Unser  Gott  und  Hei 
land  Jesus  Christus."  Dieser  spate  Brief  ist  deshalb  in  der 
Geschichte  der  christlichen  Sprache  wichtig,  weil  er  zeigt, 
dafi  auch  der  Ausdruck  wUnser  Herr  und  Heiland  Jesus 
Christus"  bereits  formelhaft  geworden  ist.  Er  komint  in 
dem  kleinen  Briefe  nicht  weniger  als  viermal  vor.  Seitdem 
ist  diese  Zusammenstellung  eine  besonders  bevorzugte  in 
der  Christenheit  geworden. 

Johannes  aber  ist  es  gewesen,  der  die  Bezeichnung 
,,Weltheiland",  die  in  der  Antike  auch  schon  bekannt  war 
(fur  den  Kaiser),  auf  Christus  ubertragen  hat.  ISTur  zwei- 
mal  findet  sich  bei  ihm  das  "Wort  rHeiland",  aber  beide 
Male  mit  dem  Zusatz  ,,der  Welt".  wMcht  mehr  um  deiner 
Rede  willen,"  erklaren  die  Samariter  dem  Weibe,  ,,glauben 
wir;  denn  wir  haben  nun  selbst  gehort  und  wissen,  daC 
dieser  wahrhaftig  der  Heiland  der  Welt  ist"  (Joh.  4,  42). 
Und  1.  Joh.  4,  14  heifit  es:  ^Wir  bezeugen,  dafi  der  Vater 
den  Sohn  gesandt  hat  als  Heiland  der  Welt." 

Jesus  Christus  trat  dem  Kaiser,  dem  Weltheiland 
(auch  ^Schopfer  und  Heiland"  wird  Hadrian  genannt), 
gegeniiber,  und  es  erfiillte  sich  das  Wort:  ^Wenn  ein 
starker  Grewappneter  seinen  Palast  bewahrt,  so  bleibt  das 
Seine  mit  Erieden.  Wenn  aber  ein  Starkerer  iiber  ihn 
kommt  und  iiberwindet  ihn,  so  nimmt  er  ihm  seinen  Har- 
nisch,  darauf  er  sich  verlieC."  Der  Harnisch  war  die 
Heilandswiirde. 


. 

ADOLF  HARNACK  .  REDEN  UND  AUFSATZE 
ERSTER  BAND  .  ZWEITE  ABTEILUNG  ^ 


AUFSATZE:  IV 

USER  DIE  JUNGSTEN  ENTDECKUNGEN 

AUF    DEM    GEBIETE    DER    ALTESTEN 

KIRCHENGESCHICHTE 


Erschienen  in:  ,,Preufl.  Jahrbucher",  Band  92  (1898),  Heft  2. 


Ein  Konig  fragte  einst  einen  seiner  Gelehrten:  n"Was 
gibt  es  Neues  in  Ihrer  Wissenschaft?"  und  erhielt  darauf 
die  Gegenfrage :  ^Kennen  Majestat  schon  das  Alte?"  Die  Ant- 
wort  war  nicht  hoflich,  aber  richtig;  denn  von  dem  Alten 
ist  in  der  Wissenschaft  immer  mehr  zu  erzahlen,  als  von 
dem  Neuen.  Wer  nur  dieses  kennt,  weifi  wenig;  wer  aber 
in  dem  Alten  lebt,  braucht  sick  nicht  heiBhungrig  auf  das 
Neue  zu  stiirzen:  denn  er  weifi,  dafi  er  Jenes  nicht  auslernt. 
Auch  vermag  nur,  wer  das  bereits  Erarbeitete  beherrscht, 
Neuentdecktes  wirklich  zu  wiirdigen.  Ihm  werden  die 
neuen  Funde  wie  frische  Pflanzen  in  seinen  Garten  ge- 
setzt;  der  Neuigkeitsjager  behandelt  sie  wie  abgeschriittene 
Blumen,  die  heute  gefallen  und  morgen  schon  welk  sind. 

Aber  die  Ermittelung  neuer  Tatsachen  ist  doch  wie 
in  alien  empirischen  Wissenschaften,  so  auch  in  der  Ge- 
schichtsforschung  eine  wesentliche  Bedingung  ihres  Fort- 
schritts,  ja  die  wichtigste.  Zwar  mag  man  darliber  streiten, 
ob  nicht  an  diesem  Fortschritt  die  geniale  Kraft,  die  Dinge 
neu  und  richtiger  zu  sehen,  einen  groBeren  Anteil  hat. 
Doch  der  Streit  ist  miifiig;  denn  noch  immer  hat  in  den 
Wissenschaften  die  zutreffendere  Beurteilung  und  die  Ent- 
deckung  von  Tatsachen  in  einer  geheimnisvollen  Wechsel- 
wirkung  gestanden.  Es  ist  nicht  zufallig,  dafi  das  J5philo- 
sophische"  Zeitalter  der  Geschichtsschreibung  so  arm  gewesen 
ist  in  bezug  auf  die  Erhebung  neuer  geschichtlicher  Tat 
sachen.  Wer  den  Geschichtsverlauf  von  vornherein  fertig 
im  Kopfe  hat,  dem  liegt  an  der  Ermittelung  der  Tatsachen 
wenig.  Nur  wer  entschlossen  ist,  sich  von  ihnen  leiten  zu 


316  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

lassen,  der  fmdet  neue,  mag  auch  mancher  blinden  Henne 
ein  Korn  beschert  werden.  — 

Das  Studium  der  altesten  Kirchen-  und  cliristlichen 
Literaturgesch.ich.te  hat  in  unserm  Jahrhundert  einen  mach- 
tigen  Aufschwung  genommen.  In  der  ganz  besonderen 
Stellung  dieser  Greschichte  liegt  es  begriindet,  dafl  jeder 
Aufschwung  der  Greschichtswissenschaft  ihr  vor  allem  zu 
gut  kommt.  Laufen  hier  doch  geschichtliche  Interessen 
von  eminenter  Bedeutung  zusammen.  Wie  hat  sich  die 
christliche  Religion  von  ihren  ersten  palastinensischen  An- 
fangen  zu  dem  machtigen  Organismus  entwickelt,  der  als  ka- 
thoHsche  Kirche  bereits  im  dritten  und  vierten  Jahrhundert 
vor  uns  steht  und  das  romische  Reich  dann  in  sich  auf- 
genommen  hat?  Wie  hat  sich  die  griechische  und  romische 
Kultur  und  Literatur  in  die  christlich  -  griechische  und 
christlich  -  romische  verwandelt  und  in  dieser  Form  ihre 
letzte  Ausgestaltung  empfangen?  Wie  beschaffen  ist  das 
religiose,  politische  und  wissenschaftliche  Kapital  —  die 
Griiter  und  die  Ideale  — •  gewesen,  welches  die  alte  Kirche 
den  jungen  romanischen  und  germanischen  Nationen  uber- 
mittelt  hat,  aus  welchem  sich  alles  das  entwickelte,  was 
wir  Kultur  des  Mittelalters  nennen?  Wie  ist  es  zu  ver- 
stehen,  dafi  die  beiden  groBen  katholischen  Kirchen  das 
Zeitalter  der  Kirchenvater  noch  immer  als  ihre  klassische 
Zeit  verehren,  was  schatzen  sie  an  ihm,  inwiefern  ist  die 
Art  und  Kraft  ihrer  Frommigkeit  von  ihm  abhangig? 
Welche  starken  Interessen  verbinden  auch  noch  den  Pro- 
testantismus  mit  einem  ganz  bestimmten  Bilde  der  altesten 
Kirche? 

Der  Schliissel  zu  diesen  grofien  Problemen  liegt  in  der 
Erforschung  der  alten  Kirchengeschichte.  Daher  laflt  sie 
den  nicht  mehr  los,  der  sich  ihr  einmal  ergeben  hat.  Wer 
hier  arbeitet,  deckt  nicht  nur  eine  langst  begrabene  Ver- 
gangenheit  auf,  sondern  arbeitet  an  der  Aufhellung  einer 
Greschichte,  deren  Hervorbringungen  unter  uns  noch  lebendig 


tTber  die  jiingsten  Entdeckungen.  317 

sind.  Darin  liegt  der  Heiz  und  die  Gefahr.  Der  Kirchen- 
historiker  wird  zum  Kirchenpolitiker,  er  mag  wollen  oder 
nicht;  denn  mag  er  selbst  auch  noch  so  uninteressant  sein 
—  den  Ergebnissen  seiner  Arbeiten  kann  er  das  ,,Aktuell©u 
nicht  abstreifen. 

Doch  soil  dieser  Gedanke  hier  nicht  weiter  verfolgt 
werden.  Auch  der  Versuchung  will  ich  widerstehen,  zu 
schildern,  welche  Fortschritte  die  Geschichtsschreibung  der 
alten  Kirche  in  der  Neuzeit  gemacht  hat  und  wie  vieles 
ihr  noch  zu  tun  ubrig  ist.  Dagegen  mochte  ich  die  Auf- 
merksamkeit  auf  zwei  erfreuliche  Tatsachen  lenken,  die  in 
engstem  Zusammenhang  mit  dem  Fortschritt  der  kirchen- 
geschichtlichen  Forschung  stehen. 

Die  Quellen  und  Urkunden  der  G-eschichte  zu  sammeln 
und  in  zuverlassiger  Gestalt  allgemein  zuganglich  zu  machen, 
ist  die  grundlegende  Voraussetzung  fur  alles  Studium.  Das 
haben  schon  die  Gelehrten  des  siebzehnten  Jahrhunderts  ge- 
wufit  und  haben  darnach  gehandelt.  Ihre  Arbeit  ist  in  unserem 
Jahrhundert  wieder  aufgenommen  worden.  Die  ,,Monumenta 
Germaniae",  das  „ Corpus  Inscriptionum  Graecarum",  das 
„  Corpus  Inscriptionum  Latinarum",  auf  dessen  Grunde 
Mommsen  die  romische  Verfassungsgeschichte  schaffen 
konnte,  sind  die  vornehmsten  Zeugen  fur  diese  Tatigkeit. 
Aber  auch  der  alten  Rirchengeschichte  werden  jetzt  Samm- 
lungen  von  ahnlicher  Bedeutung  geschenkt.  Seit  dreiBig  Jah- 
ren  arbeitet  die  Wiener  Akademie  der  Wissenschaften  an  der 
Herausgabe  der  lateinischen  Kirchenvater,  und  jiingsthat  sich 
die  Berliner  Akademie  entschlossen,  alle  griechischen  Quellen 
und  Urkunden  des  Christentums  von  dem  apostolischen  Zeit- 
alter  bis  zum  Anfang  des  vierten  Jahrhunderts  zu  sammeln 
und  herauszugeben.  Die  Mittel  zur  Durchfuhrung  dieses 
groBen  Unternehmens ,  welches  etwa  funfzig  Bande  um- 
fassen  wird,  nieBen  aus  einer  Stiftung,  welche  im  Jahre  1894 
zu  gunsten  der  Akademie  errichtet  worden  ist  —  der  Heck- 
mann-Wentzel-Stif tung.  Der  hochherzigen  Frau,  welche 


318  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

erkannte,  dafl  auch  die  Wissenschaft  den  Groflbetrieb  be- 
darf,  und  die  ihr  in  unbeschranktem  Vertrauen  die  Mittel 
dargeboten  hat,  sei  auch  an  dieser  Stelle  der  warmste  Dank 
gesagt.  Schon  haben  sich  Kenner  der  alien  Kirchen-  und 
christlichen  Literaturgeschichte  zusammengetan ,  um  das 
Werk  wiirdig  auszufuhren,  und  wir  diirfen  hoffen,  dafl  noch 
vor  Ablauf  eines  Menschenalters  samtliche  Urkunden  und 
Quellen  des  altesten  Christentums  in  zweckentsprechenden 
Ausgaben  vorliegen  werden. 

Vielleicht  hatte  die  alte  Kirchengeschichte  nicht  das 
Grliick  gehabt,  aus  den  reichen  Mitteln  der  Stiftung  bedacht 
zu  werden,  wenn  nicht  die  zahlreichen  neuen  Entdeckungen, 
die  in  den  letzten  25  Jahren  gemacht  worden  sind,  in  den 
weitesten  Kreisen  die  Erkenntnis  erweckt  hatten,  daC  hier 
ein  grofles,  z.  T.  neues  Arbeitsfeld  vorliegt,  und  dafi  es 
gilt,  das  Neue  zu  sammeln  und  mit  dem  Alten  zu  verbinden. 
Einige  dieser  Entdeckungen  haben  auch  das  grofiere  ge- 
bildete  Publikum  und  die  Tageszeitungen  beschaftigt;  aber 
wenige  werden  eine  Vorstellung  davon  besitzen,  in  weichem 
Umfange  sich  unsere  Kenntnis  der  altesten  Kirchenge 
schichte  seit  1873  —  dieses  Jahr  sei  als  Q-renze  gewahlt  — 
vermehrt  hat.  Ich  versuche  es  im  folgenden,  eine  Uber- 
sicht  liber  diesen  Zuwachs  zu  geben  und  die  neuen  Funde 
kurz  zu  charakterisieren.  Die  Ubersicht  wird  lehren,  dafi 
wir  mit  wertvollen  Entdeckungen  auf  dem  Gebiete  der  al 
testen  Kirchengeschichte  geradezu  uberschiittet  worden  sind, 
und  dafi  die  Forscher  Miihe  haben,  alles  das  Neue  aufzu- 
nehmen,  was  ihnen  Jahr  um  Jahr  bescheert  wird. 


1.  Die  Epoche,  der  unsere  drei  ersten  Evangelien  an- 
gehoren,  ist  in  der  Greschichte  der  christlichen  Literatur 
die  palaontologische.  Von  Jesus  Christus  selbst  hat  man 
zwei  Menschenalter  spater  nichts  Zuverlassiges  mehr  zu  er- 


tiber  die  jiingsten  Entdeckungen.  319 

zahlen  gewufit.  "Was  nicht  bis  dahin  iiber  ihn  aufgezeich.net 
worden  1st,  hat  als  geschichtliche  Urkunde  keinen  oder 
einen  sekr  geringen  Wert.  Um  so  wichtiger  ist  es,  die 
authentische  Gestalt  unserer  Evangelien  festzustellen,  deren 
Text  im  zweiten  Jahrhundert  noch  mannigfaltige  Ver- 
anderungen  erfahren  hat.  Unsere  altesten  griechischen 
Handschriften  aber  sind  nicht  alter  als  das  vierte  Jahr 
hundert.  Um  die  Liicke  auszufullen,  die  zwischen  den  Ur- 
exemplaren  und  diesen  Handschriften  klafft,  besafien  wir 
zwar  an  den  alten  Ubersetzungen  und  an  Zitaten  des 
zweiten  und  dritten  Jahrhunderts  eine  Reihe  von  Hilfs- 
mitteln;  aber  sie  reichten  doch  nicht  aus,  urn  auch  nur  die 
wichtigsten  Probleme  in  bezug  auf  die  urspriingliche  Text- 
gestalt  der  Evangelien  sicher  zu  entscheiden.  Jetzt  sind 
diese  Hilfsmittel  durch  zwei  bedeutende  Entdeckungen  in 
willkommenster  Weise  vermehrt  worden:  die  eine  kam  aus 
Armenien,  die  andere  vom  Berge  Sinai. 

Die  Kunde,  dafl  ungefahr  um  das  Jahr  170  ein  aus 
Syrien  stammender  Grrieche,  namens  Tatian,  aus  unseren 
vier  Evangelien  eine  Evangelienharmonie,  d.  h.  eine  evan- 
gelische  Schrift,  zusammengestellt  hat,  ist  in  der  Kirche 
nie  untergegangen ;  aber  die  Schrift  selbst  besaB  man  nicht. 
Da  wurde  nachgewiesen,  dafl  ein  in  armenischer  Uber- 
setzung  existierender  Kommentar  des  Syrers  Ephraem  zu 
den  Evangelien  zu  seiner  Grundlage  nicht  unsere  vier 
Evangelien,  sondern  eben  jenes  Werk  des  Tatian  habe. 
Aus  diesem  Kommentar  liefl  sich  also  -  -  wenn  auch  nicht 
vollkommen,  so  doch  bruchstiickweise  —  der  Evangelientext 
ermitteln,  wie  er  dem  Tatian  um  das  Jahr  170  vorgelegen 
hat.  Freilich  mufite  man  das  Armenische  erst  in  das 
Syrische  zuriickubersetzen  und  dann  auf  den  griechischen 
Urtext  schliefien.  Dieses  Verfahren  machte  n-  an  vielen 
Stellen  unmoglich,  die  Details  des  Urtextes  zu  ermitteln; 
aber  dennoch  ist  der  Ertrag  der  neuen  Entdeckung  ein 
sehr  bedeutender  gewesen.  An  zahlreichen  und  zwar  her- 


320  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

vorragend  wichtigen  Stellen  konnen  wir  jetzt  mit  Be- 
stimmtlieit  sagen:  so  lautete  in  der  Zeit  Mark  Aurels  der 
evangelische  Text,  den  Tatian  gelesen  hat.  Aber  nock 
wertvoller  war  der  Fund,  den  wir  einer  gelehrten  schottischen 
Dame,  Mrs.  Lewis,  verdanken.  Sie  fand  im  Jahre  1892 
in  dem  Kloster  der  heiligen  Katharina  auf  dem  Berge  Sinai 
—  dort,  wo  einst  Tischendorf  den  beruhmten  griecMschen 
Bibelkodex  entdeckt  hat  —  eine  tun  das  Jahr  400  her- 
gestellte  syrische  Handschriffc,  welche  die  vier  Evangelien 
enthalt  und  aus  einem  griechischen  Original  iibersetzt  ist, 
das  schwerlich  jiinger  ist  als  das  zweite  Jahrhundert.  Da 
der  Text  fast  vollstandig  erhalten  ist,  so  ist  dieser  Syrus 
Sinaiticus  einer  der  wichtigsten,  ja  hochst  wahrscheinlich 
iiberhanpt  der  wichtigste  Zeuge  far  unsere  Evangelien, 
nnd  Merx  hat  recht  getan,  ihn  in  einer  genauen  deutschen 
Ubersetzung  weitesten  Kreisen  zugangtich  zu  machen.*) 
Wer  die  Evangelien  in  dieser  Grestalt  liest,  hat  sie  so  vor 
sich,  wie  sie  Christen  vor  1700  Jahren  gelesen  haben.  Be- 
merkenswert  ist,  dafi  der  Text  des  Tatian  mit  diesem  Text 
anfs  Innigste  verwandt  ist,  und  daB  beide  Texte  die  wesent- 
liche  Unversehrtheit  unserer  Evangelien  seit  der  Zeit  Mark 
Aurels  beweisen.  Allerdings  bezeugen  sie  auch,  daB  unsere 
altesten  griechischen  Texte  des  vierten  Jahrhunderts  in 
Einzelheiten  nicht  das  unbedingte  Vertrauen  verdienen,  das 
man  ihnen  als  den  altesten  Originalzeugen  noch  immer 
schenkt.  An  einigen  wichtigen  evangelischen  Stellen,  in 
denen  der  authentische  Text  zweifelhaft  ist,  bringt  auch 
der  neue  Zeuge  keine  Entscheidung.  So  bietet  er  am  Schlufi 
der  Grenealogie  Jesu  (Matth.  1, 16)  die  merkwiirdige  Fassung: 
„ Jakob  erzeugte  den  Joseph,  Joseph,  dem  Maria,  die  Jung- 
frau,  verlobt  war,  erzeugte  Jesum,  der  Messias  genannt 
wird."  DaB  das  nicht  das  Urspriingliche  ist,  sondern  be- 


*)  Merx,    Die    vier    kanonischen  Evangelien    nach  ihrem  altesten 
bekannten  Texte.     Berlin,  Georg  Reimer.     1897. 


tlber  die  jtingsten  Entdeckungen.  321 

reits  eine  Korrektur,  1st  sehr  wahrscheinlich;  aber  der 
widerspruchsvolle  Text  lelirt,  dafi  liier  eine  Stelle  vorliegt, 
deren  urspriingliche  Fassung  sekr  bald  einen  Anstofi  ge- 
boten  hat. 

Ein  qualendes  Ratsel  der  Evangelienforschung  bietet 
der  Schlufi  des  Markusevangeliums.  Dafi  Markus  selbst  die 
Schlufiverse  9 — 20  niclit  gesehrieben  hat,  steht  fest  —  denn 
sie  fehlen  in  den  besten  Handschriften,  auch  in  dem  Syrus 
Sinaiticus  — ,  dafi  er  sein  Evangelium.  nicht  mit  Kapitel  16, 
8  geschlossen  hat,  ist  sehr  wahrscheinlich.  Wer  hat  den 
echten  Schlufi  weggeschnitten  und  den  neuen  hinzugefugt? 
"Warum,  wann  und  wo  ist  es  geschehen?  Auf  diese  Fragen 
liefi  sich  bisher  aus  aufieren  und  inneren  Griinden  ant- 
worten,  dafi  die  Manipulation  bereits  im  Anfange  des 
zweiten  Jahrhunderts  vorgenommen  sein  mnB,  dafi  sie  nach 
Kleinasien  weist  und  dafi  vermutlich  die  Absicht,  statt 
galilaischer  Erscheinungen  des  Auferstandenen  jerusale- 
mische  zu  setzen,  das  Motiv  des  Eingriffs  gewesen  ist. 
Nun  wurde  vor  ein  paar  Jahren  eine  armenische  Bibel- 
handschrift  gefunden,  in  welcher  das  Markus evangelium 
auch  mit  Kapitel  16,  8  schliefit.  Dann  aber  folgt  eine 
neue  Uberschrift,  als  beginne  ein  neues  Evangelium;  sie 
lautet  ,,Von  dem  Presbyter  Ariston",  und  nun  liest  man 
die  Verse  9  —  20.  Diesen  Ariston  (Aristion)  kennen  wir  als 
einen  Herrnschuler,  der  lange  —  wahrscheinlich  in  Klein 
asien  —  gelebt  hat  und  am  Anfang  des  zweiten  Jahr 
hunderts  von  dem  phrygischen  Bischof  Papias  zusammen 
mit  dem  Presbyter  Johannes  als  eine  Autoritat  fur  die 
evangelische  Greschichte  genannt  wird.  Der  unechte  Markus- 
schlufi  hat  also  in  dieser  armenischen  Handschrift  eine 
historische  Etikette  erhalten,  gegen  deren  Bichtigkeit  sich 
nichts  Stichhaltiges  einwenden  lafit,  und  die  es  gestattet, 
die  Mutmafiungen  sicherer  auszusprechen ,  die  man  uber 
den  Ursprung  des  merkwiirdigen  Schlusses  gehegt  hat. 

Ein  Forscher,   Resch,  hat  es  sich  zur  Lebensaufgabe 

Ilarnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    I.  21 


322  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:   IV. 

gesetzt,  aus  der  Uberlieferung  der  Jahrhunderte  Spriiche 
Jesu  zu  sammeln,  die  nicht  in  unserem  Evangelium  stelien. 
Hit  dem  hochsten  Fleifie  hat  er  in  den  Bibliotheken  ge- 
sucht  und  gesammelt  und  ein  stattliches  Material  zusammen- 
gebracht.  Probehaltig  in  dem  Sinne,  dafl  wirklich  zuver- 
lassige  Herrnworte  gewonnen  waren,  ist  fast  nichts;  doch 
ein  halbes  Dutzend  oder  ein  Dutzend  mag  immerhin  gelten. 
Aber  aueh  nur  ein  Wort  ist  ein  Grewinn,  welches  die  auf- 
opferndste  Arbeit  lohnt,  und  manche  nicht  authentische 
Spriiche  sind  aus  dem  Greiste  Jesu  oder  aus  der  Liebe  zu 
ihm  geboren,  grofi  gedacht  und  zart  empfunden.  Die  um- 
fangreiche  Sammlung,  die  Resch  vorgelegt  hat,  ist  doch 
ein  eigentumliehes  Denkmal  der  Greschichte  Jesu  in  der 
Kirche,  und  die  Tatsache,  dafi  sich  in  den  Spriichen  dog- 
matische  Ausfiihrungen  so  gut  wie  gar  nicht  finden,  ist 
ein  schoner  Beweis  dafur,  dafi  die  Legende  in  der  Regel 
die  Eigenart  der  Rede  Jesu  festgehalten  und  ihn  selbst 
nicht  in  die  dogmatischen  Kampfe  herabgezogen  hat. 

Aber  nicht  nur  die  Bibliotheken  haben  hier  Material 
geliefert.  In  einer  groCen  Sammlung  von  agyptischen  Pa 
pyrus,  die  nach  Wien  gekornmen  ist,  fand  Bickell  einen 
Fetzen,  nicht  grower  als  eine  halbe  Visitenkarte ;  aber  er 
enthielt  enggeschriebene  kostbare  Worte.  Das  Gresprach 
Jesu  mit  Petrus,  in  welchem  diesem  seine  Verleugnung  vor- 
hergesagt  wird  (Mark.  14,  26 — 30),  ist  auf  ihm  verzeichnet, 
und  zwar  in  einer  kiirzeren  und  altertiimlicheren  Form, 
als  in  unseren  Evangelien.  Der  Papyrus  stammt  aus  dem 
zweiten  oder  dritten  Jahrhundert,  und  es  ist  schwer  glaub- 
lich,  dafi  man  eine  blofie  Verkiirzung  des  Markustextes  an- 
zunehmen  hat;  vielmehr  liegt  hier  wohl  die  alteste  Fassung 
vor,  in  welcher  diese  Greschichte  aufgezeichnet  word  en  ist. 
Jiingst  aber  ist  in  Agypten  von  Q-renfell  und  Hunt  ein 
zweiter,  grofierer  Papyrus  mit  Herrnworten  gefunden  worden. 
Zwar  die  erste  Nachricht,  dafi  damit  das  Bruch  stuck  einer 
Quelle  unserer  Evangelien  entdeckt  worden  sei,  bestatigte 


tlber  die  jiingsten  Entdeckungen.  323 

sich  nicht:  der  Inhalt  der  Spriiche  zeigte,  dafi  sie  einer  se- 
kundaren  Tradition  entstammen ;  aber  es  ist  doch  etwas  ganz 
ISTeues,  was  uns  hier  geschenkt  worden  ist  —  das  Fragment 
einer  Sammlung  von  Spriichen  Jesu  aus  dem  zweiten  oder 
dritten  Jahrhundert,  in  der  ohne  Zusammenhang  Spruch 
an  Spruch  (ein  jeder  eingefiihrt  durch  ,,Jesus  spricht") 
gereiht  war.  Unter  ihnen  decken  sich.  einige  fast  ganz  mit 
den  kanonischen  Spriichen;  and  ere  aber  sind  neu,  und 
wenn  sie  auch  nicht  zuverlassig  sind,  so  sind  sie  doch 
ernsthaft  und  tief  und  zeigen,  wie  sich  die  altesten  Christen 
das  Selbstzeugnis  und  die  sittlichen  Grebote  Christi  ver- 
deutlicht  und  eingepragt  haben. 

Die  Kritik  konnte  es  wahrscheinlich  machen,  dafi  diese 
Spriiche  samtlich  oder  zu  einem  Teile  einem  sehr  alten 
Evangelium  entstammen,  dem  Agypterevangelium ,  das  im 
zweiten  und  dritten  Jahrhundert  ein  gewisses  Ansehen  ge- 
nossen  hat,  jetzt  aber  bis  auf  wenige  Bruchstiicke  verloren 
ist.  Die  Hoffnung,  dafi  es  in  Agypten  wieder  aufgefunden 
werden  wird,  ist  nicht  aufzugeben.  Unterdessen  haben  wir 
von  dort  im  Jahre  1892  ein  grofies,  zusammenhangendes 
Bruchstiick  einer  anderen  alten,  fur  immer  verloren  ge- 
glaubten  Evangelienschrifb  erhalten,  die  der  ersten  Halfte 
des  zweiten  Jahrhunderts  angehort  —  des  Petrusevan- 
geliums.  Dieser  Fund  —  wir  verdanken  ihn  Bouriant  — 
war  ein  wirkliches  Ereignis  auf  dem  Grebiete  der  urchrist- 
lichen  Literatur.  Denn  seit  dem  dritten  Jahrhundert  hat 
die  abendlandische  Kirche  aufier  jungen  und  geschichtlich 
wertlosen  apokryphen  „  Evangelien"  nichts  Neues  mehr  zur 
Kenntnis  bekommen,  was  sich  auf  die  Leidens-  und  Auf- 
erstehungsgeschichte  Jesu  bezieht.  Das  uns  geschenkte 
Bruchstiick  des  Petrusevangeliums  enthalt  aber  in  zu- 
sammenhangender  Darstellung  einen  Bericht  iiber  diese 
Vorgange.  Es  ist  den  meisten  Lesern  bekannt;  denn  es 
ist  seiner  Zeit  iiberall  iiber  den  Inhalt  berichtet  worden. 
Das  Petrusevangelium ,  wenn  es  auch  unseren  Evangelien 

21* 


324  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

gegeniiber  in  mancher  Hinsicht  sekundar  1st,  erzahlt 
doch  noch  die  G-eschichte  Jesu  ganz  in  ihrem  Stile  nnd 
darf  daher  zur  christlichen  Urliteratur  gerechnet  werden. 
Auch  ist  es  keineswegs  wahrscheinlich,  dafi  es  lediglich 
eine  Nacherzahlung  oder  ein  Auszug  ist,  vielmehr  mufl  es 
als  ein  selbstandiger,  spaterer  Zweig  der  alten  Evangelien- 
literatur  betrachtet  werden  und  zeigt  sich  in  einzelnen 
Ziigen  ihnen  ebenbiirtig.  Leider  bricht  es  gerade  dort  ab, 
wo  wir  berechtigt  sind,  die  wichtigsten  Aufschliisse  von 
ihm  zu  erwarten;  denn  es  steht  fest,  dafi  es  keine  Er- 
scheinungen  Jesu  in  Jerusalem  erzahlt  hat,  sondern  nur 
von  solchen  in  Gralilaa  wufite.  Aber  eben  dort,  wo  der 
Bericht  iiber  die  erste  Erscheinung  —  und  zwar  vor  Petrus 
und  einigen  anderen  Jiingern  —  beginnt,  hat  ein  neidisches 
G-eschick  uns  die  Fortsetzung  vorenthalten. 

Nichts  ist  in  der  urchristlichen  TJberlieferung,  und  da 
her  auch  in  den  kanonischen  Evangelien,  so  abweichend 
erzahlt  als  die  Erscheinungen  Jesu  nach  der  Konstatierung 
des  leeren  Grabes.  Ort,  Zeit,  Personen,  Zahl  der  Erschei 
nungen  —  alles  ist  verschieden,  und  daher  ist  das,  was 
wirklich  geschehen  ist,  und  wie  es  geschehen  ist,  sicher 
iiberhaupt  nicht  mehr  zu  ermitteln.  Zu  den  bisher  be- 
kannten  Berichten  hat  Karl  Schmidt  jiingst  in  einer 
alten  koptischen  Handschrift  einen  neuen  gefunden,  der 
wahrscheinlich  der  ersten  Halffce  des  zweiten  Jahrhunderts 
angehort  und  schon  deshalb  zur  Urliteratur  gerechnet 
werden  mufi,  weil  er  sich  an  keines  der  kanonischen  Evan 
gelien  bindet  und  die  Jiinger  in  der  ersten  Person  er- 
zahlen  lafit.  Er  ist  dem  unechten  SchluB  des  Markus  am 
meisten  verwandt;  aber  er  lafit  den  Herrn  zuerst  den 
Frauen  erscheinen  und  erzahlt  auch,  Petrus  habe  seine 
Finger  in  die  Nagelmale  Jesu  gelegt,  Thomas  in  den 
Lanzenstich  an  der  Seite.  So  schwankend  waren  noch 
diese  Berichte.  Erst  nach  der  Kanonisierung  der  vier 
Evangelien  ist  der  Flufi  der  Legendenbildung  zum  Stehen 


Uber  die  jtingsten  Entdeckungen.  325 

gekommen.  Dieselbe  Handschrift,  in  welcher  Sclimidt  diese 
neue  Relation  der  Erscheinungen  Jesu  ermittelt  hat,  ent- 
halt  auch  einen  unbekannten  Parallelbericht  zu  der  Gre- 
schichte  von  dem  gefangenen  Petrus  (Apostelgesch.  12). 
Das  fiihrt  nns  zu  dem  apostolischen  und  nachapostolischen 
Zeitalter  hinuber. 

2.  Fur  das  Zeitalter  der  Apostel  im  engeren  Sinne 
des  Wortes  haben  wir  neue  Quellen  nicht  erhalten,  wohl 
aber  fur  die  Zeit  von  ca.  90 — 160  n.  Chr.,  und  auflerdem 
ist  unser  Schatz  von  altesten,  noch  dem  zweiten  Jahrhundert 
(oder  dem  Anfang  des  dritten)  angehorenden  Apostel- 
Legenden  sehr  bedeutend  verrnehrt  worden.  Diese  Legen- 
den  aber  sind  fur  die  Kenntnis  der  Interessen  der  Zeit,  in 
der  sie  verfafit  sind,  eine  Quelle  ersten  Ranges. 

An  der  Spitze  der  Entdeckungen  steht  der  Fund  des 
griechischen  Erzbischofs  Bryennios.  In  einer  Konstanti- 
nopolitaner  Handschrift  (sie  befindet  sich  jetzt  in  Jerusalem) 
des  elften  Jahrhunderts  fand  er  eine  bisher  ganz  unbe- 
kannte  altchristliche  Schrift  und  zwei  andere,  die  nur  zum 
Teil  bekannt  waren.  Jene,  ,,Die  Lehre  der  zwolf  Apostel", 
in  der  ersten  Halfte  des  zweiten  Jahrhunderts  verfafit, 
stellt  eine  Art  von  Katechismus  dar;  aber  nicht  einen 
Katechismus  der  Lehre,  sondern  ein  kurzes  Handbuch  fur 
das  christliche  Leben  in  seinen  privaten,  sozialen  und  kul- 
tischen  Beziehungen.  Eben  die  Absicht  des  Verfassers,  alles 
Besondere  zu  vermeiden  und  nur  die  groBen  Grrundziige  der 
christKchen  Lebenspraxis  in  Form  von  Normen  zusammen- 
zufassen,  gibt  dem  Biichlein  einen  einzigartigen  Wert  als 
historischer  Quelle;  zugleich  aber  erwies  es  sich  als  die 
Wurzel  einer  weit  verzweigten  pseudapostolischen  kirchen- 
rechtlichen  Literatur,  die  bis  in  das  Mittelalter  hineinreicht. 
Schon  der  Entdecker  selbst  konnte  dies  an  zwei  groBen 
Beispielen  schlagend  nachweisen;  von  G-ebhardt  gelang 
es,  das  Bruchstiick  einer  lateinischen  Ubersetzung  aufzu- 
finden,  und  seitdem  sind  zahlreiche  Umformungen  und  Be- 


326  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

arbeitungen  der  kleinen  Sckrift  ans  Licht  getreten.  Fiir 
viele  Probleme  der  Geschichte  der  kirchlichen  Gesetzgebung 
hat  dieser  Fund  den  Schliissel  geboten,  und  noch  ist  augen- 
scheinlich  seine  Bedeutung  nicht  erschopft.  —  Die  beiden 
Schriften,  die  erst  durch  Bryennios  vollstandig  bekannt 
geworden  sind,  bieten  auch  ein  besonderes  Interesse.  Das 
alteste  und  vornehmste  Schreiben  einer  christlichen  Gemeinde 
an  eine  andere,  der  Brief  der  Gemeinde  von  Rom  an  die 
Korinther  aus  der  Endzeit  Domitians,  war  noch  vor  drei- 
undzwanzig  Jahren  nur  unvollstandig  bekannt.  Nur  eine 
einzige  Handschrift,  und  zwar  eine  Bibelhandschrift,  bot 
es,  aber  der  Schlufi  fehlte.  Bryennios  entdeckte  es  zuerst 
vollstandig  in  jenem  Manuskript,  welches  die  Apostellehre 
enthalt;  bald  darauf  wurde  es  in  der  Bibliothek  des  ver- 
storbenen  Pariser  Gelehrten  Mo  hi  syrisch  gefunden,  und 
endlich  zog  es  Morin  aus  einer  belgischen  Handschrift 
lateinisch  ans  Licht.  Der  nun  erst  bekannt  gewordene 
Schlufi  ist  deshalb  so  wichtig,  weil  er  zeigt,  dafi  das  grofie 
sonntagliche  Kirchengebet,  wie  es  heute  noch  in  den  meisten 
Kirchen  im  Gebrauch  ist,  in  seinen  Grundziigen,  ja  auch 
in  gewissen  Details,  bereits  am  Ende  des  ersten  Jahrhunderts 
entworfen  war.  Das  andere  Schreiben  aber  —  man  zitiert 
es  gewohnlich  als  zweiten  Brief  des  Clemens  — ,  welches 
ebenfalls  nun  erst  vollstandig  ans  Licht  trat,  ist  die  alteste 
christliche  Predigt,  die  wir  besitzen.  Es  lehrt  uns,  wie 
man  bald  nach  der  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  in  Rom 
im  Sonntagsgottesdienst  gepredigt  hat,  und  ist  das  wichtigste 
Dokument,  um  festzustellen ,  mit  welchen  Mitteln  die  Ge 
meinde  von  ihren  berufenen  Geistlichen  damals  erbaut 
worden  ist. 

Diese  drei  Schriftstucke,  die  beiden  Clemensbriefe  und 
die  „ Apostellehre",  haben  ein  paar  Jahrhunderte  hindurch 
in  einigen  Kirchenprovinzen  beim  Neuen  Testamente  ge- 
standen.  Die  Geschichte  desselben  und  seiner  bestimmten 
Umgrenzung  und  Uniformierung  ist  in  den  letzten  zwei 


tjber  die  jiingsten  Entdeckungen.  327 

Jahrzehnten  besonders  eifrig  studiert  worden,  und  dabei 
sind  viele  neue  Tatsachen  ans  Licht  getreten.  Mo  mm  sen 
fand  in  einer  englischen  und  einer  Sanktgallener  Handschrift 
ein  Verzeichnis  der  Schriften  des  neuen  Testaments,  wie 
dasselbe  um  die  Mitte  des  4.  Jahrhunderts ,  kurz  vor 
dem  Abschlufl  durch  Hieronymus  und  Augustin,  im  Abend- 
land  gelesen  wurde.  De  Boor  konnte  in  einem  byzanti- 
nischen,  in  England  befindlichen  Kodex  ein  paar  neue 
Fragmente  aus  der  Schrift  des  Papias  nachweisen.  Diese 
bis  auf  kleine,  aber  hochst  wertvolle  Bruchstiicke  verlorene 
Schrift  enthielt  die  alteste  Auslegung  der  Evangelien  und 
ist  fur  die  Entstehungsgeschichte  des  Neuen  Testaments 
und  fur  die  Johannes-Frage  von  besonderer  Bedeutung. 
Durch  eines  der  von  De  Boor  entdeckten  Fragmente  ist 
es  deutlich  geworden,  dafi  sie  nicht  schon  der  Zeit  Hadri 
ans,  sondern  der  der  Antonine  angehort.  Vor  allem  aber 
sind  zwei  Schriftstiicke  entdeckt  worden,  die  man  bisher 
fast  nur  dem  Namen  noch  gekannt  hatte  und  die  dock 
einst  in  mehreren  Landeskirchen  ein  hones,  fast  kanonisches 
Ansehen  genossen  haben  —  die  ^Apokalypse  des  Petrus" 
und  ,,die  Akten  des  Paulus". 

Die  apokalyptische  Literatur  der  alten  Kirche  verdient 
eine  besondere  Aufmerksamkeit;  denn  nicht  nur  verbindet 
sie  das  Christentum  mit  seinen  jiidischen  Urspriingen  — 
die  meisten  Apokalypsen  sind  jiidisch  und  von  den  Christen 
einfach  ubernommen  — ,  sondern  es  treten  auch  in  ihr 
Stimmungen  und  Tendenzen  deutlich  hervor,  die  weitver- 
breitet  waren,  aber  in  der  offentlichen  Lehre  zuriickgedrangt 
und  zuletzt  durch  sie  nahezu  ausgetilgt  worden  sind.  Es 
ist  daher  wohl  begreiflich,  dafi  ein  englischer  Grelehrter, 
James,  es  sich  zur  Lebensaufgabe  gesetzt  hat,  alle  Reste 
jener  Literatur  aufzuspiiren  und  zu  sammeln.  Durch  seine 
Bemiihungen  und  die  Anderer  ist  unsere  Kenntnis  dieser 
Apokalypsen  sehr  vermehrt  worden.  Namentlich  aus  slavi- 
scher  und  aus  agyptischer  "Uberlieferung  haben  wir  Neues 


328  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

erlialten:  in  Akhmim  in  Agypten  wurde  von  Bouriant 
ein  grofies  Bruchstiick  der  alten  Henoch-Apokalypse 
griechisch  gefunden,  jenes  Offenbarungsbuch.es,  welches  im 
Judasbrief  als  eine  Autoritat  zitiert  wird;  ein  anderes 
Henochbuch  ist  in  altslavischer  Sprache  entdeckt  und  von 
Bonwetsch  mitgeteilt  worden;  aus  derselben  Uberlieferung 
stammt  ein  neues  Baruchbuch;  die  alte,  besonders  wertvolle 
Elias-Apokalypse  ist  koptisch  aufgefunden  und  wird  — 
vielleicht  zusammen  mit  einem  Fragment  einer  Sophonias- 
Apokalypse  —  demnachst  von  Steindorff  veroffentlicht 
werden;  das  Bruchstiick  einer  interessanten  Moses-Apoka- 
lypse  hat  Karl  Schmidt  herausgegeben.  Aber  am  wichtig- 
sten  war  die  Auffindung  eines  grofien  Fragments  der  Petrus- 
Apokalypse;  es  wurde  in  einem  Grabe  in  Akhmim  entdeckt, 
und  zwar  in  derselben  Handschrift,  die  das  Petrusevangelium 
(s.  o.)  enthalt.  Die  Petrusapokalypse ,  die  freilich  ebenso- 
wenig  von  dem  Apostel  herriihrt,  wie  das  Evangelium,  ist 
ein  uraltes  christliches  Buch,  welches  in  Rom  und  Agypten 
zeitweilig  ein  ahnliches  Ansehen  genofi  wie  die  Johannes- 
Apokalypse,  aber  inhaltlich  tief  unter  ihr  steht.  Der  Ver- 
fasser  erzahlt,  wie  er  in  den  Himmel  und  in  die  Holle  ge- 
fuhrt  worden  ist,  um  die  Seligkeit  der  Grerechten  und  die 
Qualen  der  Sunder  zu  schauen.  Von  diesem  Buche  lauft 
eine  feste  Kette  der  Uberlieferung  bis  zu  Dantes  grofiem 
Werk;  aber  sie  steigt  noch  hinter  der  Petrus-Apokalypse 
weit  hinauf;  denn  das  Thema  der  Schilderung  der  Unter- 
welt  mit  ihren  Strafen  ist  schon  in  vorchristlicher  Zeit 
den  Grriechen,  ja  den  Babyloniern  bekannt  gewesen. 

Mit  der  Entdeckung  der  ,,Akten  des  Paulus",  die  von 
der  kanonischen  Apostelgeschichte  ganz  verschieden  sind, 
hat  es  eine  eigentumliche  Bewandtnis.  Von  diesem  AVerk, 
welches  seit  dem  Anfang  des  3.  Jahrhunderts  zitiert  wird, 
war  bis  vor  kurzem  nur  der  Umfang  bekannt,  dazu  ein 
paar  Heine  unbedeutende  Fragmente.  Nur  vermuten  konnte 
man,  dafi  zahlreiche  Paulus-Legenden,  die  seit  Alters 


tTber  die  jtingsten  Entdeckungen.  329 

in  der  Kirche  umliefen,  ihre  Wurzel  an  diesem  Buche 
haben,  bez.  zu  iTrm  gehoren.  In  den  alien  armenischen 
Bibeln  steht  nun  neben  den  zwei  bekannten  Briefen 
des  Paohis  an  die  Korinther  noch  ein  dritter  als  Antwort 
auf  ein,  ebenfalls  in  das  armenische  Neue  Testament  auf- 
genommenes  Schreiben  der  Korinther  an  den  Apostel. 
Beide  Briefe  sind  durch  ein  kleines  Erzahlungsstiick  mit- 
einander  verbunden.  Der  Briefwech.se!  ist  jedenfalls  un- 
echt;  aber  als  die  Tatsache  seiner  Existenz  —  nnd  zwar 
in  Bibeln!  —  im  17.  Jahrhundert  den  abendlandischen 
G-elehrten  bekannt  wurde,  muflte  sie  notwendig  Aufsehen 
erregen.  Mochte  der  Brief  des  Paulus  nun  echt  oder  un- 
echt  sein  —  in  beiden  Fallen  war  die  Sache  beunruhigend. 
Ist  er  echt,  wie  konnte  er  in  alien  nicht  armenischen  Bibeln 
fehlen;  ist  er  unecht,  wie  konnte  es  Gfott  zulassen,  dafi  ein 
falscher  Paulusbrief  in  Bibeln  Aufnahme  gefunden  hat! 
Der  gelehrte  Berliner  Bibliothekar  La  Croze  vermutete 
scharfsinnig ,  der  falsche  Briefwechsel  habe  urspriinglich 
in  den  verlorenen  ,,Akten  des  Paulus"  gestanden  und  sei 
von  dort  zu  den  Arrneniern  gelangt.  Aber  man  beachtete 
diese  Hypothese  kaum.  Da  wurde  in  unseren  Tagen  nach- 
gewiesen,  dafi  auch  die  alte  syrische  Kirche  im  4.  und 
5.  Jahrhundert  den  Briefwechsel  in  ihrem  Neuen  Testament 
gehabt  hat;  ihr  beriihmtester  Exeget,  Ephraem,  hat  ihn  in 
seinem  groflen  Kommentar  zu  den  paulinischen  Briefen 
mit  ausgelegt.  Die  armenische  Kirche  stand  nun  nicht 
mehr  allein;  auch  die  syrische  hat  diese  Korrespondenz 
einst  unter  ihren  heiligen  Schriften  besessen;  sie  hat  sich 
nur  fruher  als  jene  davon  uberzeugt,  dafi  sie  unecht  sei, 
und  sie  wieder  ausgeschieden.  Kaum  war  diese  Tatsache 
bekannt  geworden,  die  die  Annahme  zerstorte,  die  Korre 
spondenz  sei  ein  Erzeugnis  der  armenischen  Kirche,  da 
publizierten  die  beiden  franzosischen  Grelehrten  Carriere 
und  Berger  eine  alte  lateinische  Ubersetzung  derselben. 
Sie  hatte  sich  in  einer  Bibelhandschrift  des  10.  Jahr- 


330  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

hunderts  in  Mailand  gefunden,  und  bald  darauf  gelang  es 
Bratke,  ein  zweites  Exemplar  in  einer  Bibel  zu  Laon 
nachzuweisen.  Also  in  Armenien,  in  Syrien  und  in  den 
Sprengeln  von  Mailand  und  Laon  war  der  falsche  Ko- 
rintherbrief  des  Paulus  nachgewiesen ,  aber  nirgendwo  auf 
griechischem  Grebiet!  Trotzdem  nahm  Zahn  die  Hypo  these 
La  Crozes  wieder  auf,  dafi  die  Korrespondenz  aus  den 
griechisch-geschriebenen  ,,Akten  des  Paulus"  stamme,  und 
er  hat  Recht  behalten;  denn  vor  wenigen  Monaten  wies 
Karl  Schmidt  nach,  dafi  ein  grofies  Konvolut  von  kop- 
tischen  Papyrus-Fragmenten  aus  Agypten,  das  nach  Hei 
delberg  gekommen  war,  Eeste  der  verlorenen  Paulusakten 
enthalte  —  er  entdeckte  die  Unterschrift  7,Akten  des  Pau 
lus"  — ,  und  mitten  unter  diesen  Bruchstiicken  fand  sich 
als  ein  Bestandteil  derselben  die  falsche  Korrespondenz 
des  Paulus  mit  den  Korinthern! 

Damit  war  festgestellt,  dafi  die  Falschung  nicht  jiinger 
ist  als  die  Zeit  Mark  Aurels;  denn  spater  kann  man  die 
7.Akten  des  Paulus"  nicht  ansetzen.  Der  Briefwechsel  hat 
durch  diese  Datierung  einen  hohen  Wert  erhalten;  denn  er 
zeigt  nun,  wie  man  sich  in  der  Christenheit  den  Apostel 
Paulus  hundert  Jahre  nach  seinem  Tode  gedacht  hat.  Er 
ist  hier  als  der  Bekampfer  des  Grnostizismus  vorgestellt, 
des  schlimmsten  inneren  Feindes,  den  die  sich  zum  Katho- 
lizismus  entwickelnde  Kirche  des  zweiten  Jahrhunderts  be- 
sessen  hat.  Aber  noch  ein  Anderes  haben  wir  durch 
Schmidts  Entdeckung  gelernt,  namlich,  dafi  eine  Reihe 
von  Pauluslegenden,  die  in  zahlreichen  Verbreitungen  und 
Verastelungen  in  der  alten  Kirche  und  im  Mittelalter  be- 
kannt  waren,  ebenfalls  aus  den  „ Paulusakten"  stammen  und 
somit  schon  dem  zweiten  Jahrhundert  angehoren.  Das 
gilt  vor  allem  von  jener  anmutig  erzahlten  Novelle  „  Pau 
lus  und  Thekla",  die,  langst  bekannt,  doch  als  ein  Eatsel 
vor  uns  stand;  denn  auch  sie  ist  jetzt  von  Schmidt  als 
ein  Bestandteil  der  alten  ^Paulusakten"  nachgewiesen.  Ihr 


Uber  die  jlingsten  Entdeckungen.  331 

Verfasser,  ein  kleinasiatischer  Presbyter,  war  ein  Fabulist, 
der  unbekummert  um  geschichtliche  Wahrheit,  aber  nicht 
ohne  Talent,  Paulusgeschichten  einfach  erfunden  hat,  um 
den  Apostel  zu  verherrlichen  und  zeitgenossische  Gregner 
zu  bekampfen.  Den  Hahmen  seiner  Erzahlungen  entnahm 
er  teils  den  neutestamentlichen  Schriften,  teils  der  Zeitge- 
schichte,  ohne  sich  um  Anachronismen  und  andere  Ver- 
stofie  Sorge  zu  machen.  Namentlich  den  vornehmen  christ- 
lichen  Frauen  suchte  er  zu  gef alien,  indem  er  ihren  Anteil 
an  der  Ausbreitung  des  Evangeliums,  der  ja  wirklich  nicht 
gering  gewesen  ist,  steigerte  und  sie  in  die  innigsten  per- 
sonlichen  Beziehungen  zu  dem  groBen  Heidenapostel  setzte. 
Fiir  das  Ideal  der  Virginitat  schwarmte  er,  wie  spater  der 
christliche  Novellist  Hieronymus,  und  er  weifi  auch  schon 
wie  dieser,  den  platonischen  Beziehungen  Reiz  und  Farbe 
zu  geben.  Neben  der  Kreuzigung  des  Fleisches  bildete 
die  leibliche  Auferstehung  eines  seiner  Hauptthemata;  in 
den  Darstellungsmitteln  zeigt  er  sich  gewandt  und  viel- 
seitig:  bald  la-fit  er  Briefe  schreiben,  bald  legt  er  Novellen 
ein,  bald  versucht  er  Spruchreden,  wie  sie  Jesus  gehalten, 
zu  kopieren  und  zeigt  uns  den  grofien  Apostel  auf  alien 
Hauptplatzen  seiner  "Wirksamkeit,  in  Ikonium,  Ephesus, 
Philippi,  Korinth,  Rom.  Auch  mit  dem  Kaiser  Nero  fiihrt 
er  ihn  personlich  zusammen  und  schildert  zuletzt  mit  den 
lebhaftesten  Farben  die  Umstande  seines  Martyrertodes. 
Wie  merkwiirdig,  dafi  schon  hundert  Jahre  nach  dem 
Tode  des  Paulus  eine  erbauliche  novellistische  Biographie 
von  einem  Greistlichen  geschrieben  worden  ist  und  in  der 
Christenheit  solchen  Anklang  gefunden  hat,  dafi  das  Buch 
fast  in  das  Neue  Testament  gekommen  ware!  Zum  Grliick 
ist  das  nicht  geschehen;  ja  sein  Verfasser  hat,  wie  uns 
Tertullian  berichtet,  sein  kiihnes  Wagnis  mit  Absetzung 
biifien  miissen.  Aber  diese  Exekution  ist  nicht  uberall  in 
der  Kirche  bekannt  geworden.  So  hat  z.  B.  die  agyptische 
bis  zum  Anfang  des  vierten  Jahrhunderts  das  weltlich-geist- 


332  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IY. 

liche  Fabelbuch  als  ernsthafte  Geschichtserzahlung  hochge- 
halten,  ja  wahrscheinlich  sogar  in  Q-ottesdiensten  lesen  lassen. 
Die  ,7Akten  des  Paulus"  sind  nicht  die  einzige  apokryphe 
Apostelgeschichte,  die  wir  erhalten  haben,  wenn  auch  die 
wichtigste.  Abgesehen  von  jiingeren  Stoffen,  die  nns  Bonnet 
zuganglich  gemachthat,  verdanken  wir  Lips ius  alte  ,jPetrus- 
akten"  aus  einer  Handschrift  in  Vercelli  und  James  ein  gro- 
Bes  Bruchstiick  von  ,,Johannesakten",  die  er  in  einem  Wiener 
Kodex  gefimden  hat.  Wahrend  die  ersteren  gut  katholisch 
sind,  wenn  sie  anch  manches  Befremdliche  enthalten,  und 
sich  als  die  Wurzel  der  zahlreiehen  Petruslegenden  erwiesen 
haben,  deren  letzte  Quelle  wir  friiher  nicht  kannten,  gehoren 
die  Johannesakten,  wie  es  scheint,  der  gnostisch-christlichen 
Literatur  an.  Aber  auch  sie  haben  auf  die  Zeichnung  des 
kirchlichen  Bildes  der  Apostel,  speziell  des  Johannes,  einen 
bedeutenden  Einflufi  ausgeubt.  Yieles  Extreme,  was  man 
bei  den  gemeinen  Christen  nicht  fur  passend  hielt,  ertrug 
man  nicht  nur  in  der  Vorstellung  von  den  Aposteln,  sondern 
hob  es  geflissentlich  hervor,  um  ihre  Ubermenschlichkeit 
ins  Licht  zu  setzen.  Eine  "Weltverachtung  z.  B.,  die  bei 
einem  gewohnlichen  Christen  als  Verachtung  des  Schopfer- 
Grottes  ausgelegt  wird,  ist  bei  einem  Apostel  nur  ein  Beweis 
seiner  Welterhabenheit,  und  ein  asketischer  Bigorismus,  auf 
den  die  Strafe  der  Exkommunikation  gesetzt  war,  gilt  bei 
Johannes,  Philippus  oder  Thomas  als  Zeugnis  ihrer  Tugend- 
strenge.  —  Zur  Vermehrung  unserer  Kenntnis  der  ,,apo- 
kryphen"  Stoffe  gehort  auch  eine  deutlichere  Einsicht  in 
die  Entstehungs-  und  Verbreitungsgeschichte  der  Legende 
von  dem  Briefwechsel  Jesu  mit  dem  Konig  Abgar  von 
Edessa.  Bekanntlich  wissen  unsere  Evangelien  nichts  da- 
von,  dafi  Jesus  etwas  Schriftlich.es  verfafit  hat;  das  Einzige, 
was  er  geschrieben  hat,  hat  er  in  den  Sand  geschrieben 
(Greschichte  von  der  Ehebrecherin).  Auch  die  alte  kirchliche 
und  haretische  Tradition  ist  hier  in  der  Legendenbildung 
sehr  zuriickhaltend  gewesen.  Nur  die  Kirche  von  Edessa 


tft>er  die  jiingsten  Entdeckungen.  333 

in  Syrien  hat  sehr  bald,  nachdem  das  Christentum  dort 
feste  Wurzeln  geschlagen  hatte  (urn  das  Jahr  200)  und 
selbst  in  das  Konigshaus  gedrungen  war,  einen  Brief  des 
Konigs  Abgar  an  Jesus  —  er  moge  zu  ihm  nach  Edessa 
kommen  und  ihn  heilen  —  und  ein  Antwortschreiben  Jesu 
erfunden.  Diese,  iibrigens  harmlose  und  in  schlichten  "Wor- 
ten  konzipierte  Falschung  ist  der  Keimpunkt  fur  eine  ganze 
Reihe  von  bunten  Legenden  geworden,  die  ihren  Weg  in 
alle  Kirchen  gefunden  haben.  G-anzlich  aufgehellt  ist  noeh 
langst  nicht  alles;  aber  die  Forschung  ist  doch  ein  gutes 
Stuck  vorwarts  gekommen  auf  Grrund  neuer  Texte,  die  ihr 
zugefuhrt  worden  sind. 

3.  In  den  Johannesakten  haben  wir,  wie  oben  mit- 
geteilt,  ein  Bruchstuck  aus  der  alten  gnostischen  Literatur 
erhalten.  Diese  Literatur,  die  im  zweiten  Jahrhundert  sehr 
reichhaltig  gewesen  ist,  ist  fast  nur  in  abgerissenen  Frag- 
menten  auf  uns  gekommen;  denn  die  Kirche  hat  die  Werke 
ihrer  Feinde  vernichten  miissen.  Den  Untergang  beklagen 
wir  nicht  nur  darum,  weil  sich  Schriften  von  grofiem 
wissenschaftlichen  Wert  und  von  hoher  philosophisch- 
poetischer  Kraft  unter  ihnen  befunden  haben,  sondern  vor 
allem  darum,  weil  wir  die  Entstehung  der  katholischen 
Kirche  des  dritten  Jahrhunderts  nur  in  dem  Mafie  wirklich 
durchschauen  konnen,  als  wir  uns  eine  voile  Einsicht  in 
jene  Literatur  zu  verschaffen  vermogen;  denn  die  katho- 
lische  Earche,  von  innen  betrachtet,  ist  nichts  anderes  als 
die  gnostische  Gegenkirche,  die  aber  doch  nicht  wenig 
^Grnostisches"  hat  aufnehmen  miissen.  Um  so  dankbarer 
sind  wir  Karl  Schmidt,  der  uns  nicht  nur  mit  der  Uber- 
setzung  von  zwei  groCen  gnostischen  Originalwerken  be- 
schenkt  hat,  die  koptisch  erhalten  sind,  sondern  der  auch 
jiingst  aus  Agypten  weitere  gnostische  Schriften  nach 
Berlin  gebracht  hat,  von  denen  eine  sicher  nicht  j linger 
ist  als  die  Zeit  Mark  Aurels  und  von  Irenaus  in  seinem 
grofien  Werk,  in  welchem  er  die  Systeme  der  Haretiker 


334  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IT. 

darstellt  und  widerlegt,  benutzt  worden  1st.  Unsere  Kennt- 
nis  des  G-nostizismus  hat  durch  diese  Funde  die  bedeu- 
tendste  Forderung  erfahren,  und  auch  der  Zusammenhang 
nnd  Gregensatz,  der  zwischen  Grnostizismus  und  Neuplatonis- 
mus  besteht,  hat  ein  iiberraschendes  Licht  empfangen  und 
kann  jetzt  sicherer  bestimmt  werden. 

4.  Dem  Teil  der  altchristlichen  Literatur,  welcher  aus 
dem  feindlichen  Verhaltnis  des  romischen  Staats  und  der 
Gesellschaffc  zum  Christentum  entsprungen  1st,  wird  auch 
von  Nicht-Theologen  ein  besonderes  Interesse  entgegeii- 
gebracht.  In  den  letzten  Jahren  sind  wir  hier  besonders 
reichlich  beschenkt  worden.  Mcht  nur  haben  die  Bollan- 
disten  ihre  seit  mehr  als  zwei  Jahrhunderten  betriebene 
Arbeit,  alles,  was  sich  auf  Martyrer  und  Heilige  bezieht, 
zu  sammeln,  fortgesetzt,  und  uns  Jahr  urn  Jahr  auch  ISTeues 
gebracht,  sondern  man  hat  auch  begonnen,  die  in  syrischer, 
armenischer  und  koptischer  Sprache  erhaltenen  Martyrer- 
und  Heiligenleben  herauszugeben  und  die  alten  Kirchen- 
kalender  der  Forschung  zuganglich  zu  machen.  Diese 
Studien  sind  schon  so  weit  gediehen.  daC  es  mit  Hilfe  eines 
alten  syrischen  Kalenders  (die  Handschriffc  stammt  aus  dem 
Anfang  des  fdnften  Jahrhunderts)  gelingen  konnte,  als  die 
Wurzel  der  meisten  Kirchenkalender  einen  arianischen  Ka- 
lender  der  Diozese  Mkomedien  aus  der  Zeit  Konstantins 
zu  ermitteln.  Dieser  fufit  hochstwahrscheinlich  auf  den 
martyrologischen  Sammlungen  des  Kirchenhistorikers  Euse- 
bius,  die  leider  grofitenteils  untergegangen  sind.  Doch  ist 
seine  IJbersicht  iiber  die  palastinensischen  Martyrer  zur 
Zeit  Diokletians  in  zwei  von  ihm  selbst  verfafiten  Grestalten, 
einer  kiirzeren  und  einer  langferen,  die  nur  syrisch  auf  uns 
gekommen  ist,  erhalten.  Mit  Hilfe  der  letzteren  konnte 
Violet  eine  Reihe  bisher  unbekannter  oder  wenig  beach- 
teter  griechischer  Martyrien  auf  Eusebius  zuruckfiihren  und 
damit  ihre  Echtheit  erweisen. 

Unter  den  neuen  Texten  von  Martyrerakten,    die  uns 


tiber  die  jiingsten  Entdeckungen.  335 

geschenkt  worden  sind,  sind  namentlich  fiinf  hervorzuheben. 
A u be  fand  in  einer  Pariser  Handschrift  das  Martyrium 
des  Karpus,  Papylus  und  der  Agathonike,  welches  Eusebius 
in  der  Kirch.engeschich.te  zitiert  hat.  Es  beleuchtet  die 
Verfolgung  unter  Mark  Aurel  in  Kleinasien  nnd  ist  aus- 
gezeichnet  durch  viele  charakteristische  Einzelziige,  die  fur 
die  Eigenart  des  asiatischen  Christentums  wichtig  sind. 
Eine  zweite  Martyrerakte,  die  Eusebius  zitiert  hat  und  die 
man  bisher  verloren  glaubte,  gab  Conybeare  aus  dem 
Armenischen  her  aus,  das  Martyrium  des  Apollonius  in  Rom 
und  bald  fand  sich  auch  ein  griechischer  Text.  Dieses 
Schriftstiick  ist  teils  der  interessanten  juristischen  Fragen 
wegen,  die  es  anregt,  wichtig  geworden,  teils  um  der  aus- 
fuhrlichen  Reden  willen,  die  Apollonius  vor  den  Richtern 
gehalten  hat.  Das  Martyrium  fallt  in  die  Zeit  des  Commo- 
dus.  Ferner  wurde  die  alteste  nordafrikanische  Martyrer- 
akte  entdeckt,  der  Prozefi  der  Martyrer  von  Scili  im  Jahre 
181,  authentisch  nach  den  G-erichtsakten  aufgezeichnet  und 
neben  der  lateinischen  Bibeliibersetzung  wohl  das  alteste 
Denkmal  des  Christentums  in  lateinischer  Sprache.  Auch 
eine  griechische  Rezension  dieses  Martyriums  ist  in  einer 
Jerusalemer  Handschrift  gefunden  worden  und  in  derselben 
Handschrift  eine  solche  des  beruhmten  Prozesses  der  Per- 
petua  und  Felicitas  —  die  Aufzeichnung  ihrer  Leiden, 
Yisionen  und  Gesprache  ist  eine  der  wichtigsten  Quellen 
fur  die  alteste  Greschichte  des  Christentums  in  Karthago. 
In  einer  Venetianer  Handschrift  fand  von  Grebhardt  die 
umfangreichste  Martyrerakte,  die  wir  fur  die  Zeit  des  De- 
cius  besitzen,  die  Greschichte  des  Pionius,  ausgezeichnet 
durch  die  Fulle  konkreter  Ziige,  und  Bonwetsch  gab  ein 
ganz  einzigartiges  Aktenstlick  heraus,  das  Testament  der 
vierzig  Martyrer  von  Sebaste,  und  zeigte,  dafi  es  echt  und 
zuverlassig  sei. 

Aber  diese  Funde,  so  willkommen  sie  waren,  sind  doch 
uberstrahlt  worden  durch  eine  Entdeckung,   die  sich  auch 


336  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

die  kiilinste  Phantasie  nicht  traumen  lassen  konnte.  Wir 
wufiten  aus  den  Kirchenvatern,  dafi  zur  Zeit  der  grau- 
samen  Verfolgung  des  Decius  viele  Cliristen  dem  sicheren 
Tode  dadurch  entronnen  sind,  dafi  sie  sich  for  Greld  von 
den  Magistraten  Bescheinigungen  (libelli)  ausstellen  liefien, 
sie  hatten  geopfert,  wahrend  sie  in  Wahrheit  nicht  geopfert 
hatten.  Die  Kirche  beurteilte  das  als  Liige  nnd  Verleugnung, 
und  nach  Ablauf  der  Verfolgung  wurden  diese  ungliick- 
lichen  Leute  teils  exkommuniziert,  teils  mit  harten  Strafen 
belegt.  Dafi  die  Denkmaler  ihrer  Schande,  jene  nlibelliu, 
bis  auf  unsere  Zeit  koninien  wurden  —  wer  konnte  daran 
denken!  Und  doch  ist  es  geschehen.  Zwei  dieser  unschein- 
baren  Zettel  haben  sich.  in  dem  alles  konservierenden  agyp- 
tischen  Sande  erhalten.  Den  ersten  fand  Krebs  in  einem 
Haufen  von  Papyrus,  die  nach  Berlin  gekommen  sind,  den 
anderen  Wessely  in  der  Sammlung  der  Papyrus  des  Erz- 
herzogs  Rainer.  ^Ich,  Diogenes,  habe  stets  geopfert  und 
Spenden  getan  und  in  Eurer  (der  Beamten)  G-egenwart 
von  dem  Opferfleisch  gegessen,  und  ich  bitte  Euch,  es  mir 
zu  bescheinigen. "  Und  nun  folgt  die  Bescheinigung  des 
Beamten.  Wer  vermag  ohne  innere  Bewegung  diese  Zettel 
heute  zu  lesen  und  die  Not,  den  Jammer  und  die  Seelen- 
qualen  zu  ermessen,  unter  denen  die  Christen  damals  zu- 
sammengebrochen  sind! 

Dem  triiben  Bilde  mag  ein  erhebendes  folgen.  Eusebius 
in  seiner  Kirchengeschichte  erzahlt  uns,  dafi  die  ersten 
literarischen  Verteidiger  des  Christentums  gegeniiber  der 
heidnischen  "Welt  und  dem  romischen  Staat  zwei  Grriechen, 
Quadratus  und  Aristides,  gewesen  seien.  Er  hat  ihre 
Schutzschriften  fur  das  Christentum,  die  er  in  die  Zeit  Hadrians 
setzt,  noch  gekannt;  uns  aber  galten  sie  bis  vor  kurzem 
als  spurlos  verloren.  Da  tauchte  zuerst  in  einer  armenischen 
Handschrift  ein  Bruchstiick  auf,  welches  sich  als  der  An- 
fang  der  Apologie  des  Aristides  gab.  Hervorragende  G-e- 
lehrte  hielten  es  fur  unecht,  andere  aber  fur  echt.  Der 


"Cfber  die  jiingsten  Entdeckungen.  337 

Streit  liefl  sicli  nicht  entscheiden,  bis  Harris  im  Katharinen- 
Kloster  auf  dem  Sinai  die  ganze  Apologie  in  syrischer 
tibersetzung  fand.  An  der  Echtheit  zweifelte  mit  Recht 
niemand,  so  deutlich  trug  sie  den  Stempel  des  zweiten 
Jahrhunderts,  und  auch  das  armenische  Fragment  war  ge- 
rechtfertigt;  denn  wirklich  hot  der  Syrer  das  betreffende 
Stiick  fast  gleichlautend.  Die  Entdeckung  dieser  Apologie 
war  ein  Fund  ersten  Ranges;  denn  sie  ist  alter  als  die  des 
Justin;  sie  enthalt  eine  breite  Schilderung  des  Lebens  oder 
doch  der  Normen  der  Christenheit  um  die  Mitte  des  zweiten 
Jahrhunderts  und  sie  erweiterte  unsere  Kenntnis  der  Apo- 
logetik  der  altesten  Theologen  sehr  bedeutend ;  denn  Aristides 
unterscheidet  sich  in  wesentlichen  Stiicken  von  der  apolo- 
getischen  Methode  seiner  Nachfolger.  Eine  sehr  merk- 
wiirdige  uberlieferungsgeschichtlicke  Tatsache  trat  aber 
gleich  nacn  der  Entdeckung  zu  tage.  Man  erinnerte  sich, 
Vieles,  was  die  Aristides-Apologie  bot,  schon  anderswo  ge- 
lesen  zu  haben,  und  wies  nach,  daB  in  eine  der  verbreitet- 
sten  Legenden  des  friihen  Mittelalters,  die  griechisch  nieder- 
geschrieben,  aber  in  ein  Dutzend  von  Sprachen  iibersetzt 
ist,  in  die  Legende  von  Barlaam  und  Josaphat,  ein  grofier 
Teil  der  Rede  des  Aristides  Aufnahme  gefunden  hat.  Der 
Legendenschreiber,  der  iibrigens  auf  der  beriihmten  Buddha- 
Legende  fufit,  hat  es  sich  leicht  gemacht  und  statt  eine 
Verteidigungsrede  fur  das  Christentum  selbst  zu  verfassen, 
die  Apologie  des  Aristides  Kapitel  fur  Kapitel  gepliindert. 
So  besafi  man  in  jener  erbaulichen  Novelle  bereits  den 
grofiten  Teil  der  alten  Schrift,  ohne  es  zu  ahnen!  -  -  Aus 
dem  Werke  eines  anderen  Apologeten,  der  ein  sehr  frucht- 
barer  kirchlicher  Schrifbsteller  gewesen  ist,  Melito  Bischof 
von  Sardes  (um  170),  entdeckte  der  Kardinal  Pitra  ein 
Bruchstiick  in  einer  venetianischen  Handschrift,  und 
Mercati  fand  dasselbe  Stiick  in  einer  Mailander.  Es 
handelt  sich  um  die  Schrift  iiber  die  Taufe,  den  alte 
sten  Traktat,  der  in  der  Kirche  iiber  dies  Sakrament  ge- 

Harnack,  Reden  nnd  Aufsatze.    2.  Aufl.    L  22 


338  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

schrieben  worden  1st,  und  der  bisher  fur  spurlos  verschwun- 
den  gait. 

Auf  die  zahlreichen  cliristlichen  Inschriftenfunde  1st 
hier  nicht  einzugehen,  teils  well  das  anf  ein  anderes  G-ebiet 
fiihren  wiirde,  teils  weil  fast  alle  literar-historisch  unbedeutend 
sind.  Auf  altchristlichem  Grebiete  spielen  die  Inschriften 
nicht  die  hervorragende  Rolle,  die  ihnen  fiir  die  Profan- 
gesch.ich.te  zukommt.  Aber  einige  Ausnahmen  sind  doch 
vorhanden.  So  war  es  keine  geringe  Freude,  als  Ramsay 
in  Hieropolis  in  Phrygien  das  Grrabmal  des  Abercius  fand, 
dessen  poetische  Inschrift  handschriftlich  lange  bekannt 
nnd  hochberiihmt  war.  Nun  konnte  man  die  Verse  von 
dem  freilich  nicht  vollkommen  erhaltenen  Steine  selbst  ab- 
lesen.  Ob  sie  der  Zeit  um  200  angehoren,  dariiber  entstand 
kein  Streit;  aber  eine  lebhafte  Kontro verse  entspann  sich, 
ob  sie  uberhaupt  christlich,  und  wenn  christlich,  ob  ka- 
tholisch  oder  gnostisch  seien.  Die  Bezweiflung  des  christ- 
lichen  Charakters  —  weil  in  der  Inschrift  von  der  reinen 
Jungfrau,  von  Brot,  Wein  und  Fisch  die  Rede  —  wurde 
zuerst  wie  ein  Attentat  auf  das  Heilige  und  zugleich  als 
absurd  angesehen.  Allein,  wenn  auch  die  Verteidiger  die 
christliche  Herkunft  der  Verse  wahrscheinlich  machen 
konnten  —  die  Annahme,  dafi  Fremdes  hier  eingemischt 
sei,  liefi  sich  nicht  leicht  widerlegen.  Zur  Zeit  ist  ein 
Waffenstillstand  eingetreten,  und  man  mufl  abwarten,  ob 
neue  Momente  geltend  gemacht  werden,  welche  die  Frage 
entscheiden. 

In  einem  anderen  Fall  konnte  die  Literaturgeschichte 
der  Inschriftenforschung  zu  Hilfe  kommen.  Eine  oster- 
reichische  wissenschaftliche  Expedition  fand  in  Arykanda 
in  Lycien  eine  Inschrift,  lateinisch  und  griechisch,  die  in 
ihrer  ersten  Halfte  ein  stark  verstummeltes  Fragment  eines 
Reskripts  des  Kaisers  Maximinus  Daza,  in  der  zweiten  die 
Petition  einiger  Stadte  bringt,  der  Kaiser  moge  gestatten, 
die  Christen  aus  ihrem  Weichbilde  auszuweisen.  Das  Re- 


tTber  die  jiingsten  Entdeckungen.  339 

skript  enthalt  die  Grewahrung  der  Bitte.  Man  erinnerte 
sich,  daC  Eusebius  in  seiner  Kirchengeschichte  erzahlt,  der 
Kaiser  habe  selbst  solclie  Petitionen  der  Stadte  veranlaflt, 
und  daB  er  Proben  derselben,  sowie  der  kaiserlichen  Ant- 
worten  mitteilt.  Eine  Vergleichung  mit  der  neuentdeckten 
Inschrift  ergab  sofort,  dafi  Eusebius  so  zuverlassig  berichtet 
hat,  daft  man  die  Liicken  der  Inschrift  aus  seinem  Texte, 
in  das  Lateinische  zuriickubersetzt,  erganzen  konnte!  Solche 
Ealle  sind  gewifi  selten;  aber  sie  sind  besonders  erfreulich, 
da  sie  die  Zuverlassigkeit  des  Eusebius,  und  damit  des 
wichtigsten  Zeugen,  den  wir  fur  die  alte  Kirchengeschichte 
besitzen,  beweisen. 

5.  Dem  Umfange  nach  am  bedeutendsten  sind  die 
Entdeckungen,  welche  sich  auf  die  Werke  der  Kirchenvater 
des  dritten  und  des  anfangenden  vierten  Jahrhunderts  be- 
ziehen.  Den  systematischen  und  unermiidlichen  £Tach- 
forschungen  von  Achelis  und  Bonwetsch  gelang  es,  die 
grofitenteils  nur  in  Eragmenten  erhaltenen  Werke  des  ersten 
wissenschaftlichen  Theologen  der  romischen  Kirche,  Hippolyt, 
aus  mehr  als  zwanzig  Bibliotheken  zu  sammeln.  Dabei 
konnte  sein  Kommentar  zum  Propheten  Daniel,  der  fruher 
ganz  unbekannt  war,  aus  einer  slavischen  Ubersetzung  und 
aus  grofien  griechischen  Bruchstiicken  vom  Athos  und 
aus  Chalkis  vollstandig  wiederhergestellt  werden.  Dieser 
Kommentar  enthalt  viele  Beziehungen  auf  die  Zeitgeschichte 
(Zeit  des  Kaisers  Septimius  Severus)  und  ist  daher  als  ge- 
schichtliche  Quelle  von  hohem  Werte.  Auch  von  dem 
Werke  des  Gregners  Hippolyts,  des  romischen  Presbyters 
Cajus,  der  gegen  die  Offenbarung  Johannes7  geschrieben, 
haben  sich  in  einem  spateren  syrischen  Werke  Fragmente 
gefunden,  die  Q-wynn  pubKziert  hat  —  scharfe  Angriffe 
auf  die  Glaubwiirdigkeit  des  Buchs. 

Die  Werke  der  groflen  alexandrinischen  G-elehrtenschule, 
die  mit  den  Arbeiten  des  Clemens  Alexandrinus  am  Ende 
des  2.  Jahrhunderts  beginnt,  sind  von  der  griechischen 

22* 


340  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

Kirclie  nur  zum  kleinsten  Teile  konserviert  worden,  well 
sie  haretisch  erscliienen,  z.  T.  auch  well  ikr  Umfang  den 
Abschreibern  zu  viel  Muhe  machte.  Die  Fragmente  aus 
verlorenen  Schriften  des  Clemens  hat  Zahn  mit  grofier 
Umsicht  gesammelt  und  wenig  Beachtetes  oder  Ver- 
gessenes  ans  Licht  gezogen.  Fiir  Origenes  und  seine 
Schiiler  hat  namentlich  der  Kardinal  Pitra  viel  getan  und 
zahlreiche  exegetische  Fragmente,  besonders  ans  romischen 
Bibliotheken ,  veroffentlicht.  Ihm  folgt  jetzt  Kloster- 
mann,  der  die  Eeste  der  alttestamentlichen  Kommentare 
des  Origenes  sammelt  und  uns  bereits  mit  wichtigen  Ent- 
deckungen  beschenkt  hat.  Das  wissenschaffcliche  Hauptwerk 
des  Origenes  ist  seine  groJBe  textkritische  Ausgabe  des 
Alten  Testaments  in  sechs  Kolumnen  gewesen.  In  die 
erste  stellte  er  den  hebraischen  Text,  in  die  zweite  den- 
selben  Text  mit  griechischen  Buchstaben  geschrieben,  in 
die  dritte  bis  sechste  vier  verschiedene  griechische  IJber- 
setzungen.  Dieses  Werk,  welches  in  die  Bibliothek  von 
Casarea  in  Palastina  gekommen  ist,  ist  als  Granzes  wahr- 
scheinlich  nie  abgeschrieben  worden,  aber  zahlreiche  G-e- 
lehrte  im  3.  und  4.  Jahrhunderte  haben  es  eingesehen  und 
Lesarten  von  dort  ubernommen.  Nur  nach  den  Be- 
schreibungen  konnten  wir  uns  bis  vor  kurzem  ein  Bild 
von  dieser  Leistung  eines  staunenswerten  FleiBes  machen. 
Da  entdeckte  Mercati  in  der  Bibliothek  zu  Mailand  ein 
Bruchstiick  desselben  —  einige  Psalmen,  deren  sechsfacher 
Text  nebeneinander  in  Kolumnen  ganz  so  geschrieben  ist, 
wie  das  von  Origenes  erzahlt  wird.  Nun  sind  wir  im- 
stande,  an  dieser  Abschrift  wirklich  in  die  alttestamentliche 
Arbeit  des  grofien  Grelehrten  hineinzuschauen,  und  eben 
kommt  uns  die  Kunde,  dafi  von  der  Q-oltz  auf  dem  Athos 
eine  Handschriffc  gefunden  hat,  die  uns  die  Bemuhungen 
des  Origenes  um  den  Text  des  Neuen  Testaments  in  einem 
neuen  Lichte  zeigt.  Unter  den  Schiilern  des  Origenes  sind 
es  namentlich  Dionysius  der  Gro.Ce,  Gregorius  Thauma- 


"ttber  die  jiingsten  Entdeckungen.  341 

turgus  und  Pierius,  for  die  wir  neues  Material,  teils  in 
griechischer  Sprache,  teils  in  syrischen  und  armenischen 
Ubersetzungen  erhalten  haben.  Sehr  willkommen  ist  es 
auch,  dafl  die  Bischofe,  die  unmittelbar  vor  Athanasins 
die  alexandrinische  Kirche  regiert  haben,  in  ein  helleres 
Licht  treten.  Zwar  ist  unsere  Kenntnis  der  inneren  Zu- 
stande  in  Alexandrien  vor  Ausbruch  des  grofien  arianischen 
Kampfes  noch  immer  sehr  gering;  aber  wir  wissen  docli 
jetzt  —  dank  Pitra  u.  A.  —  mehr  von  Alexander  von 
Alexandrien,  dem  Vorganger  des  Athanasius,  als  vor 
zwanzig  Jahren,  und  von  dessen  Yorganger,  Petrus,  hat 
jiingst  Karl  Schmidt  Schriften,  bez.  Bruchstiicke  von 
solchen,  in  koptischer  Sprache  entdeckt,  die  neue  Auf- 
schlusse  versprechen. 

Petrus,  der  Bischof,  war  ein  G-egner  des  Origenes; 
mit  Sorge  betrachtete  er  den  Einnufi  der  origenistischen 
Theologie  in  der  Kirche  und  suchte  sie  zu  bekampfen. 
Einen  anderen  Gegner,  den  Zeitgenossen  des  Petrus,  Metho 
dius,  Bischof  von  Olympia,  kannten  wir  friiher  schon  aus 
einigen  Schriften;  aber  Bonwetsch  hat  uns  aus  slavischen 
Ubersetzungen  bisher  unbekannte  Werke  dieses  Mannes 
zuganglich  gemacht  und  ihn  und  seine  Arbeit  erst  in  das 
voile  Licht  geriickt.  Wir  haben  diesen  Methodius  nun  als 
einen  hervorragenden  und  einfluBreichen  theologischen 
Schriftsteller  kennen  gelernt,  der  den  Platoniker  Origenes 
auch  mit  den  Waffen  Platos  zu  bekampfen  suchte.  Aber 
Origenes  hatte  um  d.  J.  300  nicht  nur  Anhanger  und 
Gregner,  sondern  auch  glanzende  literarische  Verteidiger. 
Die  bedeutendsten  unter  ihnen  waren  Pamphilus  und  Eusebius. 
Jener,  ein  reicher  Mann,  legte  in  Casarea  eine  grofie  Bi- 
bliothek  an;  sie  war  in  erster  Linie  dazu  bestimmt,  alles 
das  zu  konservieren,  was  Origenes  geschrieben  hat,  aber 
Pamphilus  sammelte  auch  alle  Schriften,  die  fur  die  Bibel- 
erklarung  irgend  welchen  Nutzen  versprachen.  Dieser 
Bibliothek,  die  untergegangen  ist,  nachzuspiiren  und  solche 


342  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

Handschriften,  namentlich  Bibelhandschriffcen,  zu  bestimmen 
und  zu  sammeln,  die  sich  als  Abschriften  von  Codices  der 
casareensischen  Bibliotliek  erweisen,  hat  man  in  den  letzten 
Jahren  mit  Grliick  versucht.  Die  Sache  ist  von  grofier 
Wichtigkeit;  denn  von  jeder  Handschriffc,  die  sich  auf  jene 
Bibliothek  zuriickfiihren  lafit,  gilt,  dafi  sie  auf  einem  Texte 
des  dritten  Jahrhunderts  beruht;  aber  auch  die  ortliche  Fest- 
stellung  ist  fur  viele  textgeschichtliche  Fragen  wertvoll. 

In  Bezug  auf  das  Werk  eines  weiteren  Zeitgenossen 
des  Petrus  und  Methodius  hat  Caspari  eine  erfreuliche 
Entdeckung  gemacht.  "Wir  kannten  langst  die  in  griechi- 
scher  Sprache  verfafiten  Dialoge  eines  gewissen  Adamantius 
gegen  die  Marcioniten  und  andere  Haretiker  und  schatzten 
sie  als  eine  wertvolle  Quelle;  aber  die  Datierung  war 
schwierig:  einerseits  zeigten  sie  Merkmale,  die  auf  eine 
Abfassung  vor  der  Zeit  des  nicanischen  Konzils  hinwiesen, 
andererseits  fanden  sich  nachnicanische  dogmatische  Stich- 
worte  in  ihnen.  Da  entdeckte  Caspari  in  der  Bibliothek 
zu  Schlettstadt  eine  urn  d.  J.  400  von  Rufin  angefertigte 
lateinische  Ubersetzung  dieser  Dialoge,  und  sie  zeigte,  dafi 
die  griechischen  Handschriften  samtlich  interpoliert  sind; 
denn  in  dieser  Ubersetzung  fehlten  jene  nicanischen  Stich- 
worte.  Nun  war  eine  sichere  Datierung  moglich. 

Auf  dem  Grebiete  der  altlateinischen  christlichen  Lite- 
ratur  sind  die  Entdeckungen  langst  nicht  so  zahlreich  ge- 
wesen,  wie  auf  dem  der  griechischen;  aber  es  hat  ja  auch 
nur  wenige  lateinische  christliche  Schriftsteller  im  zweiten 
und  dritten  Jahrhundert  gegeben.  Fur  den  einflufireichsten 
unter  ihnen  —  seine  Werke  haben  im  Abendland  ein  Jahr 
hundert  lang  dicht  bei  dem  Neuen  Testamente  gestanden  — , 
Cyprian,  den  ersten  grofien  Hierarchen,  verdanken  wir 
M o mm s  e n  einen  wertvollen  Fund.  Dieselben  Handschriften, 
in  denen  er  ein  Verzeichnis  der  h.  Schriften  fand  (s.  o.), 
enthalten  auch  eine  ausfuhrliche  Liste  der  Werke  und 
Briefe  Cyprians,  mit  Angaben  iiber  den  Umfang  jedes 


tTber  die  jtingsten  Entdeckungen.  343 

einzelnen  Stiicks.  Da  diese  Liste  der  Mitte  des  4.  Jahr- 
hunderts  angehort,  also  nur  ein  Jahrhundert  nach  Cyprians 
Tode  niedergeschrieben  ist,  so  1st  sie  ein  sehr  willkommenes 
Hilfsmittel,  um  eine  Einsieht  in  die  Greschichte  der  Samm- 
lung  und  Verbreitung  der  Cyprianischen  Schriften  zu  ge- 
winnen.  Neue  Traktate  dieses  Bischofs  oder  solche,  die 
unter  seinem  ISTamen  gehen,  sind  nicht  aufgetaucht;  aber 
die  Forschung  hat  sich  in  den  letzten  Jahren  eigentlich 
zum  erstenmal  der  Gruppe  der  pseudocyprianischen 
Schriften  zugewandt,  sie  gleichsam  erst  entdeckt  und  in 
ihnen  wertvolle  Quellen  fiir  die  Kirchengeschichte  des 
dritten  Jahrlmnderts  erkannt.  Eine  wirkliche  Bereicherung 
unserer  Kenntnisse  haben  ferner  die  Nachforschungen  ge- 
bracht,  die  Haufileiter  iiber  den  verlorenen  Kommentar  zur 
Johannes-Apokalypse  des  altesten  lateinischen  Exegeten, 
Viktorin  von  Pettau  (um  das  Jahr  300),  angestellt  hat, 
und  ganz  neue  Aufschliisse  iiber  die  alteste  kirchenrecht- 
liche  Literatur  auf  dem  Boden  der  lateinischen  Kirche 
verspricht  ein  Fund  Hauler's.  Er  entdeckte  in  einem 
Veroneser  Palimpseste  jene  pseudapostolische  Didaskalia 
in  lateinischer  tibersetzung ,  die  neben  der  ,,Apostellehre" 
eine  Wurzel  des  altesten  Kirchenrechts  ist,  und  die 
man  bisher  nur  als  Eigentum  der  griechischen  und  syri- 
schen  Kirche  gekannt  hat.  Da  auch  die  ,,Apostellehre" 
einst  lateinisch  existiert  hat,  dann  aber,  wie  die  Didaskalia, 
fast  spurlos  verschwunden  ist,  so  konimt  man  auf  die  Ver- 
mutung,  dafi  das  alteste  griechische  Kirchenrecht  auf 
abend landischem  Boden  zeitweilig  eine  bisher  noch  ganz 
unbekannte  Greschichte  erlebt  hat,  dafi  es  aber  bald  von 
anderen  Rechtsordnungen  verdrangt  word  en,  also  iiber  blofie 
Ansatze  nicht  hinausgekommen  ist.  — 


344  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

Hiermit  hoffe  ich  eine  wesentlich  vollstandige  Uber- 
siclit  iiber  die  Funde  der  letzten  25  Jahre  gegeben  zu 
haben;  geschwiegen  liabe  ich.  von  alien  solchen  Entdeck- 
ungen,  in  denen  es  sich  nur  um  neue  Handschriften  be- 
kannter  Stiicke  handelt ,  obgleich  einige  von  ihnen  der 
Forschung  sehr  wichtig  geworden  sind.  Wie  reich  ist  z.  B. 
jetzt  unsere  Kenntnis  jener  urchristlichen  romischen  Schrift, 
die  den  Titel  ,,Der  Hirte"  fiihrt  und  einst  von  Griechen, 
Lateinern  und  Abessyniern  mit  gleicher  Verehrung  gelesen 
worden  ist!  Neben  etwa  zwei  Dutzend  lateinischen  Hand- 
schriften  ist  noch  jiingst  auf  einem  uralten  agyptischen 
Papyrus  ein  Bruchstiick  ans  Licht  getreten.  In  welchem 
Umfange  hat  der  groBe  Forscher  Caspari  die  G-eschichte 
des  abendlandischen  Taufsymbols ,  des  sogenannten  Sym- 
bolum  Apostolicum ,  bereichern  konnen,  wie  viele  neue 
Texte  hat  er  geboten !  Wie  zahlreich  sind  die  Falle ,  in 
denen  wir  alteste  Schriften,  die  in  der  Originalsprache 
untergegangen,  aber  in  Ubersetzungen  erhalten  sind,  bruch- 
stiickweise  nun  wieder  im  Original  erhalten  haben!  So  be- 
safien  wir  von  den  zwei,  fur  die  Greschichte  der  Askese 
hochst  wichtigen  pseudoklementinischen  Briefen  iiber  die 
Jungfraulichkeit  nur  die  syrische  Ubersetzung.  Cotterill 
konnte  nachweisen,  dafi  die  Halfte  des  Textes  im  Original 
in  Zitaten  eines  spaten  griechischen  Monches  zu  finden  ist. 
-  Doch  schon  zu  lange  habe  ich  die  Greduld  des  Lesers  in 
Anspruch  genommen;  es  mag  gestattet  sein,  zum  SchluB 
einige  allgemeine  Erwagungen  anzukniipfen.  Es  sind  etwa 
funfzig  literarische  Funde,  die  uns  die  letzten  25  Jahre 
gebracht  haben.  Wer  hat  sie  entdeckt?  wie  ist  es  dabei 
zugegangen?  Ist  es  nicht  moglich,  aus  der  Beantwortung 
dieser  Fragen  etwas  fur  die  Zukunft  zu  lernen? 

An  den  Entdeckungen  sind  ungefahr  ein  halbes  Hun- 
dert  G-elehrte  beteiligt.  Sie  verteilen  sich  auf  alle  Nationen, 
Armenier,  Belgier,  Deutsche,  Englander,  Franzosen,  Grrie- 
chen ,  Italiener  und  Hussen.  Aber  den  Deutschen  und 


"CTber  die  jiingsten  Entdeckungen.  345 

Englandern  gebuhrt  das  groJBte  Verdienst.  Das  entspricht 
der  Tatsache,  daB  die  patristischen  Studien  bei  ihnen  am 
meisten  bliihen  und  in  festen  Formen  gepflegt  werden. 
Wir  Deutsche  haben  aber  alle  Krafte  anzuspannen,  daB 
Tins  die  Englander  niclit  den  Rang  ablaufen:  sie  verfiigen 
iiber  groBere  Mittel,  konnen  junge  Gelehrte  auf  Jahre  in 
die  Feme  schicken  und  bei  der  Sache  halten,  wahrend  sie 
bei  uns  in  der  E/egel  gezwungen  sind,  nach  kurzem  wissen- 
schaffclichen  Dienst  einen  praktischen  oder  den  Lehrberuf 
zu  ergreifen.  Berufsarbeiter  fur  den  wissenschaftlichen 
GroBbetrieb,  die  ihr  Leben  einer  wissenschaftlichen  Auf- 
gabe  widmen  und  fiir  sie  jeder  Zeit  Reisen  machen  kon 
nen,  sind  uns  notig,  Grelehrte,  die  nicht  gezwungen  sind, 
Vorlesungen  iiber  Dinge,  die  sie  schlecht  verstehen,  zu 
halten,  weil  die  Spezialwissenschaft,  die  sie  in  der  Stille 
bearbeiten  und  die  sie  kennen,  fiir  den  Unterricht  unge- 
eignet  ist  und  sie  nicht  ernahrt.  In  jenem  Jahrhundert, 
in  welchem  auf  historischem  Gebiet  auch  im  groBen  ge- 
arbeitet  word  en  ist,  dem  siebzehnten,  gab  es  bereits  Be 
rufsarbeiter,  die  sich  ganz  ihrer  Spezialaufgabe  widmen 
konnten  und  sich  in  die  Hande  arbeiteten,  das  waren  die 
Mitglieder  der  klosterlichen  Kongregationen. 

So  sind  die  grofien  wissenschaftlichen  Sammelwerke 
entstanden,  die  wir  bewundern.  Eine  ahnliche  Einrichtung 
haben  auch  wir  heute  notig,  und  unsere  Akademien  miissen 
die  Mittelpunkte  werden,  um  die  sich  nichtlehrende  Ge- 
lehrte,  die  grofie  wissenschaftliche  Aufgaben  verfolgen, 
scharen.  An  den  Universitaten  mufi  der  Unterricht  re- 
gieren;  sie  werden  hoffentlich  immer  zugleich  der  For- 
schung  dienen,  aber  sie  konnen  keinen  Gelehrten  brauchen, 
der  nicht  lehrt.  Wir  aber  haben  auch  solche  Gelehrte  notig, 
die  nicht  lehren,  weil  das,  was  sie  arbeiten,  teils  fiir  den 
Unterricht  zu  speziell  ist,  teils  noch  nicht  reif  genug.  Das 
Spezialistentum ,  iiber  welches  an  unseren  Universitaten 
nicht  ohne  Grund  geklagt  wird,  und  dessen  schadliche 


346  Erster  Band,   zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

Folgen  sich  bis  in  die  Organisation  des  hoheren  Prufungs- 
wesens  erstrecken,  ist  eine  Folge  des  Ubelstandes ,  dafi  bei 
uns  jeder  Grelehrter  des  Brotes  wegen  an  die  Universitat 
gehen  mufi,  wenn  er  sein  Leben  der  Wissenschaft  weihen 
will.  Grewifi  haben  unsere  Universitaten  dadurch  viel  ge- 
wonnen;  aber  nachgerade  hat  sich  die  wissenschaffcliche 
Arbeit  so  spezialisiert,  dafi  die  Universitaten  sie  nicht  mehr 
allein  zu  umspannen  vermogen,  ohne  ihre  oberste  Aufgabe 
zu  schadigen.  Der  Staat  wird  somit  in  der  Pflege  der 
Wissenschaften  und  der  Universitaten  einen  gewaltigen 
Schritt  vorwarts  tun,  wenn  er  neben  diesen  ein  zweites 
Zentrum  fiir  jene  schafft  und  den  Akademien  die  Mittel 
gewahrt,  einen  Stab  von  G-elehrten  dauernd  um  sich  zu 
sammeln,  die,  materiell  sicher  gestellt,  ihr  ganzes  Leben 
und  ihre  ganze  Kraft  einer  grofien  Spezialaufgabe  weihen 
konnen.  Mit  Zuversicht  blicken  wir  auf  das  preufiische 
Unterrichtsministerium ,  welches,  verstandnisvoll  und  tat- 
kraftig ,  stets  den  neuen  Bediirfnissen  der  "Wissenschaft 
entgegengekommen  ist  und  auch  hier  berechtigte  Forde- 
rungen  gewifi  erfullen  wird. 

In  dem  Kreise  akademischer  Adjunkten  mag  der  For- 
scher  seine  Stelle  finden,  der  auf  den  europaischen  Biblio- 
theken  die  Trammer  der  koptischen  Literatur  aufsucht  und 
wieder  erweckt;  hier  mag  ein  Kenner  des  Armenischen  die 
Schatze  dieser  Literatur  zusammentragen;  hier  mo  gen  andere 
sich  zu  lexikalischen  Arbeiten  vereinigen  und  die  Reste  einer 
untergegangenen  oder  untergehenden  Sprache  und  eines 
ver sinkend en  Volks turns  sammeln;  hier  mogen  wieder  andere 
ein  grofies  historisches  Regestenwerk  unternehmen,  —  alles 
Aufgaben,  die  mit  dem  Lehrberuf  nichts  zu  tun  haben, 
oder  vielmehr,  die  durch  den  Lehrberuf  gestort  werden 
und  ihn  storen.  Das  aber  ist  sicher  nicht  zu  befurchten, 
dafi  die  Universitaten  gute  Lehrer  verlieren  oder  gar  an 
ihrem  wissenschaftlichen  Charakter  Schaden  leiden  werden. 
Wefi  das  Herz  voll  ist,  dem  geht  der  Mund  iiber!  Wer 


tft>er  die  jtingsten  Entdeckungen.  347 

von  einer  hohen  Sache  innerlich  erfiillt  1st  und  ihre  bildende 
Kraft  schatzt,  der  wird  sie  auch  lehren  wollen  und  Schiller 
werben  und  deshalb  an  die  Universitaten  gehen !  Wir  wollen 
diese  nur  vor  den  j,Mufl-Dozentenu  und  die  nur  zum 
Forschen  berufenen  G-elehrten  vor  dem  Vorlesungszwang 
schiitzen.  Dafl  die  groflen  und  vielseitigen  Forscher  die 
Lehrer  unserer  Jugend  sind  —  dieses  herrliche  deutsche 
Ideal  wird  uns  auch  in  Zukunft  bleiben.  Und  umgekehrt, 
wir  wollen  keine  berufsmafiigen  Entdecker  oder  gar  ^Schatz- 
graber"  in  der  "Wissenschaft;  denn  solche  Leute  sind  vom 
Ubel.  Aber  was  wir  brauchen,  sind  methodisch.  arbeitende 
Gelehrte,  die  in  einer  historisch-philologischen  Spezialwissen- 
scliaft  allmahlich  den  ganzen  Bestand  der  Quellen,  wie  er 
auf  den  europaischen  Bibliotheken  zerstreut  liegt,  kennen 
lernen  und  auf  planvoll  unternommenen  Reisen  aufarbeiten. 
Wie  sind  denn  die  reiehen  Entdeckungen  auf  dem  Ge- 
biete  der  alten  Kirchengeschichte  bisher  zustande  ge- 
kommen?  Abgesehen  von  einigen  wohlvorbereiteten  Unter- 
nehmungen,  wie  sie  A  ch  el  is  und  Bonwetsch  fiir  Hippolyt, 
Caspari  fur  die  Symbole,  die  Bollandisten  und  Ehr- 
hard  fiir  die  hagiographische  Literatur  unternommen  haben, 
und  wie  sie  jetzt  von  Soden  fiir  den  Text  des  Neuen 
Testaments  ausfiihren  laflt,  ist  uns  das  Meiste  durch  mehr 
oder  weniger  zufallige  Umstande  geschenkt  worden.  Ge- 
wifi  leitete  fast  alle  Entdecker  ein  bestimmtes  wissenschaft- 
liches  Interesse  —  es  sind  Wenige  darunter,  die  nicht  im 
Schweifie  ihres  Angesichts  gearbeitet  haben,  und  wir  Kirchen- 
historiker  diirfen  auf  unsere  Entdecker  stolz  sein  — ,  aber 
vereinzelt  und  zusammenhanglos  wird  uns  das  Meiste  ge- 
bracht,  und  fast  nirgendwo  konnen  wir  sicher  sein,  dafi 
alles  das  wirklich  untersucht  worden  ist,  was  an  einem  be- 
stimmten  Ort,  in  einer  bestimmten  Bibliothek,  zu  unter- 
suchen  ware.  EToch  immer  lassen  sich  sogar  in  geschriebenen 
oder  auch  gedruckten  Katalogen  Entdeckungen  machen  — 
v.  Gebhardt  hat  uns  das  gezeigt!  — ,  und  so  oft  man 


348  Erster  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

planvolle  Untersuchungen  angestellt  hat,  sind  sie  auch  be- 
lohnt  worden. 

Freilich,  das  geographische  Grebiet,  auf  welchem  man 
fur  die  alte  Kirchen-  und  christliche  Literaturgeschichte  zu 
sammeln  hat,  ist  ein  ungeheuer  weites.  Dire  Denkmaler 
sind  in  griechischer,  lateinischer,  syrischer,  koptischer,  abes- 
synischer,  armenischer,  slavischer  und  arabischer  Sprache 
erhalten.  Die  Fundorte  der  Entdeckungen  der  letzten  fiinf- 
undzwanzig  Jahre  sind  oben  zum  Teil  angegeben  worden: 
von  Etschmiadzin,  Jerusalem  und  Patmos  bis  nach  Madrid, 
und  vom  Sinai  bis  nach  Moskau  und  Petersburg  und 
wiederum  nach  England  und  Irland  mufi  der  Forscher 
wandern.  Dazwischen  liegen  die  grofien  Bibliotheken  Euro- 
pas,  die  noch  immer  ungehobene  Schatze  bergen,  und  auch 
ein  Schlettstadt  und  ahnliche  Stadtchen  besitzen  historische 
Unika.  Doch  das  Land  unserer  Hoffnung  ist  Agypten! 
GrewiB  haben  wir  vom  Athos,  aus  Kleinasien  und  Armenien 
noch  manches  zu  erwarten;  aber  die  altesten  und  kost- 
barsteii  Schatze  sind  aus  Agypten  gekommen,  und  Alles 
spricht  dafiir,  dafi  wir  bisher  nicht  mehr  als  die  ersten 
Proben  von  dem  erhalten  haben,  was  der  agyptische  Boden 
uns  aufbewahrt  hat.  Aber  wer  in  Agypten  suchen  will, 
der  mufi  zuerst  nach  Paris,  London  und  Wien  gehen,  wo 
noch  viele  Hunderte,  ja  Tausende  unentzifferter  Papyrus 
liegen.  Wie  konnen  die  an  die  Scholle  gebundenen  Uni- 
versitatslehrer  diese  und  ahnliche  Schatze  aufsuchen  und 
einsammeln?  Was  sie  vermogen,  ist,  Untersuchungen  vor- 
zubereiten  und  sie  methodisch  ins  Werk  zu  setzen.  Aber 
auch  diese  Tatigkeit  hat  eine  naheliegende  Grrenze.  Ihr  um- 
fassendes  Lehramt  erlaubt  ihnen  nicht,  sich  einseitig  einem 
Zweige  der  Wissenschaft  und  einer  Gruppe  von  Denk- 
malern  zu  widmen.  Die  Starke  aber  des  Grelehrten,  der 
forscht  und  sucht,  ist  die  entschlossenste  Einseitigkeit  und 
Beschrankung,  nicht  auf  zwanzig  Monate,  sondern  auf  eben- 
soviel  Jahre,  und  nicht  mit  miihsam  abgewonnenen  Mitteln, 


"Clber  die  jiingsten  Entdeckungen.  349 

sondern  auf  gesicherter  materieller  Grundlage.  Wenn  uns 
planlose  Forschungen  soviel  beschert  haben,  was  werden 
uns  methodise!),  gefiihrte  bringen!  Eine  fragmentarisch  er- 
haltene  Literatur  fragmentarisch  bearbeiten  —  nnr  Unbe- 
friedigendes  kann  dabei  herauskommen,  ja  Vergeudung  der 
sparlichen  Kraffce!  Aber  lohnen  die  Ausgaben  den  Auf- 
wand?  Nun,  es  handelt  sich  urn  die  alte  Kirchengeschichte, 
d.  h.  um  eine  Geschichte,  welche  die  Volker  Europas  ge- 
meinsam  erlebt  haben,  und  in  der  der  wichtigste  Teil  der 
GKiter  beschlossen  liegt,  die  sie  gemeinsam  besitzen.  Aber 
von  diesem  erhabenen  Thema  abgesehen  —  alle  Q-eschichte, 
die  sich  zwischen  dem  Euphrat  und  dem  atlantischen  Ozean 
abgespielt  hat,  ist  unsere  Greschichte;  wir  vermogen  aber 
unsere  eigene  Existenz  nur  dadurch  zu  vertiefen  und  zu 
erweitern,  dafi  wir  unter  den  Helden  der  Greschichte  leben 
und  ihre  Kampfe  und  ihre  GroBe  nachempfinden. 


ADOLF  HARNACK 
REDEN  UND  AUFSATZE 

ZWEITER  BAND 


REDEN  UND  AUFSlTZE 


VON 


ADOLF  HARNACK 


ZWEITEE  BAND 


ZWEITE  AUFLAGE 


ALFRED  TOPELMANN 

(YORMALS  J.  EICKER'SGHE  VERLAGSBUCHHANDLUNG) 

GIESZEN  1906 


Druck  von  C.  G.  lloder,  G.  m.  b.  II.,  Leipzig. 


MEINEM  FREUNDE 
MARTIN  RADE 


INHALTSVERZEICHNIS  DES  ZWEITEN  BANDES 


ERSTE  ABTEILUNG:  REDEN 

Seite 

I.    Das  Christentum  und  die  Geschichte  (1896)   ....        1 
II.    Die  evangelisch-soziale  Aufgabe  im  Lichte  der  Geschichte 

der  Kirche  (1894) 23 

III.  Die   sittliche  und   soziale  Bedeutung   des   modernen  Bil- 
dungsstrebens  (1902) 77 

IV.  Grundsatze  der  evangelisch-protestantischen  Mission  (1900)  107 
V.    Zur  gegenwartigen  Lage  des  Protestantismus  (1896)     .   129 

VI.    Die  Aufgabe   der  theologiscben  Fakultaten  und  die  all- 

gemeine  Religionsgeschichte,  nebst  einem  Nachwort  (1901)  159 
VII.    Die  Koniglich  Preufiische  Akademie  der  Wissenschaften 

(1900) 189 

ZWEITE  ABTEILUNG:  AUFSATZE 

I.    The   present   state  of  research  in   early   church  history 

(1886) 217 

II.    Einige  Bemerkungen  zur  Geschichte  der  Entstehung  des 

Neuen  Testaments  (1903) 237 

III.  Was  wir  von   der  romischen   Kirche   lernen   und  nicht 
lernen  sollen   (1891)        247 

IV.  Das  Testament  Leos  XIII.  (1894) 265 

V.    Die  Bedeutung  der  Reformation  innerhalb  der  allgemeinen 

Religionsgeschichte  (1899) 295 

VI.  Der  evangelisch-soziale  Kongrefi  zu  Berlin  (1890)  .  .  327 

VII.  Ritschl  und  seine  Schule  (1897) 345 

VIII.  tJber  Wissenschaft  und  Religion.  Angeeignetes  und  Er- 

lebtes  (1895) 369 


ADOLF  HARNACK  •  REDEN  UND  AUFSATZE 
ZWEITER  BAND  -  ERSTE  ABTEILUNG  S^ 


REDEN:  I 
DAS  CHRISTENTUM  UND  DIE  GESCHICHTE 


Vortrag 

gehalten  i.  J.  1896  zu  Berlin,   erschienen  bei  der  J.  C.  Hinrichs'schen 
Buchhandlung  iii  Leipzig  (5.  Aufl.  1904). 


Es  ist  in  keinem  Anderen  Heil,  ist  auch  kein  anderer 
Name  den  Menschen  gegeben,  darinnen  wir  sollen  selig 
werden,  als  in  dem  Namen  Jesu  Ckristi  —  das  ist  das  Be- 
kenntnis  der  christlichen  Kirche.  Mit  diesem  Bekenntnis 
hat  sie  begonnen;  auf  dieses  Bekenntnis  sind  ihre  Martyrer 
gestorben,  und  aus  ihm  schopft  sie  noch  heute  wie  vor 
achtzehn  hundert  Jahren  ihre  Kraft.  Den  ganzen  Inhalt 
der  Religion,  das  Leben  in  Grott,  die  Vergebung  der  Siinde, 
den  Trost  im  Leide,  bindet  sie  an  diese  Person.  Sie  kniipffc 
damit  das,  was  dem  Leben  Inhalt  und  Dauer  verleiht,  ja 
das  Ewige  selbst,  an  ein  (reschichtlich.es  und  behauptet  die 
untrennbare  Einheit  von  Beidem. 

Aber  ist  eine  solche  Verkniipfung  haltbar?  kann  sie 
die  Priifung  des  nachdenkenden  Verstandes  bestehen? 
Alles  Greschichtliche  scheint  ein  unaufhorliches  "Werden 
und  Vergehen.  Ist  es  da  moglich,  eine  Erscheinung  heraus- 
zugreifen  und  an  sie  das  ganze  Grewicht  der  Ewigkeit  zu 
heften?  und  zwar  eine  Erscheinung  der  Vergangenheit! 
Stiinde  die  Person  noch  eben  mitten  unter  uns,  so  ware 
es  vielleicht  anders.  Aber  wir  sind  durch  viele  Jahrhun- 
derte  und  eine  verwickelte  Uberlieferung  von  ihr  getrennt. 
Dennoch  sollen  wir  uns  an  sie  halten,  sollen  sie  fassen, 
wie  wenn  sie  eine  ewige  G-egenwart  hatte,  und  sollen  sie 
als  den  Eels  unseres  Lebens  erkennen!  Ist  das  moglich, 
ist  das  wohlgetan?  Diese  Frage  hat  die  denkenden  Christen 
aller  Zeiten  beschaftigt,  und  sie  umschliefit  die  wichtigsten 
Fragen  nach  dem  "Wesen  und  Recht  der  christlichen  Re 
ligion:  das  Christentum  und  die  Greschichte.  Nur  das  kann 

1* 


4  Z  welter  Band,  erste  Abteilung.     Beden:  I. 

meine  Aufgabe  sein  in  dieser  fliichtigen  Stunde,  den  Sinn 
und  den  Ernst  der  Frage  an  das  Licht  zu  stellen  und 
einige  Gesichtspunkte  zu  ihrer  Beurteilung  zu  bieten. 

Mit  einer  beruhigenden  Tatsaehe  kann  ich  beginnen. 
Der  grofie  Angriff,  den  das  18.  Jahrhundert  auf  den  Zu- 
sammenliang  von  Religion  und  Geschiehte  gerichtet  hat, 
ist  abgeschlagen  worden.  Dieser  Angriff  hat  seinen  prag- 
nanten  Ausdruck  gefunden  in  dem  Lessingschen  Satze: 
nZufallige  Geschichtswahrheiten  konnen  der  Beweis  von 
notwendigen  Vernunftwahrheiten  nie  werden."  Dieser  Satz 
kann  richtig  sein  —  es  kommt  alles  darauf  an,  wie  man 
ihn  deutet.  Aber  wie  ihn  das  von  Rousseau  bestimmte 
Zeitalter  Lessings  verstanden  hat,  ist  er  falsch.  Die  ganze 
oberflachliche  Philosophic  des  18.  Jahrhunderts  liegt  ihm  zu 
Grunde.  Nach  ihr  ist  alles  geschichtlich  Gewordene  ein 
Unwesentliches,  Zufalliges,  ja  sogar  ein  Storendes.  "Wert* 
voll  ist  allein,  was  jenes  Zeitalter  das  nNaturlicheu  und  die 
flVernunft"  nannte.  Sie  galten  als  ein  fur  allemal  gege- 
bene,  unveranderliche  Grrofien.  Aus  ihnen  allein  sollten 
daher  auch  alle  wahren  Giiter  abgeleitet  werden.  Man 
glaubte,  dafi  jeder  Mensch  von  der  Erschaffung  her  in 
seiner  ^Vernunft"  ein  festes  Kapital  besafie,  aus  dem  er 
alles  bestreiten  konne,  was  er  zu  einem  tugendhaften  und 
gliickseligen  Leben  notig  habe.  Man  glaubte  ferner,  dafi 
der  Mensch  der  ^Natur"  harmonisch  eingefugt  sei  und  sich 
deshalb  nur  ^naturgemafi"  zu  entfalten  brauche,  um  ein 
herrliches  Exemplar  seiner  Grattung  zu  werden.  Diese 
Weltanschauung  hatte  die  Greschichte  nicht  mehr  notig; 
denn  der  Mensch  kann  aus  ihr  iiberhaupt  nichts  empfan- 
gen,  was  er  nicht  schon  besitzt.  Folgerecht  erschien  die 
Greschichte  denn  auch  den  konsequenten  Vertretern  dieser 
Anschauung  als  ein  seltsames  und  verkehrtes  Spiel,  und  es 
gait  die  Losung,  sich  aus  der  knechtenden  Greschichte 
herauszuziehen  und  zur  Freiheit  der  ETatur  zuriickzukehren. 
Zwar  Lessing  selbst  suchte  mit  heLCem  Bemuhen,  der  Go- 


Das  Christentum  und  die  Geschichte.  5 

schichte  doch  ihr  Recht  zu  geben;  aber  seine  unsicheren 
Bemuhungen  fanden  in  seinem  Zeitalter  kein  Verstandnis. 
Dieses  sattigte  sich  vielmehr  an  den  angeblich  ewigen 
Vernunftwahrheiten  und  an  der  wiederentdeckten  ^natur- 
lichen  Religion"  und  sah  im  Besitze  dieser  Giiter  stolz 
auf  die  nzufallige  Geschichte"  herab.  Es  zerschnitt  das 
Band  zwischen  Religion  und  Geschichte.  Alle  geschieht- 
lichen  Religionen,  so  lehrte  das  18.  Jahrhundert,  sind  im 
besten  Fall  nur  Verhiillungen  der  allein  wahren  naturlichen 
Religion  —  der  Religion,  die  immer  war  und  immer  sein 
wird.  Diese  Religion  aber  hat  keinen  anderen  Inhalt  als 
die  unveranderliche  Vernunft.  Auch  das  Christentum  und 
sein  Stifter  konnen  daneben  nichts  Besonderes  fur  sich  in 
Anspruch  nehmen;  denn  alles  Besondere  ist  zufallig,  iiber- 
fliissig  und  schadlich. 

Nun  —  diese  Weltanschauung  ist  heute  zwar  nicht 
ausgestorben,  aber  sie  ist  widerlegt.  An  keinem  anderen 
Punkte  hat  sich  der  Geist  unseres  Jahrhunderts  so  machtig 
wider  den  Geist  des  vorigen  Jahrhunderts  gestellt.  Das 
verdanken  wir  Herder  und  den  Romantikern ;  wir  ver- 
danken  es  Hegel  und  seinem  groJJen  Schiller  Ranke;  wir 
verdanken  es  nicht  zum  mindesten  der  kraftigen  Reaktion 
des  christlichen  Glaubens.  Das  Wahngebilde  einer  von 
Anfang  an  fertigen  Vernunft  wurde  gestiirzt;  der  Abgott 
flheilige  Natur"  wurde  entlarvt;  das  ungeheure  Problem, 
welches  in  dem  leicht  hingenommenen  BegrifF  der  „ natur 
lichen  Religion"  liegt,  wurde  entschleiert.  An  die  Stella 
des  seichten  Geschwatzes  iiber  die  heilige  Natur  und  die 
profane  Geschichte,  iiber  die  „ ewigen  Vernunftwahrheiten" 
und  die  ^zufalligen  Historien"  trat  die  Erkenntnis  der  Ge 
schichte,  der  Geschichte,  aus  der  wir  empfangen  haben, 
was  wir  besitzen,  und  der  wir  verdanken,  was  wir  sind. 
Zwei  Begriffe  vornehmlich  traten  dabei  mit  steigender 
Klarheit  in  den  Vordergrund;  die  Entwicklung  und  die 
Personlichkeit.  Sie  bestrmmen  in  der  Spannung,  die  sie  in 


Q  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  I. 

sich   tragen,    die  Arbeit   des  Historikers,    welcher   der  Gre- 
schichte  nachdenkt. 

Mit  der  richtigen  Erkenntnis  von  der  Bedeutung  der 
G-eschichte  wurde  ihr  auch  die  Religion  zuriickgegeben : 
sie  ist  kein  fertiges  Grebilde,  sondern  sie  ist  geworden,  ge 
worden  innerhalb  der  Greschichte  der  Menschheit.  Die 
neuen  Stufen  in  ihr  sind  nicht  nur  Schein,  sondern  "Wirk- 
lichkeit;  ihre  Propheten  nnd  Stifter  sind  wahrhaft  Pro- 
pheten  nnd  Stifter  gewesen:  sie  haben  die  Menschheit  auf 
eine  hohere  Stufe  gehoben.  Die  Ehrfurcht  vor  dem  Greist 
in  der  Greschichte  und  der  Dank  gegen  alle  die,  von  denen 
wir  etwas  empfangen  haben,  ohne  die  wir  armer  in  unserem 
inneren  und  aufieren  Leben  waren,  mufi  daher  die  Be- 
trachtung  der  Geschichte  regieren. 

Damit  ist  eine  and  ere  Stimnmng  erzeugt,  wie  im  Zeit- 
alter  der  sog.  Aufklarung,  und  der  AngrifF  des  18.  Jahr- 
hunderts  auf  den  Zusammenhang  von  Eeligion  und  Gre 
schichte  ist  wirklich  zuriickgeschlagen.  Allein  eine  ganze 
Schlachtlinie  von  Angriffen  hat  sich  nun  in  unserer  Zeit 
entwickelt.  Da  begegnen  wir  zuerst  dem  Satze:  Eben 
weil  die  christliche  Religion  in  die  Greschichte  gehort  und 
alles  in  der  Greschichte  Entwicklung  ist,  ist  auch  sie 
lediglich  ein  Glied  in  dieser  Entwicklung,  und  ihrera 
Stifter  darf  daher  eine  besondere,  einzigartige  Stellung 
nicht  zugesprochen  werden.  Grelingt  es,  diesen  Angriff  zu 
widerlegen,  so  erhebt  sich  ein  neuer  Gregner  und  ruft:  Mag 
auch  der  Stifter  der  christlichen  Religion  ein  unvergleichlicher 
Mann  gewesen  sein  —  er  hat  vor  vielen  Jahrhunderten 
gelebt,  und  es  ist  daher  unmoglich,  mit  unseren  Sorgen 
und  Noten  zu  ihm  zu  kommen  und  ihn  als  den  Fels  unseres 
Lebens  zu  ergreifen;  nicht  die  Person  kann  mehr  in  Be- 
tracht  kommen,  sondern  nur  die  Lehre,  das  ^Prinzip". 
Wird  endlich  auch  dieser  Feind  zuriickgeschlagen,  so  folgt 
noch  ein  Angriff.  Man  ruft  uns  zu:  Ihr  mogt  von  Jesus 
Christus  sagen,  was  ihr  wollt,  und  er  mag  das  alles  ge- 


Das  Christentum  nnd  die  Geschichte.  7 

wesen  sein,  was  ihr  sagt;  aber  ikr  habt  dafiir  keine  Sicher- 
heit;  denn  die  geschichtliche  Kritik  hat  sein  Bild  zmn 
Teil  aufgelost,  zum  Teil  unsicher  gemacht,  und  ware  es 
auch  noch  zuverlassiger  als  es  ist  —  einzelne  geschichtliche 
Tatsachen  konnen  niemals  so  sicher  gewuGt  werden,  dafi 
sie  den  religiosen  Glauben  zu  begriinden  vermogen. 

Das  sind  die  drei  Mauern,  die  wider  den  Glauben  der 
Kirche  aus  der  Geschichte  aufgerichtet  worden  sind.  Um 
diese  Fragen  dreht  sich  aller  Streit;  aller  heimliche  und 
offene  Zweifel  hat  vornehmlich  hier  seinen  Grund,  und  in 
irgend  einer  Form  hat  auch  ein  Jeder  unter  uns  diese 
Zweifel  schon  gehegt  und  erwogen. 

I. 

Was  nun  zunachst  den  ersten  Angriff  betrifft,  so  ist 
er  der  weitgehendste,  aber  auch  der  schwachste.  Gewifi,  es 
ist  die  Starke  unserer  heutigen  Geschichtsbetrachtung,  daG 
wir  iiberall  darauf  bedacht  sind,  die  Entwicklung  nach- 
zuweisen  und  zu  zeigen,  wie  eines  aus  dem  anderen  ge- 
worden  ist.  Dafi  dies  die  Aufgabe  des  Historikers  ist,  ist 
eine  Einsicht,  die  niemals  mehr  unter gehen  kann.  DaC 
ein  wahrhaftes  Verstandnis  der  Geschichte  nur  auf  diesem 
"Wege  gewonnen  werden  kann,  unterliegt  keinem  Zweifel, 
und  auch  die,  welche  uber  die  moderne  Geschichtswissen- 
schaft  schelten,  vermogen  sich  dem  Eindruck  ihrer  Methode 
nicht  zu  entziehen.  Sie  besorgen  die  Arbeit  nur  unvoll- 
kommen  und  schlecht,  welche  die  Gescholtenen  besser  be 
sorgen.  Allein  nur  in  der  Verblendung  kann  man  be- 
haupten,  dafi,  weil  alle  Geschichte  Entwicklungsgeschichte 
ist,  sie  als  ProzeU  naturhaften  Geschehens  dargestellt  werden 
miisse  und  konne.  Die  Versuche,  die  in  dieser  Bichtung 
gemacht  worden  sind  und  noch  gemacht  werden,  tragen 
bisher  ihre  Widerlegung  in  sich  selber.  Hochstens  in  der 
Wirtschaffcsgeschichte  lafit  sich  eine  gewisse  Stringenz  der 
Erscheinungen  nachweisen,  wo  der  Kampf  um  das  materielle 


8  Z  welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  I. 

Dasein  regiert;  aber  auch  dort  1st  er  imrner  wieder  durch- 
brochen  durch  ideelle  Momente,  welche  in  kraftiger  Weise 
eingreifen.  In  der  Q-eschichte  der  Ideen  und  sittlichen 
Maximen  aber  kommt  man  mit  dem  plumpen  Schema  der 
Verursachung  durch  die  Umstande  vollends  nicht  aus. 
Zwar  hat  auch  hier  dieses  Schema  noch  einen  weiten  Spiel- 
raum  —  einen  viel  weiteren,  als  friihere  Geschlechter  ge- 
ahnt  haben:  aus  der  zwingenden  und  treibenden  Not  ist 
so  mancher  Fortschritt  geboren;  wir  vermogen  noch  heute 
seine  Ursachen  zu  ermitteln  und  sein  Werden  zu  belauschen. 
Allein  ohne  die  Kraft  und  die  Tat  eines  Einzelnen,  einer 
Personlichkeit,  vermag  sich  nichts  Grrofies  und  Forderndes 
durchzusetzen.  Woher  aber  stammt  die  Kraft  des  Kraftigen 
und  die  Tat  des  Handelnden?  Woher  kommt  es,  dafi  eine 
fordernde  Einsicht,  ein  rettender  Gredanke  unfruchtbar  und 
wertlos  wie  ein  toter  Stein  von  einer  Generation  der  anderen 
vererbt  wird,  bis  einer  ihn  ergreift  und  aus  ihm  Funken 
schlagt?  Woher  kommt  jene  Zeugung  hoherer  Ordnung, 
wo  ein  Gredanke  und  eine  Seele  sich  vermahlen,  um  inein- 
ander  aufzugehen,  um  ewig  einander  zu  gehoren  und  den 
Willen  zu  bemeistern?  Woher  kommt  der  Mut,  den  Wider- 
stand  der  stumpfen  Welt  zu  besiegen?  Woher  kommt  die 
zeugende  Kraft,  welche  Uberzeugung  wirkt?  Eine  stumpfe 
Psychologie  sieht  nicht,  dafi  dies  die  eigentlichen  Hebel  der 
Greschichte  sind;  sie  fragt  nur:  hat  der  Mann  etwas  Neues 
gesagt?  lafit  sich  dieses  Neue  nicht  aus  dem,  was  voran- 
ging,  ableiten?  und  sie  gibt  sich  zufrieden,  wenn  sie  richtig 
ermittelt  hat,  dafi  es  nur  ,,relativu  neu  war  und  daB 
eigentlich  gar  nichts  besonderes  geschehen  ist.  Nein  —  nicht 
nur  im  Anfang  war  das  Wort,  das  Wort,  welches  zugleich 
Tat  und  Leben  ist,  sondern  immerfort  in  der  Greschichte 
hat  in  und  iiber  der  treibenden  Not  das  lebendige,  mutige, 
tatkraftige  Wort,  namlich  die  Person,  gewaltet.  GrewiO, 
auch  hier  gibt  es  Vermittelungen  und  Entwicklungen. 
Keine  Fackel  entziindet  sich  von  selber;  ein  Prophet  er- 


Das  Christentum  und  die  Greschichte.  9 

weckt  den  anderen;  aber  diese  geheimnisvolle  Entwicklung 
kann  von  tins  nicht  durchschaut,  sondern  nur  geahnt 
werden. 

Was  von  der  Geschichte  im  allgemeinen  gilt,  von  alien 
ihren  Linien,  auf  denen  sich  iiberhaupt  geistiges  Leben 
abspielt,  das  gilt  im  hoehsten  Sinne  von  der  Religion,  die 
das  tiefste  Thema  der  Q-eschichte  ist.  wDer  Mensch  lebt  niclit 
vom  Brot  allein,  sondern  von  einem  jeglichen  "Wort,  das 
durch  den  Mund  Grottes  geht!"  Klarer  und  einfacher  sind 
die  beiden  gmGen  Mittelpunkte  alles  Geschehens  niemals 
ausgesprochen  worden,  und  unsere  Historiker  haben  an 
diesem  Worte  noch  immer  zu  lernen,  um  sich  niclit  zu  ver- 
lieren.  Auch  von  der  Religion  aber  gilt,  dafi  sie  eine  Ent 
wicklung  durchgernacht  hat  und  in  bestandiger  Entwick- 
lung  begriffen  ist.  Auch  an  ihrer  Geschichte  laflt  sich 
nachweisen,  daB  die  Not  getrieben  hat,  jene  Not,  die  beten 
lehrt,  und  jene  Not,  die  da  stumpf  macht  oder  nach  Stroh- 
halmen  greift.  Aber  eben  diese  Greschichte  zeigt  auch,  dafi 
kein  Aufstreben  und  kein  Fortschritt  jemals  vorhanden 
gewesen  ist,  ohne  das  wunderbare  Eingreifen  einer  Person. 
Nicht  was  sie  sagte,  war  das  iiberraschend  Neue  —  sie 
kam,  als  die  Zeit  erfullt  war,  und  sie  sprach  das  aus,  was 
die  Zeit  bedurfte  — ,  aber  wie  sie  es  sagte,  wie  es  in  ihr 
Kraft  und  die  Macht  eines  neuen  Lebens  wurde,  wie  sie 
es  fortzeugte  in  ihren  Jiingern,  das  war  ihr  Geheimnis 
und  das  war  das  Neue.  Mit  Ehrfurcht  schaut  die  Mensch- 
heit  zu  alien  den  grofien  G-eistern  auf,  die  ihr  geschenkt 
worden  sind,  den  Forschern,  den  Kiinstlern,  den  Helden; 
aber  nur  ihre  Propheten  und  Religionsstifter  verehrt  sie; 
denn  sie  empnndet,  dafi  hier  eine  Kraft  gewaltet  hat,  die 
von  der  Welt  befreit  und  iiber  das  gemeine  Geschehen 
erhebt. 

Aber  wenn  wir  so  alle  Propheten  und  Heligionsstifter 
in  eine  Einheit  zusammenfassen,  so  scheint  die  besondere 
Bedeutung  des  Stifters  unserer  Religion  doch  wieder  zu 


10  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  I. 

schwinden.  Gewifi  niclit.  Denn  es  gibt  keinen  konkreten 
Gattungsbegriff,  der  die  Verschiedenheiten  derer,  die  wir 
mit  Recht  Propheten  und  Religions stifter  nennen,  um- 
spannen  konnte.  Ein  jeder  von  ihnen  ist  eine  Grofie  fiir 
sich  und  mufi  fiir  sich  beurteilt  werden.  Es  hat  heilige 
und  unheilige  Religions  stifter  gegeben  nnd  erhabene  und 
wunderliche  Propheten.  Eine  unerschopfliche  Fiille  von 
Gaben  und  Kraften  ist  iiber  sie  ausgegossen;  Mafi,  Haltung, 
Zweck  —  alles  ist  bei  ihnen  verschieden;  alles  wiirde  ver- 
wischt  werden,  wenn  das  nicht  beachtet  wird.  Auch  ware 
es  ein  torichtes  Unterfangen,  von  vornherein  vorschreiben 
zu  wollen,  in  welchem  Mafie  der  Geist,  namlich  der  Greist 
Grottes,  in  den  Einzelnen  gewaltet  hat.  Das  ist  allein  von 
der  Erscheinung  selbst  zu  lernen.  Nur  von  Einem  aber 
wissen  wir,  dafi  er  die  tiefste  Demut  und  die  Reinheit  des 
"Willens  verbunden  hat  mit  dem  Anspruch,  mehr  zu  sein 
als  alle  Propheten,  die  vor  ihm  gewesen  sind:  der  Sohn 
Grottes.  Nur  von  ihm  wissen  wir,  dafi  die,  die  mit  ihm  ge- 
gessen  und  getrunken  haben,  ihn  nicht  nur  als  ihren 
Lehrer,  Propheten  und  Konig  gepriesen  haben,  sondern  als 
den  Fiirsten  des  Lebens,  als  den  Erloser  und  Weltrichter, 
als  die  lebendige  Kraft  ihres  Daseins  —  nicht  ich  lebe, 
sondern  Christus  lebet  in  mir  — ,  und  dafi  bald  mit 
ihnen  ein  Chor  von  Juden  und  Heiden,  von  Weisen  und 
Toren  bekannt  hat,  aus  der  Fiille  dieses  einen  Mannes 
Grnade  um  Gnade  zu  nehmen.  Diese  Tatsache,  die  am 
hellen  Tage  liegt,  ist  einzigartig  in  der  Geschichte,  und 
sie  verlangt,  dafi  das  Faktum  der  Person,  die  hinter  ihr 
liegt,  als  ein  einzigartiges  respektiert  wird. 

II. 

Damit  haben  wir  auf  den  ersten  Einwurf  geantwortet, 
dafi  der  Person  Jesu  Christi  wegen  der  vorausgesetzten 
Form  aller  Geschichte  als  Entwicklung  keine  besondere, 
einzigartige  Stellung  zugewiesen  werden  diirfe.  Allein  es 


Das  Christentum  und  die  Geschichte.  H 

erhebt  sich  nun  ein  schwerer  Angriff.  Mag  auch,  sagt 
man,  der  Stifter  der  christlichen  Religion  ein  unvergleich- 
licher  Mann  gewesen  sein  —  er  hat  vor  vielen  Jahrhun- 
derten  gelebt,  und  es  ist  daher  unmoglich,  ihn  in  unser 
religioses  Leben  aufzunehmen  und  als  den  Fels  desselben 
zu  ergreifen;  nicht  die  Person  konne  mehr  in  Betracht 
kommen,  sondern  nur  die  Lehre,  oder  wie  man  auch  sagt, 
das  Prinzip.  Ja  der  Einwurf  wird  noch  scharfer  also  for- 
muliert:  in  der  Religion  kommt  es  lediglich  auf  das  Ver- 
haltnis  zu  Gott  an  —  Gott  und  die  Seele;  die  Seele  und 
Gott  — ;  alles,  was  sich  in  dies  Wechselverhaltnis  ein- 
schieben  will,  hebt  seine  Ausschliefllichkeit  auf  und  stort 
seine  Innigkeit  und  Freiheit. 

Ich  konnte  versuchen,  diesem  Einwurfe  mit  dem  Hin- 
weise  auf  die  kirchliche  Lehre  von  der  Erlosung  und  Ver- 
sohnung  durch  Jesus  Christus  zu  begegnen ;  allein  ich  nmfite 
fiirchten,  damit  ein  geringes  Verstandnis  zu  erzielen;  denn 
wie  die  Kirche  jene  Lehre  formuliert  hat,  gehort  sie  heute 
zu  den  am  wenigsten  verstandenen  und  daher  am  meisten 
bezweifelten  Stiicken.  Das  ist  eine  Tatsache,  mag  man  auch 
iiber  ihr  Recht  wie  imrner  urteilen.  Ich  will  daher  einen 
anderen  Weg  zu  gehen  versuchen.  Zunachst  —  es  ist  voll- 
kommen  richtig:  die  Religion  ist  ein  Verhaltnis  der  Seele 
zu  Gott  und  nichts  anderes.  DaB  der  Mensch  Gott  finde, 
ihn  habe  als  seinen  Gott,  in  seiner  Furcht  atme,  ihm  ver- 
traue,  in  dieser  Kraft  ein  heiliges  und  seliges  Leben  fuhre, 
das  ist  Inhalt  und  Ziel  der  Religion.  Dariiber  hinaus  gibt 
es  nichts  anderes  und  daneben  darf  nichts  Fremdes  bestehen: 
,,Befiehl  du  deine  Wege  und  was  dein  Herze  krankt,  der 
allertreusten  Pflege  deB.  der  den  Himmel  lenkt."  Je  kraf- 
tiger  und  reiner  die  Frominigkeit  ist,  desto  sicherer  schliefit 
sie  sich  in  diesem  Wort  zusammen.  Das  bezeugen  die 
Jiinger  Christi  aller  Zeiten;  das  bezeugt  der  Herr  selbst, 
indem  er  uns  das  Vater-Unser  beten  gelehrt  hat,  und  darum 
diirfen  wir  auch  die  Theologen  nicht  schelten,  welche  den 


12  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  I. 

Inhalt  der  Religion  also  zusammenfassen.  Allein  es  gilt 
von  der  Religion  im  hochsten  Sinne,  was  von  alien  sitt- 
lichen  G-iitern  gilt,  dafi  ein  Anderes  ist,  ihre  Wahrheit  zu 
erkennen,  ein  Anderes  ihre  Kraft  zu  besitzen.  "Wir  konnen 
das  Recht  der  christlichen  Religion,  den  Frieden  und  die 
Schonheit  eines  frommen  Lebens  erkennen  und  anerkennen, 
und  konnen  doch  ganz  unfahig  sein,  uns  zu  ihm  zu  erheben. 
Es  kann  vor  unseren  Augen  schweben  wie  ein  glanzender 
Stern,  aber  es  brennt  nicht  als  ein  Feuer  in  unserer  Brust. 
"Wir  konnen  die  Schranken,  denen  wir  entniehen  wollen, 
auf  das  lebhafteste  empfinden  und  doch  vollig  aufier  stande 
sein,  uns  von  ihnen  zu  befreien.  Wir  konnen  nicht  nur  so 
sein  —  so  sind  wir.  Wer  diese  Erfahrung  gemacht  hat 
und  immer  wieder  macht,  aber  aus  ihr  gerettet  wird,  der 
weifi  es,  dafi  er  gerettet  wurde,  weil  Gott  zu  ihm  gespro- 
chen  hat.  Wer  diese  Stimme  Gottes  nicht  selbst  vernimmt, 
der  ist  ohne  Religion.  ,,Rede,  Herr,  dein  Knecht  horet" 
ist  die  Form,  in  der  es  allein  religioses  Leben  gibt. 

So  verschieden  die  Fuhrungen  eines  menschlichen  Le 
bens  sind,  so  verschieden  redet  auch  Gott.  Das  aber  wissen 
wir,  dafi  diejenigen  unter  uns  selten  sind,  welche  ohne 
menschliche  Hilfe  und  Vermittelung  in  dem  geschlossenen 
Kreise  ihres  inneren  personlichen  Lebens  G-ottes  Stimme 
horen  und  verstehen.  Vielmehr,  ein  Christ  erzieht  den  an- 
deren,  an  einem  Gremut  entziindet  sich  das  andere,  und  die 
Kraft,  das  zu  wollen,  was  man  billigt,  entspringt  aus  der 
geheimnisvollen  Macht,  durch  die  ein  Leben  das  andere  er- 
weckt.  Am  Ende  dieser  Reihe  von  Boten  und  Kraften 
Gottes  steht  Jesus  Christus.  Auf  ihn  weisen  sie  zuruck; 
von  ihm  ist  das  Leben  ausgestromt,  das  sie  jetzt  als  ihr 
Leben  in  sich  tragen.  Verschieden  ist  das  Mafi  der  be- 
wufiten  Beziehung  auf  ihn  —  wer  konnte  das  leugnen!  — , 
aber  sie  alle  leben  von  ihm  und  durch  ihn. 

Hier  stellt  sich  eine  Tatsache  dar,  die  dieser  Person,  in 
der  Geschichte  fortwirkend,  einen  unvergleichlichen  Wert 


Das  CJaristentum  und  die  Geschichte.  13 

verleiht;  aber  der  Einwurf,  um  den  es  sich  handelt,  ist  doch 
noch  nicht  erschopft.  Jesus  Christus  bleibt  eine  GrroBe  der 
Vergangenheit,  wenn  auch  eine  fortwirkende.  Allein  so 
meint  es  der  christliche  Grlaube  nicht,  wenn  er  uns  auf  ihn 
verweist.  Wir  miissen  diesen  Grlauben  tiefer  zu  erfassen 
suchen,  um  das  Recht  seiner  Meinung,  wenn  er  anders  im 
Rechte  ist,  zu  verstehen. 

Der  christliche  Grlaube  ist  nicht,  wie  manchmal  so 
gesprochen  wird,  die  sanfte  Verklarung  des  irdischen  Le- 
bens  oder  eine  gemiitvolle  Zugabe  zu  den  Miihen  und 
Harten  desselben.  Nein  —  er  ist  Entscheidung  fur  Grott 
und  wider  die  Welt.  Es  handelt  sich  in  ihm  um  ein  ewi- 
ges  Leben;  es  handelt  sich  um  die  Anerkemmng,  dafi  es 
in  und  iiber  der  K"atur  und  ihrem  Greschehen  ein  Reich 
der  Heiligkeit  und  der  Liebe  gibt,  eine  Stadt,  nicht  mit 
Handen  gebaut,  deren  Burger  wir  sein  sollen.  Und  im  Zu- 
sammenhang  mit  dieser  Botschaft  geht  an  uns  die  Forde- 
rung  der  Sinnesanderung  und  der  Selbstverleugnung,  und 
wir  empfinden,  dafi  hier  ein  Entweder  —  Oder  gilt,  welches 
iiber  unser  inneres  Leben  entscheidet.  Ist  in  diesem  Kampf 
der  Sieg  moglich?  und  handelt  es  sich  in  ibm  um  eine 
hohere  Wirklichkeit,  gegenuber  der  die  Welt  nichts  gilt? 
oder  tauschen  wir  uns  etwa  selbst  iiber  unsere  Grefiihle 
und  Ahnungen?  sind  wir  vielleicht  doch  ganz  und  gar  ein- 
geschlossen  in  den  King  der  unfreien  Natur,  in  den  Ring 
unseres  irdischen  Daseins  und  schlagen  uns  nur  mit  unseren 
eigenen  Schatten  und  mit  Gespenstern  jammerlich  herum? 
Das  sind  die  Fragen  der  Fragen  und  die  Zweifel  der  Zweifel. 
Nun,  seitdem  es  christlichen  Grlauben  gibt,  werden  sie  ge- 
lost  durch  den  Hinblick  auf  Jesus  Christus  —  gelost  nicht 
in  der  Form  philosophischer  Demonstration,  sondern  mit 
dem  Blick  des  Vertrauens  auf  sein  Lebensbild.  Wenn  uns 
Q-ott  und  alles  Heilige  in  den  Schatten  zu  versinken  droht, 
oder  wenn  das  Grericht  iiber  uns  hereinbricht,  wenn  uns 
die  machtigen  Eindriicke  des  unerbittlichen  Naturlebens 


14  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  I. 

iiberwaltigen  nnd  die  Grenze  zwischen  Gut  und  Bose  zu 
zerfliefien  scheint,  wenn  wir  selbst  stumpf  und  iiberdriissig 
werden,  daran  verzweifelnd ,  dafi  in  dieser  dunkeln  Welt 
Gott  erkennbar  ist,  dann  vermag  uns  seine  Person  zu  retten. 
Hier  ist  ein  Leben  gelebt,  ganz  in  der  Furcht  Gottes,  fest, 
selbstlos  und  rein;  hier  schimmert  und  leuchtet  eine  Hoheit 
und  eine  Liebe,  die  uns  zu  sich  zieht.  Hier  war  alles  ein 
fortwahrender  Kampf  mit  der  Welt;  stiickweise  ging  ein 
irdisches  Gut  nach  dem  anderen  verloren.  Zuletzt  ging 
dieses  Leben  selbst  schmahlich  unter,  und  doch  —  keine 
Seele  kann  sich  dem  Eindruck  entziehen:  Wer  so  stirbt, 
der  stirbt  wohl ;  der  stirbt  nicht,  sondern  er  lebt.  An  diesem 
Leben  und  Sterben  ist  der  Menschheit  die  Gewifiheit  eines 
ewigen  Lebens  und  einer  gottlichen  Liebe,  die  alle  Ubel, 
ja  selbst  die  Siinde  iiberwindet,  erst  aufgegangen.  Der 
Unwert  der  Welt  und  aller  irdischen  Giiter  ist  ihr  aufge 
gangen  gegeniiber  einer  Herrlichkeit,  der  der  Tod  niehts 
anhaben  kann.  Achtzehn  Jahrhunderte  trennen  uns  von 
dieser  Geschichte,  aber  wenn  wir  uns  ernstlich  fragen,  was 
gibt  uns  den  Mut  zu  glauben,  dafi  Gott  in  der  Geschichte 
waltet,  nicht  nur  durch  Lehren  und  Erkenntnisse,  sondern 
mitten  in  ihr  stehend,  was  gibt  uns  den  Mut  an  ein  ewiges 
Leben  zu  glauben,  so  antworten  wir:  wir  wagen  es  auf 
Christus  hin.  n  Jesus  lebt,  mit  ihm  auch  ich."  Er  ist  der 
Erstgeborene  unter  vielen  Briidern;  er  verbiirgt  uns  die 
Wirklichkeit  der  zukiinftigen  Welt.  Deshalb  —  durch  ihn 
redet  Gott  zu  uns.  Als  der  Weg,  die  Wahrheit  und  das 
Leben  ist  dieser  Jesus  Christus  bezeugt:  als  solcher  offen- 
bart  er  sich  noch  eben  unserem  inneren  Sinn,  und  darin 
besteht  seine  Gegenwart  fur  uns.  So  gewifi  alles  nur  darauf 
ankommt,  dafi  die  Seele  Gott  findet  und  sich  mit  ihm  zu- 
sammenschliefit,  so  gewifi  ist  er  der  rechte  Heiland,  Fiihrer 
und  Herr,  der  sie  zu  ihm  fiihrt.  Was  die  christliche  Kirche 
von  ihm  verkiindet,  dafi  er  lebt,  ist  eine  Wahrheit,  die  noch 
heute  erprobt  wird,  und  auch  darin  hat  sie  Hecht,  dafi  sie 


Das  Christentum  und  die  Geschichte.  15 

uns  vor  seine  Leiden  und  seinen  Tod  fiihrt.  Aber  davon 
wollen  wir  heute  nicht  sprechen  und  iiberhaupt  nicht  so 
davon  reden,  wie  oft  geredet  wird.  Dafi  das  Leiden  des 
G-erechten  das  Heil  in  der  Geschichte  ist,  das  empfmden 
wir  in  dem  Mafie,  als  unser  Sinn  aufgeschlossen  ist  fur 
den  Ernst  des  sittlichen  Kampfes  und  empfanglich  fiir  den 
Eindruck  des  personlichen  Opfers.  Aber  ,,wir  ziehen  einen 
Schleier  iiber  die  Leiden  Christi,  eben  weil  wir  sie  so  hoch 
verehren;  wir  halten  es  fiir  eine  verdammungswiirdige 
Frechheit,  mit  diesen  tiefen  Geheimnissen,  in  welchen  die 
gottliche  Tiefe  des  Leidens  verborgen  liegt,  zu  feilschen 
und  zu  rechnen  oder  zu  spielen  und  zu  tandeln,  und  nicht 
eher  zu  ruhen,  als  bis  auch  das  Wiirdigste  gemein  und 
abgeschmackt  erscheint".  Und  dann  —  wir  sollen  nicht 
vergessen,  dafi  aller  Glaube  an  Christus  ein  bloBes  7)Herr, 
Herr"  sagen  ist,  wenn  er  nicht  zur  Kraft  des  Gehorsams 
im  Guten  wird.  Er  selbst  hat  nicht  die  seine  Briider  und 
Schwestern  genannt,  die  ihn  schauen  oder  seinen  Namen 
in  der  Welt  aufrichten  wollten,  sondern  die  den  Willen 
seines  Vaters  im  Himmel  tun.  Nach  diesen  Worten  haben 
wir  alien  Christusglauben  zu  beurteilen. 

in. 

DaB  Jesus  Christus  trotz  der  achtzehnhunclert  Jahre, 
die  uns  von  ihm  trennen,  eine  Stelle  haben  kann  und  hat 
in  dem  religiosen  Leben  des  Christen,  daB  seine  Person, 
nicht  nur  seine  Lehre,  auch  heute  noch  gesetzt  ist  zum 
Auferstehen,  das  versuchte  ich  zu  zeigen.  Aber  noch  ein 
dritter  und  letzter  Angriif  steht  bevor:  ,,Ihr  mogtu,  ruft 
man  uns  zu,  nvon  Jesus  Christus  sagen  was  ihr  wollt,  und 
er  mag  das  alles  gewesen  sein,  was  ihr  sagt  —  aber  ihr 
habt  dafur  keine  Sicherheit;  denn  die  geschichtliche  Kritik 
hat  sein  Bild  zum  Teil  aufgelost,  zum  Teil  unsicher  ge- 
macht,  und  ware  es  auch  noch  zuverlassiger  als  es  ist  — 
einzelne  geschichtliche  Tatsachen  konnen  niemals  so  sicher 


1(5  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  I. 

gewuOt  werden,    dafl   sie   den    religiosen   Grlauben  zu  be- 
griinden  vermogen." 

Dieser  Angriff  ist  der  schwerste,  und  wenn  er  in  alien 
Stricken  Recht  haben  sollte,  stande  es  schlimm:  ^Die  ge- 
schichtliclie  Kritik  hat  sein  Bild  zum  Teil  aufgelost,  zum 
Teil  unsicher  gemacht."  So  scheint  es  bei  dem  ersten  An- 
blicke  wirklich.  Ich  sehe  von  jenen  Erzeugnissen  der  Kri- 
tik  ab,  die  heute  bliihen  und  morgen  in  den  Ofen  ge- 
worfen  werden;  ich  rede  nur  von  dem,  was  immer  wieder 
und  mit  steigender  Kraft  vorgetragen  wird.  Blicken  wir 
zuerst  auf  die  auCeren  geschichtlichen  Tatsachen:  erschiittert 
ist  die  IJberlieferung  von  den  Anfangen  der  Lebensge- 
schiclite  Jesu  Christi;  erschiittert  ist  die  Grlaubwiirdigkeit 
so  mancher  Q-eschichten,  die  von  ihrn  erzahlt  werden,  und 
die  alten  schweren  Zweifel,  welche  die  Bericnte  iiber  die 
Vorgange  des  Ostermorgens  erwecken,  kann  die  Kritik 
nicht  beseitigen.  Was  aber  sein  Lebensbild,  die  Reden 
und  die  Lehre  betrifft,  so  scheint  die  geschiclitliche  Be- 
trachtung  sie  vollig  umzugestalten.  Der  schlichte  Bibelleser 
ist  gewohnt,  alle  Ziige,  die  ihm  hier  entgegentreten,  aufier- 
und  uberzeitlich  zu  fassen.  Er  sieht  und  empfmdet  nur, 
was  er  fur  den  eigentlichen  Kern  der  Erzahlung  halt,  der 
ihn  selber  angeht,  und  hiernach  ist  auch  einst  von  der 
Kirche  die  christliche  Lehre  festgestellt  worden.  Aber  die 
geschichtliche  Betrachtung  darf  und  will  die  konkreten 
Ziige  nicht  iibersehen,  in  denen  Leben  und  Lehre  einst 
wirklich  gewesen  sind.  Sie  sucht  nach  den  Zusammen- 
hangen  mit  der  alttestamentlichen  Entwicklung,  mit  dem 
religiosen  Leben  der  Synagoge,  mit  den  damaligen  Zu- 
kunftserwartungen,  mit  dem  ganzen  geistigen  Zustande  der 
romisch-griechischen  Welt,  und  sie  findet  diese  Zusammen- 
hange  ungesucht.  Damit  erscheinen  die  Spriiche  und  E/eden 
des  Herrn,  erscheint  sein  Lebensbild  selbst  nicht  nur  in 
einer  ganz  bestimmten  zeitgeschichtlichen  Farbung,  sondern 
auch  in  einer  bestimmten  Beschrankung.  Es  gehort  in 


Das  Christentum  und  die  Geschiclite.  17 

diese  Zeit  und  Umgebung  hinein;  in  keiner  anderen  konnte 
es  stehen.  Allein  es  wiirde  doch  nur  dann  etwas  an  seiner 
Gultigkeit  und  Kraft  verlieren,  wenn  sich  nachweisen  liefie, 
dafl  nun  der  Kern  der  Erscheinung  und  der  Sinn  und  der 
eigentliche  Treffpunkt  der  Reden  ein  anderer  geworden  ist. 
Ich  kann  nicht  finden,  dafi  die  geschichtliche  Kritik  daran 
irgend  etwas  geandert  hat.  Dasselbe  gilt  von  seinem  Selbst- 
zeugnis.  Ja,  wenn  die  geschichtliche  Forschung  nach- 
gewiesen  hatte,  dafi  er  ein  apokalyptischer  Schwarmer  oder 
ein  Traumer  gewesen  ist,  dessen  "Wort  und  Bild  erst  durch 
die  Sublimierungen  der  Folgezeit  auf  die  Hohe  reiner  Ab- 
sichten  und  erhabener  Gedanken  gebracht  worden  sei,  dann 
stande  es  anders.  Aber  wer  hat  das  nachgewiesen  und  wer 
konnte  es  nachweisen?  AuCer  den  vier  geschriebenen  Evan- 
gelien  besitzen  wir  noch  ein  funftes,  ungeschriebenes,  und  es 
spricht  in  mancher  Hinsicht  deutlicher  und  eindrucksvoller 
als  die  vier  anderen  —  ich  meine  das  Gesamtzeugnis  der 
christlichen  Urgemeinde.  Aus  ihm  konnen  wir  entnehmen, 
was  der  durchschlagende  Eindruck  dieser  Person  gewesen  ist 
und  in  welcher  Bichtung  seine  Jiinger  sein  Wort  und 
Selbstzeugnis  verstanden  haben.  Grewifi  —  auch  seine 
Kleider  sind  vererbt  worden;  aber  die  schlichten  und  grofien 
Grundwahrheiten,  fur  die  er  eingetreten  ist,  das  pp.rsoTilir.he 
Opfer,  das  er  gebracht  hat,  und  der  Sieg  im  Tode,  sie 
sind  das  neue  Leben  seiner  Gemeinde  geworden,  und  wenn 
der  Apostel  Paulus  Rom.  8  dieses  Leben  als  ein  Leben  im 
Geist  und  Kor.  13  als  ein  Leben  in  der  Liebe  mit  gott- 
licher  Kraft  geschildert  hat,  so  gab  er  nur  wieder,  was 
ihm  an  seinem  Herrn  Jesus  Christus  aufgegangen  war.  An 
diesem  Tatbestande  vermag  keine  geschichtliche  Kritik 
etwas  zu  andern;  sie  kann  ihn  nur  reiner  ans  Licht  stellen 
und  unsere  Ehrfurcht  vor  dem  Gottlichen,  das  an  einem 
Sohne  Abrahams  inmitten  einer  engen  Welt  und  unter 
Schutt  und  Trummern  aufgestrahlt  ist,  steigern.  Der 
schlichte  Bibelleser  soil  nur  fortfahren,  die  Evangelien  so 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    II.  2 


IS  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  I. 

zu  lesen,  wie  er  sie  bisher  gelesen  hat;  denn  auch  der 
Kritiker  vermag  sie  schliefilich  niclit  anders  zu  lesen.  Was 
jener  fur  ihren  eigentlichen  Kern  und  Treffpunkt  halt,  das 
mufi  auch  dieser  als  solchen  anerkennen. 

Aber  die  Tatsachen,  die  Tatsachen!  Ich  weifi  nicht, 
wie  es  eine  grofiere  Tatsache  geben  kann  als  die  bisher  be- 
schriebene.  Was  will  irgend  eine  geschichtliche  Einzelheit 
neben  ihr  bedeuten?  Was  sie  bedeutet,  antwortet  man, 
das  liegt  am  Tage.  Nur  die  aufiere  Tatsache,  und  zwar 
die  wunderbare,  gibt  uns  die  letzte  und  allein  sichere  Ver- 
biirgung,  dafi  unserem  Grlauben  eine  Wirklichkeit  entspricht, 
dafi  seine  Objekte  nicht  blofie  Gredankengebilde  sind,  son- 
dern  dafi  Grott  selbst  die  G-eschichte  leitet  und  zum  Ziel 
fiihrt.  Ich  kenne  das  Grewicht  dieser  Behauptung  wohl 
und  bin  weit  entfernt,  jedem  gegeniiber  ihr  Recht  zu  be- 
streiten.  Ach,  dafi  du  die  Himmel  zerrissest  und  hernieder 
fiihrest,  dafi  wir  dich  schauen  konnen  —  ist  eine  Klage, 
die  oft  geklagt  ist.  Aber  das  weifi  ich  auch,  dafi  sie  nicht 
aus  der  Tiefe  und  Kraft  des  Grlaubens  geboren  ist,  den  der 
Apostel  Paulus  beschreibt,  und  dafi  sie  leicht  unter  das 
Wort  des  Herrn  fallt:  wWenn  ihr  nicht  Wunder  und  Zeichen 
seht,  so  glaubt  ihr  nicht. "  Viel  vermag  die  aufiere  Autori- 
tat  in  der  Heligion;  viel  vermogen  Wunder  und  Zeichen; 
aber  der  Grlaube  und  die  Frommigkeit  konnen  ihre  letzte 
Sicherheit  nur  dort  haben,  wo  ihr  Inhalt  liegt.  Ihr  Inhalt 
ist  Q-ott  der  Herr,  ist  die  Zuversicht  auf  Jesus  Christus, 
dessen  Wort  und  G-eist  sich  als  die  Kraft  Grottes  dem  Herzen 
noch  heute  bezeugt.  Wehe  uns,  wenn  es  anders  ware,  wenn 
unser  Grlaube  auf  einer  Sum  me  von  Einzeltatsachen  beruhen 
wiirde,  die  der  Historiker  zu  demonstrieren  und  zu  ver- 
sichern  hatte.  Nur  ein  Sophist  aus  unserer  Zunft  konnte 
sich  anheischig  machen,  diese  Aufgabe  zu  losen;  denn  es 
ist  so:  keine  aufiere  Einzeltatsache  der  Vergangenheit  kann 
auf  den  Grrad  der  Evidenz  gebracht  werden,  dafi  man  auf 
sie  Hauser,  geschweige  die  ganze  Ewigkeit,  bauen  konnte. 


Das  Christentum  und  die  Geschichto.  19 

Was  wollen  alle  Zeugnisse,  Urkunden  und  Versicherungen 
besagen!  Aber  es  1st  em  Unterschied  zwischen  Tatsache 
und  Tatsache.  Das  einzelne  auflere  Faktum  bleibt  immer 
kontrovers;  in  diesem  Sinne  hat  Lessing  vollkommen 
Recht,  wenn  er  davor  warnt,  ,,zufallige  Geschiehtswahr- 
heiten"  mit  dem  Wichtigsten  zu  verkniipfen  und  an  einen 
Spinnefaden  das  ganze  Grewicht  der  Ewigkeit  zu  hangen. 
Aber  der  geistige  Inhalt  eines  ganzen  Lebens,  einer  Person, 
1st  auch  eine  geschichtliche  Tatsache,  und  sie  hat  ihre  Ge- 
wifiheit  an  der  Wirkung,  die  sie  ausubt.  Das,  was  uns  an 
Jesus  Christus  bindet,  liegt  in  diesem  Rahmen.  Es  ist  mit 
der  Frommigkeit  selbst  verkniipft,  und  von  diesem  Inhalt 
gilt  das  befreiende  Wort,  welches  derselbe  Lessing  ge- 
sprochen  hat:  wWenn  man  auch  nicht  imstande  sein  sollte, 
alle  Einwiirfe  gegen  die  Bibel  zu  heben,  so  bliebe  dennoch 
die  Religion  in  den  Herzen  derjenigen  Christen  unverriickt 
und  unverkummert,  welch  e  ein  inneres  Gtefuhl  von  den 
wesentlichen  Wahrheiten  derselben  erlangt  haben." 

Aber  sollen  nun  die  Uberlieferungen  einzelner  auBerer 
Tatsachen  nichts  bedeuten?  Wer  wollte  so  kurzsichtig 
oder  so  leichtfertig  sein,  das  zu  behaupten!  Weil  sie  nicht 
das  Fundament  sein  konnen,  sind  sie  noch  lange  nicht  be- 
deutungslos.  Zuvorderst  ist  zu  untersuchen,  ob  sie  nicht 
doch  wahr  und  wirklich  gewesen  sind.  Manches  was  einst 
schnell  verworfen  wurde,  hat  sich  eindringender  Unter- 
suchung  und  umfassender  Erfahrung  doch  wieder  erprobt. 
Wer  diirfte  heute  z.  B.  mit  den  wunderbaren  Kranken- 
heilungen  in  der  evangelischen  Greschichte  so  rasch  fertig 
werden,  wie  fruhere  Grelehrte! 

Sodann  gilt  von  alien  Erzahlungen,  dafi  sie  uns  zur 
Lehre  geschrieben  sind.  Es  ist  das  ein  Gresichtspunkt,  der 
im  Streit  um  sie  oft  ungebuhrlich  zuriicktritt,  wahrend  er 
doch  den  Absichten  der  altesten  Erzahler  und  dem  de- 
brauch  der  alten  Lehrer  entspricht.  Es  ist  das  Eigentum- 
liche  von  vielem,  was  sich  in  der  R/eligionsiiberlieferung  als 

2* 


20  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Keden:  I. 

gescliiclitlicli  gibt,  dafi  der  geistige  Inhalt,  der  darin  an- 
geschaut  wird,  die  Hauptsache  ist.  Man  verteidigt,  indem 
man  etwas  als  geschichtliche  Tatsache  verteidigt,  vielmelir 
den  Grlaubensgedanken,  den  man  damit  verbindet.  In  und 
dnrch  die  Verkiindigung  ?,Empfangen  vom  heiligen  deist" 
wird  die  Grottessohnschaft  Jesu  Christi  verkiindigt;  in  und 
mit  der  Botschaft  seiner  Himmelfahrt  wird  verkiindigt,  dafi 
er  bei  dem  Vater  lebt  und  regiert. 

Von  hier  aus  ergibt  sich  noch  eine  andere  Bedeutung 
einzelner  aufierer  Tatsachen  fur  die  Religion,  die  mit  der 
eben  genannten  nahe  verwandt  ist.  Sie  sind  dem  Grlauben 
das  gewesen,  was  der  Pfahl  dem  "Weinstock  oder  was  das 
schiitzende  Dach  der  zarten  Pflanze  ist.  Sie  haben  ihm 
Halt  und  Richtung  gegeben  oder  haben  seine  Entwicklung 
vor  "Wind  und  Wetter  geschutzt.  Und  was  sie  einst  ge- 
leistet  haben,  das  leisten  sie  heute  noch  Vielen.  Die  Schwie- 
rigkeit  besteht  nur  darin,  dafi  der  Grlaube  des  einen  eines 
festen  Stabes  oder  eines  schiitzenden  Daches  bedarf,  wahrend 
dieser  Stab  in  der  Hand  des  anderen  zerbricht  und  sein 
Grlaube  nur  in  der  Freiheit  des  Sonnenlichtes  gesund  bleibt. 
Endlich  aber,  Vieles  und  das  Ergreifendste,  was  uns  in  dem 
Neuen  Testamente  als  G-eschichte  erzahlt  ist,  ist  uns  nicht 
nur  zur  Lehre  gesagt,  sondern  es  hat  auch  in  der  gegebenen 
Form  eine  tiefe  symbolische  Bedeutung.  Ich  weifi  kein 
Hauptstiick  der  Erzahlungen,  von  dem  das  nicht  gilt.  Der- 
selbe  Greist,  der  uns  die  Kraft  und  Herrlichkeit  eines  gott- 
lichen  Lebens  entschleiert  vor  Augen  gestellt  hat,  soweit 
als  wir  Menschen  es  fassen  konnen  —  er  hat  der  "Wahrheit 
auch  aus  sinnvoller  Sage  und  herzergreifender  Poesie  einen 
zarten  Schleier  gewoben  und  sie  in  Bildern  und  Parabeln 
nahe  gebracht. 

Diese  mannigfache  Bedeutung  erzahlter  Tatsachen 
offenbart  sich  Jedem,  der  der  Greschichte  der  Christenheit 
mit  aufgeschlossenem  Sinn  und  bescheiden  nachdenkt.  Sie 
ist  freilich  nicht  ohne  Gefahr;  denn  wie  sie  einerseits  leicht 


Das  Christentum  und  die  Geschickte.  21 

dazu  verfuhrt,  der  Geschichte  den  eigenen  Geist  unterzu- 
schieben,  Pfahl  und  Pflanze  zu  verwechseln  und  damit 
Krisen  heraufzubeschworen ,  so  kann  sie  andererseits  die 
Kraft  der  Greschichte  als  wirklicher  Greschichte  und  der 
Person  als  wirklicher  Person  lahmen.  Indessen  die  Schwie- 
rigkeiten,  die  hier  entstehen,  haben  wir  nicht  selbst  ge- 
schaffen,  und  wir  vermogen  sie  nicht  eigenmachtig  aufzu- 
heben.  Vertrauen  wir  vielmehr  der  gottlichen  Leitung,  die 
da  weiB,  was  uns  frommt;  verkiindigen  wir  mit  reinem 
Sinn  und  mit  Wahrhaftigkeit  das,  was  wir  empfangen 
haben,  und  versuchen  wir  dann  das  tiefe  Wort  zu  ver- 
stehen:  Kraffce  und  Kriicken  kommen  aus  einer  Hand. 


Ich  bin  am  Ende  meiner  Ausfuhrungen.  Christentum 
und  Gesehichte:  nur  den  Sinn  und  Ernst  der  Frage  wollte 
ich  ans  Licht  stellen  und  einige  Gesiehtspunkte  zu  ihrer 
Beurteilung  bieten.  Sie  haben  vielleicht  etwas  anderes 
von  dem  Vortrage  erwartet;  sie  wollen  vielleicht  von  den 
Veranderungen  horen,  die  das  Christentum  im  Laufe  seiner 
Geschichte  erlebt,  oder  von  den  Segnungen,  die  es  ver- 
breitet  hat.  Allein  die  Erkenntnis  der  Grundfrage,  inwie- 
fern  Religion  und  Geschichte  verkniipffc  sind  und  wie  sie 
sich  in  dem  evangelischen  Glauben  verbunden  haben,  ist 
wichtiger  als  alles  Andere.  Dieser  evangelische  Glaube 
braucht  eine  ernste  Prufung  nicht  zu  scheuen.  Die  strenge 
methodische  Untersuchung  der  Tatsachen,  die  ihn  geschicht- 
lich  begriindet  haben,  kann  er  ertragen,  ja  er  muC  sie  um 
seiner  selbst  willen  fordern;  denn  ihm  ist  nicht  die  Pilatus- 
frage  eingestiftet :  wWas  ist  Wahrheit",  sondern  ihm  ist  die 
Erkenntnis  der  Wahrheit  als  Aufgabe  und  als  VerheiCung 
gesetzt. 


ADOLF  HARNACK  •  REDEN  UND  AUFSATZE 
S^  ZWEITER  BAND  .  ERSTE  ABTEILUNG 


REDEN:  n 

DIE  EVANGELISCH-SOZIALE  AUFGABE  IM 
LICHTE  DER  GESOHICHTE  DER  KIRCHE 


Vortrag 

gehalten    am  17.  Mai  1894  auf    dem  evangelisch-sozialen  Kongrefl  zu 

Frankfurt  a.  M. 

Erschienen  in:  ,,PreuB.  Jahrbiicher,  Bd.  76  (1894)  Heft  3"  u.  in:  ,,Evange- 
lisch-Sozial  von  A.  Harnack  u.  H.  Delbriiok"  1896  bei  H.  Walther,  Berlin. 


Im  Jahre  1694  fiel  ein  "Wort  des  Apostels  Paulus  in 
die  Seele  H.  A.  Franckes:  ,,Grott  kann  machen,  dafi  ihr 
in  alien  Dingen  voile  Greniige  habt,  und  reich  seid  zu 
allerlei  guten  Werken."  Es  liefl  inn  nicht  mehr  los  und 
wurde  die  Kraft  seines  Handelns.  Sehr  vieles,  was  seitdem 
an  christlicher  Liebestatigkeit  in  nnserem  Vaterland  ge- 
leistet  worden  ist,  hat  damals  seinen  Ursprung  genommen. 
Einiges,  was  unerreichbar,  unmoglich  erschien,  ist  doch  er- 
reicht  worden  in  der  kiihnen  Znversicht,  die  jenes  "Wort 
des  Apostels  ausspricht. 

Heute,  naeh  zwei  Jahrhunderten,  befinden  wir  uns 
wiederum  an  einem  Punkte,  wo  wir  jener  Zuversicht  in 
besonderer  Weise  bediirfen.  Mcht  weil  wir,  wie  Francke, 
in  einer  Kirche  stehen,  die  die  Aufgabe  christlicher  Liebes 
tatigkeit  vernachlassigt,  sondern  weil  sich  die  Aufgabe 
selbst  vor  unseren  Augen  verandert  hat  und  so  neu  und 
gewaltig  ge worden  ist,  dafi  alle  unsere  bisherigen  Mittel 
unzureichend  scheinen.  Was  notig  ist,  wird,  so  scheint  es, 
kein  Einzelner  mehr  tun.  Was  zu  tun  ist,  das  zu  beraten 
ist  die  wichtigste  Aufgabe  unseres  Kongresses.  Wir  beraten 
das  Einzelne  auf  verschiedenen  Linien;  aber  es  ist  un- 
erlafilich,  dafi  wir  uns  auch  das  Granze  klar  machen,  die 
Ziele  fest  ins  Auge  fassen  und  die  Mittel  priifen,  iiber  die 
wir  verfugen.  Nicht  um  das  handelt  es  sich  aber,  was 
in  sozialer  Hinsicht  iiberhaupt  geschehen  soil,  sondern 
um  die  Aufgabe  der  Kirche  und  der  christlichen  Gemein- 
schaft. 


26  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  II. 

Diese  Aufgabe  ergibt  sich  aus  der  Anwendung  des 
Evangeliums  auf  die  gegenwartige  Lage,  und  ich  kann  den 
Hadikalismus  wohl  verstehen,  mit  welchem  Einige  jede 
weitere  Riicksicht  abzuschneiden  raten.  G-ewiO  —  die 
Riicksicht  auf  die  G-eschichte  ist  nicht  immer  ungefahrlich. 
Der  richtige  Steuermann  mufi  vorwarts  und  nicht  ruck- 
warts  blicken.  Der  Blick  auf  die  Greschichte  vermag  jedes 
mutige  Handeln  zu  lahmen  und  Unmoglichkeiten  vor- 
zutausclien,  wo  es  sich  nur  um  Schwierigkeiten  handelt. 
Auch  beleuchtet  die  Q-eschich.te  niemals  den  Weg,  der  vor 
nns  liegt.  Dennoch  wird  in  diesem  Kreise  kein  Zweifel 
dariiber  herrschen,  daC  die  heutige  soziale  Aufgabe  der 
Kirche  nur  mit  Hilfe  der  Geschichte  bestimmt  werden 
kann.  NicLt  nur,  weil  diese  stets  den  Dienst  leistet,  die 
Untiefen  und  Klippen  aufzuweisen,  die  man  zu  meiden 
hat,  sondern  vor  allem,  weil  die  Kirchen,  auch  sofern  sie 
karitative  Gemeinschaften  sind,  geschichtKch  gewordene 
Grebilde  sind.  Wenn  wir  nicht  alles  gering  schatzen  wollen, 
was  sie  im  Laufe  ihrer  Geschichte  gelernt  haben  und  be- 
reits  besitzen,  werden  wir  uns  entschliefien  miissen,  an 
diesen  Besitz  anzukniipfen. 

Aber  bevor  ich  zur  Behandlung  der  Aufgabe  iibergehe, 
mochte  ich  auf  eine  Tatsache  hinweisen,  die  uns  mit  Hoff- 
nung  und  Freudigkeit  zu  erfiillen  vermag.  Wenn  heute 
in  der  ganzen  zivilisierten  Welt  die  Frage,  die  sich  um  die 
Wirtschaftsordnung,  um  das  Verhaltnis  von  Kapital  und 
Arbeit  bewegt,  verhandelt  wird,  so  ist  das  doch  auch  ein 
Beweis,  dafi  ein  grofies  Stuck  sozialer  Arbeit  bereits  ge- 
leistet  ist.  Wie  lange  ist  es  denn  her,  dafi  es  eine  Kultur, 
Hecht  und  Menschenwiirde  nur  fur  einige  Tausende  in 
Europa  gab,  wahrend  die  grofie  Masse  unter  einem  furcht- 
baren  Druck,  in  tyrannischem  Zwang,  Rechtlosigkeit  und 
Unbildung  dumpf  dahinlebte  und  ihre  ganze  Existenz  ein 
grofies  Elend  war?  Heute  dagegen  sind,  wenigstens  in 
unserem  Vaterlande,  aber  auch  bei  vielen  uns  verwandten 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  27 

Volkern,  die  Biirger  vor  dem  Gesetze  gleich;  alle  geniefien 
denselben  Rechtsschutz ;  Sklaverei  und  Horigkeit  sind  ver- 
schollene  Dinge;  ein  respektables  Mafi  von  Kenntnissen 
und  Bildung  wird  jedermann  zugefuhrt;  die  Arbeit  ist  ge- 
achtet.  Freiheit,  Gleichheit  und  Briiderlichkeit  sind  in 
vieler  Hinsicht  nicht  nur  ein  leerer  Schall,  sondern  die 
wirklichen  Formen  unserer  personlichen  nnd  gesellschaft- 
lichen  Existenz  nnd  die  Pfeiler  des  Gebaudes,  das  wir  aus- 
banen.  Das  Alles  ist  in  wenigen  Menschenaltern  geleistet 
worden.  Es  ist  lacherlich,  die  Frage  des  Fortschritts  auf- 
znwerfen,  wo  der  Fortschritt  so  unsaglich  grofi  ist! 

Aber  ich  hore  schon  die  G-egenbemerknng:  als  was 
haben  sich  denn  diese  Freiheit,  Grleichheit  nnd  Briiderlich 
keit  erwiesen?  hat  nns  nicht  die  Geschichte  mit  ihnen  ge- 
narrt?  bedrohen  sie  nns  nicht  einerseits  mit  der  Herr- 
schaft  des  Unverstandes,  nnd  sind  andererseits  doch  nnr 
Attrappen,  denen  in  Wirklichkeit  jeder  Inhalt  fehlt,  sobald 
die  Arbeit  von  dem  Kapital  abhangig  ist,  das  sie  nicht 
selbst  besitzt?  In  Wahrheit,  sagt  man,  herrschen  die  alten 
Grewaltznstande  doch  noch  immer,  wenn  auch  nnter  anderen 
Hiillen,  aber  in  verscharfter  Grestalt;  die  schlimmste  Lohn- 
sklaverei  ist  eingetreten;  die  Rechtsgleichheit,  vom  Kapital 
anfierdem  stets  gefahrdet,  ist  nnr  ein  negatives  Gut,  die 
Bildung  for  die  grofie  Menge  nur  eine  nicht  benutzbare 
Moglichkeit!  In  ,,Formalien"  sind  wir  gleich;  aber  wie 
fruher  lebt  eine  Minoritat  auf  Kosten  der  ungeheuren,  in 
Sorgen  sich  verzehrenden  Majoritat,  und  diese  empfindet 
die  Rechte,  die  sie  errungen,  teils  wie  eine  kiimmerliche 
Abschlagszahlung,  teils  wie  einen  Spott  auf  ihre  hilflose 
Lage. 

Die  so  sprechen,  haben  nicht  ganz  Unrecht,  aber  sie 
haben  nicht  Recht.  Alle  jene  genannten  gemeinschaftlichen 
Giiter  konnen  in  der  Tat  blofie  Attrappen  sein  und  sind  es 
zum  Teil  noch  wirklich.  Aber  man  versuche  es  nur,  sie 
heute  wegzunehmen  oder  auch  nur  wegzudenken!  Es  sind 


28  Z welter  Band,  erste  Abteilung.    Eeden:  II. 

doch  grofie,  bleibende  Errungenschaften,  die  deshalb  nichts 
an  ihrem  Werte  verlieren,  well  sie  nicht  ausreichen.  Ja 
sie  bleiben  Griiter,  auch  wenn  ihre  Folgen  die  Not  der 
wirtschaftlichen  Lage  zur  Zeit  steigern.  Ruckwarts  konnen 
wir  nicht  melir,  und  Schande  dem,  der  es  wollte!  So 
wollen  wir  uns  dessen  freuen,  was  gewonnen  ist,  was  noch 
vor  einigen  Menschenaltern  ein  Traum  war.  Die  Gre- 
schichte  macht  Tins  nicht  mutlos,  sondern  starkt  unsere 
Zuversicht. 

Nach  diesen  Vorbemerkungen  bitte  ich  Sie,  mir  auf 
einem  geschichtlichen  Grange  zu  folgen.  Wir  werden  aber 
zuerst  die  prinzipiell-geschichtliche  Frage  aufwerfen  miissen, 
wie  sich  das  Evangelium  zu  sozialen  Ordnungen  iiberhaupt 
verhalt.  Dann  wollen  wir  die  Epochen  der  Kirchen- 
geschichte  betrachten  und  endlich  die  Frage  nach  der 
heutigen  sozialen  Aufgabe  der  Kirche  zu  beantworten  ver- 
suchen. 


Das  Evangelium  ist  die  Botschaft  von  unverganglichen 
Griitern.  Es  bringt  die  Krafte  des  ewigen  Lebens;  von 
Bufie  und  von  Grlauben,  von  Wiedergeburt  und  Erneuerung 
handelt  es;  es  will  nicht  ,,verbessernu,  sondern  eiiosen. 
Darum  will  es  den  Einzelnen  auf  einen  Standort  fiihren, 
der  iiber  den  Spannungen  von  irdischem  G^liick  und  irdischer 
Not,  Reichtum  und  Armut,  Herrschaffc  und  Dienst  liegt. 
So  ist  es  auch  von  Anfang  an  und  zu  alien  Zeiten  von 
den  ernsten  Christen  verstanden  worden,  und  wer  dies  nicht 
zu  wiirdigen  vermag,  wiirdigt  das  Evangelium  iiberhaupt 
nicht.  Diejenige  Indifferenz  gegeniiber  allem  Irdischen, 
welche  aus  der  GTewiBheit  des  ewigen  Lebens  entspringt, 
ist  dem  Christentum  wesentlich.  Diese  Indifferenz  setzt 
sich  aus  einer  doppelten  Stimmung  zusammen.  Man  kann 
sie  in  folgenden  Worten  bezeichnen:  7,Fiirchtet  euch  nicht, 
sorget  nicht;  eure  Haare  auf  dem  Haupte  sind  gezahltu 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  29 

und  ,,habt  niclit  lieb  die  "Welt  noch  was  in  der  Welt  ist". 
Dem  entsprechend  liegen  zwei  Elemente  in  ihr.  Ich  mochte 
das  eine  das  ruhende,  quietistische  und  das  andere  das  radi- 
kale  nennen:  das  eine  leitet  dazu  an,  sieh  in  den  Weltlauf, 
wie  er  auch  sein  mag  und  was  auch  kommen  mag,  im 
Glauben  mit  Ergebung  zu  schicken,  das  andere  die  Welt 
preiszugeben  und  einem  Neuen  zu  leben.  Schon  hier  er- 
scheint  also  im  Evangelium  ein  Problem  gestellt;  denn  offen- 
bar  kann  das  ruhende  und  das  radikale  Element  in  eine 
Spannung  geraten.  Ja  das  radikale  Element  selbst  kann 
sich,  wo  es  sich  isoliert  geltend  macht,  in  einer  doppelten 
Form  aufiern  —  entweder  als  entschlossene  Weltflucht,  oder 
als  der  Versuch,  alle  Weltordnungen,  die  ja  samtlich 
von  der  Siinde  durchsetzt  sind,  zu  verneinen  und  eine 
neue  Weltordnung  vorzubereiten.  Die  Geschichte  wird 
uns  zeigen,  wie  sich.  die  Christenheit  die  Aufgabe  verschoben 
hat,  indem  sie  einseitig  diesem  oder  jenem  Elemente  gefolgt 
ist,  statt  sie  in  sich  auszugleichen. 

Aber  eben  dieses  Evangelium,  welches  eine  heilige 
Indifferenz  gegeniiber  dem  Irdischen  verkiindigt,  schlieBt 
noch  ein  anderes  Element  ein.  ?,Liebe  deinen  Nachsten 
als  dich  selbst."  Auch  das  soil  eine  Grrundstimmung  sein, 
die  das  Evangelium  schafft.  DemgemaB  war  die  urspriing- 
liche  Grestalt  der  Christenheit  die  eines  freien  Bruderbundes, 
und  diese  Grestalt  ist  ihr  auch  wesentlich;  denn  die  Liebe 
zu  den  Briidern  ist  neben  dem  Vertrauen  auf  Grott  die 
Religion  selbst.  Zu  dem  quietistischen  und  dem  radikalen 
Element  tritt  das  soziale,  treibende.  Ich  nenne  es  das 
soziale,  treibende  Element;  denn  nirgend  steht  im  Evan 
gelium,  daB  unser  Verhaltnis  zu  den  Briidern  durch  die 
heilige  Indifferenz  bestimmt  werden  soil,  die  ich  bezeichnet 
habe.  Diese  Indifferenz  gilt  vielmehr  der  einzelnen  Seele 
in  ihrem  Verhaltnis  zur  Welt,  ihren  Leiden  und  ihren 
G-utern.  Aber  wo  nur  immer  der  ,,Nachste"  in  Sicht  kommt, 
da  weiC  das  Evangelium  nichts  von  jener  Indifferenz,  son- 


30  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  II. 

dern  predigt  nur  Liebe  und  Barmherzigkeit.  Auch  bindet 
und  fiicht  die  irdische-  und  die  Seelen-Not  des  JSTachsten 
untrennbar  zusammen.  Es  macht  hier  keine  sublimen 
UnterscMede  zwischen  Seele  und  Leib,  nein,  Krankheit  ist 
Krankheit  und  Elend  Elend.  wlch  bin  hungrig  gewesen 
und  ihr  habt  mich  gespeiset,  ich  bin  durstig  gewesen  und 
ihr  habt  mich  getranket."  Wo  die  Kennzeichen  angegeben 
werden  sollen  dafur,  dafi  sich  die  Verheifiungen  Grottes  jetzt 
verwirklicht  haben,  da  heiJBt  es:  nDie  Blinden  sehen,  die 
Lahmen  gehen  .  .  .  und  den  Armen  wird  das  Evangelium 
verkiindigt",  und  im  Hebraerevangelium  lesen  wir  in  der 
Greschichte  vom  reichen  Jiingling:  ^Siehe  so  viele  deiner 
Briider,  Sohne  Abrahams,  liegen  im  Schmutz  und  sterben 
vor  Hunger,  und  dein  Haus  ist  voll  von  vielen  GHitern, 
und  doch  kommt  nichts  aus  demselben  zu  ihnen  heraus." 
Einfacher  und  nachdriicklicher  kann  es  nicht  gesagt  werden, 
dafi  mit  alien  Kraften  der  Liebe  dem  Bediirftigen  und 
Elend  en  geholfen  werden  soil.  Dabei  geht  die  ernsteste 
Mahnung  an  die  Reichen.  Indem  vorausgesetzt  wird,  dafi 
Reichtum  in  der  Regel  unbarmherzig  und  weltsiichtig  macht, 
wird  ihnen  vorgehalten,  daB  der  gefahrliche  Besitz  ihnen 
die  hochste  Verantwortlichkeit  auferlegt. 

Die  Welt  sah  ein  neues  Schauspiel:  wahrend  sich  die 
Religion  bisher  entweder  an  das  Irdische  angeschmiegt  und 
alle  Zustande  willig  begleitet  oder  sich  Allem  entgegenge- 
setzt  und  in  die  Wolken  gebaut  hatte,  empnng  sie  nun 
eine  neue  Aufgabe:  irdische  Not  und  Elend  ebenso  wie 
irdisches  Grliick  fur  etwas  Greringes  zu  achten  und  doch 
jeglicher  Not  zu  steuern,  das  Haupt  im  G-lauben  mutig 
zum  Him  m  el  zu  erheben  und  doch  mit  Herz,  Mund  und 
Hand  auf  dieser  Erde  fur  die  Briider  zu  arbeiten. 

Die  so  gestellte  Aufgabe  ist  in  der  Christenheit  nie 
vollig  untergegangen.  Sie  hat  ihr  die  Uberzeugung  erhalten, 
dafi  keine  Wirtschaftsordnung  ihrer  Arbeit  ein  schlechthin 
uniibersteigliches  Hindernis  entgegenstellt,  keine  Wirt- 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  31 

schaftsordnung  sie  aber  auch  von  ihren  Pfl.ich.ten  zu  ent- 
lasten  vermag. 

Aber  enthalt  das  Evangelium  nicht  noch  vielmehr, 
enthalt  es  nicht  eine  bestimmte  Lehre  vom  irdischen  Gut 
und  ein  bestimmtes  sozial-wirtschaftlich.es  Programm?  Man 
hat  das  wohl  gemeint,  in  der  alten  Zeit,  im  Mittelalter 
und  auch  heute  wieder,  und  doch  ist  es  falsch.  Allerdings 
eine  bestimmte  Lehre  vom  irdischen  Gut  enthalt  das  Evan 
gelium,  aber  keine,  die  sich  national-okonomisch  in  Gesetze 
fassen  liefle,  und  darum  auch  kein  wirtschaftlich.es  Pro 
gramm.  Nur  wenn  man  das  Evangelium  oder  das  Neue 
Testament  wie  ein  Gesetzbuch  fafit,  kann  man  in  ihm 
sozial-politische  Gresetze  finden.  Aber  das  ist  ein  uner- 
laubtes  Unterfangen,  und  man  wird  zudem  bald  mit  ihm 
scheitern.  Unerlaubt  ist  es,  weil  unser  Glaube  die  Religion 
der  Freiheit  ist,  und  die  Aufgaben  dir  und  mir  und  jeder 
Zeit  besonders  gestellt  sind  als  ein  individuelles  Problem. 
Scheitern  aber  wird  man,  weil  man  nicht  einstimmige 
wirtschaftliche  Anweisungen  aus  dem  Neuen  Testament  zu 
entwickeln  vermag.  Soil  man  nach  der  G-eschichte  vom 
reichen  Jungling  alles  verkaufen,  was  man  besitzt,  oder 
soil  man  sich  wenigstens  nicht  Schatze  sammeln?  oder  soil 
man  mit  dem  Apostel  Paulus  jede  Q-abe,  also  auch  den 
Besitz,  pflegen,  aber  in  eine  Dienstleistung  verwandeln? 
Soil  ein  Christ  niemals  Erbschlichter  sein  diirfen?  hat  er 
nur  das  Hecht,  fur  eine  Salbung  Aufwand  zu  machen,  oder 
auch  sonst?  darf  er  eine  Kasse  haben  oder  nicht?  ^Arbeite 
und  schaffe  mit  den  Handen  etwas  Gutes,  auf  dafi  Du 
habest  zu  geben  dem  Durftigen",  das  ist  doch  wohl  die 
Hauptsache,  und  mit  allem  Ernste  ist  der  Versuchung  zu 
widerstehen,  dem  Evangelium  einen  anderen  sozialen  Ge- 
danken  unterzuschieben  als  den:  ,,Ihr  seid  Gott  Hechen- 
schaft  schuldig  fur  alle  Gaben,  die  ihr  empfangen  habt, 
und  so  auch  fur  euren  Besitz;  ihr  sollt  sie  im  Dienste  eures 
Nachsten  gebrauchen."  Was  in  dem  Evangelium  in  eine 


32  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  II. 

andere  Richtung  weist,  1st  teils  scheinbar,  teils  gehort  es 
dem  individuellen  Fall  an,  teils  hangt  es  mit  der  unent- 
wickelten  wirtschaftlichen  und  der  besonderen  geschicht- 
lichen  Lage  jener  Zeit  zusammen.  Eine  Zeit,  in  der  das 
Kapital  fast  lediglich  ein  Aufgespeichertes,  Totes  war,  lafit 
sich  nicht  vergleichen  mit  einer  Zeit,  in  der  es  die  grofite 
wirtschaftliche  Kraft  ist,  und  eine  Zeit,  die  sich  dem  Ende 
nahe  glaubt,  lafit  sich  nicht  vergleichen  mit  einer  Zeit,  die 
es  als  heilige  Pflicht  erkennt,  fur  die  Zukunft  zu  arbeiten. 

Aber  umgekehrt  —  daraus,  dafi  das  Evangelium  keine 
bestimmten  wirtschaftlichen  Anordnungen  enthalt,  folgt 
ganz  und  gar  nicht,  dafi  dieses  Grebiet  fur  den  Christen 
indifferent  ist.  Vielmehr  wo  er  klar  erkennt,  dafi  ein  wirt- 
schaftlicher  Zustand  zur  Notlage  fur  den  Nachsten  ge- 
worden  ist,  da  soil  er  nach  Abhilfe  suchen;  denn  er  ist  ein 
Jiinger  dessen,  der  ein  Heiland  war.  Wer  ins  Wasser  ge- 
f alien  ist,  dem  hilft  man  freilich  bereits,  wenn  man  ihn 
herauszieht ;  aber  wer  in  einem  verschlossenen  Hause  sitzt, 
welches  brennt,  dem  kann  man  nur  dadurch  helfen,  dafi 
man  den  Zustand  andert,  indem  man  das  Feuer  loscht. 
Die  Frage,  ob  das  eine  christlich- wirtschaftliche  oder  eine 
rein  christliche  oder  eine  humane  Tat  ist,  mag  der  Dispu 
tant  beantworten.  Die  Liebe  weifi,  dafi  sie  uberall  so  helfen 
soil,  dafi  es  wirklich  hilft. 

Um  dem  Mitbruder  zu  helfen  und  der  Not  und  dem 
Elend  zu  steuern,  hat  die  Kirche  von  Anfang  an  von  drei 
Mitteln  Grebrauch  gemacht,  und  es  sind  heute  noch  die 
drei,  die  ihr  zu  Grebote  stehen:  Erstlich  die  Scharfung  der 
Grewissen  der  Einzelnen,  die  Erweckung  wiedergeborener, 
kraftiger  und  aufopferungsvoller  Personlichkeiten.  Das  ist 
das  Entscheidende.  Der  Weg  dabei  ist  ein  verschiedener: 
bald  mag  er  von  innen  nach  auJBen  und  bald  von  aufien 
nach  innen  fuhren,  wie  wir's  in  der  Padagogik  des  Herrn 
sehen.  Aber  immer  kommt  es  auf  die  heilige  Personlich- 
keit  an,  und  immer  darauf,  dafi  in  allem  Tun  die  Kraft 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  33 

der  Liebe  von  Person  zu  Person  wirkt  und  spiirbar  1st. 
Das  Reich.  Gottes  wird  nicht  aus  Institutionen  gebaut, 
sondem  aus  einzelnen  gottinnigen  Menschen,  die  mit 
Freude  fur  andere  leben. 

Das  Zweite  ist  die  Ausgestaltung  der  einzelnen  Ge- 
meinde  zu  einer  tatkraftigen,  durch  Bruderliebe  zusammen- 
gehaltenen  G-emeinschaft;  denn  ohne  solche  Verbindung 
bleibt  alles  vereinzelt.  Am  Anfang  der  Geschichte  ist  diese 
Verbindung  am  starksten  gewesen.  Das  Bewufitsein,  dafl 
sie  eine  unumgangliche  Form  der  Christenheit  auf  Erden 
ist,  ist  dieser  nie  ganz  abhanden  gekommen;  aber  wir 
werden  sehen,  wie  es  geschwacht  worden  ist. 

Nun  aber  kommt  noeh  ein  Drittes  hinzu:  die  Religion 
wachst  nicht  frei;  sie  mufi,  selbst  wenn  sie  in  die  Einsam- 
keit  fiuehtet,  in  ein  Verhaltnis  treten  zu  den  weltlichen 
Ordnungen,  die  sie  vorfindet,  und  wie  diese  Ordnungen 
sind,  ist  nicht  gleichgiiltig.  Zwar  haben  die  Apostel  den 
Glaubigen  das  ^Sorget  nicht"  zugerufen  in  einer  Zeit,  da 
Erpressung  und  Gewalttatigkeit  an  der  Tagesordnung 
waren,  als  Sklaverei  und  tyrannischer  Druck  herrschten. 
Aber  sie  haben  doch  gleich  damit  angefangen,  auf  die 
irdischen  Ordnungen,  sofern  sie  Unordnung  und  Siinde 
waren,  einzuwirken.  Die  Christen  sollen  durch  ihren 
Wandel  ein  Yorbild  geben,  das  beschamt  und  zur  ISTach- 
ahmung  reizt.  Wenige  Jahrzehnte  spater  haben  sich  die 
christlichen  Apologeten  bereits  mit  Eingaben  an  die  Kaiser 
und  die  Statthalter  und  mit  Schriften  an  die  Gesellschaft 
gewendet  und  die  Abstellung  grober  offentlicher  MiBbrauche 
und  Frevel  verlangt.  Aber  sie  haben,  soviel  ich  sehe,  eine 
scharfe  Grenze  gezogen:  es  kommt  ihnen  nicht  in  den  Sinn, 
auf  wirtschaftliche  Verbesserungen  anzutragen  oder  Insti 
tutionen  wie  die  der  Sklaverei  anzutasten.  Was  sie  ver- 
langen,  ist,  dafi  die  Siinden  und  Schanden  aufhoren,  die 
auch  ein  griechisches  und  romisches  Gewissen  als  Siinde 
und  Schande  beurteilen  mufite.  Sie  sind  davon  iiberzeugt, 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    II.  3 


34  Z  welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  II. 

dafi  das  Ebenbild  Grottes  im  Menschen  auch  unter  Druck 
und  Ubel  aller  Art  nicht  untergehen  kann  —  nie  ist  ein 
Zeitalter  weniger  sentimental  gegeniiber  Not  und  Elend 
gewesen,  als  das  erste  christliche  — ,  dafi  es  aber  im 
Schmutz  der  Sinnlichkeit  untergeht,  dafi  daher  offentliche 
Zustande  dieser  Art  —  geduldete  und  privilegierte  Un- 
zucht,  heimlicher  Mord,  Kinderaussetzung,  Prostituierung 
ganzer  Stande  —  unertraglich  sind. 

Wir  sind  hier  an  einem  sehr  wichtigen  Punkte.  Man 
wirft  es  in  der  Neuzeit  dem  Christentum  vor,  dafi  es  nie- 
mals  in  seiner  G-eschichte  mit  wirtschaftlichen  Reformen 
vorangegangen  sei.  Selbst  wenn  die  Tatsache  in  dieser 
Allgemeinheit  zutreffend  ware,  ware  sie  nach  der  Eigenart 
dieser  Religion  kein  Vorwurf. 

Grenug,  wenn  die  Religion  die  Gremiiter  fur  grofie 
wirtschaftliche  Veranderungen  und  Umwalzungen  vorbe- 
reitet,  genug,  wenn  sie  die  neuen  sittlichen  Aufgaben,  die 
sie  bringen,  vorher  empfindet,  genug,  wenn  sie  sich  ihnen 
anzupassen  weifi  und  den  Punkt  trifft,  wo  sie  mit  ihren 
Kraften  einzusetzen  und  zu  arbeiten  vermag.  Eine  Religion, 
die  das  Heil  der  Seele  und  die  Umbildung  des  inner n 
Menschen  zum  Ziele  hat  und  die  der  Macht  des  Bosen 
gegeniiber  die  Umanderung  auJBerer  Verhaltnisse  gering 
taxiert,  eine  solche  Religion  kann  nur  hinter  dem  Wechsel 
irdischer  Verhaltnisse  einherschreiten  und  ist  nicht  geschickt, 
wirtschaftliche  Entwicklungen  zu  dirigieren. 

Aber  damit  ist  freilich  nicht  alles  gesagt.  Man  kann 
es  nicht  leugnen,  dafi  die  grofite  Grefahr  fiir  die  verfafiten 
Kirchen  stets  die  gewesen  ist,  in  schlechtem  Sinne  konser- 
vativ  und  trage  zu  werden  und  solche  Tragheit  mit  den 
erhabensten  Grlaubensgedanken  zu  decken.  Die  ,,heilige 
Indifferenz",  die  den  Einzelnen  in  bezug  auf  sein  eigenes 
Los  auf  Erden  bestimmen  soil,  wird  dem  armen  Bruder 
gepredigt,  statt  dafi  man  ihm  hilft.  Schon  in  den  Tagen, 
da  der  Jakobusbrief  geschrieben  worden  ist,  haben  Christen 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  35 


zu  ihrem  Mitbruder,  der  Mangel  hatte,  gesprochen: 
berate  Dich",  ihm  aber  nichts  gegeben.  Der  Charakter  der 
Religion,  der  auf  das  Jenseits  weist,  wurde  so  ausgebeutet, 
dafi  man  die  Liebe  im  Diesseits  vergafi  oder  vielmehr  das 
Diesseits  doch  nicht  vergafl,  wohl  aber  die  Liebe. 

1st  es  zufallig,  dafl  dieser  schlechte  Quietismus  von 
Anfang  an  als  sein  Gregenstiick  den  Radikalismus  hervor- 
gerufen  hat?  Soil  die  Indifferenz  gegen  das  Irdische  und 
nicht  die  Liebe  die  Verhaltnisse  zum  Nachsten  regeln,  so 
ist  der  Radikalismus  mindestens  ebenso  berechtigt,  wie  der 
Quietismus.  Also  werfe  man  alles  Irdische  ab  oder  teile 
es  gemeinsam  und  nivelliere  alle  GKiter.  Wie  ein  Schatten, 
bald  kraftiger,  bald  schwacher,  hat  die  aus  der  Antike 
stammende  phantastische  Idee  einer  kommunistischen  G-e- 
staltung  der  Wirtschaftsordnung  die  Kirche  begleitet.  Mit 
dem  Gredanken  der  Weltflucht  oder  mit  sinnlich  eschato- 
logischen  Hoffnungen  verkniipft,  gait  sie  als  die  beste 
Losung  der  evangelisch-sozialen  Aufgabe  und  erklarte  der 
tragen  Indifferenz  den  Krieg.  Naiv  vorgestellt,  nie  wirk- 
lich  durchgefuhrt  und  undurchfiihrbar,  hat  der  Wert  dieser 
Idee  darin  bestanden,  die  faule  Christenheit  aufzuriitteln, 
auf  die  Fehler  der  herrschenden  Wirtschaftsordnung  auf- 
merksam  zu  machen  und  den  starren  Eigentumsbegriff  zu 
erweichen.  Aber  ihre  Nachteile  waren  grofier.  Wo  sie 
einen  Versuch  machte,  sich  durchzusetzen  oder  sich  auch 
nur  zu  Gehor  zu  bringen  verstand,  da  hat  sie  den  Sinn 
fur  die  nachsten  Aufgaben  und  fur  das  Erreichbare  ge- 
blendet,  da  hat  sie  das  Werk  schlichter,  personlicher  Barm- 
herzigkeit  stets  gering  geschatzt  gegeniiber  ihren  vermeint- 
lich  alles  Ubel  bezwingenden  Institutionen,  da  ist  sie 
schliefilich  in  ihr  Gegenteil  umgeschlagen  und  hat  die 
Religion  profaniert  durch  ihren  nHimmel  auf  Erdenu.  Dazu 
—  die  Zeitalter  der  Kirche,  in  denen  die  Theorie  dem 
Kommunismus  am  nachsten  gekommen  ist,  waren  in  der 
Religion  die  selbstsiichtigsten.  Denn  fast  niemals  ist  die 

3* 


36  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  II. 

Bruderliebe  das  starkste  zum  Kommunismus  treibende 
Motiv  gewesen,  sondern  bald  eine  Weltflucht,  die  sich  mit 
der  Sorge  fiir  die  Nachsten  nicht  vertragt,  bald  ein  Ver- 
langen  nach  irdischer  Wohlfahrt,  das  sich  mit  der  Illusion 
selbst  betrog,  das  Jenseits  auf  die  Erde  herab  zu  fiihren.  — 
Ich  habe  versucht,  in  wenigen  Strichen  die  prinzipielle 
Stellung  der  christlichen  Religion  zu  sozialen  Fragen  an- 
zugeben  und  zugleich  auf  die  Punkte  aufmerksam  zu 
machen,  wo  durch  eine  Yerschiebung  verhangnisvolle 
Entwicklungen  eintreten  muBten.  Blicken  wir  nun  auf 
die  Geschichte. 

n. 

"Wer  die  Stellung  der  altesten  Christenheit  in  sozialer 
Hinsicht  beschreiben  will,  mufi  vor  allem  zwischen  den 
Predigten,  Worten,  Exklamationen,  ja  auch  den  Theorien 
einerseits  und  den  Taten  andererseits  unterscheiden.  Das 
geschieht  nicht  immer.  In  der  Theorie  und  der  Anschauung 
ging  Konservatives  und  Radikales  durcheinander  —  gleich- 
sam  versuchte  Ideen  — ,  ja  die  radikale,  von  der  heiligen 
Indifferenz  und  von  der  Aussicht  auf  das  nahe  "Weltende 
beherrschte  Stimmung  scheint  alles  zu  durchdringen.  Daher 
Aussagen  oft  gefunden  werden  wie  nNiemand  nenne  etwas 
sein  Eigentum",  ^Wir  haben  alles  gemeinsam",  nGrebt  alle 
irdischen  Qiiter  preis".  In  Zeiten  besonderer  Not  und 
akuter  Verfolgung  ist  auch  hin  und  her  dem  "Worte  die 
Tat  gefolgt:  eine  einzelne  Gremeinde,  von  einem  fanatischen 
Manne  gefuhrt,  verkaufte  wirklich  alles  oder  ging  in  die 
Wiiste.  Ja  in  Kleinasien  gelang  es  ein  bis  zwei  Jahrzehnte 
hindurch  erregten  Propheten,  Tausende  und  ganze  Ge- 
meinden  aus  der  Welt  herauszuziehen  und  die  natiirlichen 
Ordnungen  zu  sprengen.  Auch  finden  sich  in  kleinen 
haretischen  Gemeinschaffcen  —  von  dem  Versuche  in  Je 
rusalem  schweige  ich,  da  wir  keinen  klaren  Bericht  be- 
sitzen  —  Ansatze  zu  kommunistischen  Organisationen,  die 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  37 

deutlich  nach  Platos  Muster  unternommen  werden.  Aber 
diese  Erregungen  sind  nicht  mafigebend.  Im  Hauptstrom 
der  kirchlichen  Entwicklung  1st  vielmehr  alles  ruhig,  kraftig, 
zielbewuflt,  sogar  niichtern  im  besten  Sinne.  In  den  an- 
gesehensten  und  verbreitetsten  Schriftstueken  lesen  wir 
Ausfuhrungen,  wie  die  folgende  (Brief  der  romischen  Ge- 
meinde  an  die  korinthische) :  ,,Heil  moge  find  en  unsere 
ganze  Korperschaft  in  Christus  Jesus,  und  jeder  ordne 
sich  seinem  Nachsten  unter,  gemafl  der  Gnadengabe,  mit 
der  der  Nachste  betraut  ist.  Der  Starke  vernachlassige 
den  Schwachen  nicht,  der  Schwache  achte  den  Starken. 
Der  Reiche  unterstiitze  den  Armen;  der  Arme  danke  Gott, 
dafi  er  ih.ni  jemand  gegeben,  durch  den  seinem  Mangel 
abgeholfen  wird.  Der  "Weise  zeige  seine  Weisheit  nicht  in 
Worten,  sondern  in  guten  Werken.  Der  Demiitige  lobe 
sich  nicht  selbst,  sondern  lasse  sich  von  anderen  seine 
Demut  bezeugen.  Wer  ehelos  lebt,  prahle  nicht  damit, 
sondern  erkenne,  dafl  ein  anderer  ihm  die  Enthaltsamkeit 
verliehen  hat."  Kann  man  niichterner  schreiben? 

Aber  in  einem  Stiicke  allerdings  waren  alle  Christen, 
die  des  Namens  wiirdig  waren,  radikal  —  namlich  gegen- 
iiber  der  Welt  des  G-otzendienstes,  des  Schmutzigen,  des 
Obsconen,  der  gemeinen  Yergniigungen,  der  Grausamkeit 
und  des  Unbarmherzigen,  die  sie  umgab.  ^Sich  enthalten 
und  rein  sein",  das  war  die  oberste  Losung  der  altesten 
Christen  in  der  nsozialen  Frage".  Kampfen  gegen  diese 
Welt  der  Sunde,  leiden  und  sterben,  um  nicht  in  sie  ver- 
flochten  zu  werden:  das  war  der  entscheidende  Grundsatz. 
In  diesem  Kampfe  sind  sie  hin  und  her  bis  zum  Protest 
wider  alles  Sinnliche  vorgeschritten.  Nun,  besser  ist  es, 
der  Mensch  verachtet  sein  irdisches  Teil  als  dafi  er  sich 
durch  dasselbe  schandet.  Jene  Asketen  und  Martyrer 
haben  einen  stellvertretenden  Kampf  fur  uns  alle  gekampft : 
sie  starben,  damit  die  unsittliche  Welt  untergehe  oder  sich 
doch  wenigstens  ins  Dunkle  zuriickziehe,  damit  aus  der 


38  Z welter  Band,  erste  Abteilung.    Eeden:  II. 

Kultur,  deren  Erben  wir  nocli  eben  sind,  wenigstens  das 
Schmutzigste  und  Niedrigste  verschwinde.  Von  der  Wurde 
des  Menschen  hatten  treffliche  Philosophen  in  trefflicher 
Weise  geredet  und  geschrieben;  aber  blinzelnd  schlichen 
sie  am  Gotzendienst  vorbei,  und  puritanische  Kraft  besaften 
sie  nicht,  weder  gegeniiber  den  Idolen  noch  gegeniiber 
der  offentlichen  Unsittlichkeit.  Hier  aber  trat  eine  Ge- 
nossenschaft  auf,  die  das  was  sie  kundete  —  die  Wiirde 
der  unsterblichen  Seele,  die  Gotteskindschaft  —  in  Kraft 
und  Tat  umsetzte. 

Neben  der  sittlichen  Reinheit  aber  war  es  die  Bruder- 
liebe,  die  sie  bestimmte,  und  hier  erscheint  alles  der  Ab- 
sicht  untergeordnet,  die  einzelne  Gemeinde  und  die  ganze 
Christenheit  zu  einer  Bruderschaft  zu  verbinden,  die  nach 
innen  und  nach  auCen  wirksam  sei.  Die  ganze  Organi 
sation  der  G-emeinden,  sofern  sie  Biscnofe  und  Diakonen 
umfafite,  ist  zu  diesem  Zweck  entstanden  und  entwickelte 
sich  in  wundervoller  Geschlossenheit  und  Mannigfaltigkeit. 
Der  Bruderbund  sollte  nicLt  nur  die  gemeinsame  Gottes- 
verehrung,  sondern  alle  Lebensverhaltnisse  umspannen. 
Etwas  Ahnlich.es  kannte  man  bisher  nicht;  hochstens  die 
im  Reiche  verstreuten  Synagogen  lassen  sich  vergleichen; 
aber  sie  waren  national  beschrankt  und  zugleich  in  ihrer 
Yerbindung  schwacher.  Innerhalb  der  Gemeinde  als  reli- 
gioser  waren  die  Nationen,  Stande  und  Klassen  wirklich 
ausgeglichen.  Welche  Gleichheit  in  dem  gemeinsamen  Be- 
sitz  geistlicher,  ewiger  Giiter  liegt,  kam  hier  wirklich  zum 
Ausdruck.  Sklaven  wurden  mit  den  einfluOreichsten  Mrch- 
lichen  Amtern  betraut.  Auch  die  Ehre  und  Wiirde  der 
Frauen  wurde  geschiitzt.  Von  welcher  Zartheit  gegeniiber 
Sklavinnen  zeugen  einzelne  Martyrerakten!  Keuschheit 
war  der  Hauptzug  in  der  nWeltfluchtu.  Aber  iiber  das 
alles  —  den  Armen  wurde  wirklich  das  Evangelium  ge- 
predigt,  d.  h.  zum  ersten  Male  wurde  eine  geistige  Reli 
gion  alien,  auch  den  untersten  Standen,  zuganglich  gemacht. 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  39 

Wenn  man  ermessen  will,  was  das  Leifit,  muB  man  die 
Streitsehriften  des  Heiden  Celsus  und  des  Christen  Origenes 
lesen.  Celsus  gesteht  zu,  findet  es  aber  auch  in  der  Ord- 
nung,  dafi  Plato  nur  fur  die  G-ebildeten  und  Reinen  ge- 
schrieben  hat:  ein  festes  Verhaltnis  zu  den  hochsten  Fragen 
konnen  nur  die  Aristokraten  gewinnen.  Dem  gegeniiber 
sehen  die  Christen  das  Siegel  der  "Uberlegenheit  und  Wahr- 
heit  ihrer  E/eligion  darin,  dafl  sie  den  Menschen  auf  alien 
Stufen  gilt  —  sie  ist  nicht  nur  die  Religion  der  Barm- 
herzigkeit,  sondern  auch  der  Humanitat.  Das  18.  Jahr- 
hundert  hat  nur  wieder  entdeckt,  was  das  zweite  christliche 
Jahrhundert  schon  besessen  hatte. 

Besonders  beachtenswert  ist  es,  dafi  die  Leitung  der 
Liebestatigkeit  mit  dem  Kultus  in  die  engste  Verbindung 
gesetzt  wurde.  Dort,  wo  man  himmlische  Gaben  empfing, 
empfing  man  auch  die  irdischen,  und  dort,  wo  man  sich 
verpflichtete ,  Seele  und  Leib  Qott  zum  lebendigen  Opfer 
zu  bringen ,  opferte  man  auch  irdische  Gaben  fur  die 
Briider.  Welch  ein  Antrieb  zum  G-eben,  und  wer  brauchte 
sich  zu  schamen,  wenn  er  aus  der  Hand  Gottes  nahm! 
Ein  Tisch  verband  als  Altar  den  Ausdruck  der  Gottes- 
und  der  Nachstenliebe.  Das  war  die  Seele  des  „ Systems", 
welches  die  Heiden  bewunderten  und  das  zum  starken 
Mittel  der  Propaganda  neben  der  privaten  Liebestatigkeit 
wurde.  ,,In  gemeinsamen  Angelegenheiten  setzen  sie  sich 
iiber  alle  Kosten  hinweg",  ,,Wenn  einer  von  ihnen  leidet, 
sehen  sie  es  als  gemeinsame  Sache  an",  bezeugt  der  „ Spot 
ter"  Lucian.  Noch  gab  es  nichts  Anstaltliches ;  aber  das 
Ganze,  die  Gemeinde,  funktionierte  als  freie  Anstalt  der 
Bruderliebe  und  Hilfleistung. 

Dabei  wurde  die  Arbeit  eingescharft.  Nicht  als  ob 
man  in  der  Arbeit  einen  besonderen  Segen  erkannt  hatte, 
wohl  aber  eine  selbstverstandliche  Pflicht.  Eben  deshalb 
soil  dem  unbeschaftigten  armen  Bruder  von  der  Gemeinde 
Arbeit  nachgewiesen  werden.  ,,Dem  Kranken  Unter- 


40  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  II. 

stiitzung,  dem  Gresunden  Arbeit",  heiflt  es  in  einer  alten 
Schrift.  Mcht  einen  altckristlichen  Rechtssatz  kann  man 
darans  ableiten,  wohl  aber  eine  briiderliche  Yerpflichtung. 
An  allgemeine  vorbeugende  Maflregeln  gegeniiber  der  Ar- 
mut  dachte  allerdings  niemand.  Die  Armut  ist  ein  Yer- 
hangnis,  das  durch  Almosen  gemildert  werden  soil.  An- 
dererseits  fuhrte  das  tiefe  Mifitrauen  gegen  den  ungerechten 
Mammon  niemals  oder  fast  niemals  zu  prinzipiellen  Mafl- 
regeln.  Auch  der  Reichtum  ist  ein  Yerhangnis,  dessen 
schwere  Folgen  man  durch  Liebe  zu  beseitigen  oder  doch 
zu  mildern  hat. 

Die  staatlichen,  rechtlichen  und  wirtschaffclichen  Ord- 
nungen  wurden  teils  anerkannt,  teils  geduldet.  Den  Kaiser 
und  die  Obrigkeit  soil  der  Untertan,  den  Herrn  der  Sklave 
respektieren;  umgekehrt  soil  der  Herr,  der  christliche,  im 
Sklaven  den  christlichen  Bruder  sehen.  Wie  sich  republi- 
kanische  Neigungen  in  der  altesten  Christenheit  nicht 
finden,  so  auch  keine  Bestrebungen  zur  Sklavenemanzipa- 
tion.  Aber  —  ein  Tertullian  halt  es  noch  nicht  fur  mog- 
lich,  dafi  ein  Kaiser  ein  Christ  sein  konne,  und  auch  die 
Sklaverei  gehort  zu  den  Einrichtungen,  die  mit  der  bosen 
Welt  verschwinden  werden. 

Der  Christ  soil  das  offentliche  und  staatliche  Leben 
moglichst  auf  sich  beruhen  lassen  —  wie  weit  er  sich  daran 
beteiligen  und  daran  bessern  durfe,  dariiber  gab  es  ver- 
schiedene  Meinungen  und  eine  verschiedene  Praxis.  Was 
man  innerhalb  der  Qemeinde  abmachen  und  entscheiden 
kann,  soil  nicht  aufs  Forum  getragen  werden,  und  von 
selbst  verstand  es  sich,  daJS  in  Ehe-  und  Familiensachen 
die  Kirche  dem  christlichen  G-esetze  folgte. 

Im  Laufe  des  2.  Jahrhunderts  vollzog  sich  langsam 
eine  folgenreiche  Entwicklung.  Hatte  es  von  Anfang  an 
freie  Missionare  und  Lehrer  gegeben,  die  sich  besondere 
Entsagungen  um  ihres  Berufes  willen  aufzuerlegen  hatten, 
aber  auch  besondere  Eechte  und  Ehren  genossen,  so  ver- 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  41 

schwinden  diese,  aber  an  ikre  Stelle  treten  gewaklte,  amts- 
mafiige  Vorsteker.  Sie  nekmen  einen  Teil  der  besonderen 
Verpnicktungen  jener  Lekrer  auf  sick,  und  man  siekt  in 
diesen  eine  kokere  Sittlickkeit;  aber  sie  erkalten  auck  die 
Reckte  jener  und  werden  in  steigendem  Mafie  die  Leiter 
der  Gemeinden.  Die  vergrofierten  Gemeinden  verlieren 
ikren  alten  Ckarakter,  der  auf  dem  freien  Zusammenwirken 
der  G-aben  der  Einzelnen  berukte,  und  wurden  zu  Gemein- 
sckaften  von  Leitern  und  Geleiteten;  an  der  Spitze  der 
Bisckof.  Die  Entwicklung  war  eine  natiirlicke  und  not- 
wendige;  aber  sie  entfesselte  dock  zwei  bisker  gebundene 
Eigensckaften,  die  Tragkeit  der  einen  und  die  Herrsck- 
suckt  der  anderen,  in  deren  Hande  alle  Gewalten  und  auck 
das  Vermogen  der  Kircke  kam.  Sie  ricktete  auck  einen 
neuen  spezifiscken  Untersckied  in  den  Gemeinden  auf,  der 
ganz  unabkangig  war  von  religiosen  und  sittlicken  Eigen 
sckaften. 

Und  nock  auf  etwas  anderes  ist  kinzuweisen:  Die 
Almosen  wurden  nickt  nur  aus  Bruderliebe  gegeben,  son- 
dern  auck  an  sick  gait  es  als  etwas  Gutes,  sick  seines  Be- 
sitzes  teilweise  zu  entaufiern.  Die  "Weltnuckt  begann  in 
das  Werk  der  Nackstenliebe  kineinzusprecken.  Soil  man 
sick  auck  kiiten,  dariiber  rigoristisck  abzuurteilen  —  der 
lebendige  G-laube  an  eine  zukiinftige  Welt  und  eine  zu- 
kunftige  Seligkeit  ist  immer  eine  sittlicke  Tat,  und  dieser 
G-laube  liegt  kier  zugrunde  — ,  so  ist  dock  nickt  zu  ver- 
kennen,  daB  egoistiscke  Absickten  und  eine  falscke  Vor- 
stellung  von  ,7Verdienstlickkeitu  nickt  feklten. 

Geken  wir  weiter  —  die  Kircke,  im  Laufe  des  3.  Jakr- 
kunderts  zu  einer  grofien  vom  Klerus  bekerrsckten  Anstalt 
entwickelt,  tritt  im  4.  mit  dem  Staat  in  die  engste  Ver- 
bindung  und  erkalt  eine  privilegierte  Stellung  in  ikm. 

In  ikren  Tkeorien  liber  Eigentum  und  Wirtsckafts- 
ordnung  wurde  die  Kircke  immer  kommunistiscker,  okne 


42  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.    Reden:  II. 

doch  den  letzten  Sckritt,  die  Forderung  allgemeiner  Preis- 
gabe  der  Giiter  oder  des  wirkliclien  G-emeinbesitzes ,  vor- 
zuschreiben.  Fast  alle  groflen  Kirchenvater  haben  AujBe- 
rungen  getan  wie:  ,,Aus  dem  Privateigentum  entspringt 
aller  Streit",  ,,der  G-eraeinbesitz ,  resp.  der  gleiche  Besitz 
1st  die  natiirliche,  ursprungliche  Ordnung",  nWas  Einer 
iiber  das  Notwendige  besitzt,  gehort  den  Armen",  »Der 
Luxus  der  Reichen  ist  Raub  an  den  Armen",  wDie  Armen 
erbitten  nicht  das  deinige,  sondern  das  ihrige".  Aber  letzt- 
lich  will  keiner  von  ihnen  das  Prinzip  der  Freiwilligkeit 
aufgegeben  wissen.  Einige,  wie  Lactantius,  bezeichnen  den 
Kommunisnms  Platos  ausdriicklich.  als  einen  Irrtum,  und 
andere  tragen  kein  Bedenken,  den  Eeichtum,  wenn  er 
recht  gebrancht  wird,  in  Schntz  zn  nehmen. 

Indessen,  die  allgemeine  Stimmung  scheint  doch.  zum 
bediirfnislosen  Kommnnismus  zu  streben.  Wie  ist  das 
motiviert?  Die  Bruderliebe  tritt  als  Motiv  nicht  deutlich 
hervor;  andere  Beweggrlinde  schieben  sich  vor.  Erstlich 
die  antike  Schatzung  des  beschaulichen,  bediirfnislosen 
Lebens  gegeniiber  dem  tatigen,  dazu  das  ?,N"aturrechtu  des 
Aristo teles  und  der  ,,Staat"  Platos,  wenn  man  ihn  anch 
kritisierte.  Sodann  die  Not  der  Zeit,  die  es  wie  eine  Er- 
losung  erscheinen  lieB,  von  allem  mit  einem  Schlage  los- 
zukommen.  Selbst  wer  sein  Vermogen  lieb  hatte,  konnte 
schliefilich,  nnter  dem  entsetzlichen  Stenerdruck  verzweifelnd, 
es  wegzuwerfen  vorziehen,  als  sich  langsam  ruinieren  zn 
lassen.  Dazn,  die  offentlichen  Zustande  waren  so  tjrrannisch 
und  wiederum  so  unsicher;  die  neue  Kaste  von  Reichen, 
die  sich  bildete,  haufig  so  unmenschlich ;  die  alte  Erbsiinde 
der  R/omer,  der  nahrige  Erwerbstrieb  und  der  Greiz,  so  ent- 
wickelt,  dafi  es  einem  nur  einigermafien  geweckten  Qefuhl 
unertraglich  wurde,  in  solch  einer  "Welt  zu  leben.  Bedenkt 
man  nun  dazu  das  alte  christliche  Mifitrauen  gegen  den 
ungerechten  Mammon,  die  Schwierigkeit,  die  Frage  zu  be- 
antworten,  wieviel  man  geben  soil,  weiter  die  Uberzeugung, 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  43 

dafi  alles  Weggeben  verdienstlich  1st  und  zum  Heile  der 
eigenen  Seele  geschieht,  endlich  das  vermeintliclie  Vorbild 
in  der  Bibel,  der  Kommunismus  der  G-emeinde  von  Jeru 
salem  —  so  begreift  man  die  kommunistisch-weltfluchtigen 
Neigungen. 

Aber,  wie  bemerkt,  das  Ergebnis  war  doch  nur  frei- 
williges  Geben,  Schenken,  Almosen,  nicht  der  Kommunis 
mus,  dazu  —  vielleicht  das  Wichtigste  —  eine  gewisse 
Erweichung  des  egoistischen  romischen  Eigentumsbegriffs. 
Eigentum  ist  FideikommiB,  das  unter  bestimmten  sittlichen 
Bedingungen  steht:  diese  Beurteilung  bahnte  sich  an.  Es 
ist  in  der  Geschichte  wie  in  der  Natur:  ein  scheinbar  nn- 
geheurer  Kraftaufwand  ist  notig,  um  eine  neue  bescheidene 
Frucht  hervorznbringen. 

Den  kommunistischen  Theorien  entspracli  das,  was 
die  Kirche  selbst  tat,  durchaus  nicht.  Vielmehr  erscheint 
sie  als  die  groBe  konservative  Macht,  die  in  ihrer  Mitte 
alle  alten  Ordnnngen  und  so  auch  die  Wirtschaftsordnung 
schiitzte.  Ja  man  kann  noch  mehr  sagen:  von  alien  Rechts- 
und  Wirtschaffcsordnungen  des  untergehenden  romischen 
Reichs  hat  sie  als  festgefugte  Anstalt  zuletzt  fast  allein 
noch  den  Vorteil  gehabt.  AuBer  und  neben  ihr  stiirzte 
alles  zusammen.  So  hat  sie  auch,  als  die  Sklavenwirtschaft 
zu  teuer  wurde,  als  sich  trotz  der  Bemiihungen  des  Staates 
allmahlich  die  Umsetzung  von  Sklaven  in  Horige  vollzog, 
vielleicht  am  langsten  selbst  Sklaven  gehalten,  obgleich  sie 
ihre  einzelnen  Grlieder  zu  dem  guten  Werk  der  Sklaven- 
befreiung  anfeuerte.  Sie  war  eben  allmahlich  die  grofite 
Grundbesitzerin  geworden,  weil  in  den  stiirmischen  Zeiten 
der  Volkerwanderung  aller  Privatbesitz  gefahrdet  war  und 
sie  grofle  Privilegien  genoC.  Sie  schiitzte  bei  dem  allge- 
meinen  Verfall  (,,populus  Romanus  moritur  et  ridet")  die 
alte  Kultur,  sie  leitete  als  grofie  Versicherungsanstalt  geist- 
licher,  geistiger  und  irdischer  Giiter,  alles,  was  noch  einer 
Dauer  fahig  war,  ohne  eigenmachtige  Umgestaltung  zu 


44  Z  welter  Band,  erste  Abteilung.     Reden :  II. 

neuen  Volkern  tiber:  das  war  —  so  diirfen  wir  heute  sa- 
gen  —  damals  ihre  soziale  Aufgabe.  Sie  reformierte  nicht, 
sondern  sie  konservierte.  Seit  dieser  Zeit  hat  die  verfafite 
Kirclie  bis  heute  ihren  Beruf  mehr  darin  erkannt,  in  dem 
Alten,  Absterbenden  die  noch  vorhandenen  guten  Krafte 
nachzuweisen  und  zu  bewahren,  als  darin,  neue  heilsame 
Krafte  zu  entfesseln.  An  den  grofien  wirtsehaftlichen  Um- 
walzungen  jener  Zeit  hat  sie  einen  bestimmenden  Anteil 
nicht  gehabt.  Ihrem  gewohnlich  nicht  gehaltenen  Zins- 
verbot  kann  man  eine  besondere  Wirkung  schwerlich  zu- 
schreiben. 

Wie  glich  sie  nun  ihre  Theorie  und  Praxis  aus?  Erst- 
lich  durch  eine  halbe  Fiktion,  durch  den  Gredanken,  sie 
selbst  sei  mit  ihrem  Vermogen  nichts  anderes  als  eine  groile 
Armen-Versorgungsanstalt,  sodann  aber  auch  durch  eine 
grofiartige  Liberalitat  gegeniiber  der  wachsenden  Armut 
und  in  dem  4. — 6.  Jahrhundert  auch  noch  durch  zahllose 
segensreiche  Anstalten  fur  Hilflose  aller  Art.  Diese  grofien 
Anstalten,  die  selbst  die  Bewunderung  des  Kaisers  Julian 
erweckt  haben,  losten  allmahlich  die  Q-emeindearmenpflege 
ab ;  aber  die  Gremeinden  verschwanden  iiberhaupt  allmahlich. 
An  ihre  Stelle  traten  die  von  den  Bischofen  geleiteten  Pa- 
rochien.  Auf  deutschen  Boden  z.  B.  ist  ein  Gremeinde- 
Christentum  iiberhaupt  nicht  gekommen.  Jene  Anstalten, 
so  heilsam  sie  waren,  nahmen  einen  aussichtslosen  Kampf 
auf  mit  dem  Massenelend;  aber  das  Grefuhl  des  einzelnen 
Christen,  dafi  er  fur  die  Lage  seines  Mitbruders  verant- 
wortlich  sei,  wurde  immer  schwacher.  Je  starker  die  Kirche 
den  Laien  religios  bevormundete,  um  so  egoistischer  wurde 
er  im  Religiosen.  Eine  Kirche,  die  nur  Kirche  und  nicht 
Gremeinde  ist,  isoliert  auch  den  Frommsten  und  macht  ihn 
selbstsiichtig. 

Aber  man  kann  von  der  alten  Reichskirche  nicht 
sprechen,  ohne  den  wichtigen  EinfLufi  zu  erwahnen,  den 
sie  auf  die  Gesetzgebung  des  romischen  E/eichs,  bevor  es 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  45 

unterging,  ausgeubt  hat.  Hier  lag  ein  grofier  sozialer  Be- 
ruf,  den  sie  erfullt  hat.  Nicht  nur  in  flagrant!  traten  edle 
und  nmtige  Bischofe  grausamen  und  ungerechten  Kaisern 
und  Staatsbeamten  entgegen  und  schiitzten  die  Unschuld, 
die  Schwachen  und  Hilf  losen  —  auch  auf  die  Gesetzgebung 
haben  sie  von  den  Tagen  Konstantins  an  den  heilsamsten 
Einnufl  ausgeubt.  Aus  dem  romischen  Gesetzbuch  Justi- 
nians  konnte  ich  Hmen  eine  lange  Reihe  von  Gresetzen  auf- 
zahlen,  die  sittliche  Hebung  ganzer  miBachteter  Stande, 
die  Heiligkeit  der  Ehe,  den  Schutz  der  Schwachen,  Kinder- 
fursorge,  G-efangenenpflege,  offentliche  Sittlichkeit,  Sonntags- 
ruhe,  ja  auch  Eigentumsfragen  betreffend,  die  imter  der 
Einwirkung  der  TCirche  entstanden  sind. 

Aber  trotz  dieses  Einflusses  —  die  Verbindung  von 
Kirche  und  Welt  wurde  doch  von  den  Frommsten  als  ein 
libel  empfunden.  Aus  isolierten  Asketen  bildeten  sich  aske- 
tische  Gemeinschaffcen.  Das  Monchtum  wachst  seit  dem 
Ende  des  3.  Jahrhunderts  auf,  der  Stand  des  ?,apostolischen 
Lebens",  der  Vollkommenen,  zur  sicheren  Rettung  der 
eigenen  Seele,  aber  auch  im  Sinne  christlicher  Freiheit. 
Die  "Weltkirche  erkennt  sie  an,  und  sie  las  sen  die  Welt- 
kirche  als  ein  christliches  G-ebilde  zweiter  Ordnung  gelten. 
Damit  ist  besiegelt,  was  langst  vorbereitet  war,  der  Yer- 
zicht  darauf,  das  hochste  christliche  Lebensideal,  wie  man 
es  verstand,  wirklich  in  das  Leben  der  Nationen  einzu- 
fiihren.  Dieses  Monchtum,  aus  der  heiligen  Indifferenz  ge- 
boren,  ist  urspriinglich  kein  karitativer  Faktor  und  ist  auch 
lange  Zeit  hindurch  kein  solcher  geworden;  aber  ein  wirt- 
schaftlicher  wurde  er  bald,  und  zwar  in  einem  ganz  anderen 
Sinn  als  man  es  erwartet. 

Die  Kirche  kommt  zu  den  Germanen,  und  an  die  Stelle 
der  Homer  treten  die  Eomanen.  Erst  diese  Volker  sind 
die  Kinder  der  katholischen  Kirche.  Darum  kommt  auch 
erst  im  Mittelalter  die  Theorie  und  die  Praxis  der  Kirche 


46  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  II. 

zur  wirklichen  Herrschaft:  nicht  inehr  steht  die  antike  Ge- 
sellschaffc  neben  ihr.  Ideen,  samtlich  im  Jenseits  wurzelnd, 
bestimmen  das  geistliche  und  geistige  Leben;  die  Furcht 
vor  dem  Jenseits  und  dem  Fegfeuer  und  die  Hoffnung 
regieren.  Die  heilige  Indifferenz  gegen  die  Welt  und  die 
Angst  urn  das  individuelle  Seelenheil  lassen  den  Gedanken 
des  selbstandigen  Rechts  des  Diesseits  nicht  aufkommen. 
Man  ist  davon  durehdrungen,  dafl  das  Irdische  nur  Mittel, 
Form,  Hiille,  wo  nicht  Schlimmeres  ist.  Wer  iiberhaupt 
sann  und  dachte,  lebte  im  Jenseits  —  wie  genau  kannte 
man  es!  —  daneben  lebte  man  mit  bosem  Gewissen  in 
naiver  Sinnlichkeit. 

Alle  irdischen  Verhaltnisse  sind  korporativ  gestaltet; 
der  einzelne  ist  fast  nur  Reprasentant  des  Standes,  dem  er 
angehort.  Wehe  dem  fahrenden  Volk!  Geherrscht  wurde 
mit  Kraft,  der  Beherrsehte  ist  in  der  R/egel  auch  der  Ver- 
sorgte  und  halt  seinen  Dienst  fur  Naturbestimmung.  Nur 
die  Ungleichheit  des  Vermogens  und  die  Willkiir  seiner 
Verwaltung  bringt  einen  Zug  der  Freiheit  und  Mannig- 
faltigkeit  in  die  eherne  soziale  Kastenordnung.  Eben  des- 
halb  wird  dieses  unfugsame  Element  beargwohnt,  zumal 
der  Handel. 

In  den  langsamen  Verlauf  der  wirtschaftliehen  Ent- 
wicklung  von  der  primitiven  Naturalwirtschaft  bis  zur 
Geldwirtschaft  greift  die  Kirche  nicht  ein;  vielmehr  umge- 
kehrt  —  sie  wird  als  grofie  Besitzerin  durchgreifend  von 
ihr  bestimmt.  Selbst  vom  Monchtum  gilt  das.  Man  kann 
die  grofien  Reformen  des  abendlandischen  Monchtums,  wie 
das  Uhlhorn  jiingst  gezeigt  hat,  auch  als  die  Exponenten 
der  wirtschaftliehen  Entwicklung  auffassen.  So  bedeutet 
das  Klosterwesen  von  Clugny  eine  grofle  wirtschaffcliche 
Reform  in  Frankreich,  nachdem  das  Frankreich  der  Karo- 
linger  zerstort  war.  Nur  grofle  Monchsunterneh m ungen 
konnten  als  Grofigrundwirtschaften  in  vielen  Teilen  des 
Reichs  der  Bevolkerung  eine  neue  Existenz  bereiten.  Die 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  47 

Formen,  welche  die  Bettelorden  annahmen,  entsprachen 
dem  aufstrebenden  Stadtewesen  und  der  Geldwirtscliafb. 
Die  groflen  Klosterverbande  sind  fur  manche  Gegenden 
landwirtschaftliclie  Ringe  gewesen  mit  patriarchalischer 
Fiirsorge  for  die  Eingeborenen.  Und  iiberall  gehoren  bis 
zum  13.  Jahrhundert  die  Kleriker  und  Monche  zum  Herren- 
stand.  Was  sie  an  Kulturarbeit  und  Liebestatigkeit  ge- 
leistet  haben,  entsprang  in  der  Regel  nicht  dem  Motiv  der 
Bruderliebe,  sondern  der  Absicht,  sich  auch  wirtschaftlich 
als  die  Herren  und  Patrone  zu  behaupten. 

Die  Kirche,  nun  vollstandig  zu  der  iiber  alien  stehen- 
den  hierarchischen  Anstalt  entwickelt,  bleibt  dabei,  dem 
einzelnen  ein  ganz  anderes  Verhalten  gegeniiber  dem  Be- 
sitz  vorzuschreiben ,  als  sich  selber,  und  sie  deckt  diesen 
Widerspruch  noch  immer  durch  die  Fiktion,  dafi  sie  die 
Caritas  selber  sei.  So  lange  sie  in  ihren  grofien  Papsten 
fur  Recht  und  Gerechtigkeit  eintrat  und  wirklich  eine 
sittigende  und  erziehende,  helfende  und  schiitzende  Macht 
war,  ertrug*  man  den  Widerspruch. 

Durch  ihre  Theologen  laflt  sie  den  Gemeinbesitz  als 
die  naturliche,  paradiesische  Ordnung  verkiindigen,  leitet 
diesen  Gedanken  in  der  Regel  zu  dem  anderen  der  Besitz- 
und  Bediirfnislosigkeit  iiber,  preist  das  in  freiwilliger  Ar- 
mut  beschauliche  Leben  und  sieht  in  der  Arbeit  vor  aliem 
eine  Siindenstrafe.  Wie  kann  sie  aber  in  der  Praxis  der 
unfreiwilligen  Armut  als  einem  libel  energisch  begegnen, 
wenn  sie  die  freiwillige  fur  ein  Gut  erklart,  und  wenn  sie 
die  unfreiwillige  fur  notwendig  erachtet,  damit  das  ver- 
dienstliche  Almosen  moglich  sei!  Wie  kann  sie  Arbeit  und 
Tatigkeit  befordern,  wenn  sie  dem  Ideal  der  Beschaulich- 
keit  noch  immer  nichts  iiberzuordnen  weifi!  Nur  das  Al 
mosen  bleibt  iibrig;  denn  nur  die  Existenz  des  Elends  in 
der  Welt  verschafft  den  Tatigen  und  Besitzenden  die  Mog- 
lichkeit,  selig  zu  werden!  Ein  Fortschritt  hier  ist  insofern 
versucht,  als  man  sich  bemuht,  nun  genau  anzugeben,  wie 


48  Zweiter  Band,  erste  Abteihmg.     Reden:  II. 

weit  eine  wirkliclie  Heehtspflicht  des  Gebens  fur  den  Be- 
sitzenden  reicht.  Eine  solche  wird  anerkannt,  nnd  das  1st 
hochbedeutsam.  Aber  die  Bestimmnngen ,  die  man  traf, 
blieben  auf  dem  Papier,  fiihrten  in  eine  pharisaische  Ka- 
suistik  und  stumpften  den  sittlichen  IsTerv  ab.  Sie  erzeugten 
die  Illusion,  als  habe  man  genug  getan,  wenn  man  dem 
Naehsten  in  der  aufiersten  Not  einen  kleinen  Teil  des  Uber- 
flusses  gebe.  So  batten  es  jene  Scholastiker  nicht  gemeint, 
die  in  kiihnen  Strichen  das  Bild  eines  christlich-sozialen 
Staates  zeichneten;  aber  so  wurde  es  von  vielen  verstanden. 
Wie  lehrreich  ist  es,  dafi  der  einzige  Versuch,  den  wir  in 
der  Kirchengeschichte  kennen,  den  Umfang  der  Liebespflicht 
und  Vermogensentaufierung  als  Rechtspflicht  zu  bestimmen, 
die  Liebe  beschrankt  und  gelahmt  hat! 

Was  sich  aus  dem  alien  entwickelte,  war  eine  fort- 
schreitende  Erweichung  des  Eigentumsbegriffes ,  dabei  ein 
massennaffces  Almosengeben,  eine  unzweckmafiige  Q-iiter- 
verscHeuderung.  DaB  durch  Almosen  dem  Pauperismus 
nicht  abzuhelfen  sei,  dafur  leistet  das  Mittelalter  den  Be- 
weis.  Doch  hat  die  Caritas  gerade  damals  haufig  den 
Bann  der  heiligen  Indifferenz  und  der  nVerdienstlichkeit" 
durchbrochen.  limner  wieder  traten  groBe  geheiligte  und 
opferfreudige  Personen  auf,  die  nicht  nur  Bufie  predigten, 
sondern  auch  Barmherzigkeit.  Eine  Kette  von  solchen  lauft 
vom  11.  Jahrhundert  bis  zum  15.,  bis  zu  Savonarola.  Sie 
taten  das,  was  heute  unsere  Opferfreudigen  nur  selten  tun: 
sie  lebten  selbst  wie  die  Armen.  Aber  doch  —  die  Frommen 
und  Barmherzigen  suchten  Wunden  zu  heilen,  die  sie  selbst 
absichtlich  offen  hielten,  und  die  Hilfleistung  von  Person 
zu  Person  schob  bald  wieder  einer  auf  den  andern  ab,  bis 
sie  bei  den  Medersten  hangen  blieb. 

Der  Umschwung  beginnt  im  14.  Jahrhundert.  Dem 
Ubergang  zur  Greldwirtschaft  kommt  die  Kirche  mit  ihrer 
Naturalwirtschaft  nicht  nach.  Die  Kloster  als  grofie  Gruts- 
wirtschaften  verarmen.  Die  romische  Kurie  verwandelt 


Die  evangelisch-soziale  Aufgafoe.  49 

sicli  allmahlich  in  ein  unzweckmafiig  geleitetes  Finanz- 
institut.  Hierlier  gehort  der  Aufschwung,  den  das  Ablafi- 
wesen  nimmt.  Die  Volker  und  die  Laien  entdecken  end- 
lich  den  Widerspruch  zwischen  der  Predigt  der  Kirche  und 
ihrem  wirklichen  Verfahren.  Als  Finanzinstitut  kommt  die 
Kirche  in  Miflkredit. 

Gleichzeitig  begannen  sich  die  Anschauungen  in  bezug 
auf  Arbeit,  Besitz  und  Armut  langsam  zu  andern  —  nicht 
prinzipiell,  sondern  unter  dem  Druck  geanderter  Verhalt- 
nisse.  Ein  dunkles,  aber  gebieterisch.es  Bewufitsein  entsteht 
von  einer  notwendigen  sittlichen  Aufgabe,  die  nicht  in  der 
Zelle  gelost  werden  kann.  Schon  die  Bettelmonche  sind 
keine  Monche  mehr.  Sie  stehen  und  arbeiten  in  der  Welt. 
Der  Antrieb  wirkt  weiter.  Ein  Halbes-,  ja  ein  Viertels- 
Monchtum  entsteht  --  freie  fromme  Genossenschaften,  die 
einen  Teil  der  monchischen  Regeln  auf  sich  nehmen,  aber 
fur  andere  in  mannigfaltiger  Weise  arbeiten:  einem  Armen 
ein  Siipplein  geben  ist  besser  als  tatenlose  Beschaulichkeit. 

Jetzt  dammern  auch,  indem  sich  die  Staaten  und  Volker 
von  der  verweltlichten  Theokratie  Roms  emanzipieren,  die 
besonderen  und  selbstandigen  PfLichten  auf,  welche  Staat 
und  Stadt  fur  die  irdische  Wohlfahrt  ihrer  Burger  haben. 
Sogar  ein  Zweig  der  scholastischen  Theologie  geht  auf 
diese  Q-edanken  ein.  Dazu  arbeitet  sich  aus  den  Standen 
und  Kasten  des  Mittelalters  die  einzelne  Personlichkeit,  ihr 
E^cht  und  ihr  Wert  hervor.  Man  beginnt  in  den  Stadten 
unter  dem  Segen  frischer  Arbeit  und  unter  dem  Druck  der 
Notwendigkeit  einzusehen,  dafi  die  irdische  Wohlfahrt  ein 
Gut  ist,  dafi  sie  einen  selbstandigen  Wert  hat  und  doch 
auch  mit  dem  Sittlichen  und  Ewigen  in  Verbindung  steht. 
Damit  bekommt  die  EQlfleistung  wieder  ein  einfaches  Ziel 
und  fordert  neue  Methoden.  So  ist  die  Reformation  auch 
auf  dieser  Linie  vorbereitet. 

Aber  alles  ist  doch  noch  niedergehalten  durch  die 
Furcht  vor  dem  Jenseits  und  die  Idee  der  Verdienstlich- 

Harnack,  Reden  und  Anfsatze.    2.  Aufl.    n.  4 


50  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  II. 

keit,  der  man  bei  allem  Suchen  und  Tasten  nichts  entgegen- 
zustellen  vermag.  Einige  Ansatze  zur  biirgerlichen  Armen- 
pflege  abgerechnet,  1st  noch  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts 
alles  in  bezug  auf  soziale  Hilfleistung  aufierlich  so  wie 
im  13.  Jahrhundert.  Nbch  immer  1st  das  Betteln  ein  Stand, 
„ Arbeit"  und  Kunst;  noch  immer  ist  die  Arbeitsscheu,  von 
den  zahlreichen  Feiertagen  gleichsam  legitimiert,  das  ver- 
breitetste  Laster.  Das  sittliche  BewuBtsein  hat  noch.  keine 
neue  Stellung  zu  Elend  und  Not  gewonnen.  Die  grofien 
Besitzverschiebungen  beim  Ubergang  zur  G-eldwirtschaft, 
das  ungeheure  Schwanken  der  Preise,  der  Verfall,  in  den 
ganze  Klassen  gerieten  und  wiederum  ihr  Aufstreben  und 
Sich-selbst-fiihlen  ruft  grofie  Krisen  hervor.  Die  Aufstan- 
dischen  ergehen  sich  in  zornigen  Miichen  liber  die  Kirche 
und  sehen  in  den  herrschenden  Zustanden  in  Staat  und 
Kirche  das  Reich  des  Satans  und  des  Antichrists.  Aber 
das  Ideal,  das  sie  dem  entgegensetzen,  ist  besten  Falls  das 
alte  kommunistische  Ideal,  mit  dem  es  die  Kirche  langst 
im  Monchtum  versucht  hatte,  in  der  Eegel  aber  ein  naives 
seltsames  Gremisch  von  franziskanischer  Bedurfnislosigkeit 
und  irdischer  Begehrlichkeit,  das  mit  Grewalt  durchgesetzt 
werden  soil,  weil  das  Ende  nahe  ist.  Erst  am  Schlufi  der 
Periode  klart  sich  einiges  zu  erfullbaren,  zukunftsreichen . 
Forderungen  ab. 

Die  Reformation  tritt  ein.  Im  Politisch-Sozialen  folgt 
sie  ganz  den  Zustanden,  wie  sie  sich  im  Lauf  zweier  Jahr- 
hunderte  gebildet  hatten.  Man  kann  die  sozialwirtschaftlichen 
Anschauungen  der  Reformation  fast  von  dorther  konstruieren. 
Aber  das  Neue  ist,  dafi  sie  aus  dem  Evangelium  legitimist 
werden  und  dadurch  ein  religioses  Fundament  erhalten. 
Welches  sind  die  Ideen,  und  wie  gestaltete  sich  die  Praxis? 

Die  Theorie  ist  von  Luther  ausgesprochen  in  seinem 
Sermon  von  den  guten  Werken,  in  der  Schrift  an  den 
christlichen  Adel,  in  dem  Biichlein  von  der  christlichen 
Freiheit  und  sonst.  Erstlich  —  auch  er  wiirdigt  das  G-rund- 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  51 

element,  was  sich  in  der  alten  Kirche  und  im  Mittelalter 
als  ,,heilige  Indifferenz"  darstellte,  aber  er  fafit  es  in  der 
einfachsten,  reinsten  und  kraftigsten  Gestalt,  namlich  als 
unerschiitterliche  Zuversicht  zu  Grott,  als  G-ottvertrauen ; 
eben  darum  erscheint  es  nicht  nnr  als  ein  quietistisch.es, 
weltfluchtiges ,  sondern  auch  als  ein  aktives,  iiberweltliches 
Element:  ein  Christenmensch  ist  im  Glauben  ein  freier 
Herr  iiber  alle  Dinge.  Das  ist  das  eine.  Das  andere  aber 
ist  die  R/uckkehr  zur  Nachstenliebe  aus  dem  selbstsiichtigen 
Raffinement  der  Almosen.  Der  BegrifF  der  Nachstenliebe 
wird  wieder  vereinfacht,  aber  eben  dadurch  vertieffc:  nein 
freiwillig  und  frohlich  Leben  dem  Nachsten  zu  dienen  um- 
sonst".  Der  Verdienstlichkeit  der  guten  Werke  werden  die 
Wurzeln  abgeschnitten;  denn  Qott  will  mit  uns  nicht  anders 
handeln,  denn  durch.  Gnade  und  Grlauben.  Damit  wird 
die  isolierte  Schatzung  der  Almosen  und  guten  "Werke  auf- 
gehoben;  sie  empfangen  ihre  Stellung  in  dem  stetigen, 
gemeinniitzigen  Wirken  im  Beruf ,  wenn  der  Mensch  nicht 
sich  selber,  sondern  Grott  und  seinem  Nachsten  lebt.  Ein 
Christenmensch  ist  in  der  Liebe  ein  Knecht  aller  Dinge. 
Aber  auch  den  untrennbaren  Zusammenhang  von  G-ottes- 
und  Nachstenliebe  weifi  Luther  zu  wiirdigen.  Er  fafit  ihn 
nur  inniger:  jeder  weltliche  Beruf,  im  Glauben  geiibt  und 
dem  gemeinen  Nutzen  dienend,  ist  ein  Gottesdienst.  Alle 
Liebestatigkeit,  alle  soziale  Fiirsorge  wird  zum  Spezialfall 
in  einem  Verhalten,  das  stetige  Gesinnung  sein  soil  und 
im  Beruf  seine  Sphare  hat.  Wie  Luther  sich  iiber  die 
Menge  nutzloser  Almosen  ereifert,  so  ereifert  er  sich  auch 
gegen  die  ^Liebe",  die  die  auGerste  Not  abwartet  und  sich 
auf  die  Erfullung  minimaler  Rechtspflichten  beschrankt. 
Dabei  erkennt  er  irdische  Giiter  als  Giiter  an,  wenn  auch 
als  geringe ;  auch  wiirdigt  er  die  Arbeit,  wenn  sie  im  rechten 
Sinne  geschieht,  hoher  als  die  mittelalterlichen  Theologen. 
Sie  ist  nicht  nur  negotium,  Mangel  an  otium,  sondern  ein 
frohliches  Tun. 

4* 


52  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Heden:  II. 

Aus  solchen  IJberzeugungen  mufiten  neue  Grundsatze 
fur  die  soziale  Aufgabe  folgen.  Ich  nenne  nur  die  wichtig- 
sten:  Erstlich,  es  soil  wirklich  geholfen  werden,  Hilfe  ist 
das  letzte  und  einzige  Ziel;  zweitens,  es  soil  nur  den  Hilf- 
losen,  nicht  den  Arbeitsscheuen  gegeben  werden;  drittens, 
es  soil  zweckmafiig  und  nicht  in  TJberflufi  geholfen  werden; 
viertens,  es  soil  geregelt  geholfen  werden;  fiinftens  endlich, 
zu  solcher  Hilfleistung  ist  vor  allem  die  biirgerliche  Q-e- 
meinde,  die  Obrigkeit,  kurzum  die  irdische  Grewalt  ver- 
pflichtet;  denn  sie  ist  von  Grott  mit  der  Sorge  fur  die 
irdische  Wohlfahrt  betraut;  aber  sie  selbst  soil  sich  als  ein 
christlicher  Stand  wissen  und  betatigen. 

Mit  deni  alien  ist  wirklich  in  der  Reformationszeit  ein 
gewisser  Anfang  gemacht  worden.  Hier  und  dort  wurden 
die  vorhandenen  Mittel  konzentriert,  wurde  ein  ^gemeiner 
Kasten"  errichtet,  wurden  Armenpfleger  eingesetzt,  Armen- 
steuern  auferlegt.  Aber  —  man  kann  es  leider  kurz  sagen: 
es  wurde  schliefilich  nichts  Erhebliches  geschaffen;  ja  man 
mufi  noch  mehr  sagen:  die  Katholiken  haben  Recht,  wenn 
sie  behaupten,  nicht  wir,  sondern  sie  hatten  im  16.  Jahr- 
hundert  einen  Aufschwung  des  karitativen  Lebens  erfahren. 
und  im  Qebiete  des  Luthertums  sei  es  mit  der  sozialen 
Fiirsorge  bald  schlimmer  bestellt  gewesen,  als  es  vorher 
war.  Woher  diese  niederschlagende  Erscheinung?  "Wie  ist 
es  gekommen,  dafi  die  Bewegung,  welche  neue  und  bessere 
Grrundsatze  aufgestellt  hat,  faktisch  zunachst  gar  nichts 
gebessert  hat? 

Aus  den  Antworten  auf  diese  traurige  Frage  konnen 
wir  noch  heute  sehr  viel  lernen. 

Zunachst  mufi  man  sich  erinnern,  dafi  Luther  bei  aller 
hoher  Schatzung,  die  er  von  Anfang  an  fur  den  Staat  und 
die  Obrigkeit  gehabt  hat,  doch  ursprunglich  die  erneuerte 
Kirche  schlechthin  auf  der  Gremeinde  erbauen  wollte.  Gre- 
meindebildung  auf  genossenschaftlicher  Grrundlage,  auf  den 
Prinzipien  christlicher  Freiheit,  Briiderlichkeit  und  Grleich- 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  53 

heit  schwebte  ihm  vor.  Das  nationale  Element  —  aber 
die  Nation  war  das  romische  Reich,  deutscher  Nation  — 
sollte  dabei  auch  zum  Ausdruck  kommen,  und  eine  Ver- 
besserung  der  gesamten  wirtschaffclichen  und  kulturelleii 
Lage,  eine  Hebung  der  gedriickten  Stande  war  ins  Auge 
gefafit.  Fiir  ihn  waren  das  freilich  keine  selbstandigen 
Ideale;  vielmehr  war  es  ihm  gewLC,  dafi  sie  sich  mit  der 
Wiederherstellung  des  Evangeliums  wie  von  selbst  ver- 
wirklichen  wiirden.  Er  konnte  sie  daher  auch  zeitweilig 
preisgeben  und  sich  gedulden,  wenn's  sein  mufite:  nur  das 
Evangelium  sollte  freie  Bahn  erhalten. 

Aber  er  durfte  nicht  erwarten,  so  verstanden  zu  werden. 
Kam  doch  seine  Botschaft  groflen  Standen  entgegen,  die 
unter  Druck  und  Not  seufzten,  aber  nicht  mehr  knechtisch 
genug  waren,  sie  zu  ertragen  —  der  slid-  und  mitteldeutsche 
Bauernstand  und  der  niedere  Handwerkerstand.  Und  grade 
damals  hatten  sich  die  Anspriiche  geklart  und  schienen 
jene  Stande  wiirdig  und  stark  zu  sein,  um  von  den  bevor- 
zugten  Klassen  der  Gresellschaft  etwas  fordern  zu  diirfen  — 
eine  berechtigte  Stellung  unter  ihnen.  Damals  schien  das 
Ideal  der  Verwirklichung  nahe,  alle  Stande  zu  einer  grofien 
briiderlichen  Yereinigung  zusammenzuschliefien ,  die  Privi- 
legien  der  Greistlichkeit,  des  Adels,  der  Ziinfte  zu  verkiirzen 
und  die  Nation  auf  neuer  sozialer  Grundlage  zu  bauen. 
Wie  muflten  die  Gredriickten  den  Schriften  Luthers  zujubeln, 
wie  dem  Manne,  der  der  geplanten  Befreiung  die  Bestatigung 
durch  das  Evangelium  gab!  wGrott  will  es",  das  lasen  sie 
aus  jenen  Schriften  heraus. 

Sie  wissen,  wie  es  endete.  Die  Schuld  liegt  bei  alien; 
aber  die  grofiere  Schuld  liegt  bei  den  Fiirsten,  Herrn  und 
Stadten,  die  die  revolutionar  gewordene  Bewegung  in 
Stromen  von  Blut  untergehen  liefien.  Und  auch  Luther 
ist  nicht  schuldlos.  Man  mag  eine  feine  Qrenze  ziehen 
und  sagen:  er  hatte  nicht  Schuld,  sondern  er  war  schuld, 
Man  mag  die  Gegenfrage  aufwerfen,  wie  er  hatte  handeln 


54  Z welter  Band,  erste  Abteilung.    Eeden:  II. 

sollen:  Eines  1st  gewiB  —  der  deutsche  Staat,  die  deutsch- 
evangelische  Kirclie  liaben  vom  Banernkrieg  her  noch  eine 
Schuld  einzulosen  und  eine  Yerpflichtung  zu  erfullen.  Ein 
grower  Moment  ist,  wenn  nicht  alles  tauscht,  damals  ver- 
absaumt  worden. 

Das  Programm,  auf  der  breiten  Basis  der  Gemeinde 
die  Kirche  zu  bauen  und  die  gleichberechtigten  Stande  in 
ihr  zu  briiderliclier  Einheit  zu  verbinden,  fallt  dahin:  die 
weltliche  Obrigkeit,  die  Fursten,  und  —  die  Theologen 
sollen  die  neue  Kirche,  die  man  plotzlich  hatte,  einrichten 
und  leiten. 

Aber  wenn  man  die  ursprunglichen  Ideale  auch  preis- 
gab,  wie  ist  es  gekommen,  dafi  man  im  Sozialen  so  bitter 
wenig  erreichte,  ja  sogar  teilweise  ninter  der  Yergangen- 
heit  zuriickblieb?  Warum  haben  jene  oben  bezeichneten 
Grrundsatze  nicht  wenigstens  eine  sparliche  Frucht  gebracht? 
Eine  Reihe  von  Grriinden  hat  hier  zusammengewirkt.  Erst- 
lich  waren  die  Theologen  einseitig  auf  die  reine  Lehre  be- 
dacht,  und  ihr  Grundsatz,  daB  alle  Werke  doch  immer 
unvollkommen  bleiben,  stahlte  die  Kraft  und  Opferwillig- 
keit  nicht.  Der  Gredanke  der  Verdienstlichkeit  war  rnit 
Recht  ausgeschlassen ;  aber  zu  einem  hoheren  Gredanken 
mufite  erst  erzogen  werden.  Der  Trage  und  Selbstsiichtige 
liefi  es  sich  gern  sagen,  daB  Grott  sich  aus  guten  "Werken 
nichts  mache.  Sodann  fehlte  bald,  weil  die  G-emeinde  fehlte, 
auch  die  Genossenschaft;  ohne  Genossenschaft  lafit  sich 
aber  im  grofien  nichts  erreichen.  Man  gewohnte  sich  daran, 
dafi  die  hohe  Obrigkeit  alles  zu  tun  habe,  und  diese  tat 
immer  weniger.  Weiter  steigerte  sich  nach  dem  Bauern- 
krieg  wieder  die  allgemeine  Not.  Die  Masse  der  freiwilligen 
und  unfreiwilligen  MiiBigganger  war  ungeheuer,  und  in 
dem  unfreien  Volk  lieB  sich  keine  Freude  an  der  Arbeit  er- 
wecken.  Ferner  war  die  finanzielle  Lage  der  lutherischen 
Landeskirchen  bald  eine  sehr  kummerliche.  Ohne  eigenes 
Yermogen,  bald  nur  Dependenzen  des  Staates,  mufiten  sie 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  55 

oft  zufrieden  sein,  wenn  nur  Pfarrer  und  Schulen  eine 
kiimmerliclie  Dotation  erhielten.  Der  ,,gemeine  Kasten", 
wo  er  bestand,  schrumpfte  zusammen;  die  direkte  Armen- 
pflege,  ohne  Erfahrung  und  ohne  geschulte  Krafte  unter- 
nommen,  wurde  wieder  von  einem  zum  andern  geschoben, 
bis  sie  erlosch.  Weiter  —  mit  dem  neuen  Furstenrecht 
und  der  Rezeption  des  romischen  Rechts  dringt  auch  der 
romische  Eigentumsbegriff  wieder  ein  und  verdrangt  die 
altere  bessere  Einsicht.  Endlich  —  geistige  Verarmung 
und  Verkriippelung  ist  uberall  die  Signatur  der  Epigonen 
des  Luthertums.  Sie  haben  iiberall  den  engsten  Horizont: 
wie  konnte  da  in  irgend  welcher  Richtung  etwas  Bedeutendes 
geschehen!  Das  war  der  Zustand,  als  der  dreifiigjanrige 
Krieg  ausbrach,  der  unsere  Nation  nahezu  um  ihre  Existenz 
gebracht  hat. 

Aber  man  darf  bezeugen,  daB  es  auf  reformiertem 
Boden  viel  besser  aussah  als  auf  lutherischem.  Die  Eefor- 
mierten  hatten  Gremeinden;  sie  waren  im  Handeln  ener- 
gischer,  weil  sie  sich.  nicht  ausschliefilich  auf  die  Predigt 
des  reinen  Worts  beschrankten,  und  weil  sie  in  der  Hegel 
nicht  in  der  Lage  waren,  der  weltlichen  Obrigkeit  zu  ver- 
trauen.  Sie  entnahmen  dem  Neuen  Testament  auch  Gre- 
sichtspunkte  und  Einrichtungen  fiir  das  kirchlich-soziale 
Handeln;  sie  erweckten  das  echte  Diakoneninstitut  wieder; 
sie  suchten  im  Gregensatz  zum  Katholizismus  wirklich  eine 
neue  christliche  Gresellschaft  zu  erziehen  und  haben  sie 
erzogen. 

Erscheinungen  wie  das  Leben  der  reformierten  Eliicht- 
lingsgemeinden,  wie  die  Presbyterianer  in  Schottland,  die 
Hugenotten  Erankreichs,  hat  der  lutherische  Protestantis- 
mus  zunachst  nicht  hervorgebracht.  Weit  iiber  bloBe 
Armenpflege  und  Eiirsorge  hinaus  ist  dort  ein  evange- 
lisches  Volk  erwachsen,  in  welchem  die  Religion  die  Stande 
zu  einer  briiderlichen  Vereinigung  zusammenband  und 
wirklich  eine  neue  gemeinsame  soziale  Lebensordnung  ohne 


56  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     E,eden:  II. 

Kommunismus  scliuf.  Ja  die  Puritaner,  die  die  Neu-England- 
Staaten  gegriindet  kaben,  haben  Generationen  kindurck 
den  Beweis  geliefert,  dafi  ein  Gemeinwesen  auf  Erden 
moglick  ist,  in  welckem  Religion  und  Sittlichkeit  so 
machtig  sind  wie  das  Reckt. 

Bei  uns  in  Deutsckland  war  die  nackste  Folge  des 
dreifiigjakrigen  Krieges  eine  ungekeure  Steigerung  der 
Klassen-  und  Standeuntersckiede  und  die  Durckfukrung 
des  auf  den  Adel  sick  stiitzenden  Absolutismus.  Vielleicht 
koniite  nur  so  das  Minimum  von  Kultur  geschiitzt  werdeii, 
welches  man  nock  besafi.  Dann  aber  zeigte  sick,  dafi  in 
der  lutkeriscken  Kircke  dock  nock  Krafte  vorkanden  waren, 
und  dafi  sie  gleicksam  latente  Sckatze  besafl,  die  nur  ge- 
koben  zu  werden  brauckten.  Damit  sind  wir  bereits  zu 
den  Wurzeln  unserer  gegenwartigen  Zeit  vorgesckritten; 
denn  nock  keute  steken  wir  in  der  Entwicklung,  die  mit 
dem  Aufkommen  des  Pietismus  einerseits,  der  Aufklarung 
andererseits  begonnen  kat. 

Der  Pietismus  kat  das  Bewufitsein  und  die  Verpflick- 
tung  zur  Liebestatigkeit  im  Protestantismus  wackgerufen. 
Indem  er  die  Religion  ernst  und  personKck  nakm  und  sie 
erwarmte,  kam  auck  sofort  wieder  der  Nackste  in  Sickt. 
Die  Vater  des  Pietismus  kaben  den  macktigen  Antrieb  zur 
Liebestatigkeit  und  Armenfursorge  gegeben,  sowokl  zur 
burgerlicken,  wie  zur  privaten  und  genossensckaftlicken. 
Was  bis  keute  an  ckristlicker  Liebestatigkeit  von  ckrist- 
licken  Vereinen  geleistet  worden  ist  und  nock  geleistet 
wird,  kat  zum  grofiten  Teil  dort  seine  Wurzeln.  Aber 
seine  Grenzen  kat  sick  der  Pietismus  stets  ziemlick  enge 
gesteckt  und  auck  die  Mittel  kat  er  einseitig  ausgewalilt. 
Mit  dem  Anstaltlicken  wollte  er  es  zwingen.  Die  G-e- 
meindeorganisation ,  die  allerdings  nur  in  kummerlickster 
Form  bestand,  liefi  er  beiseite.  DaB  man  nickt  Virtuosen, 
sondern  gesckulte  Krafte  braucke,  wurde  ikm  nickt  klar, 


Die  evangeliscli- soziale  Aufgabe.  57 

und  dafi  es  gelte,  das  Volk  zu  erziehen  und  zu  heben  —  die 
Grofie  dieser  Aufgabe  kam  selten  in  seinen  Gresichtskreis  ( — 
freilich,  wo  war  damals  das  deutsche  Yolk!).  Es  bedurfte 
einer  anderen  Kraft,  um  diese  Aufgabe  hervorzutreiben. 

Vielleicht  gibt  es  in  der  ganzen  G-eschichte  keinen 
merkwiirdigeren  Prozefi  als  die  Entstehung  der  Aufklarung 
seit  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  und  die  Greschichte 
ihrer  Wandelungen  bis  zum  Sozialismus  der  Gegenwart. 
Das,  was  man  das  Umschlagen  der  Entwicklung  nennt, 
lafit  sich  hier  mehr  als  einmal  beobachten. 

Die  Entwicklung  setzt  ein  mit  der  Idee  des  absoluten 
Staates  —  zunachst  im  Sinne  der  absoluten  Fiirstengewalt 
—  und  mit  dem  Gredanken  des  souveranen  Rechts  und  der 
Pflicht  des  Staates,  fur  die  Wohlfahrt  seiner  Burger  zu 
sorgen.  Unter  dem  Druck  dieser  Idee  wird  vollends  zer- 
rieben,  was  an  standischen  E/echten,  an  geschichtlichen  Q-e- 
bilden  und  Formen  noch  vorhanden  war  -  -  nur  was  zum 
Hof  gehort,  ist  ausgenommen.  Aber  eben  aus  ihrem  Unter- 
gang  steigt,  wie  ein  Phonix  aus  der  Asche,  die  Idee  des 
Menschen  hervor.  Das  was  schon  antike  Philosophen  fur 
das  naturliche  System  gehalten,  was  im  15.  und  16.  Jahr- 
hundert  erobert  zu  werden  schien,  um  unter  den  theologi- 
schen  Kampfen  rasch  wieder  zu  verschwinden ,  fand  jetzt 
einen  Boden,  die  Menschenrechte,  und  ein  begeisterter  Pro 
phet  verkiindete  sie  und  legte  sie  aus,  Rousseau.  Wie 
sie  auch  immer  aufwuchs:  die  Idee  war  da,  sie  setzte  sich 
durch  und  sie  hob  alle  Ideale,  die  bisher  in  der  Religion 
gegolten  hatten,  aus  dem  Medium  der  Weltflucht  und  des 
Pessimismus  heraus,  urn  sie  mit  dem  Schimmer  des  freudig- 
sten  und  zuversichtlichsten  Optimismus  zu  bekleiden;  sie 
hob  sie  aus  der  gewordenen  Geschichte  heraus,  um  sie  in 
einer  erst  werdenden  zu  verwirklichen.  Nur  ein  Schritt, 
und  dann  ist's  geschehen!  Wenn  sich  der  einzelne,  wenn 
sich  die  Volker  nur  auf  sich  selbst  besinnen,  wenn  sie  nur 
wollen,  so  konnen  sie  mit  einem  Schlage  gliickselig  werden, 


58  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  II. 

kann  jeder  einzelne  sich  frei  entfalten  und  die  hochste 
Wohlfahrt  erringen,  um  dann  gern  und  freudig  dem  ebenso 
frei  entwickelten  Bruder  die  Hand  zu  reichen:  Freiheit, 
Humanitat,  Grliickseligkeit.  Dieses  Evangelism  wurde  ver- 
kiindigt  —  und  unser  Vaterland  war  bettelarm,  die  unteren 
Stande  rechtlos,  geknechtet,  ungebildet,  immerfort  dem  Ver- 
hungern  nahe!  Zuerst  spielte  der  Adel  mit  dem  neuen 
Ideal;  aber  gleichzeitig  griff  es  machtig  in  die  Literatur 
ein,  und  dann  fafite  es  im  Biirgertum  Wurzel,  um  in  dem 
entAvickeltsten  Lande,  in  Frankreich,  sich  mit  Gewalt  durch- 
zusetzen  und  alle  Volker  allmahlich  zu  durchdringen. 

Man  mag  im  iibrigen  urteilen  wie  man  will,  ein 
Doppeltes  wird  uns  alien  gewifi  sein:  erstlich,  dafi  uns  das 
18.  Jahrhundert  unverlierbare  G-iiter  gebracht  hat,  das 
Reeht  und  die  Wiirde  jedes  einzelnen  Menscnen  und  die 
Humanitat,  Griiter,  die  auch.  das  Evangelium  enthalt  und 
die  Reformation  wiedererweckt  hat,  ohne  daJB  sie  imstande 
gewesen  ist,  sie  durchzusetzen;  zweitens  aber,  dafi  die  Be- 
grdndung  jener  Griiter,  wie  sie  die  Aufklarung  gab,  hin- 
fallig  ist,  ferner  daB  sie  niemals  erworbene  sind,  sondern 
immer  eine  Aufgabe  einschliefien,  und  dafi  ihre  Durch- 
fuhrung  Opfer  erheischt,  materielle  und  personliche  Opfer, 
von  denen  sich  die  Aufklarung  nicht  hat  traumen  lassen. 
Sie  verkannte,  dafi  kein  geringerer  Widerstand  dem  ,,gluck- 
seligen  Menschen"  gegeniiber  steht,  als  der  Mensch  selbst, 
namlich  der  naturliche,  selbstsiichtige  Mensch. 

Wir  streiten  mit  der  Aufklarung  nicht  um  das  Recht 
jener  Griiter  —  im  Gregenteil,  wir  bezeugen  dankbar,  dafi 
sie  ihre  Anerkennung  durchgesetzt  hat,  und  dafi  eine  Fiille 
heute  geltender,  uns  selbstverstandlich  diinkender  sozial- 
politischer  Uberzeugungen ,  Gresetze  und  Institutionen  auf 
sie  zuruckzufiihren  ist.  Sie  erst  hat  uns  wirklich  aus  dem 
Mittelalter  herausgefuhrt;  sie  hat  das  Aussehen  der  Gresell- 
schaft  geandert  vom  Palast  bis  zur  Hiitte.  Beschamt  ge- 
stehen  wir,  dafi  etwas  Wahres  an  dem  Paradoxon  des 


Die  evangelisch-soziale  Atifgate.  59 

Dichters  1st,  Rousseau  habe  aus  Christen  Menschen  gemacht. 
Aber  wir  streiten  mit  dem  Geist,  in  welchem  die  Auf  klarung 
gearbeitet  hat  und  noch  arbeitet.  Wir  bestreiten  ihr  Natur- 
recht  als  eine  gefahrliche  Illusion  —  der  hilflose  Mensch 
wird  mit  keinem  Rechte  geboren,  sondern  seine  Existenz 
hangt  davon  ab,  dafl  er  Liebe  findet.  "Wir  halten  ihrem 
einseitigen  Interesse  an  der  irdischen  Wohlfahrt  hohere 
Interessen  entgegen,  die  Gesundheit  der  Seele,  den  leben- 
digen  Gott  und  die  ewigen  Guter.  Wir  bekampfen  endlich 
ihre  Blindheit,  die  nicht  sieht,  daB  alle  ihre  Ideale  zu  hohlen 
Schemen  oder  gradezu  zu  furchtbaren  Mitteln  einer  allge- 
meinen  Zersetzung  werden  miissen,  wenn  nicht  die  Selbst- 
sucht  im  Menschen  gebrochen  wird  und  ihm  gewaltige, 
freudige  Krafte  des  Guten  zugefiihrt  werden.  Ja  wohl  — 
sagt  man  —  der  Altruismus,  und  der  stellt  sich  von  selbst 
durch  das  wohl  verstandene  Interesse  oder  durch  eine  ge- 
wisse  angeborene  Gutmiitigkeit  oder  durch  den  Geselligkeits- 
trieb  ein,  wenn  nur  die  allgemeinen  Existenzbedingungen 
besser  werden.  Das  ist  von  alien  Unwahrheiten  die  schlimmste 
und  der  argste  Betrug.  Noch  warten  wir  auf  den  Entwurf 
einer  Wirtschaftsordnung,  bei  dem  nicht  die  Selbstsucht 
ihre  Eechnung  finden  konnte  oder  die  die  Menschenliebe 
erzeugt  wie  ein  Naturprodukt.  Das  predigt  uns  doch  die 
franzosische  Revolution  und  alles,  was  wir  seitdem  erlebt 
haben,  dafi  die  sich  selbst  iiberlassene  Auf  klarung  kein 
dauerndes  Gebilde  schafft,  und  dafi  die  schrankenlose  Frei- 
heit  nicht  baut,  sondern  zerstort.  Erst  als  man  den  ge- 
schichtlichen  Faden  wieder  aufnahm,  an  die  E/eligion,  das 
Recht,  die  Sitte  wieder  ankniipfte,  konnte  dem,  was  be- 
rechtigt  und  wertvoll  an  den  Ideen  der  Aufklarung  war, 
Gestalt  und  Dauer  gegeben  werden. 

Wie  das  in  den  ersten  zwei  Dritteln  unseres  Jahrhun- 
derts  geschah,  war  freilich  nicht  erhebend.  Langsam  unter 
unendlichen  Erschwerungen  mufite  einer  bosen  Reaktion 
der  Fortschritt  abgerungen  werden.  Das  Kirchentum  stand 


50  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Keden:  II. 

dabei  gewohnlich  auf  der  falschen  Seite.  Die  Erinnerung 
daran  1st  in  der  Nation  noch  heute  lebendig;  sie  spielt  auch 
in  die  wirtschaftlichen  Kampfe  der  Gegenwart  hinein.  Es 
stiinde  heute  vieles  besser  im  Verkehr  der  Stande  und  mit 
den  offentlichen  Zustanden,  wenn  dieser  schwarze  Schatten 
nicht  auf  der  nachsten  Vergangenheit  lage.  Selbst  der 
grofie,  herrliche  Aufsehwung,  den  die  kirchliche  Liebes- 
tatigkeit  in  unserem  Jahrhundert  extensiv  nnd  intensiv 
genommen  hat,  vermag  ihn  nicht  zu  bannen.  Wie  vor 
dem  Banernkriege  ist  nach  den  Freiheitskriegen  ein  grofier 
Moment  fur  unsere  Nation  verscherzt  worden.  Das  hat 
eine  ahnliche  Stimmung  erzeugt  wie  damals  und  auch  der 
Kirche  Tausende  entfremdet.  Unterdessen  vollzog  sich  in 
einem  Zweige  der  Aufklarung  ein  vollkommener  Front- 
wechsel. 

Dafi  die  schrankenlose  Freiheit,  solange  die  Menschen 
mit  verschiedenen  Kraften  begabt  oder  ausgestattet  sind, 
notwendig  zur  vollkommensten  Unterdriickung  des  Schwa- 
cheren  fuhren  miisse  —  diese  einfache  Wahrheit  war  end- 
lich  erkannt  worden.  Grleichzeitig  wurde  unter  dem  Ein- 
druck  der  Naturwissenschaft ,  die  auch  die  einzige  mid 
wahre  Menschenwissenschaft  sei,  von  den  Idealen  Rous- 
seaus  alles  vollends  abgestreift,  was  sich  nicht  auf  die 
sinnliche  Existenz  bezieht.  Der  Kampf  urns  Dasein  wurde 
das  souverane  Schlagwort.  Diese  Entwicklung  fiihrte,  in- 
dem  wie  am  Anfang  die  Idee  des  absoluten  Staates  noch 
einmal  Dienste  tat,  zu  einem  Umschlag:  aus  dem  Indivi- 
dualismus  heraus  bildete  sich  die  Forderung  des  Sozialismus 
als  des  einzig  moglichen  Mittels,  die  direkt  auf  dem  Wege 
der  schrankenlosen  Freiheit  d.  h.  des  Anarchismus  nicht  zu 
erreichenden  Anspruche  des  Individuums  zu  befriedigen. 
Unsere  heutige  Sozialdemokratie  ist  —  mindestens  zu  einem 
Teile  —  nichts  anderes  als  eine  erniichterte  und  drapierte 
Form  des  Individualismus  des  18.  Jahrhunderts ,  die  kein 
anderes  hochstes  Ideal  kennt  als  die  irdische  Wohlfahrt 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  61 

des  einzelnen  und  keine  anderen  Krafte  als  den  Selbst- 
erhaltungstrieb  und  das  allgemeine  Stimnirecht.  Das  wSo- 
ziale"  ist  teils  Maske,  teils  Hebel  fur  den  schrankenlosen 
irdischen  Grliickseligkeitstrieb  des  einzelnen.  Doch  diese 
Schlufientwicklung,  unter  dem  Zeichen  der  Maschine  und 
des  allgemeinen  Weltverkehrs  rapid  verlaufend,  ist  uns 
alien  bekannt. 

Was  ist  nun  in  der  Gregenwart  unsere  Situation  und 
Aufgabe? 

m. 

Man  darf  sagen,  dafl  die  soziale  Aufgabe  der  Kirche 
in  der  Gregenwart  neu  ist  und  brennender  als  in  der  Ver- 
gangenheit:  niclit  weil  Armut  und  Elend  grofler  sind  als 
fruher  — •  das  ist  mindestens  nicht  nachweisbar  — ;  nicht 
weil  die  kirchliche  Liebestatigkeit  lassiger  ist  als  fruher  — 
das  Gregenteil  ist  der  Fall  — ,  auch  nicht  weil  opferfreudige 
und  geschulte  Heifer  minder  zahlreich  sind  als  fruher  — 
sie  sind  zahlreicher  als  je.  Aber  wie  lafit  sich  dann  noch 
behaupten,  die  Aufgabe  der  Gregenwart  sei  neu  und  bren 
nender  als  in  der  Vergangenheit?  Nun  —  neue  brennende 
Aufgaben  erscheinen  in  der  Greschichte  niemals  auf  den 
Tiefpunkten  absteigender  Entwicklungen.  In  der  Dumpf- 
lieit  und  dem  Elend  eines  solchen  Daseins  mufi  vielmehr 
alle  Kraft  angespannt  werden,  um  wenigstens  den  Rest 
des  alten  Besitzes  noch.  zu  erhalten.  Nur  ein  irgendwie 
fortschreitendes  Zeitalter  vermag  die  VerpnicMung  eines 
hoheren  neuen  Aufsckwungs  zu  empnnden.  So  sind  es 
auch.  in  der  Gregenwart  die  Fortschritte ,  die  wir  bereits 
gemacht  haben,  die  uns  neue  Aufgaben  aufdrangen.  Ich 
will  diese  Fortschritte  kurz  bezeichnen  und  hoffe,  dabei 
keinem  Widerspruch  zu  begegnen: 

Erstlich,  wir  haben  es  nicht  mehr  mit  bevormundeten, 
sondern  mit  gleichberechtigten  —  zum  Teil  freilich  hilf- 
losen  —  Standen  zu  tun,  und  ein  gewisses  Mafi  von  Bil- 


(J2  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  II. 

dung  1st  Gemeingut  geworden.  Dieser  Punkt  bedarf  keiner 
weiteren  Ausfuhrung.  Es  stellt  sich  in  ihm  der  ungeheure 
Eortschritt  des  letzten  Jahrhunderts  dar.  Hilfeleistung  in 
Form  patriarchalischer  Fiirsorge  der  oberen  Stande  fiir  die 
unteren  ist  nur  noch  in  engen,  abgelegenen  Kreisen  oder 
unter  besonderen  Bedingungen  moglich.  Wie  vor  dem  G-e- 
setz  die  Stande  auf  dem  Fufie  der  Grleichheit  miteinander 
verkehren,  so  hat  sich  auch  im  Leben  ein  solcher  Verkehr, 
sei  es  ein  freundlicher,  sei  es  ein  feindlicher,  immer  mehr 
angebahnt.  Die  Grleichheit  der  politischen  Rechte  und  die 
Verbreitung  der  Bildung  leisten  ihm  fortwahrend  Vorschub. 
Um  so  einschneidender  trennt  die  Verschiedenheit  des  Ver- 
mogens  (Kapitalbesitzer  und  Arbeiter,  die  sich  gleichsam 
unpersonlich  gegeniiberstehen),  und  um  so  unertraglicher 
wird  der  Zustand,  dafl  ganze  Klasseii  der  Bevolkerung,  die 
eine  gute  Schulbildung  genossen  und  durch  sie  eine  leben- 
dige  Empnndung  fur  die  Segnungen  der  Kultur  empfangen 
haben,  wirtschaftlich  so  beengt  sind,  dafl  sie  von  jenen 
Segnungen  nur  weniges  fur  sich  zu  gewinnen  vermogen 
und  auflerdem  die  kleinste  Storung  imstande  ist,  sie  zu 
ruinieren. 

Zweitens,  Pflicht  und  Q-ewissen  in  bezug  auf  die  Wohl- 
fahrt  aller  Q-lieder  der  Gresellschaft  sind  gescharfter  als 
friiher  —  das  ist  ein  unverkennbarer  und  gewaltiger  Fort- 
schritt,  und  wer  ihn  nicht  innerlich  mitmachen  will,  dem 
wird  er  aufgezwungen.  Dazu  kommt,  dafi  wir  Armut  und 
Elend  in  einem  anderen  Sinne  wie  friiher  fur  eine  schwere 
sittliche  Grefahr  zu  halten  gelernt,  zugleich  aber  erkannt 
haben,  dafi  ohne  vorbeugende  Mafiregeln  nichts  durch- 
greifend  gebessert  werden  kann.  Die  Verpflichtung,  die 
uns  aus  diesen  Erkenntnissen  erwachst,  ist  eine  ganz  neue. 
Kein  vergangenes  Zeitalter  hat  sie  so  empfunden.  Wie  in 
der  Heilkunde  die  Hygiene  (die  vorbeugenden  Mafiregeln) 
immer  mehr  in  den  Vordergrund  tritt,  so  auch  auf  dem 
sozial-wirtschaftlichen  Grebiete. 


Die  evangelisch-soziale  Auf  gab  e.  63 

Drittens,  wir  haben  iiberall  heute  die  groBe  Macht  der 
Weltwirtschaft  vor  uns;  sie  zielit  alles  in  sich  hinein;  sie 
maclit  sick  in  dem  abgelegensten  Weberdorf  fuhlbar;  sie 
lost  alle  iiberkommenen  Verhaltnisse  auf  oder  bildet  sie  um 
und  bedroht  die  wirtschaftliche  Existenz  ganzer  Berufs- 
klassen  mit  Unsicherheit.  Kein  Wunder,  daB  sie  auch  in 
die  kirchliehen  Organisationen  hineingreift:  die  Freiziigig- 
keit  —  um  nur  einen  Punkt  zu  nennen  — ,  die  eine  Folge 
des  Weltverkehrs  ist,  droht  auch  die  Gremeinden  zu  sprengen. 
Innerhalb  und  auBerhalb  der  groBen  Stadte  haben  wir  eine 
nomadisierende  Bevolkerung;  wie  schwierig  es  ist,  unter 
einer  solchen  hokere  Sittlichkeit  und  Religion  aufrecht  zu 
erhalten,  lehrt  jedes  Blatt  der  Geschichte. 

Viertens,  wir  stenen  nicnt  mehr  bloB  naiv-kommunisti- 
schen  Ideen  gegeniiber,  sondern  wissenschaftHch  entwickel- 
ten,  auf  der  Grundlage  materialistischer  Weltanschauung 
beruhenden  sozialistischen  Systemen;  diese  suchen  sich  der 
Volker  zu  bemachtigen,  und  bereits  losen  sich  groBe  Grruppen 
entschieden  und  prinzipiell  nicht  nur  von  den  Kirchen, 
sondern  auch  von  dem  christlichen  Grlauben  und  der  christ- 
lichen  Sittlichkeit  los:  der  theoretische  und  praktische 
Materialismus  wird  eine  Macht  im  6'ffentlichen  Leben. 
Auch  diese  Entwicklung  ist  keineswegs  nur  unter  dem 
Gresichtspunkt  des  ,,Abfalls"  und  7,Ruckschritts"  zu  be- 
urteilen.  Wer  von  einem  Abfall  redet,  muB  nachweisen, 
daB  vorher  ein  lebendiger  Zusammenhang  vorhanden  ge- 
wesen  ist.  Aber  weite  Ejreise,  die  heute  als  ,,abgefallenea 
gelten,  haben  nie  einen  solchen  lebendigen  Zusammenhang 
besessen.  Der  Gegensatz  tritt  heute  nur  drastischer  und 
erschreckender  hervor,  wahrend  er  friiher  verhiillt  war. 
Allerdings  ist  eine  Hiille  unter  Umstanden  eine  fesselnde 
und  sittigende  Macht,  und  man  kann  deshalb  ihren  Unter- 
gang  beklagen.  Allein  es  ist  doch  ein  Fortschritt,  wenn 
Weltanschauung  deutlich  gegen  Weltansciiauung  steht. 
Auch  gibt  es  noch  Schlimmeres  als  prinzifw'eHen  Materialis- 


(54  Zweiter  Band,  erste  Abteilnng.     Reden:  II. 

mus,  namlich  die  absolute  Indifferenz  oder  den  berechnenden 
Egoismus,  der  aus  alien  Weltanschauungen  gleichzeitig  for 
sich  Vorteile  zu  ziehen  sucht  und  jede  Uberzeugung  haflt, 
die  das  eigene  Wohlbehagen  zu  storen  und  Pflichten  auf- 
zuerlegen  droht. 

Aus  diesen  Faktoren  vornehmlich  setzt  sich  unsere 
Lage  zusammen.  und  sie  hat  man  zunachst  ins  Auge  zu 
fassen,  wenn  man  die  Frage  nach  der  besonderen  sozialen 
Aufgabe  der  Kirche  in  der  G-egenwart  beantworten  will. 
Dem  MiBverstandnis  aber  brauche  ich  wohl  nicht  mehr  zu 
begegnen,  als  hatte  die  Kirche  die  Aufgabe,  diese  Schwierig- 
keiten  zu  heben  oder  als  besafie  sie  ein  Universalmittel, 
welches  alle  Schaden  heilt.  Die  romische  Kirche  tut  freilich 
manchmal  so,  als  ware  sie  im  Besitz  dieses  Arcanums,  und 
warte  nur  darauf,  dafi  die  Volker  es  einnehmen;  allein  sie 
meint  es  damit  nicht  ernsthaft.  Als  christliche  Kirche 
kann  sie  auch  schliefilich  nicht  dariiber  hinweg  kommen, 
dafi  der  Friede,  den  das  Evangelium  verheiOt,  ein  uber- 
weltlicher  ist,  und  dafi  die  Religion  nicht  die  Aufgabe  hat, 
wirtschaftliche  Zustande  zu  verbessern.  Wenn  wir  daher 
von  einer  sozialen  Aufgabe  der  Kirche,  unserer  evan- 
gelischen  Kirche,  sprechen,  so  kann  das  keinen  anderen 
Sinn  haben,  als  festzustellen,  wie  sich  unter  den  heutigen 
Verhaltnissen  diese  Aufgabe,  die  im  Grrunde  dieselbe,  in  den 
Entscheidungsformen  aber  eine  sehr  verschiedene  ist,  zu  ge- 
stalten  hat.  Und  auch  die  Mittel,  iiber  welche  die  Kirche 
verfugt,  sind  im  G-runde  nicht  wandelbar,  wohl  aber  ist 
ihre  Anwendung  in  den  verschiedenen  Zeiten  eine  ver 
schiedene. 

Allem  zuvor  ist  darauf  hinzuweisen,  dafi  die  oberste 
Aufgabe  der  Kirche  die  Predigt  des  Evangeliums,  d.  h.  die 
Botschaft  von  der  Erlosung  und  vom  ewigen  Leben,  bleibt. 
Es  ware  um  das  Christentum  als  Religion  geschehen,  wenn 
dies  verdunkelt  wiirde  und  man  etwa  im  Interesse  der 
Popularitat  oder  im  Ubereifer  des  Reformers  das  Evan- 


Die  evangeliscli-soziale  Aufgabe.  65 

gelium  in  ein  soziales  Manifest  umwandelte.  Ja  man  darf 
noch  mehr  sagen  —  niemand  soil  letztlich  von  der  Ver- 
kiindigung  der  Kirche  etwas  anderes  fur  sich  erwarten  als 
einen  festen,  trostlichen  G-lauben,  der  die  Not  des  Lebens 
liberwindet.  ,,Was  Mlfe  es  dem  Menschen,  wenn  er  die 
ganze  Welt  gewonne  und  nehme  doch  Schaden  an  seiner 
Seele"  —  diese  Uberzeugung  und  die  Botschaft  von  Jesus 
Christus  dem  Erloser  sind  der  Kern  des  Evangeliums,  und 
aus  ihm  entwickelt  sich  die  Weltanschauung,  d.  h.  die  Be- 
urteilung  von  Seele  und  Leib,  Leben  und  Tod,  Grliick  und 
Ungliick,  Reichtum  und  Armut,  welche  die  Wahrheit  ist 
und  deshalb  befreit.  Welch  eine  Macht  aber  in  jeder  ge- 
geschlossenen  Weltanschauung  liegt,  das  zeigt  uns  in  der 
Gregenwart  die  sozialistische  Bewegung.  In  beredten  Worten 
ist  uns  auf  einem  der  letzten  Kongresse  dargelegt  worden, 
dafi  es  eben  die  Weltanschauung  ist,  welche  der  Sozial- 
demokratie  ihre  Starke  gibt.  Diese  Tausende,  die  ihr  an- 
hangen,  wollen  nicht  nur  Brot;  sie  wissen  es  vielmehr,  daB 
sie  nicht  von  Brot  allein  leben:  sie  wollen  eine  Antwort 
auf  alle  Fragen  der  Welt  und  des  Lebens,  und  sind  bereit 
dafur  -  -  fur  ihren  Grlauben  —  Opfer  zu  bringen.  Eben 
darum  hat  es  die  Kirche  heutzutage  leichter  als  in  irgend 
einer  der  friiheren  Perioden.  Me  hat  es  eine  Zeit  gegeben, 
in  der  so  viele  Menschen  nach  einer  festen  selbstandigen 
Uberzeugung  streben,  wie  heute.  Trotz  aller  Zersplitterung 
und  scheinbaren  Auflosung  gibt  es  eine  Kraft,  die  uberall 
hindringt,  zusammenbindet,  feste  geistige  Gemeinschaft 
schafft,  das  ist  der  G-edanke  und  das  Wort.  Und  das 
starkere  Wort  wird  siegen.  Fiir  eine  Uberzeugung,  die 
wirklich  Uberzeugung  ist,  fur  einen  Grlauben,  der  wirklich 
geglaubt  wird,  ist  unser  Greschlecht  noch  eben  bereit,  das 
eigene  Leben  in  die  Schanze  zu  schlagen.  So  niedrig  ist 
der  Mensch  nicht  geartet,  dafi  er  Ruhe  fande  im  G-enufi 
und  im  Dienst  seines  eigenen  Ichs.  Er  sucht  nach  einer 
Lebensuberzeugung.  Aber  der  Grlaube  mufi  wirklich  ge- 

H  a  r  n  a  c  k ,  Reden  und  Auf satze.    2.  Aufl.    II.  5 


(56  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Keden:  II. 

glaubt  werden.  Hier  liegt  die  Aufgabe  der  Kirche,  die 
alte  und  die  neue.  Sie  soil  dem  heutigen  Geschlecht  den 
lebendigen  Gott  und  das  ewige  Leben  verkiindigen.  Sie 
soil  von  dem  Herrn  und  Erloser  zeugen,  dessen  Bild  auch 
dem  Entfremdetsten  noch  immer  Ehrfurcht  und  Liebe  ab- 
gewinnt.  Sie  soil  mit  allem  Ernst  predigen,  dafi  die  Siinde 
der  Leute  Verderben  und  die  starkste  Wurzel  alles  Elends 
ist,  und  sie  soil  das  tun  in  rechter  Freiheit,  in  verstaiid- 
licher  Form  und  mit  verstandlichen  Ausdrucksmitteln.  Tut 
sie  das,  so  hat  sie  schon  den  Hauptteil  ihrer  ^sozialen 
Aufgabe"  erfullt.  Aber  um  das  zu  konnen,  mufi  sie  mit 
jeder  wirklichen  Erkenntnis,  mit  jeder  Wahrheit  im  Bunde 
stehen,  sonst  diskreditiert  sie  ihre  eigene  Botschaft.  Zwar 
geniigt  oft  ein  Strahl  des  Evangeliums,  um  ein  Herz  zu 
erhellen  und  zu  befreien,  und  der  niederste  Diener  Jesu 
Christi  kann  dem  Nachsten  ein  rechter  Heiland  werden; 
aber  im  grofien  Kampf  der  Geister,  wo  Weltanschauung 
gegen  Weltanschauung  steht,  kann  sich  nur  durchsetzen, 
was  ein  Granzes  ist  und  sich  in  jeder  Bichtung  als  wahr 
und  kraffcig  erweist. 

Ich  habe  gesagt,  letztlich  sollte  niemand  von  der  Ver- 
kiindigung  der  Kirche  etwas  anderes  fur  sich  erwarten,  als 
einen  festen  trostlichen  Grlauben,  der  die  Not  des  Lebens 
iiberwindet.  Der  Nachdruck  liegt  hier  auf  dem  ,,fur  sich". 
Fiir  andere  ist  es  anders.  Wir  haben  in  dem  geschicht- 
lichen  Bericht  gesehen,  dafi  die  Ausgestaltung  der  G-e- 
ineinde  zu  einem  tatkraftigen  Bruderbunde  und  der  Zu- 
sammenschluB  solcher  Gemeinden  zu  einem  hilfreichen 
Verbande  dem  Christentum  wesentlich  ist,  und  dafi  die 
Verkummerung  der  Gemeinden  im  Laufe  der  Geschichte 
einen  schweren  Schaden  bedeutete.  Die  Liebestatigkeit  war 
im  Anfang  ein  iiberzeugendes  Mittel  der  Propaganda,  und 
Jesus  Christus  selbst  hat  das  Evangelium  gepredigt,  indem 
er  half.  Ist  die  Siinde  die  starke  Wurzel  des  Elends,  so 
erzeugen  Elend  und  Irrtum  wieder  Siinde  und  Schande. 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  67 

Darum  gilt  es,  einen  Kampf  wider  das  Elend  zu  fiihren. 
Soil  dieser  Kampf  aber  recht  gefiihrt  werden,  so  ist  ein 
doppeltes  no  tig:  erstlich  die  Wirksamkeit  von  Person  zu 
Person,  und  zweitens  eine  wirkliche  Gemeinbildung.  Tiber 
das  erstere  brauche  ich  nicht  viel  zu  reden.  "Wir  alle 
wissen  es,  dafi  letztlich  nur  die  Liebe  in  Betracht  kommt, 
die  der  Person  nachgeht.  Alle  Anstalten  und  hilfreichen 
Veranstaltungen  sind  nur  Formen;  wirklichen  Wert  hat 
allein  was  vom  Herzen  kommt  und  zum  Herzen  spricht, 
und  nur  dies  fallt  auf  der  Wage  der  Ewigkeit  ins  Gewicht. 
Nicht  uber  den  Nachsten,  dem  man  helfen  will,  soil  man 
sich  aber  dabei  stellen,  auch  nicht  unter  ihn,  sondern  neben 
ihn.  Briider  sollen  wir  sein,  nicht  Patrone.  Hier  hat  die 
christliche  Liebe  ihr  Feld  und  ihre  eigenste  Aufgabe.  Und 
je  unpersonlicher  sich  durch  die  Entwicklung  unserer  Wirt- 
schaftsordnung  das  Verhaltnis  der  Klassen  gestaltet,  um  so 
notwendiger  ist  diese  Arbeit. 

Aber  ohne  den  ZusammenschluB  zu  festen  Gemeinden 
bleibt  alles  vereinzelt.  Darum  miissen  wir  den  Freunden 
dankbar  sein,  die  in  unseren  Tagen  wieder  daran  erinnert 
haben,  dafi  unsere  Kirche  von  der  Reformation  her  noch 
die  Verpflichtung  einzulosen  hat,  wirkliche  Gemeinden  zu 
bilden  und  ein  kraftiges' Gemeindeleben  zu  erwecken.  Man 
wirft  uns  ein:  ^damit  kommt  ihr  zu  spat;  eine  solche  Or 
ganisation  ist  heute  nicht  mehr  moglich;  weder  lafit  sie 
unsere  bureaukratische  Kirchenverfassung  zu,  noch  kann 
man  aus  dem  Massen-  und  Staatschristentum  lebendige 
Gemeinden  bilden."  Gewifi  schwer  genug  ist  es,  aber  ver- 
zweifelt  steht  es  um  die  Losung  der  Aufgabe  doch  noch 
nicht.  Miifiten  wir  sie  wirklich  preisgeben,  so  wufite  ich 
nicht,  wie  uns  geholfen  werden  konnte;  denn  das,  was  die 
Gemeinde  zu  leisten  hat,  kann  doch  niemals  durch  allge- 
meine  soziale  Institutionen  und  Zwangsmafiregeln  ersetzt 
werden.  DaC  wir,  wenn  auch  in  kummerlichen  Formen, 
noch  eben  Gemeinden  besitzen,  ist  ein  hohes  Gut,  und  es 

5* 


(J8  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  II. 

ware  verhangnis  voll ,  wollten  wir  es  fur  unwert  erachten, 
nm  anderen  organisatorisclien  Zielen  nachzulaufen.  Diese 
Gemeinden  sind  nocli  eben,  wie  jedermann  weifi  und  em- 
pfindet,  ihrer  Grundform  nach  Genossenschaften ,  in  denen 
die  Unterschiede  von  vornehm  und  gering,  reich  und  arm 
ausgeglichen  sein  sollen  und  in  welche  die  Klassengegen- 
satze  nicht  hineinreichen  diirfen,  d.  h.  es  sind  Gebilde,  wie 
wir  sie  in  der  gegenwartigen  Zeit  besonders  notig  haben. 
Darum  sollen  wir  sie  mit  alien  Kraften  ausbilden,  beleben 
und  dabei  ruhig  abwarten,  ob  die  politische  Form  unseres 
Kirchentums  durch.  sie  allmanlich.  umgebildet  oder  gesprengt 
werden  wird.  Neben  der  Predigt  des  Evangeliums  ist  der 
Ausbau  der  G-emeinde  die  oberste  evangelisch-soziale  Auf- 
gabe.  Dem  Kleinmut  aber,  der  an  der  Losung  dieser  Auf- 
gabe  verzweifelt,  weil  die  gegenwartigen  "Weltverhaltnisse 
eine  solche  Organisation  iiberhaupt  nicht  mehr  zulassen, 
halten  wir  das  Beispiel  der  Sozialdemokratie  entgegen.  Sie 
bringt  es  fertig,  inmitten  nomadisierender  Scharen  unter 
Hemmnissen  aller  Art  eine  straffe  Organisation,  stadtisch, 
provinziell,  national  und  international,  zu  schaffen  und  zu 
erhalten  —  sollten  wir  es  nicht  konnen?  Man  wendet  ein, 
dort  handele  es  sich  wesentlich  um  einen  Stand  und  um 
ein  durchschlagendes  Interesse,  das  alle  verbinde.  Aber 
haben  nicht  auch  wir  ein  durchschlagendes  Interesse  und 
eine  Botschaft,  die  die  verschiedenen  Stande  zur  geistigen 
Einheit  fiihrt?  Nicht  an  den  Yerhaltnissen  liegt  es,  wenn 
unsere  G-emeinden  das  nicht  werden  und  sind,  was  sie  sein 
sollten,  sondern  an  dem  Mangel  an  Glaube  und  Liebe. 

Das  ist  freilich  gewifi,  daB  wir  zu  Gemeinden,  die 
nichts  anderes  sind  als  gottesdienstliche  Gemeinden,  die 
Menschen  nicht  mehr  zusammenfuhren  werden,  und  dafi 
solche  Gemeinden  unkraftig  bleiben  miissen.  Aber  hier 
gibt  uns  die  alteste  Kirche  ein  Vorbild,  wie  eine  rechte 
Gemeinde  beschafien  sein  mu.fi,  und  der  Gang,  den  die  Ent- 
wicklung  der  kirchlichen  Liebestatigkeit  in  unserm  Jahr- 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  69 

hundert  genonunen  hat,  weist  uns  eben  dorthin.  Es  1st 
doch  kein  Traum,  dafl  es  eimnal  in  der  Christenheit  Gre- 
meinden  gegeben  hat,  iibersehbar,  wohl  geordnet  und  fest, 
in  denen  neben  dem  Grottesdienste  die  Liebestatigkeit  den 
Mittelpunkt  gebildet  hat,  ja  in  denen  Grottesdienst  nnd 
Liebestatigkeit  zu  einer  Einheit  verschmolzen  waren.  Diir- 
fen  wir  sagen,  dafl  das  fiir  uns  nnerreichbar  ist?  G-ewifS 
nicht.  Es  mufl  viebnehr  das  fest  ins  Auge  zu  fassende 
Ziel  sein,  dem  wir  zustreben.  Eben  darum  sollen  alle  die 
groJBen  Arbeiten  christlicher  Liebestatigkeit  nicht  nur  ge- 
pnegt  und  erweitert,  sondern  immer  fester  der  Gremeinde 
eingegliedert  werden.  Wo  eine  einzelne  G-emeinde  zu  klein 
ist,  um  die  Aufgaben  zu  losen,  da  sollen  sich  mehrere  zu- 
sammentun,  aufwarts  steigend  bis  zu  einem  provinzialen 
Verbande.  Die  Kirche  soil  auch  G-emeindehaus  sein  oder 
besser  - —  neben  der  Kirche  soil  ein  Gremeindehaus  bestehen, 
und  nicht  nur  um  eine  Predigt  anzuhoren,  soil  man  zu- 
sammenkommen,  sondern  auch  um  Hilfeleistungen  aller  Art 
zu  beraten.  Das  rechte  christliche  Ehrgefuhl  soil  erweckt 
werden,  dafi  niemand  ein  Christ  ist,  der  nicht  bereit  ist, 
personlich  als  Pfleger  und  Heifer  einzutreten,  und  aufierdem 
sollen  in  jeder  G-emeinde  berufsmafiige ,  ausgebildete  Dia- 
konen  und  Diakonissen  arbeiten.  Kein  Hilf loser  soil  sagen 
diirfen,  dafi  sich  niemand  um  ihn  kummere.  Unsere  Zeit 
ergotzt  sich  an  Utopien  und  spielt  mit  diesem  nicht  un- 
gefahrlichen  Spielzeug  —  das  eben  Gresagte  ist  keine  Utopie, 
sondern  kann  eine  Wirklichkeit  werden.  Davon  dafi  es 
eine  Wirklichkeit  wird,  dafi  Opferscheu,  Greiz  und  Tragheit 
gebrochen  werden,  hangt  zwar  nicht  die  Existenz  unseres 
Kirchentums  ab  —  es  kann  sich  vielleicht  noch  sehr  lange 
erhalten ;  denn  es  hat  viele  Stiitzen  — ,  wohl  aber  die  Existenz 
eines  wahrhaft  evangelischen  Christentums  und  das  Recht 
unserer  Kirche,  um  das  Herz  unseres  Volkes  zu  werben. 

Aber  Recht  haben  die  Qegner,  wenn  sie  sagen,  dafi 
die  Bildung  solcher  Gremeinden  eine  lange  Arbeit  erheischt, 


70  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  II. 

und  daB  unsere  heutigen  Zustande  des  offentlichen  Lebens 
noch  ein  anderes  Eingreifen  erfordern.  Kann  und  soil  die 
Kirche  —  ich  meine  hier  die  organisierte  Kirche  —  noch. 
etwas  anderes  tun  als  das  Evangelium  verkiindigen  und 
die  G-emeinden  ausbauen?  Wir  stehen  hier  vor  einer  wich- 
tigen  Frage.  Die  einen  beantworten  sie  mit  einem  ent- 
schiedenen  ,,Nein";  sie  sind  in  der  Mehrzahl,  und  sie  be- 
griinden  dieses  nNeina  sehr  verschieden.  Die  anderen 
bejahen  die  Frage,  aber  in  der  Hegel  nicht  unumwunden, 
oder  sie  entziehen  sich  ihr  durch  die  Antwort,  die  Kirche 
moge  tun  oder  lassen,  was  sie  wolle,  aber  die  Christen 
seien  verpflichtet,  mit  dem  Evangelium  in  die  offentlichen 
Zustande  einzugreifen. 

Was  der  einzelne  zu  tun  hat,  mag  hier  noch  auf  sich 
beruhen  —  aber  unzweifelhaffc  scheint  mir:  da  unsere 
Kirche  noch  immer  eine  groBe  einflufireiche  Stellung  im 
Staate  und  im  Volksleben  besitzt,  so  ist  sie  verpflichtet  sie 
im  evangelisch-sozialen  Sinne  zu  gebrauchen  und  demge- 
maB  solche  Wege  aufzusuchen,  auf  denen  sie  sich  zu  Ge- 
hor  zu  bringen  vermag.  Sie  wird  sonst  immer  mehr  dem 
Verdachte,  dafi  sie  ein  gefiigiges  Werkzeug  des  ^Klassen- 
staats"  sei,  erliegen,  und  sie  wird  daran  schuld  sein,  dafl 
die  sozialen  Ordnungen  des  offentlichen  Lebens  in  eine 
immer  groBere  Spannung  mit  den  christlichen  Gresinnungen 
geraten.  Selbst  die  alte  Kirche  hat  in  einer  Zeit,  da  sie 
noch  numerisch  schwach  war,  ihre  Stimme  gegeniiber  den 
Mifistanden  im  E/eiche  erhoben.  Die  nachkonstantinische 
Reichskirche  hat,  wie  wir  gesehen  haben,  die  Yerpflichtung 
gefuh.lt,  ihren  EinnuB  zur  Abschaffung  sittlicher  ISTotstande 
geltend  zu  machen.  Auch  im  Mittelalter  sind  die  Papste 
der  Gewalt  und  Tyrannei  sowie  der  offentlichen  Unsittlich- 
keit  entgegengetreten  und  verzichten  noch  heute  nicht 
darauf,  ihr  Urteil  in  grofien  sitth'ch- sozialen  Fragen  abzu- 
geben.  Allerdings  besteht  nun  gerade  in  diesem  Punkte 
ein  tiefer  Unterschied  zwischen  dem  Katholizismus  und 


Die  evangelisch-soziale  Aufgaloe.  71 

Protest antisnras.  Jenem  1st  die  „  Kirche"  nur  das  hierar- 
chische  Kircheninstitut,  welches  deshalb  alles  tun  mufi; 
dieser  sieht  den  christlichen  G-eist  nicht  nur  in  die  verfafite 
Kirche  gebannt,  sondern  vertraut  darauf,  dafi  er  auch  in 
den  irdischen  Berufen  und  Ordnungen  der  Christenheit  zu 
finden  ist.  Eben  deshalb  vertraut  er  auch,  dafi  Regierung 
und  Obrigkeit,  wenn  sie  recht  ihres  Amtes  walten,  sich 
mit  den  christlich-sittlichen  Gresinnungen  in  Einklang  be- 
finden  werden,  und  iiberlafit  ihnen  daher  gerne  die  Ord- 
nung  der  irdischen  Dinge.  Allein  das  schliefit  nicht  aus, 
dafi  auch  die  Kirche  gegeniiber  sittlich-sozialen  Notstanden 
ihre  Stimme  erhebt  und  auf  die  offentliche  Meinung  und 
die  Leitung  des  Staatslebens  einwirkt.  Ja  es  wird  das 
ihre  Pnicht,  wenn  jene  lassig  oder  stumpf  sind.  Unsere 
Kirchen  sind  jetzt  miindiger,  als  sie  es  noch  vor  dreifiig 
Jahren  waren.  Wozu  haben  sie  ihren  Mund,  ihre  Gre- 
meindevertretungen ,  ihre  Kreis-,  Provinzial-  und  General- 
synoden  und  wiederum  ihren  Oberkirchenrat  und  Kon- 
sistorien,  als  um  in  sittlich-sozialen  Fragen  auch  offentlich 
zu  bezeugen  in  der  Gremeinde,  in  der  Stadt,  in  der  Pro- 
vinz,  im  ganzen  Lande:  ,,das  soil  sein  und  das  soil  nicht 
sein"?  Sollen  sie  nur  iiber  Kirchensteuern,  Kirchenformeln 
und  Quisquilien  verhandeln?  Eine  Zeit  lang  ertragt  man 
das,  aber  auf  die  Dauer  ist  es  unertraglich  und  wiirde  bald 
Mitleid  und  Schlimmeres  wider  die  ganze  kirchliche  Orga 
nisation  erregen;  denn  dieser  ungeheure  Apparat  hat  nur 
ein  Existenzrecht,  wenn  er  dem  G-anzen  wirklich  etwas 
leistet  —  nicht  durch  Deklamationen,  sondern  durch  evan- 
gelisch-soziales  "Wirken,  eine  jede  Ordnung  auf  ihrer  Stufe. 
Aber  je  bestimmter  dies  zu  fordern  ist,  um  so  be- 
stimmter  ist  auch  das  G-ebiet  abzugrenzen,  auf  das  sich 
diese  Wirksamkeit  der  Kirche  zu  beschranken  hat.  Wirt- 
schaftliche  Fragen  gehoren  nicht  in  diesen  Kreis.  Mit  all 
den  sozial  -  wirtschaftlichen  Bestrebungen  wie  Verstaatli- 
chungen,  Bodenbesitzreform,  Arbeitstag,  Preisregulierungen, 


72  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  II. 

Steuer-  und  Versicherungswesen  u.  dergl.  hat  sie  gar  nichts 
zu  tun;  denn  die  Entscheidung  in  diesen  Fragen  fordert 
eine  Sachkenntnis ,  die  auflerhalb  Hirer  Grenzen  liegt,  und 
sie  wiirde  dazu  in  die  schlimmste  Verweltlichung  geraten, 
wenn  sie  auf  diese  Fragen  einginge.  Aber  wo  sie  in  den 
offentlichen  Zustanden  schwere  sittliche  Schaden  als  ge- 
duldete  bemerkt,  da  soil  sie  eintreten.  1st  es  recht,  dafi 
die  Kirche  achselzuckend  und  schweigend  an  der  Pro 
stitution  vorubergeht,  wie  der  Priester  an  dem,  der  unter 
die  Morder  gef alien  war?  Greniigt  es,  dafi  man  Hire  Be- 
kampfung  christlichen  Vereinen  iiberlaUt  und  fur  Magda- 
lenen-Asyle  sammelt?  Hat  die  Kirche  nicht  die  Pnicht,  dem 
Unwesen  des  Duells  entgegenzutreten?  ferner,  darf  sie 
schweigen,  wenn  sie  Zustande  sieht,  welche  die  Ehe  und 
Familie  auflosen  und  die  elementarsten  Bedingungen  fur 
ein  sittliches  Leben  vermissen  lassen?  darf  sie  ruhig  zu- 
sehen,  wenn  es  dem  Schwachen  und  Grefahrdeten  unmoglich 
gemacht  wird,  sich  zu  behaupten?  darf  sie  es  ohne  zu  riigen 
anhoren,  wenn  im  Namen  des  Christentums  der  Friede  im 
Lande  gestort  und  HaJS  und  Verachtung  ausgesat  wird? 
1st  sie  wirklich  nur  ein  bureaukratisches  Grehause  oder  hat 
sie  nicht  auch  als  verfafite  Kirche  die  Pnicht,  den  Frieden 
im  eigenen  Lande  und  unter  den  Volkern  zu  erhalten,  die 
verschiedenen  Klassen  sich  naher  zu  bringen  und  verderb- 
liche  Standesvorurteile  brechen  zu  helfen?  Man  wendet 
wohl  ein,  es  geniige,  wenn  die  Kirche  das  Wort  Q-ottes 
verkundige  und  die  Sakramente  verwalte.  Allein  denselben 
Einwand  hat  man  auch  gemacht,  als  man  forderte,  die 
Kirche  solle  aufiere  und  innere  Mission  treiben.  Auch  da- 
mals  verschlofi  sich  die  Kirche  zunachst  dieser  Forderung 
und  behauptete,  das  sei  nicht  ihres  Amtes;  aber  sie  hat 
dann  einzusehen  gelernt,  dafi  sie  ihren  Beruf  vernachlassigt, 
wenn  sie  jene  Aufgaben  dahingestellt  sein  lafit.  Erheb- 
licher  erscheint  der  Einwand,  dafi  die  Organe  der  Kirche 
in  Fragen  wie  die  oben  angedeuteten  nicht  die  Macht 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  73 

haben,  ikrem  "Wort  ISTachdruck  zu  geben,  und  dafi  bei 
der  eigentumlichen  Zusammensetzung  kirchlicher  Korper- 
schaften  Vorschlage  zu  befiirchten  seien,  die  ohne  Riick- 
sicht  auf  die  Durchfuhrbarkeit  gemacht  werden,  also  ins 
Leere  verlaufen  wiirden,  ferner  dafi  Ubergriffe  und  Em- 
mis  chungen  in  fremde  Angelegenheiten  zu  erwarten  seien. 
Diese  Befurchtungen  sind  gewifi  nicht  grundlos;  allein 
voraussichtliche  Mifigriffe  konnen  nicht  wider  eine  an  sich 
notwendige  und  gute  Sache  ins  Feld  gefuhrt  werden.  Die 
kirchliclien  Korperschaften  werden  das  Mafi  ihrer  Krafte 
und  das  Grebiet  ihrer  Arbeit  in  der  Arbeit  selbst  kennen 
lernen,  und  dafi  die  Baume  nicht  in  den  Himmel  wachsen, 
dafiir  ist  durch  das  eigentiimliche  und  wohlberechtigte  Ver- 
haltnis,  in  welchem  die  deutschen  evangelischen  Kirchen 
zum  Staate  stehen,  gesorgt. 

Die  soziale  Aufgabe  der  Kirche  habe  ich  bisher  an- 
zugeben  versucht.  Uber  diese  Aufgabe  hinaus  liegt  eine 
Reihe  von  groCen  Aufgaben,  deren  Losung  nicht  Sache 
der  Kirche  ist,  die  aber  den  Christen  nicht  gleichgiiltig 
sein  konnen.  Rein  wirtschaffcliche  Fragen  sollen  allerdings 
nur  nach  wirtschaftlichen  Gesichtspunkten  beurteilt  und 
entschieden  werden;  aber  viele  von  ihnen  greifen  tief  ein 
in  die  sittlichen  Zustande  des  Volkes.  Darum  soil  es  die 
Kirche  nicht  hemmen,  dafi  diese  Fragen  —  wie  wir  es 
hier  auf  unseren  Kongressen  tun  —  auch  in  ihrer  Mitte 
aufgenommen  werden;  denn  es  liegt  in  ihrem  Interesse, 
dafi  sich  Christen  mit  warmem  Herzen  und  hellem  Blick 
finden,  welche  zukunftsreiche  Bestrebungen  dieser  Art  von 
pliantastischen  zu  unterscheiden  lernen,  ihren  Zusammeii- 
hang  mit  den  sittlichen  Fragen,  soweit  er  vorhanden  ist, 
nachweisen  und  mit  Opferfreudigkeit  fur  gesunde  soziale 
Fortschritte  eintreten.  Allerdings  bezeugt  die  ganze  Kir- 
chengeschichte ,  dafi  wannherzige  Christen,  wenn  sie  wirt- 
schaftliche  Fragen  auf  greifen,  zu  radikalen  Vorschlagen 


74  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  II. 

geneigt  sind.  Sie  stellen  ihre  nationalokonomischen  Forde- 
rungen  unter  die  Fahne  des  Evangeliums  und  versuchen 
diesem  ein  sozialistisches  Programm  abzugewinnen.  Dafi 
diese  Grefahr  auch  nnter  uns  heute  vorhanden  ist,  kann 
nicht  geleugnet  werden.  Auch.  der  Protestantismus  ist 
nicht  dagegen  geschutzt,  dafi  niclit  eines  Tages  in  ihm  ein 
neuer  Arnold  von  Brescia  auftritt,  dafi  eine  Pataria  sich 
bildet,  dafi  nationalokonomische  Kleriker  versuchen,  den 
anderen  im  Namen  des  Evangeliums  als  Gesetz  vorzu- 
schreiben,  welche  Stellung  sie  in  wirtschaftlichen  Fragen 
einzunekmen  haben,  um  ferner  nock  Christen  zu  sein.  Das 
Liebaugeln  mit  der  Sozialdemokratie ,  das  schon  jetzt  hin 
und  her  wahrzunehmen  ist,  ist  wahrlieh  nicnt  ungefahrlich. 
Solange  ihre  Fuhrer  und  ihre  Zeitungen  ein  Leben  ohne 
Religion,  ohne  Pnichten,  ohne  Opfer,  ohne  Resignation 
lehren  —  was  haben  wir  mit  solch  einer  Lebensauffassung 
gemein?  Mehr  als  bedenklich  ist  es  auch,  wenn  man  die 
,,Reichenu  und  ganze  Stande  von  vornherein  preisgibt  und 
davon  traumt,  man  werde  von  unten  herauf  allmahlich 
ein  ganz  neues  christliches  Gremeinwesen  schaffen.  Das 
alles  wetterleuchtet  ja  heute  nur  erst  oder  wird  in  Bruch- 
stiicken  produziert.  Noch  ist  wohl  niemand  unter  uns,  der 
nicht  daran  festhalt,  dafi  im  Namen  des  Evangeliums  nur 
solche  Anspriiche  an  den  einzelnen  gestellt  werden  diirfen, 
die  sich  an  sein  G-ewissen,  seine  Freiheit  und  seine  Liebe 
richten;  noch  weiG  man,  dafi  es  sich  im  Evangelium  um 
die  Beseitigung  einer  anderen  Not  handelt  als  der  irdischen ; 
aber  die  Dinge  haben  ihre  eigene  Logik,  und  wer  Wind 
sat,  wird  Sturm  ernten. 

Aber  diese  Warming  erhebe  ich  nicht,  um  abzumahnen, 
daft  sich  der  evangelische  Christ  als  Christ,  ferner  der 
Pfarrer  und  Theologe  iiberhaupt  mit  wirtschaftlichen  und 
sozialen  Fragen  beschaftige  und  sich  ein  eigenes  Urteil 
in  ihnen  bilde  —  ganz  im  Q-egenteil.  Das  Christentum 
soil  sich  mit  jeder  erprobten  Lebens-  und  Welterfahrung 


Die  evangelisch-soziale  Aufgabe.  75 

verbinden,  und  es  soil  gegeniiber  alien  grofien  Fragen  auf- 
geschlossen  sein.  Jahrhundertelang  hat  es  in  der  engsten 
Verbindung  mit  der  Philosophie,  speziell  der  Metaphysik 
gestanden,  in  der  sich  alles  geistige  Leben  zusammenfaflte. 
Niemand  war  ein  gebildeter  Christ,  der  nicht  auch  ein 
Philosoph  war.  Heute  stehen  im  geistigen  Leben  die  Gre- 
schichte  und  die  sozialen  Fragen  im  Vordergrund,  und  wer 
an  diesem  Leben  iiberhaupt  Anteil  nehmen  will,  der  kann 
sich  ihnen  gar  nicht  entziehen. 

Vor  allem  aber  —  die  Not  und  das  Elend  der  Mit- 
briider  in  unserem  Volke  brennt  auf  unserer  Seele  und 
treibt  dazu,  zu  untersuchen,  zu  forschen  und  zu  lernen, 
wie  der  soziale  Korper  zusammengesetzt  ist,  welche  Leiden 
unvermeidlich  sind  und  welche  durch  Opfersinn  und  Tat- 
kraft  geheilt  werden  konnen.  Gregeniiber  der  Grrofie  und 
dem  Ernst  dieser  Aufgabe  treten  heute  alle  anderen  Auf- 
gaben,  die  wir  auf  dieser  Erde  und  fur  diese  Erde  zu 
leisten  haben,  zuriick  —  wie  konnten  wir  als  Christen  an 
ihr  voriibergehen,  und  wenn  Selbstsucht,  Tragheit  und 
Indolenz  immerfort  unsere  Lage  erschweren  und  bedenk- 
licher  gestalten,  wie  diirfen  wir  uns  dariiber  wundern,  wenn 
wir  von  der  anderen  Seite  mit  radikalen  Vorschlagen  uber- 
rascht  werden? 

Grestatten  Sie  mir  noch  ein  Schlufiwort.  Die  Zeichen 
der  Zeit  scheinen  darauf  hinzuweisen ,  dafi  sich  unsere 
6'ffentlichen  und  wirtschaftlichen  Verhaltnisse  immer  mehr 
in  der  staatssozialistischen  Richtung  entwickeln  werden, 
Viele  begriifien  das  mit  ungeteilter  Freude,  ich  vermag 
mich  ihnen  nicht  riickhaltlos  anzuschlieCen.  Gewifi  ist  es 
eine  Freude,  wenn  Quellen  der  Armut  und  Not  verstopft 
werden,  wenn  dem  Elend  vorgebeugt  wird.  Aber  man 
soil  nicht  vergessen  —  jede  Neuordnung  dieser  Art  wirkt 
auch  als  ein  Zwang,  der  die  freie  Entwicklung  niederhalt, 
eine  jede  notigt  uns  daher,  auf  Mittel  und  Wege  zu  sinnen, 


76  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  II. 

um  die  Bedingungen  for  die  Erziehung  freier  selbstandiger 
Personlichkeiten  aufrecht  zu  erhalten.  Wenn  wir  bei  einer 
gesetzmafligen  Sklaverei  endigen  wiirden,  wenn  wir,  von 
Jugend  auf  eingeschniirt  in  Zwangsmafiregeln,  alle  eigen- 
tiimliche  Bildung  verloren  —  welch  ein  Ende  ware  dies! 

Drei  grofie  Aufgaben  sind  uns  anvertraut,  fur  nns 
selbst  und  for  die  kommenden  Greschlechter:  den  evange- 
lischen  Grlauben  zu  bewahren,  der  Not  unserer  Mitbriider 
nach  Kraften  zu  steuern  und  unsere  Bildung  und  Kultur 
zu  bescMtzen.  Letzteres  wird  in  den  heiflen  wirtschaftlichen 
Kampfen  und  in  den  Vorschlagen  zu  ihrer  Milderung  nur 
zu  leicht  vergessen,  und  dock  wurde  der  sittliche  und  wirt- 
schaftliclie  Ruin  dem  Verfall  der  Kultur  auf  dem  FuCe 
folgen.  Die  Pflege  der  Bildung  aber  steht  unter  eigentum- 
licLen,  festen  Bedingungen,  die  nicht  willkurlich  geandert 
werden  konnen,  und  sie  begrenzen  zum  Teil  die  sozial- 
wirtschaftliche  Arbeit. 

Die  Bildung  lafit  sich  nicht  schematisieren,  so  wenig, 
wie  die  "Wahrheit,  aus  der  sie  stain  nit,  sich  nivellieren  lafit. 
Die  evangelische  Kirche  aber  wiirde  von  sich  selbst  abfallen, 
wenn  sie  ihren  Bund  mit  der  Wahrheit  und  der  Bildung 
aufgebe  und  wenn  sie  das  Ziel  preisgebe,  freie,  selbstandige 
Christen  zu  erziehen.  Hier  liegt  auch  eine  evangelisch- 
soziale  Aufgabe  vor,  und  wir  haben  alien  Grund,  urn  sie 
besorgt  zu  sein,  da  wir  starken  bildungsfeindlichen  Machten 
gegeniiberstehen. 

Evangelischer  Q-laube,  ein  warmes  Herz  fur  die  Not 
des  Nachsten  und  ein  aufgeschlossener  Sinn  fur  die  Wahr 
heit  und  die  geistigen  Griiter  —  das  sind  die  Machte,  die 
unsere  Kirche  und  unser  Yolk  bauen  und  erhalten.  Bleiben 
wir  ihnen  treu,  dann  wird  sich  immer  mehr  verwirklichen, 
was  das  mutige  Q-laubenslied  als  Verheifiung  ausspricht: 
,,Nun  ist  grofi  Fried  ohn  UnterlaU;  all  Fehd  hat  nun  ein 
Ende." 


ADOLF  HARNACK  •  REDEN  UND  AUFSATZE 
ZWEITER  BAND  -  ERSTE  ABTEILUNG 


REDEN:  in 

DIE  SITTLICHE  UND  SOZIALE  BEDEUTUNG 
DES  MODERNEN  BILDUNGSSTREBENS 


Vortrag 

gehalten  am  22.  Mai  1902  auf  dem  evang.-sozial.  KongreJB  zu  Dortmund. 

Erschienen  in   den  ,,Verhandlungen   des  Ev.-soz.  Kongresses"  1902  bei 

Yandenhoeck  &  Kuprecht  in  Gottingen. 


Der  evangelisch-soziale  KongreC  hat  sich  die  Aufgabe 
gestellt,  alle  grofien  Erscheirmngen  der  Gregenwart,  welche 
fordernd  oder  hemmend,  aufbauend  oder  umgestaltend  in 
das  sittlich-soziale  Leben  eingreifen,  zu  beurteilen.  Wie 
sie  beschaffen  sind,  was  sie  wert  sind  nnd  in  welchem  Sinne 
sie  geleitet  werden  sollen,  will  er  untersuchen.  Es  bedarf 
nun  wohl  nicht  vieler  Worte,  um  zu  beweisen,  dafi  das 
moderne  Bildungsstreben  eine  der  hervorragendsten  sozialen 
Erscheinungen  innerhalb  unsrer  Gregenwart  ist.  Zu  keiner 
Zeit  kann  der,  welcher  das  Granze  des  Zustandes  eines 
Volkes  studieren  will,  an  dem  Stande  der  Bildung  voruber- 
gehen;  er  mufl  feststellen,  wie  hoch  derselbe  ist,  wie  stark 
die  Interessen  sind,  die  an  der  Bildung  haften,  und  wie 
grofi  die  Opfer,  die  fur  sie  gebracht  werden.  Aber  in  unserer 
Zeit  sind  diese  Fragen  von  doppelter  Bedeutung;  denn  der 
fLiichtigste  Blick  lehrt  uns,  in  welchem  Mafie  sich  das 
Streben  nach  Bildung  unter  uns  gesteigert  hat.  Der  Ab- 
stand  von  friiheren  Zeiten,  selbst  wenn  man  nur  um  30  Jahre 
zuruckgeht,  ist  so  grofi,  dafi  man  gradezu  behaupten  kann, 
dafi  das  Streben  nach  erweiterter  und  vertieffcer  Bildung 
ein  wesentliches  Merkmal  unsrer  gegenwartigen  Epoche  ist. 
Wollte  ich  anfangen,  Ihnen  zu  schildern,  in  welchen  Hervor- 
bringungen  und  Einrichtungen  sich  dieses  Bildungsstreben 
liberal!  zeigt,  so  wiirde  ich  in  vielen  Stunden  nicht  zu  Ende 
kommen.  Nur  an  einige  Tatsachen,  die  Ihnen  alien  bekannt 
sind.  will  ich  erinnern. 


8Q  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  III. 

I.        . 

Betrachten  wir  eine  groJBere  deutsche  Stadt;  wir  finden 
zahlreich  besuchte  Volksbibliotlieken;  wir  finden  Fort- 
bildungsschulen  jeder  Art,  obligatorische  und  freie,  sowie 
Fachschulen.  Vorlesungen  aus  alien  Gebieten  der  Wissen- 
schaffc  werden  for  weite  Kreise  gehalten;  die  Vorlesungen 
werden  belebt  und  verdeutlicht  durch  Experimente  und 
bildliche  Darstellungen  von  hoher  Vollendung,  die  das 
Schwierigste  erlautern  und  das  Fernste  gegenstandlich 
machen.  Befindet  sich  an  dem  Ort  eine  Universitat  oder 
sonst  ausreichende  Lehrkrafte,  so  horen  wir,  dafi  Hoch- 
scliulkurse  abgehalten  werden,  in  denen  besondere  Zweige 
oder  die  Grundziige  der  einzelnen  Wissenscnaffcen  —  nicht 
nur  ihre  Ergebnisse,  sondern  auch.  ihre  Metnoden  —  solchen 
zuganglich  gemacht  werden,  welcne  der  gymnasialen  Vor- 
bildung  entbehren.  Dieselben  Universitaten  richten  Ferien- 
und  Fortbildungskurse  ein;  durch  sie  werden  die  neuesten 
Errungenschaften  der  Wissenschaft  denen  zugetragen,  die 
die  Universitat  seit  Jahr  und  Tag  verlassen  haben.  Daneben 
stenen  praktisch-wissenschaftliche  Kurse,  Samariterkurse, 
Unterweisungen  fur  den  Dienst  bei  plotzlichen  Unfallen, 
EinfuLrung  in  das  neue  biirgerliche  G-esetzbuch,  sozial- 
politische  und  padagogische  Kurse,  zusammenhangende  Be- 
lenrungen  oder  Diskussionen  iiber  ethische  und  religiose 
Grundfragen.  Weiter  aber:  dort  fordert  ein  Anschlag  zum 
Besuch  der  Schauspiele  auf,  in  denen  zu  billigen  Preisen  die 
Meisterwerke  unsrer  Dichter  aufgefiihrt  werden;  hier  wird 
zu  Volkskonzerten  eingeladen,  sei  es  in  die  Kircne,  um  Bach 
und  Handel,  sei  es  in  den  Saal,  um  Beethoven  und  Wagner 
zu  horen.  Die  Museen  sind  unentgeltlich  geoffnet,  und  fur 
sachverstandige  Erlauterung  der  Sammlungen  und  Kunst- 
werke  daselbst  wird  gesorgt.  Noch  am  spaten  Abend  und 
bis  in  die  Nacht  hinein  wird  gearbeitet,  um  solche,  denen 
es  in  der  Jugend  nicht  vergonnt  war,  sich  eine  griindliche 


Das  moderne  Bildungsstreben.  81 

Bildung  zu  erwerben,  nachtraglich  zu  fordern  oder  den 
aufstrebenden  Arbeiter  mit  den  tieferen  Grundlagen,  den 
Zusammenhangen  und  den  Fortschritten  seines  Arbeitsge- 
biets  bekannt  zu  machen.  Grundrisse,  Lehrbiicher  und 
dazu  die  besten  "Werke  aus  den  Literaturen  aller  Kultur- 
volker  weiden  zu  den  wohlfeilsten  Preisen  verkauft.  AVer 
es  versteht,  kann  sich  bereits  fur  zehn  Mark  eine  wertvolle 
Bibliothek  anschaffen,  fiir  die  er  noch  vor  einem  Menschen- 
alter  das  Zehnfache  zu  zahlen  hatte.  Auch  auf  das  Land 
hinaus  —  wenn  diese  Arbeit  auch  erst  begonnen  hat  —  werden 
Fachmanner  geschickt,  welehe  in  der  Ackerwirtschaft,  im 
Obstbau  und  anderen  landlichen  Unternehmungen  unter- 
richten.  Uberall  sehen  wir,  dafi  leicht  und  systematisch 
heute  zuganglich.  gemacht  wird,  .was  franer  nur  wie  zu- 
fallig  diesem  oder  jenem  zuflog,  oder  was  der  Eifrige  muh- 
sam  selbst  aufsuchen  und  mit  vielen  Opfern  sich  erwerben 
mufite.  Schliefilich  ist  noch  des  ungeheuren  Bildungsstoffs 
zu  gedenken,  den  die  Zeitungen  fast  in  jedes  Haus  tragen, 
die  politischen  Zeitungen  und  die  Fachzeitschriften.  Ein 
jedes  Handwerk,  ein  jedes  Grewerbe  und  jeder  Fabrikzweig 
besitzt  solche.  Sie  enthalten  genaue  Ausfuhrungen  iiber 
jeden  Fortschritt  auf  dem  betreffenden  Gebiet  und  werden 
von  Mannern  redigiert,  die  neben  der  genauesten  Kenntnis 
des  besonderen  Zweiges  auch  die  der  wirtschaftlichen  Zu- 
sammenhange  ihres  Faches  mit  anderen  Fachern,  Produk- 
tions-  und  handels-statistisches  Wissen  und  allgemeine 
Kenntnisse  der  verschiedensten  Art  besitzen.  Ein  Blick 
z.  B.  in  die  Kellner-Zeitung,  den  ich  jiingst  getan,  belehrte 
mich,  mit  welchem  Ernst  und  welcher  Umsicht  ein  solches 
Blatt  geleitet  wird,  und  wie  viele  Ratschlage  und  wieviel 
Einsicht  es  seinen  Abonnenten  ubermittelt. 

Um  aber  den  Kontrast  des  heutigen  Zustandes  zu  dem, 
was  vor  einem  Menschenalter  war,  vollstandig  zu  machen, 
mufi  man  auf  die  Trager  blicken,  die  jetzt  vornehmlich  an 
dem  Aufschwung  beteiligt  sind,  wahrend  sie  damals  noch 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    II.  6 


82  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  III. 

kaum  sick  regten  —  ich  meine  die  Arbeiter  und  die  Frauen. 
Das  Bildungsstreben  beider  driickt  unsrer  Epoche  recht 
eigentlich  den  Stempel  auf. 

"Was  die  Arbeiter  betrifft,  so  beschamen  grofie  Gruppen 
unter  ilinen  alle  anderen  Stande.  Noch  jiingst  ist  es  tins 
wiederum  aus  Hamburg  bezeugt  worden,  dafi  die  dortigen 
grofiartigen  Veranstaltungen  von  Vorlesungs-Kursen  haupt- 
sachlich  von  den  sogenannten  nkleinen  Leuten"  besucht 
werden. 

Mit  Anteil  nnd  Bewundernng  sehen  wir,  welchen  Eifer 
diese  ,,kleinen  Leute"  und  Arbeiter  entwickeln  und  welche 
Opfer  sie  bringen,  nicht  nur  Tim  ihre  materielle  Lage  zu 
verbessern,  sondern  auch  um  intellektuell  in  die  Hone  zu 
kommen  und  an  den  geistigen  Errungenschaften  teilzu- 
nehmen.  Abgesehen  ist  es  dabei  keineswegs  auf  rasche 
Befriedigung  eines  vorubergehenden  Bediirfnisses ,  sondern 
sie  streben  unzweifelhaft  nach  "Wissenschaft.  Ein  brennendes 
Verlangen,  ein  Hunger  nach.  wirklichen  Kenntnissen,  nach 
einer  wissenschaftlichen  Weltanschauung  ist  vorhanden. 
Mag  auch  das  Urteil  dariiber,  was  die  "Wissenschaft  ver- 
mag,  oftmals  ein  ausschweifendes ,  ja  phantastisches  sein, 
mogen  die  Schwierigkeiten  des  Wegs  tausendmal  unterschatzt 
werden  —  das  feste  Zutrauen  zur  Macht  und  freiheitstiften- 
den  Kraft  der  Wissenschaft  hat  etwas  Imponierendes  und 
die  Freudigkeit  zu  der  Reise  in  das  unbekannte  Paradies 
etwas  Ruhrendes. 

Noch  gewaltiger  aber,  fast  mochte  ich  sagen  elemen- 
tarer  und  universeller  ist  das  Bildungsstreben  der  Frauen. 
Die  G-eschichte  erzahlt  uns  von  grofien  Volkerschaften,  iiber 
die  plotzlich  der  Wandertrieb  gekommen  ist  und  die  nun 
ihre  Wohnsitze  verlassen,  um  auszuziehen  in  ein  femes 
Land,  wo  der  Himmel  blauer  ist,  die  Erde  fruchtbarer  und 
das  Leben  lebendiger.  Hieran  fuhlt  man  sich  erinnert, 
wenn  man  die  heutige  Frauenbewegung  betrachtet.  Aber 
wie  bei  jenen  Volkerwanderuugen,  sieht  man  naher  zu, 


Das  moderne  Bildungsstreben.  83 

niclit  ein  unerklarliches  Etwas  zum  Aufbruch  getrieben 
hat,  sondern  die  Not  verbunden  mit  Tatenlust,  so  1st  auch 
tier  die  Not  das  Treibende,  verbunden  mit  dem  Drang, 
sich  aus  der  Enge  zu  befreien,  und  mit  dem  Gefiihle  der 
Kraft.  Alle  Schichten  der  Frauen  hat  dieser  Trieb  heute 
durchdrungen.  Es  sind  keineswegs  nur  die  wirtschaftlich 
Bedrohten,  die  sich  in  die  Reihen  der  strebenden  Frauen 
stellen,  weil  sie  fur  ihre  Existenz  kampfen  miissen;  nein, 
auch  diejenigen,  deren  materielle  Lage  gesichert  ist,  treten 
hinzu,  und  von  Jahr  zu  Jahr  —  mit  jeder  neuen  Madchen- 
generation,  die  die  Schule  verlafit  —  wachst  die  Bewegung 
in  geometrischer  Progression.  Sie  wollen  teilnehmen  an 
allem,  was  die  geistige  Entwicklung  der  Gregenwart  bietet; 
sie  wollen  ihren  Greist  schulen  und  befreien  und  nach 
Kenntnissen,  Bildung  und  Selbstandigkeit  den  Mannern 
ebenbiirtig  sein.  Es  gilt  dem  Wissen  und  der  Wissenschaft, 
und  sie  verlangen,  dafi  man  sie  zulasse,  wo  nur  immer 
Wissen  gelehrt  wird  und  Rechte  auf  Grrund  desselben  er- 
worben  werden.  Der  Spott  iiber  ein  Korps  von  Blau- 
strumpfen  oder  von  Amazonen  ist  langst  nicht  mehr  am 
Platze,  verstummt  auch  immer  mehr;  denn  die  Bewegung 
ist  viel  zu  machtig  geworden  und  sie  hat  sich  so  tief  auch 
mit  dem  inneren  weiblichen  Sinn  verbunden,  dafi  man  mit 
Recht  von  der  Frauenbewegung  spricht. 

Lassen  Sie  mich,  bevor  ich  diese  kurze  Ubersicht 
schlieUe,  nur  noch  einen  fliichtigen  Blick  auf  die  Stellung 
des  Staates  zu  dieser  ganzen  Bewegung  werfen.  Da  bei 
uns  in  Deutschland  der  Staat,  wenn  auch  nicht  das  Unter- 
richts-  und  Bildungsmonopol,  so  doch  nahezu  ein  Monopol 
auf  sie  besitzt,  so  ist  sein  Verhalten  hier  von  hochster  Be- 
deutung.  Im  allgemeinen  darf  man  urteilen,  dafi  er  mit 
Wohlwollen,  Weisheit  und  tatkraftiger  Hilfe  dem  modernen 
Bildungsstreben  auf  den  meisten  Linien  entgegenkommt. 
Ein  nicht  geringer  Teil  der  wissenschaftlichen  Einrichtungen, 
von  denen  wir  soeben  gesprochen  haben,  ist  auf  ihn  zuriick- 

6* 


84  Z  welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  III. 

zufuhren;  andere  hat  er  gerne  und  mit  Anteil  verwirklicht 
gesehen  und  leiht  ilinen  seine  Unterstiitzung.  Es  ist  nnr 
zu  billigen,  wenn  er  sich  bei  der  Initiative  zuriickhalt  und 
lieber  freien  Vereinen  oder  den  Kommunen  oder  Privat- 
personen  die  Anfange  und  die  Durchfuhrung  iiberlafit. 
Dafi  er  raschem  Drangen  Widerstand  entgegenstellt  und 
im  allgemeinen  nicht  das  Tempo  beschleunigt,  sondern  zu 
riickhalt,  ist  so  lange  nicht  gefahrlich,  als  er  gesunde  Be- 
wegungen  nicht  unterdriickt.  Auf  seinem  eigensten  Gre- 
biete,  dem  des  Volksschulunterrichts,  hat  er  soeben  einen 
bedeutenden  und  besonders  dankenswerten  Schritt  vorwarts 
getan.  Die  neuen  Regulative  fur  den  Unterricht  auf  den 
Lehrer-Seminarien  sind  vortrefflich  und  jeden  Lobes  wert. 
Zwei  Bestimmungen  sind  es  namentlich,  die  fur  sie  nun 
maBgebend  sind:  erstlich,  dafi  ein  stufenmaBiger  Grang  von 
der  untersten  bis  zur  letzten  Klasse  eingehalten  wird,  so 
dafi  an  die  Stelle  eines  unermiidlichen  und  geistlosen  Eepe- 
tierens  und  Einpaukens  desselben  Pensums  ein  wirkliches 
Fortschreiten  in  der  Ausbildung  erzielt  wird,  zweitens  dafi 
auf  den  obersten  Stufen  sowohl  ein  Einblick  in  die  Haupt- 
resultate  gewisser  den  Lehrern  nahe  liegender  wissenschaft- 
licher  Disziplinen  als  ein  Sinn  fur  die  Methode  und  Arbeit 
der  "Wissenschaft  erweckt  wird.  Durch  beides  sind  lang 
gehegte  Wiinsche  der  Lehrerwelt  selbst  befriedigt  worden, 
und  es  steht  zu  erwarten,  dafi  mit  dem  abgeschafften  Drill 
die  Untugenden  allmahlich  schwinden  werden,  die  unzer- 
trennlich  von  ihm  sind,  und  dafi  dann  auch  der  Volksschule 
die  neue  Ordnung  der  Dinge  einen  neuen  Aufschwung 
bringen  wird.  Der  Staat  ist  mit  den  Vertretern  eines  ge- 
sunden  Fortschritts  darin  einig,  dafi  Veraltetes  und  Falsches 
nicht  gelehrt,  Recht  und  Pflicht  zu  denken  aber  alien 
Biirgern  eingepragt  werde.  Die  Volksschule  soil  und  kann 
davon  keine  Ausnahme  machen. 


Das  moderns  Bildungsstreben.  85 

n. 

In  einer  kurzen  Uberschau  haben  wir  es  gerechtfertigt, 
dafi  wir  von  einem  modernen  Bildungsstreben  sprechen 
und  in  ihm  ein  wesentliches  Merkmal  unsres  Zeitalters 
selien.  Unsere  Frage  gilt  aber  dem  sittlichen  und  sozialen 
"Wert  dieses  Bildungsstrebens.  Bevor  wir  ihn  untersuchen, 
haben  wir  das  "Wesen  der  Bildung  und  das  besondere 
Wesen  der  modernen  Bildung  ins  Auge  zu  fassen.  Nicht 
um  das,  was  man  Zivilisation  nennt,  handelt  es  sich  hier. 
Freilich  stehen  Bildung  und  Zivilisation  in  einem  sehr 
nahen  Zusammenhang.  Allein  wir  sind  mit  Recht  gewohnt, 
unter  Zivilisation  etwas  Aufleres  zu  verstehen,  an  welchem 
auch  der  teilnehmen  kann,  der  von  wirklicher  Bildung 
wenig  beriihrt  ist.  Tins  ist  es  nur  um  die  letztere  zu  tun. 

Wesensbestimmungen  der  Bildung  gibt  es  zahlreiche, 
und  ihre  Mannigfaltigkeit  beweist,  wie  verschiedene  Seiten 
sie  hat  und  wie  verschieden  sie  betrachtet  werden  kann. 
Fafit  man  den  Menschen  seinen  Anlagen  nach,  so  wird 
Bildung  die  voile  Ausgestaltung  aller  der  Kraffce  sein,  die 
im  Innern  schlummern:  man  wird  durch  die  Bildung,  was 
man  ist  oder  vielmehr  was  man  sein  kann;  die  voile  Ent- 
faltung  der  Individualitat  ist  hier  das  hochste  Ziel  der 
Bildung,  und  mit  dieser  vollen  Entfaltung  auch  die  Frei- 
heit  gegenuber  der  Aufienwelt,  eine  gleichsam  wiederge- 
wonnene  Naivitat.  Sie  ist  das  sicherste  Zeichen  der  ge- 
schlossenen  befreiten  Personlichkeit. 

,,Doch  er  stehet  mannlich  an  dem  Steuer, 
Mit  dem  Schiffe  spielen  Wind  und  Wellen, 
Wind  und  Wellen  nicht  mit  seinem  Herzen." 

Fafit  man  den  Menschen  innerhalb  der  Natur,  so  wird 
die  Bildung  eine  doppelte  Aufgabe  haben:  einerseits  wird 
sie  eine  Waffe  sein  gegen  die  Natur,  eine  Schutzwehr  gegen 
ihre  alles  zu  verschlingen  drohende  Grewalt  —  Naturbeherr- 
schung,  soweit  nur  iminer  moglich  — ,  ein  Ablauschen  und 


86  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  III. 

Abtrotzen  der  G-eheimnisse  der  Natur,  um  sie  zu  zwingen 
und  dienstbar  zu  machen.  Andererseits  soil  sie  durch  Ver- 
standnis  mit  der  Natur  versdhnen,  soil  den  Zusammenhang 
mit  allem  Lebendigen  aufdecken  und  den  Zusammenschlui], 
wo  er  heilsam,  befordern.  Auch  liier  ist  Kraft  und  Freiheit 
das  hochste  Ziel,  welches  winkt. 

Fafit  man  den  Menschen  aber  innerhalb  der  G-eschichte 
und  als  Q-lied  der  Menschheit,  so  ist  Bildung  das  Vermogen, 
alles  Menschliche  mit  Verstandnis  und  Teilnahme  aufzu- 
nehmen  und  wieder  zuriickzustrahlen,  die  eigene  Seele  offen 
zu  halten  und  die  anderen  Seelen  zu  offnen,  Verstand  und 
Herz  zu  feinen  Organen  auszubilden,  die  dort  sehen  und 
horen,  wohin  die  Sinne  nicht  mehr  reichen,  sich  an  vielen 
Orten  heimisch  zu  machen  und  sich  doch  nirgends  einzu- 
schliefien,  innerhalb  des  Wechsels  der  Dinge  das  Leben 
dauerhaft  und  wiirdig  zu  gestalten  und  inmitten  des  Ein- 
formigen  und  Abstumpfenden  ihm  Grehalt  zu  geben,  Selbst- 
beherrschung  und  G-eduld  zu  gewinnen  gegeniiber  dem 
Allzumenschlichen  und  Ehrfurcht  zu  behaupten  vor  dem 
Menschlichen  und  Gottlichen. 

FaCt  man  endlich  die  Bildung  im  engsten  Sinne  in 
bezug  auf  den  besonderen  Beruf  jedes  einzelnen,  so  ist  sie 
die  Summe  der  Kenntnisse  und  Fertigkeiten,  die  notig  sind, 
um  diesen  Beruf  wirklich  auszufullen  und  sich  frei  in  ihm 
zu  bewegen.  Auch  hier  ist  Freiheit  das  letzte  Ergebnis: 
gebildet  ist  in  seinem  Beruf  und  fur  denselben,  wer  durch 
ihn  nicht  niedergedriickt  wird,  sondern  des  sen  Kennen  und 
Konnen  zur  zweiten  Natur  geworden  ist.  Niemals  darf 
diese  Bildung  im  engeren  Sinn,  die  Fachbildung,  unter- 
schatzt  werden;  denn  der  "Weg  zur  allgemeinen  Bildung 
fuhrt  regelmaCig  durch  die  spezielle  und  ist  anders  schwer 
oder  iiberhaupt  nicht  zu  finden. 

Es  ist  ein  hohes  Lied  von  der  Bildung,  welches  wir 
gesungen  haben,  und  mancher  hat  vielleicht  gelachelt  oder 
ist  gar  unwillig  geworden.  Ihm  ist  etwa  der  7,Bildungs- 


Das  moderne  Bildungsstreben.  87 

philister"  eingefallen  und  alles  das,  was  man  mit  GTrund 
von  demselben  gesagt  hat.  Allein  wer  die  Bildung  so  fafit, 
wie  ich  sie  zu  bestimmen  versucht  habe,  wird  der  ent- 
schiedenste  Feind  jener  Spottgestalt  sein.  Der  Bildungs- 
philister  neben  dem  Gebildeten  1st  "Wagner  neben  Faust, 
eine  Gliederpuppe  neben  dem  Lebendigen,  lebendig  nur 
durch  ihre  Selbstgefalligkeit.  Der  Bildungsphilister  ist  ohne 
Duldung  und  Geduld,  ohne  Freiheit  und  ohne  Ehrfurcht, 
ohne  Personlichkeit  und  ohne  Liebe;  jede  Frucht  ver- 
schwindet  in  seiner  Hand,  und  nur  die  Hiilsen  bleiben  ihm 
iibrig,  die  er  fur  den  Kern  der  Dinge  halt. 

Aber  je  und  je  sind  auch  ernste,  wirkliche  Gegner  der 
Bildung  aufgetreten,  nicht  Barbaren,  sondern  Feinde  der 
Bildung  unter  den  G-ebildeten.  Das  ist  freilich  paradox 
genug,  und  eigentlich  konnte  man  sie  einfach  ihrem  Selbst- 
widerspruch  uberlassen.  Es  waren  und  sind  hochgebildete 
Romantiker,  die,  nachdem  sie  einen  reichen  Bildungsstoff 
aufgenommen,  aber  nicht  alle  Friichte  erhalten  haben,  die 
sie  erwarteten,  auf  die  Bildung  schmahen  und  ihr  gegen- 
uber  die  Natur  oder  das  Leben  oder  etwas  Undefinierbares 
ausspielen.  Das  Altertum  kannte  solche,  das  18.  Jahrhun- 
dert  hatte  seinen  Rousseau,  und  wir  haben  unsre  kleinen, 
aber  nicht  einflufilosen  Rousseaus.  Soweit  sie  nicht  die^ 
Bildung  bekampfen,  um  das  Triebleben  zu  empfehlen,  oder 
um  sich  von  der  Sorge  fur  ihre  Mitmenschen  und  von  aller 
Verantwortung  fur  den  Gang  der  Dinge  zu  befreien,  be- 
fehden  sie  nicht  eigentlich  die  Bildung  iiberhaupt,  sondern 
eine  falsche,  engherzige  verrottete  Bildung.  Dies  war  in 
hohem  Mafie  bei  Rousseau  der  Fall,  und  daher  sind  wir 
ihm  zu  Dank  verpflichtet  und  konnen  eine  weite  Strecke 
Wegs  mit  ihm  gehen.  Nicht  aber  konnen  wir  mit  ihm 
gehen,  wenn  er  einfach  die  Natur  gegen  die  Bildung  aus- 
spielt.  Wird  hier  kein  tauschendes  Spiel  mit  Worten  ge- 
trieben  oder  in  den  Begriff  wNatur"  etwas  hineingelegt, 
was  ihm  gar  nicht  zukommt,  so  kann  die  Formel:  ,,Riick- 


gg  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  III. 

kelir  zur  JSTatur"  niclit  gebilligt  werden.  Grewifi,  wahrhaftig 
sollen  wir  sein,  nicht  geziert  und  niclit  heuchlerisch,  auch 
sollen  wir  uns  niclits  aufreden  lassen,  was  unserem  innersten 
Wesen  widerspricht,  aber  die  RTatur  kann  niclit  iiberall  unsre 
Lehrmeisterin  sein;  denn  ihr  fehlen  zwei  Elemente,  welche 
wir  niclit  entbehren  konnen,  das  ist  die  geschlossene  Per- 
sonlichkeit  und  die  G-ute.  Yon  der  Natur  konnen  wir  sie 
niclit  lernen.  Aus  dera  geschichtlichen  Leben  empfangen 
wir  sie. 

Aber  es  gibt  endlich  noch  Gregner,  die  mit  Mifitrauen 
das  unbedingte  Lob  der  Bildung  horen,  und  wir  finden  sie 
in  den  Reihen  unsrer  Freunde.  Ernste  Christen  sind  es, 
die  niclit  nur  vor  Uberschatzung  der  Bildung  warnen,  son- 
dern  ihr  iiberhaupt  nur  einen  bedingten  Wert  beilegen. 
Ihre  Stellung  ist  wohlverstandlich ;  denn  erstlich  ist  in  alien 
hoheren  Dingen  die  sichere  Kenntnis  des  Ideals  etwas  so 
Bedeutendes,  dafi  sie  viele  Mangel  ersetzen  kann,  und  so 
wird  der  wahrhaft  religiose  Mensch  iminer  auch  ein  ge- 
bildeter  Mensch  sein,  so  wenig  Bildung  im  einzelnen  er 
auch  haben  mag.  Zweitens,  alle  tiefere  Bildung  wird  nur 
aus  einem  schmerzlichen  Widerstreit  und  hartem  Kampf 
geboren;  sie  wird  nicht  miihelos  erworben  und  auch  nicht 
muhelos  festgehalten.  Sofern  dieses  Element  aber  von  ober- 
flachlichen  Menschen  oft  iibersehen  und  Bildung  einfach 
mit  Kenntnissen  verwechselt  wird,  sofern  weiter  iibersehen 
wird,  dafi  Bildung  nur  langsam  reift  und  eine  Bildungs- 
schicht  und  -Greschichte  voraussetzt,  ist  das  Mifitrauen  der 
Ernsten  gegen  das  Schlagwort  7,Bildungu  wohl  berechtigt. 
Allein  die  Bildung  ist  nicht  daran  schuld,  dafi  sie  auch 
oberflachlich  aufgefafit  wird;  darum  ist  jedes  Wort,  welches 
gegen  sie  gesprochen  wird,  bedenklich.  Bedenklich  ist  es 
auch,  von  dem  Standpunkt  der  Griiter,  welche  die  Religion 
gewahrt,  abschatzig  iiber  die  Bildung  zu  urteilen.  Grewifi 
wird  ihr  Mangel  dort  am  wenigsten  empfunden,  wo  wahr 
haft  religioses  Leben  ist,  und  dieses  kann  in  sich  geschlos- 


Das  moderne  Bildungsstreben.  89 

sen  sein  und  die  ganze  Personlichkeit  verklaren.  Aber 
ohne  Bildung  wird  sie  nur  in  ganz  bestimmten  Berufen 
nach  auBen  wirksam  sein  konnen,  die  zahlreichen  anderen 
werden  ihr  verschlossen  sein,  und  diese  Erde  zu  bebauen 
und  zu  bewahren,  wird  sie  anderen  uberlassen  miissen. 
So  bleibt  es  dabei,  dafi  gegen  die  Bildung  feindselig  ist 
nur  wer  sie  niclit  kennt  oder  verkennt,  und  der,  welcher 
gegen  sie  eifert,  befindet  sich  in  der  Regel  in  einer  merk- 
wiirdigen  Selbsttauschung:  er  denkt  mit  ihren  Gredanken 
und  redet  mit  ihren  Worten.  Mag  auch,  wo  immer  gegen 
die  Bildung  gesprochen  wird,  dies  ein  Zeichen  sein,  dafi 
im  herrschenden  Bildungsbetriebe  etwas  Ungesundes  oder 
Faules  ist  —  der  Bildung  selbst  den  Krieg  erklaren  oder 
sie  fur  etwas  Unbedeutendes  darstellen,  ist  ein  wahnsinniges 
oder  freches  Unterfangen.  Der  verwirrt  und  schadigt  alle 
gesunden  Begriife  und  ladet  eine  schwere  Verantwortung 
auf  sick,  der,  sei  es  in  geistreicher,  sei  es  in  welcher  Rede 
auch.  immer  gegen  die  Bildung  streitet  und  sie  dem  Volke 
verachtlich  oder  iibernussig  zu  inachen  sucht.  In  dies  em 
Sinne  mufl  ich  auch  die  Wirkung,  welche  die  Schriften 
Tolstois  ausiiben,  fur  bedenklich  halten  und  kann  mich 
nur  mit  dem  leidigen  Troste  trosten,  dafi  die  meisten,  die 
sie  lesen,  gar  keine  anderen  Wirkungen  aus  ihnen  em- 
pfangen  als  die  einer  vorubergehenden  Emotion.  Im  gro- 
fien  und  ganzen  diirfen  wir  sagen,  dafi  der  machtige  Trieb 
und  das  Streben  nach  Bildung  unter  uns  durch  diese  und 
andere  Hemmungsversuche  nicht  aufgehalten  werden.  Sie 
sind  kraffciger  und  lebendiger  als  zu  irgend  einer  Zeit. 
Wer  kann  sich  daruber  wundern?  Ist  doch  die  Erde  erst 
in  unseren  Tagen  ein  einziger  Schauplatz  geworden.  Der 
moderne  Verkehr  hat  alle  Zaune  niedergerissen.  Tausend 
wechselnde  Eindriicke  treffen  uns  heute;  alles  steht  im 
Lichte  der  Offentlichkeit.  Alles  spielt  sich  auf  dem  Markte 
ab.  Konkurrenz  in  jedem  Sinn  des  Wortes  beherrscht 
alles,  und  zugleich  greift  jede  Frage  in  eine  andere  ein. 


90  Z  welter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  III. 

Hilflos  steht  der  Ungebildete  diesem  Zustand  gegeniiber. 
Einen  stillen  Winkel,  in  den  er  sich  retten  kann,  gibt  es 
bald  nicht  mehr.  N"ur  durch  Bildung  vermag  er  sich.  zu 
wappnen.  Hier  liegt  die  letzte  Ursache  des  modernen 
Bildungsstrebens. 

m. 

Aber  fragen  wir  Tins  nun,  in  welcher  Richtung  haupt- 
sachlich  das  moderne  Bildungsstreben  sich  bewegt;  denn 
obgleich  alle  Bildung  nur  eine  ist,  so  treten  doch  zu  alien 
Zeiten  verschiedene  Momente  in  ihr  hervor  und  gewinnen 
die  Oberhand.  Sehe  ich  recht,  so  lassen  sich  in  unserem 
modernen  Bildungsstreben  folgende  Hauptziige  erkennen. 
Erstlich,  es  zeigt  eine  energische  Richtung  auf  die  wirkliche 
Wissenschaft,  zweitens,  es  zeigt  die  ernsteste  Absicht,  Un- 
abhangigkeit  und  wirtschafth'che  Selbstandigkeit  zu  erringen, 
drittens,  es  zeigt  den  Trieb,  das  Lebensgefdhl  zu  steigern 
und  groBeren  Anteil  am  Leben,  extensiv  und  intensiv,  zu 
gewinnen. 

Das  moderne  Bildungsstreben  zeigt  eine  energische 
Richtung  auf  die  wirkliche  Wissenschaft;  ich  konnte  dafur 
auch  sagen,  auf  die  Erkenntnis  des  Wirklichen.  Der 
grofiere  Teil  aller  der  Einrichtungen  und  Unternehmungen, 
von  denen  wir  gesprochen  haben,  gilt  diesem.  Es  ist  fur 
den  Mann  der  Wissenschaft  eine  Freude,  zu  sehen,  mit 
welchem  inneren  Drang  und  Eifer  wissenschaftliche  Er 
kenntnis  heutzutage  aufgesucht  wird.  Mit  schonen  Worten 
und  unterhaltenden  Erzahlungen  ist  nicht  mehr  gedient; 
man  will  die  Welt  des  Wirklichen  erkennen  und  will  die 
Fortschritte  der  Erkenntnis  studieren.  Darum  tritt  heut 
zutage  der  einzelne  popular- wissenschaftliche  Vortrag  immer 
mehr  zuriick  gegeniiber  der  zusammenhangenden  Unter- 
weisung.  Wie  das  Wirkliche  gefunden  und  erkannt  wird, 
dafiir  ist  der  Sinn  aufgegangen  oder  wenigstens  das  Ver- 
langen,  den  Tatsachen  ins  Gresicht  zu  sehen  und  sich  vor 


Das  moderne  Bildungsstreben.  91 

Schein  und  Tauschung  zu  hiiten.  Vor  allem  aber  sind  es 
die  zwei  leitenden  Ideen  der  modernen  Wissenschaft,  die 
sich  weiter  Kreise  bemachtigt  haben  und  bereits  Bichtlinien 
fur  sie  geworden  sind,  die  Erhaltung  und  Umformung  der 
Krafte  und  der  Entwicklungsgedanke.  Wir  freuen  uns, 
dafi  dem  so  ist,  und  diejenigen  tauschen  sich,  welche 
meinen,  dafi  dieser  Schritt  je  wieder  zuruckgenommen 
werden  konne.  Die  Einsicht,  dafi  die  einzelne  Kraft  ein 
integrierender  Bestandteil  eines  Kraftesystems  ist  und  nur  in 
ihm  seine  Statte  hat,  und  dafi  die  einzelne  Erscheinung  nur 
als  Glied  einer  Entwicklungsreihe  eine  Tatsache  ist,  diese 
Einsicht  wird,  einmal  gewonnen,  nie  wieder  verschwinden; 
denn  sie  ist  die  Bedingung,  soviel  von  der  Welt  urn  uns 
zu  erkennen  und  zu  durchschauen,  als  uns  zu  erkennen  ver- 
gonnt  ist.  In  diesem  Sinne  ist  das  Urteil,  dafi  der  Zug  der 
Zeit  ein  realistischer  ist,  vollberechtigt;  aber  wir  fallen  es 
nicht  im  Sinne  einer  Klage,  sondern  freudig.  Wir  freuen 
uns,  in  einer  Zeit  leben  zu  durfen,  in  welcher  —  Stumpfsinn 
und  Aberglaube  gibt  es  freilich  genug  —  der  Zug  zum  Wirk- 
lichen  so  machtig  ist.  Ehrlichkeit  und  Redlichkeit  liegt 
darinnen,  ehrliche  Arbeit  und  redliches  Bemuhen,  und  ich 
stehe  nicht  an,  diesem  Zug  eine  hohe  sittliche  Bedeutung 
beizumessen.  Yon  seiner  Schranke  werden  wir  noch  horen; 
aber  wer  der  Erkenntnis  des  Wirklichen  unbestochen  nach- 
geht,  der  steht  dadurch  in  sittlicher  Tatigkeit,  und  wer 
Opfer  an  Kraft  und  Mitteln  fur  sie  bringt,  bringt  sie  fur 
eine  sittliche  Aufgabe. 

Zweitens  zeigt  das  moderne  Bildungsstreben  die  ernsteste 
Absicht,  durch  Bildung  Unabhangigkeit  und  wirtschaftliche 
Selbstandigkeit  zu  gewinnen.  Was  treibt  die  Scharen 
bildungseifriger  Arbeiter  dazu,  ihre  karglichen  Freistunden 
der  Fachbildung  zu  widmen  und  ihre  Kenntnisse  zu  ver- 
mehren?  Mcht  nur  der  Wissenstrieb  als  solcher,  sondern 
auch  das  lebhafte  Verlangen,  ihre  Lage  zu  verbessern  und 
durch  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  eine  gesichertere  Stellung 


92  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  III. 

auf  dem  Arbeitsmarkte  zu  gewinnen.  Was  ist  eine  der 
machtigsten  Triebfedern  in  der  grofien  Frauenbewegung, 
von  der  wir  gesprochen  haben?  Selbstandig  zu  werden, 
auf  eigenen  FiilSen  zu  stehen  und  durch  einen  festen  Be 
ruf  eine  gesicherte  Stellung  zu  erhalten.  Diese  Tendenz 
ist  in  jeder  Hinsicht  beifallswert,  ja  auch  sie  ist  als  eine 
sittliche  im  strengen  Sinne  in  Anspruch  zu  nehmen.  Ohne 
Beruf  und  einen  festen  Kreis  ist  der  Mensch,  ob  Mann 
oder  Weib,  ein  unniitzes  Wesen;  der  Beruf  ist  der  Halt 
und  der  Hiickgrat  des  Lebens ;  nur  in  einem  festen  Pflichten- 
kreise  und  in  dem  Gefuhl,  an  seiner  Stelle  notwendig  zu 
sein,  bleibt  der  Mensch.  gesund.  Ist  nun  die  Ehe  unzahligen 
Madchen  verschlossen  und  ist  die  hauswirtschaftliche  Arbeit, 
verglichen  mit  friiheren  Zeiten,  auJSerordentlich  reduziert, 
so  miissen  andere  Berufe  von  den  Frauen  gesucht,  und  sie 
miissen  ihnen  eroffnet  werden.  Ja,  man  wird  noch  einen 
Schritt  weiter  gehen  und  denen  beipnichten  miissen,  die  da 
sagen,  kein  Madchen  soil  nur  fur  die  Ehe  und  ausschliefi- 
lich  als  zukiinftige  Gefahrtin  des  Mannes  erzogen  werden, 
sondern  sie  soil  so  gebildet  werden,  dafi  sie  einem  tiich- 
tigen  Beruf  vorstehen  kann.  G-anz  mit  Recht  wird  diese 
Forderung  erhoben,  nicht  nur,  weil  eine  zukiinftige  Ehe- 
schliefiung  immer  unsicher  ist,  nicht  nur,  weil  es  gilt,  die 
bemitleidenswerte  Lage  unzahliger  "Witwen,  die  friiher 
gleichsam  wie  eine  unabanderliche  Schickung  betrachtet 
wurde,  im  voraus  zu  bessern,  sondern  weil  es  dem  Gang, 
den  unsere  Entwicklung  gewonnen  hat,  entspricht,  daB 
jedes  gesundeWesen  fur  sich  selbst  zu  sorgen  vermag  und 
es  als  Pflicht  und  Recht  empfindet,  auf  eigenen  Fiifien  zu 
stehen.  In  anderen  Zeiten  sind  die  Anschauungen  dariiber 
andere  gewesen  —  eine  neue  Zeit  ist  heraufgestiegen,  und 
wir  freuen  uns,  ihre  Burger  zu  sein.  Wir  erwarten  auch 
von  dieser  Umgestaltung,  in  deren  Anfangen  wir  stehen, 
eine  Versittlichung  des  weiblichen  Geschlechts,  wo  solche 
notig,  und  eine  Versittlichung  des  Verhaltnisses  der  beiden 


Das  moderne  Bildungsstreben.  93 

G-eschlechter  zueinander.  Eigentiiniliche  neue  Grefahren 
taucnen  freilich  auch  Iiier  auf  —  wir  werden  iiber  sie 
sprechen;  ohne  Scliatten  ist  nichts  Menschlich.es  — ,  aber 
dafi  dunkle  Nachtseiten  in  der  Lage  und  dem  Zustande 
des  weibliehen  Greschlechts  schwinden  oder  doch  abnehmen 
konnen,  wenn  die  wirtschafbliche  Selbstandigkeit  und  Un- 
abhangigkeit  desselben  gesteigert^  wird,  kann  schwerlich 
zweifelhaft  sein.  Es  ist  z.  B.  umnoglich,  dafi  die  Prosti 
tution,  die  grobe  und  die  feine,  in  dem  Umfange  fort- 
dauert,  wenn  mit  der  Bildung  die  Ausbildung  zu  be- 
stimmten  Berufen  in  dem  weiblichen  Greschlecht  gefordert 
wird.  Auch  auf  die  Manner  mu.G  notwendig  diese  Neu- 
ordnung  der  Verhaltnisse  einwirken.  In  dieser  Betrachtung 
fiihle  ich  micli  eins  mit  einem  der  tiichtigsten  Yertreter 
der  Frauenbewegung,  mit  Herrn  Wy digram.  Er  scnreibt 
in  dem  Vorwort  zu  seiner  neuen  Zeitsckrift:  J5Frauen- 
bildung":  „ Die  Ford erung  des  weiblichen  Unterrichtswesens 
wird,  wenn  sie  unter  den  richtigen  Gresichtspunkten  und 
mit  den  rechten  Mitteln  vollzogen  wird,  sowohl  der  Frau 
als  der  Gresellschaft  selbst  Segen  bringen.  Denn  das  sind 
die  beiden  beherrschenden  Ru.cksich.ten:  indem  wir  die  gei- 
stige  Bildung  der  Frau  heben,  heben  wir  die  Stellung  der 
Frau  selbst,  und  indem  wir  dieses  tun,  glauben  wir  unserem 
Kulturleben  neue  grofie  und  frucntbare  Werte  zuzufuhren. 
Wir  schaffen  der  Frau  eine  hohere  und  edlere  Selbstandig 
keit.  Dies  aber  kann  und  mufi  in  doppeltem  Sinn  ver- 
standen  werden,  im  ethischen  und  im  wirtschaftlichen.  In 
jenem,  weil  die  hochstmogliche  Ausbildung  der  geistigen 
Krafte  dem  modernen  Menschen,  was  auch  immer  dagegen 
gesagt  werden  mag,  die  wirksamste  Vorbedingung  einer 
ernsten  Erf  as  sung  des  Lebens  und  seiner  Aufgaben  bietet, 
und  weil  solche  Erfassung  bei  jeder  tiefer  angelegten  Natur 
wiederum  eine  nicht  versiegende  Quelle  des  Grliicks  ist.  In 
dem  andern,  dem  wirtschaftlichen  Sinn  aber  bedeutet  Selbst- 
standigkeit  die  Erhebung  iiber  jenen  traurigen  Zustand,  da 


94  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Keden:  III. 

wir  von  der  Arbeit  der  anderen  leben  miissen  und  eigene 
von  anderen  bewertete  Arbeit  nicht  leisten.  Auch  dies  be- 
riihrt  sich  mit  den  ernstesten  Fragen,  und  wenn  fiir  keinen 
Verstandigen  dariiber  Zweifel  bestehen,  dafi  Arbeit,  recht 
geboten,  recht  erfaJSt  und  recht  belohnt,  Gliick  ist,  dann 
miissen  wir  die  Frauen  zu  solcher  Arbeit  hinfiihren." 

Drittens  zeigt  das  moderne  Bildungsstreben  den  Trieb, 
das  Lebensgefuhl  zu  steigern  und  grofieren  Anteil  am 
Leben,  extensiv  und  intensiv,  zu  gewinnen.  Damit  ist  eine 
Seite  beruhrt,  die  nicht  leicht  zu  fassen  ist.  Ich  meine 
nicht  das  Streben  nach  mehr  Genufi.  Auch  dieses  enthalt 
zwar  etwas  Gerechtfertigtes ,  und  es  ist  sehr  billig,  es  zu 
schmahen,  wahrend  sich  doch  die  Schmahenden  leicht 
hunderte  von  Geniissen  verschaffen,  die  der  Geschmahte 
entbehrt.  Ich  meine  auch  nicht  die  allermodernste  roman- 
tische  Neigung,  das  Lebensgefuhl  durch  exzentrisehe  Phan- 
tasien  zu  steigern  und  zu  berauschen.  Diese  Neigung  ist 
rechter  Bildung  geradezu  entgegengesetzt  und  feindlich. 
Das,  was  ich  meine,  ist  das  Bestreben,  sich  aus  jenem  ab- 
stumpfenden  Einerlei  des  Lebens  zu  befreien,  welches  noch 
fur  Tausende  das  Leben  selbst  ist,  um  den  Kreis  des  Da- 
seins  reich  und  kraftig  zu  gestalten.  In  vielen  ist  heute 
dieses  Streben  eine  Macht:  sie  empfinden,  dafi  der  Mensch 
nicht  nur  des  Wechsels  von  Tag  und  Nacht  bedarf,  um 
gesund  zu  bleiben,  sondern  auch  eines  Wechsels  am  Tage, 
und  dafi  er  sich  nur  frisch  erhalten  kann,  wenn  er  iiber 
seinen  nachsten  Beruf  hinaus  Anteil  nimmt  am  allgemeinen 
Menschlichen.  Soil  dieser  Anteil  aber  iiber  rohe  Geniisse 
hinausfuhren ,  so  ist  ein  gewisses,  ja  ein  fortschreitendes 
Mafi  von  Bildung  unerlaBlich,  dazu  ein  ZusammenschluC 
mit  Gleichstrebenden,  denn  der  isolierte  Mensch  gelangt 
hier  niemals  zum  Ziele.  Das  wird  auch  von  den  Aufstre- 
benden  empfunden;  denn  nicht  als  etwas  AuGerliches  oder 
Zufalliges  tritt  das  soziale  Element  im  Zusammenhang  mit 
dem  Bildungsstreben,  das  Leben  reicher  zu  gestalten,  auf. 


Das  moderne  Bildungsstreben.  95 

Vom  sittlichen  und  vom  christlichen  Standpunkt  aber  kann 
gegen  dieses  Bemuhen  niclits  eingewendet  werden;  denn 
der  Zweck  des  Lebens  1st  —  urn  des  ewigen  Inhalts  willen, 
welchen  jedes  Leben  haben  soil,  —  das  Leben  selbst. 

Ich  habe  versuclit,  das  moderne  Bildungsstreben  nach 
seinen  wichtigsten  Seiten  zn  charakterisieren.  Der  sittliche 
und  soziale  Wert  desselben  1st  dabei  iiberall  hervorgetreten, 
ohne  daB  ich  ihn  aufdringlich  vorgeriickt  oder  Einzelwir- 
kungen  genannt  hatte.  In  der  Tat  liegt  auch  nicht  in  den 
Einzelwirkungen  der  Hauptwert,  obgleich  deren  nicht  wenige 
sind.  Ich  verweise  z.  B.  darauf,  wie  durch  die  erhohte 
Bildung  die  "Wohnungsfrage ,  dieses  so  wichtige  Problem 
des  sozialen  Lebens,  im  giinstigsten  Sinne  beeinflufit  wird. 
Kann  man  doch  geradezu  die  Wohnung  als  einen  Grrad- 
messer  der  Bildung  in  Anspruch  nehmen,  und  iiberall  be- 
obachtet  man,  dafi  gesteigerte  Bildung  sich  eine  bessere 
Wohnung  erzwingt:  die  wirtschafblichen  Verhaltnisse  miissen 
hier  dem  idealen  AnstoUe  folgen,  und  folgen  ihm  nachweis- 
bar.  Ferner  verweise  ich  auf  die  Tats  ache,  dafl  durch  die 
erhohte  Bildung  ein  Ausgleich  der  Stande  stattfindet  und 
dafi  die  einzelnen  Schichten  und  G-ruppen  der  Nation  sich 
naher  treten  und  innere  Fiihlurig  miteinander  gewinnen. 
In  diesem  Sinne  sind  namentlich  auch  die  Hochschulkurse 
von  grofier  Bedeutung;  ja  schon  in  diesen  und  ahnlichen 
Unternehmungen  an  sich  liegt  ein  starkes  soziales  Element, 
ein  Element  der  Anerkennung  und  des  Zusammenschlusses. 
Endlich  mochte  ich  darauf  aufmerksam  machen,  dafi  der 
gebildete  Mensch  in  der  Regel  der  besonnene  sein  wird: 
extreme  und  exzentrische  Standpunkte  werden  verlassen 
werden,  und  ein  Sinn  fur  das  Bedingte  der  Verhaltnisse 
wird  erwachen.  Damit  wird  der  soziale  Friede  naher  ge- 
riickt.  Aber,  wie  gesagt,  die  Einzelwirkungen  diirfen  hier 
nur  als  Teile  der  Gesamtwirkung  ins  Auge  gefafit  werden. 
Diese  besteht  darin,  daB  die  erhohte  Bildung  das  Individuum 
zur  Personlichkeit  gestaltet  und  dafi  sie  dasselbe  eben  da- 


96  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  III. 

durch  auch  sozial  wertvoller  maclit.  Das  Ziel  einer  in 
friedlicher  Arbeit  und  in  gegenseitiger  Anerkenmmg  und 
Fiirsorge  geschlossenen  Nation  und  das  Ziel  .,eines  allge- 
mein  sittlichen  Weltbundes",  in  dem  ,,die  Menschen  sich 
mit  alien  Kraften,  mit  Herz  und  Greist,  Verstand  nnd  Liebe 
vereinigen",  liegt,  wie  alle  Ideale,  hock  iiber  nns.  Aber  es 
ist  gewifi,  dafl  wir  Tins  von  ihm  niclit  entfernen,  sondern 
anf  dem  rechten  "Wege  sind,  wenn  wir  das  Bildungsstreben 
uberall  fordern  nnd  neben  der  Sorge  fur  die  wirtschaftliche 
Hebung  die  ideale  Seite,  die  doch  in  Wirkliehkeit  etwas 
hochst  Reales  ist,  niemals  aus  dem  Auge  lassen. 

IV. 

Des  Leichtsinns  aber  nnd  einer  gefanrlichen  Schnell- 
fertigkeit  wiirden  wir  nns  schnldig  machen,  wollten  wir 
nns  einfach  bei  der  These  bernhigen,  das  moderne  Bildnngs- 
streben  sei  sittlich  und  sozial  genommen  hochst  wertvoll 
und  miisse  daher  in  jedem  Sinne  gepflegt  werden.  Wir 
haben  vielmehr  die  Pflicht,  sowohl  die  Einwiirfe  ins  Auge 
zu  fassen,  welche  gegen  dasselbe  erhoben  werden,  als  auch 
die  besonderen  Grefahren  zu  erkennen,  die  ihm  anhaften. 
Eben  dadurch  werden  wir  seine  sittlich-soziale  Bedeutung 
tiefer  erfassen. 

Als  erste  Gefahr,  die  uns  hier  entgegentritt,  erscheint 
die  Grefahr  der  Halbbildung.  Es  sind  nicht  nur  ^Reaktio- 
nare",  sondern  auch  sozial  gesinnte  und  einen  gesunden 
Fortschritt  begiinstigende  Manner,  die  das  moderne  Bil 
dungsstreben  und  die  Einrichtungen ,  die  fur  dasselbe  ge- 
schaffen  werden,  mit  Besorgnis  betrachten.  Wir  kommen 
ihnen  auch  freiwillig  mit  dem  Zugestandnis  entgegen,  dafi 
die  Gefahren  der  Halbbildung,  namlich  Unklarheit,  Ver- 
wirrung  und  wiederum  torichter  Hochmut  und  Unzufrieden- 
heit,  nicht  beseitigt  werden  konnen,  ja  sich  vielleicht  in 
einigen  Kopfen  unter  den  gegebenen  Verhaltnissen  noch 
steigern  werden.  Aber  deshalb  dem  modernen  Bildungs- 


Das  moderne  Bildungsstreben.  97 

streben  entgegenzutreten  und  es  niederzuhalten,  ware  das 
Verkehrteste ,  was  wir  tun  konnten.  Mederzuhalten  ver- 
mogen  wir  es  iiberhaupt  nicht;  denn  es  1st  viel  zu  machtig; 
wir  warden  es  nur  auf  schlechte  Belehrung  und  schlechte 
Unterweisung  zuriickwerfen.  Den  Gefahren  der  Halbbildung 
kann  man  doch  nicht  durch  die  Verdamnmng  zur  Unbildung 
entgegentreten ,  sondern  nur  durch  ,,Ganzbildung".  Die 
besten  Manner  miissen  in  dieses  Werk  eintreten,  und  die 
besten  Biicher  miissen  fur  dasselbe  geschrieben  werden. 
Hit  den  wichtigsten  Ergebnissen  der  Wissenschaften  mufl 
der  Sinn  fur  ihre  Methoden  und  fur  die  unendlichen 
Schwierigkeiten  einer  gesicherten  Erkenntnis  auf  alien  Ge- 
bieten  erweckt  werden.  Wo  er  erweckt  ist,  da  ist  schon 
die  Hauptsache  gewonnen,  da  ist  die  grofite  Gefahr  der 
Halbbildung  abgewehrt.  Und  er  kann  erweckt  werden. 
Gewifi,  die  hochste  Stufe"  wissenschaftlicher  Erkenntnis 
kann  niemand  erfliegen,  und  einen  koniglichen  Weg  zu  ihr 
gibt  es  nicht;  die  grofien  Denker  werden  immer  einsam 
sein,  und  es  wird  stets  eine  Wissenschaft  geben,  die  nicht 
fiir  die  Massen  ist.  Aber  wie  die  Bildung,  so  hat  auch  die 
Wissenschaft  ihre  Stufen,  und  es  ist  nicht  wahr,  dafi  die 
frischere  Luft  nur  auf  dem  hochsten  Gipfel  des  Gebirges 
weht.  Der  schlechte  Klang,  den  das  Wort  ,,populare  Wissen 
schaft"  hat  —  fast  lautet  es  wie  Pseudowissenschaft  — , 
braucht  ihm  nicht  immer  anzuhaften;  ich  meine,  er  ist  zum 
Teil  schon  verschwunden.  Wo  das  Halbwahre  und  Triviale 
verbannt,  wo  die  Ehrfurcht  vor  der  Wahrheit  und  ihrer 
Erforschung  erweckt,  wo  dem  einzelnen  der  wissenschaft- 
liche  Stoff  geboten  wird,  der  ihn  in  seinem  Kreise  wirklich 
zu  fordern  vermag,  da  ist  die  populare  Wissenschaft  eine 
gate  und  rechte  Wissenschaft. 

Mit  dem  zuletzt  Gesagten  bin  ich  bereits  einer  zweiten 
Gefahr  entgegengetreten,  die  dem  modernen  Bildungsstreben 
anhaftet,  der  Gefahr  der  Gleichmacherei.  Sie  erscheint  mir 
besonders  grofl  und  verderblich;  sie  ist  es  auch  vornehm- 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    II.  7 


98  Z welter  Band,  erste  Abteihing.     K,eden:  III. 

lich,  die  zu  der  schlimmen  Halbbildung  fiihrt,  ja  auf  die 
Dauer  die  Wissenschaffc  selbst  zugrunde  ricliten  mufi.  Ihre 
Folgen  sind  in  jeder  Richtung  verhangnis voile.  Sie  wirkt 
antisozial,  lost  die  gegebenen  Grundelemente  der  Gresell- 
schaft  auf  und  halt  die  Entwicklung  selbstandiger  und 
eigenartiger  Individuen  nieder.  Unter  Grleichmacherei  ver- 
stelie  ich  das  Bestreben,  ohne  R/iieksicht  anf  die  Unter- 
schiede  des  Greschlechts,  der  Individualitat  nnd  des  Bernfs 
ein  nnd  dieselbe  Bildnng  und  darnm  anch  einen  nnd  den- 
selben  Bildnngsgang  moglichst  vielen  geben  oder  vorschreiben 
zn  wollen.  "Was  dabei  herauskommt,  lehrt  nns  der  Unter- 
gang  der  antiken  Wissenschaft;  wir  haben  es  aber  selbst 
schon  in  schlimmen  Erscheinnngen  gesehen  nnd  werden 
wohl  noch  mehr  Lehrgeld  zahlen  miissen.  Verstandlich 
scheint  es  ja  wohl,  dafi,  nachdem  viele  anfiere  Schranken 
gefallen  sind,  nun  kurzweg  das  scheinbar  Einfachste  ver- 
sucht  nnd  wo  moglich  alien  das  Grleiche  zuteil  werden  soil; 
aber  die  oberflachlichste  und  verderblichste  Vorstellung  von 
Bildung  liegt  diesen  Bestrebungen  zugrunde  —  als  ob  sie 
wie  ein  anOeres  Ding  iibermittelt  werden  konnte,  wahrend 
sie  doch  iiberhaupt  nur  im  Zusammenhang  mit  der  Eigen- 
art  nnd  dem  Beruf  des  Individuums  besteht.  Von  ihnen 
abgesehen  ist  sie  nichts  als  ein  Firms,  ein  zaher  Schleim, 
oder  vielmehr,  sie  ist  etwas  viel  Schlimmeres ,  ein  Grift, 
welches  die  Frische  und  Gresundheit  des  Greistes  und  der 
Seele,  ja  oft  auch  des  Korpers  zu  zerstoren  vermag.  Hier 
kann  ich  auch  die  moderne  Frauenbewegung  in  manchen 
Erscheinungen  von  schweren  Vorwiirfen  nicht  freisprechen. 
Entschuldigungen  will  ich  gleich  voranstellen :  der  harte 
Kampf  um  das  tagliche  Brot  und  um  einen  Platz  an  der 
Sonne,  das  ruhmliche  Streben  nach  wirtschaftlicher  Selb- 
standigkeit  und  wiederum  das  leidige  Berechtigungswesen 
und  die  Konkurrenz  mit  der  mannlichen  Arbeit,  in  welche 
die  Frauen  zurzeit  ofbmals  treten  miissen,  das  sind  Ent 
schuldigungen  genug.  Aber  wenn  heute  von  verschiedenen 


Das  moderne  Bildungsstreben.  99 

Seiten  die  Parole  ausgegeben  wird,  well  die  Fran  dem 
Manne  gleichwertig  sei,  so  miifiten  ilir  auch  durchweg  die- 
selben  Berufe  und  derselbe  Bildungsgang  eroffnet  werden 
wie  dem  Manne,  so  kann  ich  darin  nur  eine  Yerirrung 
sehen,  und  wenn  vollends  hin  und  her  die  Miene  ange- 
nommen  wird,  als  sei  die  Frage  ^cuius  generis"  in  Kinsicht 
auf  Beruf  und  biirgerliche  Stellung  iiberhaupt  eine  veraltete, 
wenn  in  diesem  Zusammenhange  sogar  an  der  Ehe  geriittelt 
wird,  so  droht  uns  die  Auflosung.  Ich  nehme  nichts  von 
dem  zuriick,  was  ich  in  diesem  Vortrage  iiber  das  Recht 
der  Frauenbewegung  ausgesprochen  habe;  aber  ich  lehne 
die  Konsequenz  ab,  dafi  die  Frauenbildung  einfach  nach 
dem  Schema  der  Bildung  des  Mannes  einzurichten  sei  und 
dafi  es  ein  gesunder  Zustand  sei,  wenn  die  Frau  uberall 
mit  dem  Manne  in  Konkurrenz  tritt.  Grleichwertigkeit  ist 
doch  nicht  Grleichartigkeit;  jene  bleibt  bestehen,  selbst  wenn 
es  sich  herausstellen  sollte,  daft  die  Frau  intellektuell  dem 
Manne  durchschnittlich  nicht  gewachsen  ist.  "Was  sich  aber 
langst  fiir  jeden,  der  sehen  will,  herausgestellt  hat,  ist  in 
bezug  auf  viele  Berufe  die  korperliche  Minderwertigkeit 
der  Frau.  Die  schwierige  Aufgabe  der  Zukunfb  wird  darin 
bestehen,  den  Frauen  die  rechten  Berufe  abzugrenzen  und 
innerhalb  derselben  eine  Ordnung  der  Dinge  vorzunehmen, 
wie  sie  der  geistigen  und  physischen  Organisation  der  Frau 
angemessen  ist.  Hier  sind  wir  erst  in  den  Anfangen,  und 
Opfer  an  gesunden  Menschenleben  wird  es  kosten,  bis  die 
Aufgabe  gelost  ist.  Unterdessen  ist  schon  jetzt  sorgfaltig 
jede  Grleichmacherei  zu  verbannen,  wo  die  Schadlichkeit 
einer  solchen  offen  am  Tage  liegt.  Dazu:  gewifi  ist  die 
Frau  nicht  nur  fur  die  Ehe  und  die  Familie,  aber  sie  ist 
in  erster  Linie  fur  sie  zu  erziehen.  Der  Einwurf,  dafi  man 
den  Mann  doch  nicht  in  erster  Linie  fur  diese  erziehe, 
stammt  bereits  aus  einer  verkehrten  Betrachtung  der  Dinge. 
Diese  erscheint  gesteigert,  wenn  wir  heutzutage  wieder,  wie 
einst  im  Mittelalter,  die  Frage  erortert  sehen,  ob  denn  iiber- 

7* 


100  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     E-eden:  III. 

haupt  die  Ehe  ein  einer  freien  Personlichkeit  wiirdiges  Ver- 
haltnis  sei.  Es  sind  nicht  nur  frivole  Weltmenschen,  welche 
diese  Frage  aufwerfen  —  wenn  sie  anch  von  den  Uber- 
zeugnngen,  die  einst  zuni  Monchtnm  gefiihrt  haben,  sehr 
weit  entfernt  sind.  Dennoch  vermag  ich  in  diesen  Erwa- 
gnngen  nnr  das  Symptom  einer  ebenso  nnevangelischen 
wie  antisozialen  Stimmung  zn  erkennen,  die  hochst  uner- 
freuliche  AnBernng  eines  Egoismus,  der  dadurch  nicht 
wertvoller  wird,  dafi  er  anch  mit  dem  Bildnngsstreben  sich 
verbindet.  Die  ruchlosen  Yersuche  aber,  die  Q-rundfesten 
der  Gresellschaft  an  diesem  Punkte  zu  sprengen  und  offen 
die  Ehe  verachtlich  zn  machen  —  es  gibt  leider  sclion  eine 
ganze  Literatur  dariiber,  eine  ^schone"  Literatur  — ,  lasse 
ich  grundsatzlich  beiseite. 

Die  gefahrliche  Grleichmacherei  zeigt  sich  indessen  nicht 
etwa  nnr  in  bestimmten  Erscheinungen  der  Franenbewegung 
nnd  des  sexuellen  Problems;  sie  ist  anch  sonst  zn  bemerken. 
"Was  man  ihr  entgegenznsetzen  hat,  das  will  ich  an  der 
Charakteristik  dartun,  die  einst  Mommsen  in  einer  wnnder- 
vollen  Rede  von  Kaiser  Wilhelm  I.  gegeben  hat.  Er  sagt: 
„ Kaiser  Wilhelm  war,  was  der  rechte  Mann  sein  soil,  ein 
Fachmann.  Eine  bestimmte  Disziplin  beherrschte  er  voll- 
standig;  seinem  hohen  Bernfe  entsprechend  lebte  nnd  webte 
er  in  der  Theorie  wie  der  Praxis  der  Militarwissenschaft. 
Es  werden  nicht  viele  sein,  die  ihre  Jiinglings-  nnd  Mannes- 
jahre  mit  solchem  Ernst  wie  er  ihrer  Wissenschaft  gewidmet 
haben.  Also  war  er  kein  Dilettant.  Er  wnfite  sich  am 
Schonen  zn  erfrenen  nnd  ist  der  Erorternng  wissenschaft- 
licher  Fragen  oft  nnd  gern  gefolgt."  Hier  ist  das  Element 
genannt,  welches  der  Grleichmacherei  entgegenznsetzen  ist. 
Fachbildnng  mnB  znerst  geboten  werden,  nnd  sie  nmJS  der 
Ansgangs-  nnd  Ankniipfungspunkt  fur  alle  fortschreitende 
Bildung  sein;  in  konzentrischen,  immer  weiteren  Kreisen 
hat  sie  sich  an  jene  anzusch.lie.Ben.  So  wird  der  Dilettan- 
tismus,  der  die  Folge  aller  Grleichmacherei  ist,  abgewehrt 


Das  moderne  Bildungsstreben.  101 

nnd  zugleich  jene  Ehrfurcht  vor  der  Wissenschaffc  erzeugt, 
die  aufgeschlossen  und  bescheiden  zugleich  macht. 

Aber  noch  eine  dritte  Grefahr  1st  ins  Auge  zu  £asseny 
und  sie  entspringt  aus  dem  besonderen  Charakter  des  mo- 
dernen  Bildungsstrebens  als  ernes  Strebens  nach  Erkenntnis 
des  Wirklichen.  In  diesem  Streben  liegt  ein  hones  Gruty 
aber  wenn  mit  ihm  nicht  eine  starke  sittliche  Bildung  ver- 
bunden  ist,  so  wird  es  schadlich.  Groethe  sagt  einmal  von 
einem  seiner  Freunde,  dafi  er  menr  Talent  und  Wissen 
habe,  als  er  nach  dem  Mafi  seiner  Charakterstarke  ertragen 
konne,  und  an  einer  anderen  Stelle  spricht  er  das  tiefe 
"Wort  aus:  ,,Alles,  was  unseren  Greist  befreit,  ohne  uns  die 
Herrschaft  iiber  uns  selbst  zu  geben,  ist  verderblich."  Kurz 
und  schlagend  ist  hier  formuliert,  worauf  es  ankommt;  die 
Aufgabe  aber,  die  damit  unserem  Bildungsbetriebe  gestellt- 
ist,  ist  die  ernsteste.  Wir  sollen  wissen,  dafi  wir  mit  alien 
unseren  vortrefflichen  Einrichtungen  zur  Verbreitung  der" 
Kenntnisse  und  der  "Wissenschaffc  nur  erst  die  Halfte  unserer' 
Aufgabe,  ja  nicht  einmal  die  Halfte,  geleistet  haben,  Wenn 
wir  es  nicht  vermogen,  auf  den  sittlichen  Zustand  derer, 
die  wir  unterrichten ,  einzuwirken,  so  betreiben  wir  eine 
gefahrliche  Sache.  Grewifi  liegt  in  einem  ernsten  Wahr- 
heitsstreben  und  in  der  Beschaftigung  mit  der  Wissenschaft 
selbst  schon  ein  hohes  sittliches  Element,  aber  es  mufi  auch 
hervorgeholt  und  dem  Horenden  zur  Darstellung  gebracht 
werden.  Es  ist  vor  allem  die  Personlichkeit  des  Lehrenden 
selbst,  die  von  der  sittlichen  Kraft  der  Wahrheit  gestahlt 
sein  und  einen  Eindruck  von  ihr  hervorrufen  muO;  denn 
auf  jeder  Stufe  des  Unterrichts,  auch  auf  den  hoheren,  ist 
die  Personlichkeit  des  Lehrers  von  entscheidender  Bedeu- 
tung.  Lernen  konnen  wir  alles  mogliche  aus  Biichern  und 
aus  unpersonlichen  Uberlieferungen,  gebildet  werden  konnen 
wir  nur  durch  Bildner,  durch  Personlichkeiten,  deren  Kraft 
und  Leben  uns  ergreift.  Dafi  aber  in  dieser  Hinsicht  der 
gegenwartige  Betrieb  der  Bildung  vieles  zu  wiinschen  ubrig 


102  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  III. 

lafit,  wer  kann  das  leugnen?  Zu  dem  heutigen  Betriebe 
der  Wissenschaft  mufi  die  voile  hoffende,  liebende,  sittlich 
starke,  glaubende  Personlichkeit  hinzutreten,  reifer  ausge- 
bildet  und  lebendiger  als  je  fruher.  An  ihr  mufi  es  den 
Schiilern  deutlich  werden,  dafi  alle  tiefere  Bildung  Umbil- 
dung  1st,  schmerzliche,  aber  befreiende  Umbildung:  es  mufi 
etwas  Altes  untergehen  nnd  etwas  Neues  waclisen  und 
werden. 

Im  engsten  Zusammenhange  damit  steht  noch  ein 
anderes,  und  es  1st  die  Hauptsache:  alle  wahre  Bildung 
stromt  aus  der  Quelle  einer  geschlossenen  Weltanschauung 
und  hat  schliefilich  nur  soviel  Wert  als  sie  eine  solche 
ausbaut.  Eine  geschlossene  Weltanschauung  kann  aber 
nur  eine  idealistische  sein,  d.  h.  sie  mufi  in  der  Uber- 
zeugung  wurzeln,  dafi  der  Wert  des  personlichen  Lebens 
und  die  sittliche  SelbstgewiJBheit  allem  blofi  Naturhaften 
iibergeordnet  1st  und  dafi  wir,  wie  wir  in  G-ott  leben  und 
weben,  so  auch  ihm  Rechenschaft  schuldig  sind.  Aber 
durchdringt  eine  solche  Weltanschauung  d.  h.  ein  seiner 
Sache  gewisser  Grlaube  heute  die  geistigen  Fiihrer  unseres 
Volkes?  Wer  kann  das  behaupten?  Seit  dem  Untergang 
der  Aufklarung  am  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  haben 
wir  keine  einheitliche ,  uns  hebende  und  erhebende  Welt 
anschauung  mehr.  Weder  die  Restaurationen  des  kirch- 
lichen  G-laubens  noch  die  grofien  idealistischen  Systeme 
haben  eine  solche  fur  unser  Yolk  zu  schaffen  vermocht. 
Dieser  Zustand,  der  schon  lange  anhalt,  die  Grlaubens- 
losigkeit  sowohl  wie  die  Grlaubenszerrissenheit,  ist  der 
tiefste  Schade  in  unsrem  heutigen  Dasein;  er  ist  die  Ur- 
sache  unsrer  Schwache  in  jeder  Hinsicht,  unsrer  Schwache 
auch  gegenliber  dem  politischen  Religionssystem  des  Katho- 
lizismus.  Den  Materialismus  haben  wir  als  System  so 
ziemlich  iiberwunden;  man  kann  sagen,  die  Zeit  und  der 
heilende  Einflufi  der  Natur  haben  diese  Krankheit  geheilt; 
aber  deshalb  sind  wir  noch  lange  nicht  gesund;  denn  eine 


Das  moderne  Bildungsstreben.  103 

solche  Heilung  schafft  keine  wirkliche  Gesundheit.  Es  ist 
kein  Theologe,  sondern  ein  Q-egner  derselben,  der  Philo- 
soph  John  Stuart  Mill,  der  in  seiner  Selbstbiographie 
folgende  Worte  geschrieben  hat:  ,.Wenn  die  philosophi- 
schen  Geister  der  Welt  nicht  langer  an  ihre  Religion 
glauben  oder  nur  mit  Modifikationen  daran  glauben  konnen, 
welche  den  Charakter  derselben  wesentlich  verandern,  so 
beginnt  eine  tJbergangsperiode  schwacher  Uberzeugungen, 
gelahmter  Verstandeskrafte,  lauer  Grundsatze,  die  kein  Ende 
nimmt,  bis  eine  Erneuerung  bewirkt  ist,  welche  zur  Ent- 
wicklung  eines  religiosen  oder  rein  menschlichen  Glaubens 
fuhrt.  Solange  dieser  Zustand  anhalt,  hat  alles  Denken 
nnd  Schreiben,  das  nicht  auf  eine  solche  Erneuerung  hin- 
arbeitet,  sehr  wenig  anderen  als  momentanen  Wert.tt 
Lassen  wir  neinen  rein  menschlichen  Glauben",  unter 
welchem  ich  mir  im  Gegensatz  zu  einem  religiosen  nichts 
vorzustellen  vermag,  beiseite,  so  hat  Mill  den  gegen- 
wartigen  Zustand  und  das,  was  zu  geschehen  hat,  sehr 
richtig  beschrieben.  Man  erwarte  ja  nicht,  dafi  der  blofie 
Betrieb  der  Einzelwissenschaften  hier  etwas  andern  kann. 
Weder  die  Wissenschaften  noch  die  Wissenschaft  vermag 
hier  etwas.  Zur  Einkehr  in  die  eigene  Seele  mufi  man  die 
Menschen  aufrufen,  damit  sie  neben  den  ungeheuren  Wirk- 
lichkeiten,  die  durch  die  Kenntnis  der  Wissenschaften  auf 
sie  eindringen,  die  Wirklichkeit  der  Wirklichkeit  nicht 
iibersehen  oder  vergessen.  Diese  Wirklichkeit  aber  sind 
zunachst  sie  selbst,  ihre  Seele,  ihr  iiber  die  Natur  erhohtes 
Dasein.  Das  ist  freilich  kein  Wissen,  sondern  ein  Glauben, 
weil  es  nur  als  werdende  und  strebende  Uberzeugung  vor- 
handen  ist;  aber  es  ist  die  Kraft  alles  geistigen  und  schliefi- 
lich  auch  alles  sozialen  Seins.  ,,Das  Charakteristische  des 
Glaubens  ist  der  Antrieb  zum  Schaffen,  das  Charakteristische 
des  Unglaubens  ist  die  Zerstorung  der  SchaiFensfreudigkeit, 
die  Leugnung  des  schopferischen  Berufes,  das  Zuriickwerfen 
der  Menschheit  auf  das  unmittelbare  Sein  und  den  un- 


104  Z  welter  Band,  erste  Abteilung.     Keden:  HI. 

mittelbaren  Trieb,  der  Uberdrufi  an  der  Vergeistigung  des 
Daseins  und  endlicli  am  Dasein  selbst."  Weil  nun  die 
heutige  "Wissenschaft  —  und  sie  kann  nicht  anders  — 
iiberall  auf  die  Anfange  zuriickgeht  und  iiberall,  der  gene- 
tischen  Methode  folgend,  die  Dinge  auf  ihre  primitivsten 
Elemente  und  auf  den  niederen  Ort,  wo  sie  entstanden  zu 
sein  scheinen,  zuruckfuhrt,  so  vermag  sie  in  der  Tat 
sclrvvache  und  haltlose  Greister  iibel  zu  verwirren  und 
scheint  solchen,  die  an  ihre  eigene  Wertlosigkeit  schon  so 
wie  so  glauben,  eben  diese  noch  zu  bestatigen.  Dieser 
Zustand  ist  gewifi  nicht  uniiberwindlich  —  es  wird  die 
Zeit  kommen,  da  man  erkennen  wird,  dafi  die  Entwick- 
lungen  in  Wahrheit  wie  fortgesetzte  Schopfungen  wirken, 
in  denen  neue  Grofien  und  Werte  entstehen,  —  aber  er 
ruft  uns  auf,  alle  unsre  Krafte  anzuspannen,  um  ihm  zu 
begegnen.  Nirgendwo  diirfen  wir  es  geschehen  lassen, 
soweit  es  in  unsren  Kraften  steht,  dafi  Wissenschaft  ge- 
lehrt  und  Bildung  verbreitet  wird,  ohne  dafi  zugleich  das 
sittliche  SelbstbewuCtsein  gekrafbigt,  die  innere  Zusammen- 
fassung  der  Personlichkeit  gestarkt  und  das  Leben  mit 
Ewigkeitsgehalt  erfiillt  wird.  Nirgendwo  diirfen  wir  dies 
geschehen  lassen,  am  wenigsten  aber  dort,  wo  wir  Kennt- 
nisse  uber  den  sozialen  Aufbau  und  das  soziale  Leben 
verbreiten.  Unter  alien  Parolen,  die  ausgegeben  worden 
sind,  ist  keine  bedenklicher  als  die,  man  miisse  das  soziale 
Leben  vorherrschend  oder  ganz  ausschliefilich  als  wirt- 
schaftliches  betrachten  und  man  miisse  das  wirtschaftliche 
eben  nur  als  wirtschaffcliches  ins  Auge  fassen.  Diese 
Parole  ist  erstens  bedenklich,  weil  sie  falsch  ist,  und  sie 
ist  ferner  verhangnisvoll ,  weil  sie  blinden  und  trivialen 
Vorurteilen  entgegenkommt  und  den  sittlichen  Aufschwung 
lahmt.  Die  sie  ausgeben  in  gutem  Grlauben,  durch  diese 
Betrachtung  die  Dinge  zu  vereinfachen  und  leichter  Gehor 
zu  nnden,  wissen  nicht,  was  sie  tun;  zum  Grliick  werden 
sie  selbst  durch  ihr  eigenes  Verhalten  widerlegt.  In  der 


Das  moderne  Bildungsstreben.  105 

Tiefe  aller  grofien  sozialen  Fragen  und  aller  Erkenntnis- 
probleme  stoJSt  man  auf  das  sittliche  Element  und  damit 
auf  das  religiose.  Vernachlassigt  man  sie,  so  schadigt  man 
die  Wirklichkeit  der  Dinge  und  die  Menschen.  Aber  anch 
das  hilft  uns  nichts,  dafi  wir  etwa  das  Weltbild.  welches 
uns  die  Kenntnis  der  aufleren  Dinge  bietet,  durch  allerlei 
asthetische  Gredanken  aufzustutzen  und  zu  idealisieren  ver- 
suchen:  bei  scharfer  Blickenden  werden  wir  damit  wenig 
gewinnen,  und  das,  worauf  es  ankommt,  wird  doch  nicht 
erreicht.  Dem  personlichen  "Werte  der  Menschenseele  und 
ihrem  inneren  Leben,  aber  auch  jener  briiderlichen  Ver- 
bindung  der  Menschen,  die  als  Ideal  vor  uns  liegt,  ent- 
spricht  nur  der  christliche  Gottesgedanke :  G-ott  ist  der 
Herr  und  Er  ist  die  Liebe.  Wie  wir  von  ihm  und  zu  ihm 
geschaffen  sind,  so  soil  auch  unsre  Erkenntnis  und  Bildung 
in  ihm  begriindet  bleiben.  Diese  Gresinnung  erhebt  uns 
aus  dem  Verganglichen  ins  Dauerhaffce  und  Ewige;  sie 
adelt  auch  die  geringste  Arbeit  und  vernichtet  jeden  bloB 
scheinbaren  "Wert.  In  dieser  G-esinnung  sollen  wir  schafPen 
und  bilden. 

Die  sich  in  diesem  Kongresse  zusammengefunden  haben, 
sind  allesamt  der  Uberzeugung,  dafi  dem  so  sein  soil  und 
dafi  wir  in  freiem  Anschlufi  an  die  IJberlieferungen  unserer 
evangelischen  KJirche,  wie  es  Protestanten  gebiihrt,  diese 
Aufgabe  zu  erfullen  haben.  Aber  wie  viel  ist  hier  zu  tun, 
und  wie  gering  sind  Sorge,  Fleifi  und  Anstrengung!  Das 
moderne  Bildungsstreben  hat  uns  das  weiteste  Feld  ge- 
offnet,  und  niemand  kann  sich  damit  entschuldigen ,  daB 
er  nicht  auf  Fels  oder  unter  die  Dornen  saen  wolle.  Be- 
reitschaft  zu  horen,  zu  lernen,  auszutauschen  und  zu  er- 
wagen  ist  vorhanden.  Mit  den  sozialen  Problemen  ist 
auch  der  Sinn  fur  die  tiefsten  Fragen  des  Menschenlebens 
lebendig;  denn  sie  hangen  aufs  engste  zusammen,  ja  sie 
sind  eins.  Unser  ist  die  Schuld,  wenn  das  moderne 


10(3  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  III. 

Bildungsstreben  schliefilich  an  sich  selbst  verzweifelt,  well 
es  die  Nahrung  nicht  erhalt,  welche  es  sucht,  oder  nur 
eine  Nahrung,  die  niclit  mehr  nakrt,  wenn  es  in  UberdruB 
tmd  Skeptizisnms  ansmiindet,  wenn  ihm  die  Wirklichkeit 
schal  und  die  Wissenschaft  fruchtlos  erscheint.  Dahin 
darf  es  nicht  kommen.  Moge  auch  der  heutige  Tag  an 
seinem  Teil  dazu  beitragen,  das  G-efiinl  der  Verantwortung 
nnserem  Volke  gegeniiber  zu  ernohen  und  unsre  Kraft  zu 
starken! 

Alle  Entdeckungen ,  alles  Wissen,  im  Momente  so  be- 
ranschend,  wird  rasch.  trivial  und  wirkungslos;  wenn  es 
aber  zugleich  den  inneren  Sinn  vertieft  und  belebt,  ihn 
umbilden  hilffc  zu  einem  holieren  Sein,  so  hat  es  ewiges 
Leben  in  sich. 


ADOLF  HARNACK  -  REDEN  UND  AUFSATZE 
ZWEITER  BAND  -  ERSTE  ABTEILUNG 


REDEN:  IV 

GRUNDSATZE   DER  EVANGELISCH- 
PROTESTANTISCHEN  MISSION 


Vortrag 

gehalten  am  26.  Sept.  1900  auf  der  Generalversammlung  des  Allgem. 

evang.-prot.  Missionsvereins. 

Erschienen  in:  ,,Zeitschrift   f.  Missionskunde  u.  Eeligionswissenschaft" 
1900;  und  als  Sep.-Abdr.  in  2.  Aufl.  bei  A.  Haack  in  Berlin. 


In  einer  bewegten  und  ernsten  Zeit  feiert  unser  Verein 
diesmal  sein  Jahresfest:  In  Lander,  in  die  sonst  nur  der  Mis- 
sionar  und  der  Kanfmann  geht,  ist  ein  Teil  unsrer  Truppen 
gezogen,  um  im  Verein  mit  den  Heeren  Europas  Ordnung 
zu  schaffen.  Das  bedeutet,  wenn  nicht  alles  tauscht,  den 
Anfang  einer  neuen  Epoche  der  nniversalen  Volkergeschichte. 
Nachdem  Amerika  europaisch  besiedelt,  Austr  alien  eine  Pro- 
vinz  Europas  geworden  und  Afrika  aufgeteilt  ist,  soil  der 
gewaltige  Rest  des  groBten  Erdteils,  Asiens,  unter  euro- 
paische  Kontrolle  gestellt  werden.  Aussichten,  wie  nie  zu- 
vor,  haben  sich  aufgetan  —  Aussichten  und  Befiirchtungen. 
Die  christliche  Mission  nimmt  an  ihnen  den  lebendigsten 
Anteil.  In  dem  Herzen  jedes  Missionsfreundes  wogen  heute 
Hoffnungen  und  Sorgen.  Der  Sehleier,  der  iiber  der  Zu- 
kunft  liegt,  scheint  sich  zu  heben,  und  die  ehernen  Riegel 
an  ihren  Pforten  geben  nach.  Gewaltsam  suchen  die  euro- 
paischen  Yolker  einzudringen  in  das  Dunkel;  denn  kein 
helles  Licht  bestrahlt  den  Weg;  die  Fackel  miissen  sie  selbst 
erst  hineintragen.  Was  zu  hoffen,  was  zu  wiinschen  ist, 
was  werden  soil  und  was  werden  wird  —  diese  Fragen  be- 
wegen  aller  Herzen. 

Aber  diese  festliche  Stunde  ware  vergeudet,  versuchte 
ich  es,  sie  zu  beantworten;  denn  nur  Ungewisses  vermochte 
ich  zu  sagen.  Sammeln  wir  uns  vielmehr  um  das,  was  klar 
und  gewiC  in  unseren  Aufgaben  ist,  suchen  wir  es  uns  zu 
vergegenwartigen  und  uns  aufs  neue  sicher  einzupragen. 
Wie  sich  auch  die  Zukunffc  gestalten  mag  —  wir  stehen 
auf  festem  Grrunde  und  haben  ein  unverriickbares  Ziel  vor 


Z welter  Band,  erste  Abteilung.    Reden:  IV. 

Augen.  Keine  Schwierigkeit  der  G-egenwart  vermag  es 
umzustofien.  Je  fester  wir  es  erfassen,  um  so  sicherere 
Schritte  werden  wir  tun,  und  run  so  gewisser  werden  wir 
alle  Hemmnisse  iiberwinden.  Handeln  wollen  wir  erstlich 
von  der  Pflicht  nnd  dem  Zweck  der  evangelischen  Mission, 
sodann  von  inrem  Umfang  nnd  ihren  Beschrankungen, 
weiter  von  den  Mitteln  der  Mission  nnd  endlich  von  der 
Ruckwirkung,  welche  sie  auf  nnser  eigenes  Christentnm 
in  der  Heimat  ausiiben  soil. 

I. 

Mit  der  ganzen  Christenheit  aller  Zeiten,  soweit  sie 
lebendig  war  und  lebendig  ist,  ist  nnser  Allgemeiner  evan- 
geliseh  -  protestantischer  Missionsverein  der  Uberzeugung, 
dafi  das  Evangelium  alien  Volkern  verkiindet  werden  soil. 
Warum?  Weil  Jesns  nnd  die  Apostel  es  geboten  haben? 
Das  ware  an  sich  noch  nicht  ansreichend;  es  konnte  sich 
auf  vergangene  Zeiten  beziehen.  Oder  weil  die  christliche 
Religion  besser  ist  als  die  andern?  Aber  das  Bessere  ist 
oft  genug  der  Feind  des  Gruten,  und  alles  frommt  nicht 
alien.  Nein  —  die  unerschiitterliclie  Uberzeugung  unserer 
Missionspflicht  fliefit  aus  der  Erkenntnis,  dafi  das  Chris ten- 
tum  nicht  eine  Religion  neben  anderen,  sondern  dafi  es  die 
Religion  selbst  ist,  dafi  daher  erst  in  ihr  und  durch  sie 
jedes  Volk  und  die  Menschheit  das  wird,  was  sie  sein  sollen. 
Nur  wo  diese  Uberzeugung  besteht,  ist  das  Recht  zur  uni- 
versalen  Mission  gegeben  und  das  gute  Gtawissen  bei  ihrer 
Ausfuhrung.  Nur  diese  Uberzeugung  vermag  der  tausend 
Schwierigkeiten  und  Bedenken  Herr  zu  werden,  die  sich 
wider  die  Mission  erheben.  So  haben  es  schon  ihre  altesten 
Verteidiger,  Paulus  und  die  christlichen  Apologeten  des 
2.  Jahrhunderts ,  empfunden.  Sie  waren  nicht  der  Mei- 
nung,  dafi  sie  den  Griechen  und  Romern  einen  neuen  ge- 
spenstigen  Gott  brachten  und  sie  aus  dem  Geschichtlichen 
und  Menschlichen  in  ein  unbekanntes  Land  versetzten,  son- 


Grundsatze  der  evangelisch-protestantischen  Mission.  Ill 

dern  sie  verkiindeten  ihnen  den  Gott,  in  dem  sie  unwissend 
lebten  und  webten,  und  sie  zeugten  von  dem  Geist,  der 
die  Natur  und  die  Geschichte,  das  Erhabene  und  das  Gute 
hervorgebracht.  Indem  sie  dann  an  dem  Bilde  des  leben- 
digen  und  gekreuzigten  Jesus  Christus  die  Kraft  eines  hei- 
ligen  Lebens  und  die  Macht  des  Gerichts  und  der  ver- 
gebenden  Liebe  Gottes  dartaten,  machten  sie  die  Herzen 
empfanglich  fur  den  Geist  Gottes  und  erweckten  nicht 
etwas  Unmenschlich.es ,  sondern  Menschen,  wie  sie  sein 
sollen,  eine  Gottesmenschheit.  In  diesem  Sinne,  und  nur 
in  diesem,  haben  auch  wir  unsere  Missionsaufgabe  zu  be- 
tracliten.  Nicht  etwas  Singulares,  Fremdes,  unvermittelt 
tiberfallendes  haben  wir  den  Volkern  zu  bringen,  sondern 
wir  wollen  sie  aus  der  innern  Sklaverei  befreien  und  durch 
das  Evangelium  zu  Gottesmenschen  machen,  das  ist  der 
voile  Gegensatz  zu  Seelenfang  und  berechnendem  Prosely- 
tismus.  liber  dieses  Zerrbild  der  Mission  hat  Jesus  Christus 
selbst  das  scharfste  Wort  gesprochen.  Er  hat  den  Schrift- 
gelehrten  und  Pharisaern  zugerufen:  ,,Ihr  Heuchler,  die  ihr 
Land  und  Wasser  umziehet,  dafi  ihr  einen  Judengenossen 
machet,  und  wenn  er  es  ge  word  en  ist,  macht  ihr  aus  ihm 
ein  Kind  der  Holle,  zwiefaltig  mehr,  denn  ihr  seid."  Es 
ist  ein  schrecklich.es  Bild  von  Missionaren  und  Missions- 
zoglingen,  das  der  Herr  hier  mit  zwei  Strichen  entworfen 
hat,  und  leider  kennt  auch  die  christliche  Missionsgeschichte 
solche  Bilder.  Beachten  wir  aber  auch  wohl,  dafi  Jesus  es 
iiberhaupt  nicht  in  Anschlag  bringt,  dafi  dieser  Judengenosse 
statt  der  Gotzen  nun  den  wahren  Gott  anruft;  das  ist  ihm 
augenscheinlich  ganz  gleichgiiltig.  "Was  innerlich  aus  ihm 
geworden  ist,  darauf  allein  kommt  es  ihm  an,  und  da  er- 
klart  Jesus  mit  furchtbarer  Bestimmtheit:  Die  Mission  hat 
diesem  Menschen  nur  geschadet;  sie  hat  ein  Kind  der  Holle 
aus  ihm  gemacht;  ja,  noch  mehr:  Er  sagt,  von  schlechten 
Missionaren  schlecht  bekehrte  Menschen,  das  ist  die 
schlimmste  Sorte  Menschen,  die  es  gibt.  Lernen  wir  dar- 


Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

ans,  welch,  eine  Gefahr  die  Mission  umlauert,  sobald  sie 
ihren  hochsten  Zweck  aus  dem  Auge  lafit  oder  auch  nur 
mit  anderem  vermischt:  Nicht  Tim  die  Vermehrung  von 
wJuden-"  oder  ?,Christengenossen"  handelt  es  sich,  sondern 
um  Gotteskindschaft.  Wehe,  wenn  ein  anderer  Gesichts- 
punkt  Mer  eingemischt  wird!  Ehrgeiz,  Proselytenmacherei, 
Unfriede,  auBerlich.es  Wesen  —  dies  alles  vergiftet  die  Mis 
sion  an  der  Wurzel.  Weit  besser,  man  missioniert  dann 
iiberhaupt  nicht.  Die  Mission  darf  und  soil  schlechterdings 
kein  anderes  Ziel  haben  als  Gotteskindschaft. 

Damit  ist  bereits  gesagt,  welch  ein  Christentum  ver- 
kiindigt  werden  soil.  Bedriickend,  ja,  schmerzlich  ist  es, 
dafi  wir  diese  Erage  iiberhaupt  aufwerfen  mlissen;  aber  der 
Gang,  den  die  geschichtliche  Entwicklung  des  Christen- 
tums  genommen  hat,  seine  Zersplitterung  in  Konfessionen 
nnd  seine  Belastung  in  jeder  Konfession  zwingt  sie  uns 
auf.  Das  Evangelium  haben  wir  den  fremden  Yolkern  zu 
verkiinden  und  nichts  anderes  als  das  Evangelium,  die 
frohe  Botschaft:  nDer  Menschensohn  ist  gekommen,  zu 
suchen  und  selig  zu  machen,  was  verloren  ist",  und  ,,Der 
Geist  des  Herren  ist  bei  mir,  derhalben  er  mich  gesalbet 
hat  und  gesandt,  zu  verkiindigen  das  Evangeliom  den 
Armen,  zu  heilen  die  zerstoJBenen  Herzen,  zu  predigen  den 
Gefangenen,  dafi  sie  los  sein  sollen,  und  den  Blinden  das 
Gesicht,  und  den  Zerschlagenen,  dafi  sie  frei  und  ledig  sein 
sollen,  und  zu  predigen  das  angenehme  Jahr  des  Herrn." 
Der  Missionar  muG  alles  kennen,  was  das  Christentum  im 
Laufe  seiner  Geschichbe  erlebt  und  erlitten  hat,  aber  er 
mufi  von  dem  alien  absehen  konnen,  er  mufi  fahig  sein, 
auf  das  Einfachste  zuriickzugehen  und  es  in  seiner  urspriing- 
lichen  Art  zu  verkiindigen.  In  den  Spriichen  Jesu  mufi  er 
leben;  aus  der  Bergpredigt  und  den  Seligpreisungen,  den 
Gleichnissen  und  den  VerheiBungen  mufi  er  seinen  Stoff  neh- 
men.  Vor  allem  aber,  er  mufi  selbst  Christum  lieb  haben  und 
in  der  Welt  des  Ewigen  heimisch  sein.  Was  er  bringen  will, 


Grundsatze  der  evangelisch-protestantischen  Mission.  H3 

nmfi  er  erlebt  haben;  es  soil  keine  Lehre  sein,  sondern  ein 
Leben,  keine  Last,  sondem  eine  Befreiung.  Gewifi,  er  wird 
nicht  davon  absehen  konnen,  dafl  er  selbst  ein  evangelisch- 
protestantischer  Christ  1st,  aber  nicht  den  Protestantisnms 
hat  er  zu  verkiindigen,  auch  nicht  orthodoxe  oder  liberale 
Theologie,  sondern  die  Gotteskindschaft.  Und  eben  als 
Protestant  kann  ihm  das  nicht  schwer  werden;  ja,  man 
darf  kiihnlich  sagen:  JSTur  der  protestantische  Missionar  ist 
der  rechte  Missionar;  denn  nur  er  ist  imstande,  das  Evan- 
gelium  in  seiner  schlichten  Kraft  darzustellen  und  aus  seiner 
Geschichte  zu  lernen,  ohne  sich  ihr  gefangen  zu  geben. 
DaB  Gottesmenschen  erweckt  werden,  Jiinger  Jesu,  dafi  die 
Gewiflheit  eines  ewigen  Lebens  nnd  die  Freude  an  einem 
reinen,  heiligen  Leben  erschlossen  werde,  das  ist  die  Auf- 
gabe  der  christlichen  Mission.  Je  ernster  sie  es  mit  dieser 
Aufgabe  nimmt,  desto  mehr  wird  sie  auch  ihre  ubelwollen- 
den  Gegner  zum  Schweigen  bringen  und  zugleich  das  er- 
reichen,  was  nicht  ihr  nachster  Zweck  ist  und  ihr  doch 
sicher  zufallen  mufi,  —  namlich  Gesittung  und  Bildung  zu 
verbreiten  und  die  neu  gewonnenen  Briider  einzufuhren  in 
den  groflen  Kreis  der  zivilisierten  Welt. 

Wir  wollen  hier  einen  Augenblick  verweilen;  denn  wir 
stehen  an  einem  umstrittenen  Punkte.  Wir  horen  Stimmen 
unter  uns,  welche  sagen,  die  Verbreitung  der  christlichen 
Zivilisation  lassen  wir  uns  gef alien,  ja,  wunschen  sie,  aber 
den  christlichen  Missionar  wunschen  wir  nicht;  denn  er 
richtet  nur  Yerwirrung  und  Streit  an,  und  seine  Predigt 
paCt  fur  die  meisten  Yolker  gar  nicht.  Ich  sehe  von  denen 
ab,  die  so  sprechen  und  dabei  unter  der  wiinschenswerten 
Zivilisation  nichts  anderes  verstehen,  als  das  Mafi  von  Ord- 
nung,  das  notig  ist,  um  bequem  Handel  treiben  und  unge- 
stort  die  fremden  Volker  ausbeuten  zu  konnen.  Um  die  Aus- 
einandersetzung  mit  einem  so  ruchlosen  Standpunkt  kann 
es  sich  hier  nicht  handeln.  Ich  fasse  vielmehr  die  ins  Auge, 
die  unter  „ Zivilisation"  wirklich  eine  sittliche  Hebung  jener 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    II.  8 


1 14  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:   IV. 

Volker  und  ihre  allmahliche  Einfuhrung  in  die  cliristliclie 
Volkerfamilie  verstehen.  Im  Prinzip  kann  ich  ihnen  nur 
beistimmen:  Es  ware  in  der  Tat  ein  idealer  Zustand,  wenn 
wir  keine  besonderen  Missionare  brauchten,  wenn  jeder 
Europaer,  der  zu  fremden  Kiisten  kommt  und  in  fremde 
Lander  eindringt,  die  christliche  Gresittung  im  vollen  Sinne 
des  Worts  mitbrachte ;  man  konnte  dann  alles  iibrige  der 
Zeit  iiberlassen.  Aber  wie  weit  wir  von  diesem  Zustande 
entfernt  sind,  dariiber  braucht  es  keiner  Worte.  Grewifi  gibt 
es  ehrenwerte  und  treffliche  Ausnahmen,  aber  im  grofien 
und  ganzen  macht  man  sich  keiner  Ubertreibung  schuldig, 
wenn  man  behauptet,  daft  die  Invasion  der  christlichen 
Europaer  in  fremde  Lander  den  berufsmafiigen  Missionar 
doppelt  notwendig  macht.  Das  haben  auch  einsichtige  Po- 
litiker  und  Nationalokonomen,  wie  Prof.  Rath. gen  auf  dem 
letzten  evangelisch-sozialen  Kongrefi,  anerkannt.  Mit  dem 
Besten,  was  wir  besitzen,  miissen  wir  zu  den  fremden  Yol- 
kern  kommen,  nicht  nur  um  der  Gerechtigkeit  willen  — 
denn,  wie  sie  auch.  sein  mogen,  wir  nehmen  ihnen  immer 
etwas  und  sind  daher  ihre  Schuldner  — ,  nicht  nur  um  der 
Menschenwiirde  und  Liebe  willen,  sondern  auch  um  unserer 
eigenen  Existenz  willen,  sonst  geht  es  uns  wie  den  Spa- 
niern  und  Portugiesen  mit  ihren  Kolonien.  Aber  auch  der 
Einwurf  gilt  nicht,  dafi  mit  halb-  oder  anders  zivilisierten 
Yolkern  anders  zu  verfahren  sei,  und  dafi  der  Missionar 
hier  kein  Feld  habe.  Nun,  von  dem  Anspruche  des  Christen- 
tums,  die  universale  Religion  zu  sein,  ganz  abgesehen  — 
es  gibt  nur  eine  Ziviiisation,  auf  deren  Grrunde  sich  die 
Menschheit  zu  einer  Einheit  verbinden  kann,  das  1st  die 
hier  in  Europa  in  unserer  Religion  und  unserer  Geschichte 
erwachsene.  Wir  ehren  jede  andere  Gresittung,  wo  sie  den 
Menschen  uber  die  Naturstufe  erhoben  hat,  aber  auf  die 
Dauer  bestehen  lassen  konnen  wir  sie  nicht;  denn  sie  ist 
minderwertig  und  die  Verbindung  der  Volker  auf  der  immer 
kleiner  werdenden  Erde  wird  zu  eng,  als  dafi  Ungefuges 


Grundsatze  der  evangelisch-protestantischen  Mission.  H5 

nebeneinander  bestehen  konnte.  Merkwiirdig  —  dieselben 
Leute,  welche  die  fremden  Volker  nur  als  Objekte  ihrer 
Ausbeutung  betrachten,  tragen  nicht  selten  erne  fast  senti- 
mentale  Zartlichkeit  for  die  heimische  Kultur  derselben  zur 
Schau.  Aber  was  ist  das  for  eine  Kultur,  die  es  z.  B.  den 
Chinesen  erlaubt,  die  geheiligten  Volkerrechte  mit  Fiifien 
zu  treten,  barbarische  Martern  zu  ersinnen  und  Menschen- 
leben  fur  Spreu  zu  achten?  Diese  Kultur  verdient  nicht, 
dafi  man  sie  konserviere.  Stellen  wir  uns  daher  auf  den 
prinzipiellen  Standpunkt,  auf  den  Standpunkt,  den  unsere 
Religion,  unsere  Geschichte  und  die  Sorge  fur  die  Zukunft 
uns  anweisen,  so  mussen  wir  sagen:  Wir  brauchen  die 
christliche  Mission  auch  deshalb,  weil  wir  die  christliche 
G-esittung  fur  alle  Volker  brauchen,  und  weil  wir  diese 
ohne  die  Mission  nicht  erlangen  werden.  Das  Ziel,  eine 
grofie  gesittete  Volkerfamilie  zu  schaffen,  ist  uns  wie  durch 
unsere  Religion,  so  auch  durch  den  Gang  unserer  euro- 
paischen  G-eschichte  vorgezeichnet.  Man  mufi  aber  dieWur- 
zeln  in  die  Tiefe  senken,  wenn  der  machtige  Baum  werden 
und  wachsen  soil.  In  die  Tiefe  aber  dringt  nur,  wer  den 
einzelnen  und  den  Volkern  das  rechte  Verhaltnis  zu  Gott 
und  den  ewigen  Dingen  bringt.  Denn  die  Furcht  des  Herrn 
ist  nicht  nur  der  Weisheit  Anfang,  sondern  auch  das  Fun 
dament  fur  jegliches  gesicherte  Dasein.  Durch  Kanonen 
konnen  wir  wohl  von  heute  auf  morgen  ein  Land  erobern 
und  durch  Handelsfaktoreien  vermogen  wir  von  heute  auf 
morgen  Volker  in  unsere  Netze  zu  ziehen,  aber  der  wahre 
Eroberer  ist  der,  welcher  den  christlichen  Bruderbund  er- 
weitert  und  das  Beste,  was  er  besitzt,  fremden  Volkern  zu 
eigen  macht.  Neben  der  gewaltigen  Mission,  die  unsere 
Technik  und  unser  Handel  auf  dem  ganzen  Erdball  aus- 
iiben,  mufi  die  Mission  der  G-otteserkenntnis ,  der  christ 
lichen  Tugenden  und  der  christlichen  G-esittung  gehen: 
Nur  so  erfullen  die  europaischen  Volker  ihren  weltgeschicht- 
lichen  Beruf ;  denn  die  Mission  ist  nicht  mehr  wie  vor  hun- 

8* 


Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  IV. 

dert  Jahren  die  Saclie  einzelner,  sondern  eine  schlechthin 
notwendige  Funktion  der  Christenlieit. 

n. 

Indem  wir  von  der  Aufgabe  und  dem  Zweck  der 
Mission  gehandelt,  haben  wir  es  bereits  ausgesprochen,  dafi 
ihrem  Umfang  prinzipiell  keine  Sckranken  gesetzt  werden 
diirfen.  Aber  die  Frage  wird  verwickelter,  sobald  wir  auf 
die  wirklichen  Verhaltnisse  blicken.  Die  Verflechtungen, 
die  in  alien  europaischen  Staaten,  wenn  auch  in  verschie- 
dener  "Weise,  zwischen  Kirche  nnd  Staat  bestehen,  bilden 
fur  die  Mission  eine  grofle,  stets  wachsende  Schwierigkeit. 
Solange  die  sog.  christlichen  Staaten  nicht  politisch  in  den 
heidnischen  Landern  interessiert  waren,  wurde  diese  Scnwie 
rigkeit  kaum  gespiirt;  heute  ist  es  anders.  Wir  stehen, 
vor  allem  China  gegeniiber,  vor  einem  schweren  Problem. 
Diirfen  politische  und  christliche  Missionen  zusammengehen? 
Wie  weit  soil  und  darf  die  Mission  staatlichen  Schutz  sich 
gefallen  lassen  oder  anrufen?  In  der  KJrisis,  die  hier  ent- 
standen  ist,  sind  schlimme  Anklagen  und  widerstreitende 
Behauptungen  lant  geworden.  Man  kann  heute  horen,  dafi 
es  einen  Kreuzzug  nach  China  gelte,  und  dafi  die  euro 
paischen  Truppen  zum  Schutze  und  zur  Verbreitung  des 
Christentums  dorthin  gezogen  seien.  Man  kann  aber  auch 
die  unbesonnene  Forderung  horen,  die  Missionare  sollen 
China  verlassen;  sie  hatten  das  ganze  Unheil  hauptsachlich 
verschuldet,  und  auf  sie  konzentriere  sich  aller  HaB.  Es 
ist  nicht  meine  Aufgabe,  in  den  Streit  des  Tages  herabzu- 
steigen  und  kurzsichtige  Verleumdungen  oder  Mifiverstand- 
nisse  zu  widerlegen  —  das,  was  kommen  wird,  ist  zu- 
dem,  Grott  sei  Dank,  ganz  unabhangig  von  dem  verworrenen 
und  hilflosen  Widerstreit  der  Meinungen.  Aber  die  Frage 
ist  an  und  fur  sich  ernst  und  schwierig  genug,  und  ich 
will  daher  die  Erwagungen,  die  sich  warmen  Missions- 
freunden  hier  ergeben  miissen  und  zum  Teil  schon  ergeben 


Grundsatze  der  evangelisch-protestantischen  Mission.          H7 

haben,  in  Form  von  Thesen  zusammenfassen.  Ich  hoffe, 
dafl  sie  so  einleuchtend  sind,  dafl  sie  einer  weiteren  Be- 
griindung  nicht  bediirfen: 

1.  Die  christliche  Mission  ist  in  China  seit  Q-enerationen 
an  der  Arbeit,  und  es   gibt  Hunderttausende  chinesischer 
Christen.     Absichtlich  oder  ans  Unwissenheit  verbreitet  ein 
Teil   unserer  Presse  den  Irrtum,    als  habe  die  chinesische 
Mission  erst  vor  einigen  Jahren  begonnen  nnd  damit  das 
Unheil  des  Fremdenhasses  heraufgefiihrt.    Nein,  ihre  Arbeit 
dort  blickt  bereits  auf  eine  lange,  lange  Greschichte  zuriick; 
es  ist  einfach  umno'glich,   sie  abzubrechen,  nnd  daher  ist 
diese  Forderung  eine  torichte.     Auch  ist  es  unrichtig,  dafi 
die  Mission  als  solche  fur  den  Fremdenhafl  besonders  ver- 
antwortlich  ist.     Sofern  sie  etwas  Fremdes  ist  und  bleibt, 
nimmt  sie  an  der  Schwierigkeit  der  allgemeinen  Lage  teil 
und  manches  ist  wohl  auch  von  den  Missionaren  versehen 
worden.     Aber  gerade  unter  diesen  —  ich  erinnere  nur  an 
den  verewigten  D.  Faber  —  hat   es    solche  gegeben,    die 
den  Chinesen  naher  gekommen  sind  als  irgend  ein  Fremder. 

2.  Es  liegt  uns  feme,  in  dieser  Stunde  an  den  katho- 
lischen  Missionen  in  China  Kritik  zu  iiben,  in  einer  Zeit, 
wo  ihre  Missionare  bluten  und  das  Beispiel  edler  Hirten- 
treue  bewahren;  aber  die  Behauptung,  dafi  die  protestanti- 
schen  deutschen  Missionare  hinter  den  katholischen  an  Weis- 
heit  zuriickstehen,  aggressiver  und  unbesonnener  als  jene  ge- 
wesen  seien  oder  gar  in  besonderer  Weise  die  politische  Krise 
verschuldet  hatten,  diese  Behauptung  diirfen  wir  mit  allem 
Fuge  zuriickweisen.   Die  Zukunft,  und  ich  denke  eine  nahe, 
wird  es  klar  stellen,  wer  hier  zuriickhaltender  gewesen  ist. 

3.  Das  Eindringen  einer  neuen  Religion  in  ein  Land 
hat  sich  noch  niemals  ohne  schwere  Krisen  vollzogen,  die 
um  so  heftiger  sind,   je  entwickelter  das  Volk  ist.     Aber 
tun  solcher  Krisen  willen  kann  die  Mission  nicht  aufgeben, 
wer  an  sie  glaubt;  denn  er  ist  uberzeugt,  dafi  die  Opfer  — 
gewifi  sind  sie  oft  peinlich  und  schwer  —  der  Sache  wert  sind. 


118  Zweiter   Band,  erste  Abteilung.     Reden:  IV. 

4.  Alles,  was  nur  im  entferntesten  an  die  Kreuzzugs- 
Idee  erinnert,    an  die  Absicht,    fiir  die  christliche  Mission 
G-ewalt  einzusetzen  oder  Grewalt  fiir  sie  anzurufen,  ist  zu 
verbannen.      Vom    Missionsstandpunkt    aus    betrachtet    ist 
das   Eingreifen    der   christlichen   GrroHmachte   in   die   Ver- 
haltnisse   in   der  Regel  keine  Hilfe,    sondern  schafft  bose, 
leider  unvermeidliche  Schwierigkeiten. 

5.  Der    heimische    Schutz     soil    von    den    Missionaren 
nicht  gefordert  nnd  ihnen  nicht  gewahrt  werden  run  der 
christlichen  Religion  willen,   sondern  lediglich,  wenn  ver- 
biirgte  Staatsvertrage  gebrochen  werden.     Vielleicht  ist  es 
sogar    anzustreben,    dafl    samtliche  Missionare  in  gewissen 
Landern   und   unter   gewissen   Bedingungen   ihr   Heimats- 
recht  zeitweilig  verlieren,  beziehungsweise  aufgeben.     Uber 
diesen  wichtigen  Punkt  aber,  der  nicht  spruchreif  ist,  sind 
noch  eingehende  Erwagungen  anzustellen. 

6.  In  G-egenden,  wo  der  europaische  Missionar  in  2ei- 
ten  der  Verfolgung  nicht  unter  alien  Umstanden  bei  seiner 
Herde  bleiben  bezw.  sie  mit  ihm  niehen  kann,  soil  er  nicht 
gehen;  ja,  die  direkte  Mission  wird  besser  in  solchen  Land- 
strichen  abgebrochen,   als   das  unertragliche  Beispiel  einer 
Fluent  der  Hirten  zugelassen. 

7.  Damit  die  Mission  moglichst  unabhangig  bleibt  von 
politischen  V erwicklungen ,   sollen  nicht  die  Landeskirchen 
als    solche  Mission   treiben,    sondern,    wie   bisher,    soil  die 
Mission  Sache  freier,   privater  Vereine  sein;  ja,  unter  Um 
standen   ist   schon   der   offentliche  Verein   eine   zu   schwer 
wiegende  Korperschaft.     Wir  brauchen  neben  ihm  fur  ge- 
wisse  Gebiete,  z.  B.  fiir  das  tiirkische  Reich,  Manner  als 
Missionare,   die  ganz  auf  sich  selbst  stehen  und  alles,   was 
sie  tun,  lediglich  auf  ihre  eigene  Verantwortung  tun,  ohne 
Hilfe  und  ohne  Schutz. 

8.  Die  christliche  Mission  kann  und  soil  so   getrieben 
werden,  dafi  die  neue  Entwicklung,  welche  fremden  Volkern 
durch  die  Kulturstaaten  aufgezwungen  wird,   einen  relativ 


Grrundsatze  der  evangelisch-protestantisclien  Mission.  119 

friedlichen  Verlauf  nimmt.  Die  christliche  Religion,  eben 
weil  sie  die  Religion  der  Menschheit  ist ,  besitzt  in  der 
Tat  die  Fahigkeit,  sich  dem,  was  in  jedem  Volkstum  Wert- 
volles  ist,  anzupassen,  es  zu  veredeln  und  in  Frieden  zu 
bewahren.  Unsere  Zeitungen  sprechen  sehr  wenig  von  dem 
Verdienst,  welches  sich  die  christliche  Mission  in  dieser 
Hinsicht  bereits  erworben  hat;  aber  es  bleibt  darum  nicht 
minder  groB.  Wo  es  aber  zeitweilig  durch  den  Gang  der 
politischen  Verhaltnisse  der  Mission  unmoglich  gemacht 
wird,  dem  Frieden  zu  dienen,  da  hat  sie  zuriickzutreten, 
selbst  auf  Kosten  des  schon  Gewonnenen;  denn  niemals 
darf  sie  einen  Zweifel  dariiber  lassen,  daB  sie  lediglich  eine 
geistige  Macht  ist,  niemals  darf  sie  in  die  G-efolgschaft  der 
Gewalt  treten,  nnd  niemals  darf  sie  es  vergessen,  daB  sie 
nicht  die  Interessen  der  Europaer  in  den  fremden  Landern 
in  erster  Linie  zu  vertreten  hat,  sondern  die  Interessen 
der  Eingeborenen,  in  erster  Linie  der  Bekehrten.  Diese 
miissen  wissen,  daB  der  Missionar  zu  ihnen  gehort,  ihr 
Hirte  und  ihr  Bruder  ist;  sie  miissen  sich  unbedingt  auf 
ihn  verlassen  konnen.  Hier  haben  wir  in  dem  Apostel 
Paulus  ein  iiber  alle  Zeiten  fortwirkendes  Beispiel.  Er 
hat  sich  als  Missionar  mit  seinen  Kindern  identinziert;  nur 
fiir  sie  hat  er  gelebt.  Leben  und  Sterben  wiirdigte  er  nur 
im  Interesse  seiner  G-emeinden,  und  ist  den  Griechen  ein 
Grieche,  den  Juden  ein  Jude  geworden.  Er  tragt  noch 
heute  alien  Missionaren  die  Fackel  voran. 

Wenn  die  Grundsatze  eingehalten  werden,  die  ich  hier 
kurz  zu  skizzieren  versucht  habe,  werden  in  einzelnen 
Fallen  zwar  noch  immer  schwere  Gewissenskollisionen  ein- 
treten  konnen,  aber  in  der  Hauptsache  wird  die  Mission 
vor  ihnen  bewahrt  bleiben.  Jene  Kollisionen  hat  sie  nicht 
selbst  geschaffen;  sie  sind  eine  Folge  der  Entwicklung 
der  Kirchen-  und  Staatengeschichte  in  Europa,  und  nie- 
mand  vermag  sie  durch  einen  Gedanken  oder  einen  Ge- 
waltakt  zu  beseitigen. 


120  Z  welter  Band,  erste  Abteilung.    Keden:  IY. 

m. 

Von  der  Aufgabe  und  von  dem  Umfang  der  Mission 
haben  wir  gesprochen,  aber  auch  die  Mittel  der  Mission 
verdienen  in  der  G-egenwart  eine  besondere  Betrachtung. 
Wir  konnen  drei  Formen  unterscheiden:  1.  die  direkte, 
personliche  Mission,  2.  die  literarische  Mission  und  3.  die 
indirekte  Mission. 

Heute,  wie  zu  alien  Zeiten,  ist  die  direkte,  personliche 
Mission  die  Hauptsache,  und  zwar  aus  einem  doppelten 
Grunde:  Erstlich  weil  es  gilt,  eine  gottliche  Botschaft  zu 
verkiindigen,  die  des  Boten  bedarf,  und  zweitens  weil  die 
christliche  Religion  ein  neues  Leben  in  sich  schlieflt,  das 
nur  durch  lebendige  Menschen  fortgepflanzt  wird.  Ist  es 
sehon  schwierig,  die  Wissenschaft  lediglich  durch  Biicher 
fortzupflanzen,  weil  mit  jeder  Wahrheit  ein  Stiick  eigen- 
tumliches  Leben  verbunden  ist,  das  nur  an  der  Personlich- 
keit  des  Lehrers  wahrgenommen  werden  kann,  so  ist  es 
nahezu  umnoglich,  die  Religion  auf  diesem  Wege  zu  ver- 
breiten.  Immer  bedarf  es  hier  eines  lebendigen  Menschen, 
genauer  eines  Zeugen,  der  in  seiner  ganzen  Personlich- 
keit  das  zum  Ausdruck  bringt,  was  er  verkiindigt.  Der 
Missionar,  der  zu  den  fremden  Volkern  geht,  mufi  wie  ein 
Apostel  vor  sie  treten,  er  muC  iiberzeugt  sein,  einen  gott- 
lichen  Auftrag  zu  haben  und  eine  gottliche  Botschaft  zu 
bringen;  diese  mufl  sein  ganzes  Wesen  ausfiillen.  Der 
Grlaube  kommt  aus  der  Predigt,  d.  h.  aus  dem  Wort,  wie 
es  entsteht,  wenn  man  sich  Auge  in  Auge  blickt,  und  alle 
die  Eindriicke  der  Liebe,  der  Hingabe,  der  Selbstlosigkeit 
gehoren  dazu,  damit  eine  Seele  gewonnen  wird.  Der  Apo 
stel  Paulus  nennt  sich  den  Vater  der  von  ihm  Bekehrten, 
und  sie  nennt  er  seine  Kinder.  Das  neue  Verhaltnis,  in 
das  sie  zu  Grott  versetzt  sind,  stellt  ihnen  eine  Fulle  neuer 
Aufgaben:  Ohne  eine  stetige  personliche  Leitung  geraten 
sie  bei  allem  guten  Willen  doch  in  Grefahr,  den  rechten 
Weg  zu  verfehlen. 


Grundsatze  der  evangelisch-protestantischen  Mission. 

Aber  so  gewiO  das  1st,  so  wenig  darf  doch  das  andere 
Mittel  der  Mission  beiseite  gelassen  werden,  welches  ich 
genannt  habe  —  das  literarische.  Wilden  oder  halbwilden 
Volkern  gegeniiber  ist  es  freilich  niclit  am  Platze;  doch  ist 
auch  hier  ein  hingebendes  Stadium  der  Sprache,  der  Reli 
gion  und  der  Sitten  ein  notwendiges  Erfordernis  der  Mis 
sion.  Eben  weil  die  christliche  Religion  nicht,  wie  gewisse 
methodistische  Missionare  anzunehmen  scheinen,  wie  ein 
Bann  und  Zauber  iiber  die  Menschen  herfallt,  sondern  weil 
sie  die  Menschheitsreligion  ist,  mufi  sie  jedem  so  verkiindet 
werden,  dafi  sie  seine  berechtigte  Eigenart  erhebt  und  ver- 
edelt.  Das  aber  setzt  voraus,  dafi  das  fremde  Volkstum 
wirklich  verstanden  und  liebevoll  gewiirdigt  wird.  Unser 
Allgem.  evangelisch  -  protestantischer  Missionsverein  darf 
ohne  Selbstuberhebung  behaupten,  dafi  er  auf  diese  Seite 
der  Aufgabe  sein  Auge  mit  besonderer  Scharfe  richtet;  aber 
auch  die  anderen  deutschen  evangelischen  Missionsvereine 
haben  diese  Aufgabe  nicht  vernachlassigt,  und,  da  sie  fast 
samtlich  alter  sind  als  der  unsrige,  blicken  sie  bereits  auf 
reichere  Friichte.  Wie  viele  Sprachen  sind  von  Missionaren 
zuerst  aufgezeichnet  und  zu  Schriffcsprachen  erhoben  worden, 
welch  umfassende  Schatze  in  bezug  auf  Volkskunde  und 
Religionsgeschichte  hat  die  Mission  gesammelt!  Wie  oft 
hat  sie  der  Wissenschaft  die  Wege  geebnet  oder  als  Pfad- 
nnderin  gedient!  Ja,  es  wird  eine  Zeit  kommen,  wo  man 
die  Sprachen  untergegangener  Volker  aus  den  Bibeliiber- 
setzungen  der  Missionare  schopfen,  und  wo  man  die  Missions- 
zeitschriften,  die  einst  nur  von  den  Stillen  im  Lande  gelesen 
worden  sind,  als  wissenschaftliche  Quellen  verwerten  wird! 

Doch  nicht  diese  Tatigkeit  der  Missionare  hatte  ich  in 
erster  Linie  im  Auge,  wenn  ich  von  literarischer  Mission 
sprach,  obgleich  auch  sie  direkt  fordernd  sein  kann;  denn 
indem  sie  Verstandnis  schafft,  schafft  sie  Gremeinschaft. 
Was  mir  vor  allem  hier  vorschwebt,  ist  die  literarische 
Missionstatigkeit  bei  solchen  Volkern,  die  auf  einer  relativ 


122  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

hohen  Kulturstufe  stelien  und  einer  geschichtlichen  und 
wissenschaftlichen  Darlegung  zu  folgen  imstande  sind. 
Diesen  Volkern,  wie  den  Japanern,  z.  T.  auch  den  Chinesen 
und  Mohamraedanern  gegeniiber,  kann  man  sich  nicht  auf 
die  Erweckungspredigt  beschranken.  Hier  mufi  vielmehr  die 
Mission  mit  dem  ganzen  Riistzeug  der  Greschichte  und  der 
christlichen  Religionsph.ilosoph.ie  eintreten.  Verheifiungsvolle 
Anfange  sind  auch  in  dieser  Hinsicht  gemacht.  Wiederum 
darf  ich  sagen,  dafi  unser  Verein  sich  diese  Aufgabe  be- 
sonders  angelegen  sein  laflt  und  in  dem  von  mir  schon  in 
einem  anderen  Zusammenhange  genannten  Missionar  D. 
Faber  in  China  einen  christlichen  Apologeten  von  einzig- 
artiger  Begabung  und  Sachkunde  besessen  hat.  Er  sah  in 
der  literarischen  Wirksamkeit  geradezu  seine  Lebensauf- 
gabe  und  war  iiberzeugt,  dafi  sie  das  notwendige  und  beste 
Mittel  sei,  um  in  China  Yorurteile  zu  entwurzeln,  den  Aber- 
glauben  zu  zerstoren  und  die  christliche  Wahrheit  als  eine 
Greistesmacht  zu  verbreiten.  Auch  die  wissenschaffclich  apo- 
logetische  Arbeit,  welche  der  Verein  in  Japan  geleistet  hat 
und  noch  leistet,  ist  von  hoher  Bedeutung.  Aber,  zu  un- 
serer  eigenen  Beschamung  miissen  wir  es  sagen,  wie  viel 
bleibt  noch  zu  tun!  Jene  Volker  werden  mit  der  materia- 
listischen  Literatur  Europas  uberschwemmt;  sie  erhalten 
Jahr  um  Jahr  im  Original  oder  in  Ubersetzungen  Dutzende 
von  wissenschaftlichen  Werken,  die  ihnen  sagen  oder  zu 
sagen  scheinen,  die  christliche  Religion  habe  in  Europa 
selbst  ausgespielt  und  sei  nur  noch  eine  alte  Reliquie  oder 
ein  geschichtliches  Symbol.  Wie  verschwindend  gering  ist 
dem  gegeniiber  die  Literatur,  die  eigens  fur  Japaner,  Chi- 
nesen  oder  Tiirken  geschrieben  ist,  um  ihnen  die  Wahrheit 
und  das  Recht  der  christlichen  Weltanschauung  darzutun 
und  auf  alle  die  Einwiirfe  einzugehen,  die  sich  bei  ihnen 
erheben.  Mit  Ubersetzungen  deutscher  und  englischer  apo- 
logetischer  Schriften  allein  ist  es  nicht  getan;  denn  abge- 
sehen  davon,  dafi  wir  selbst  nur  eine  sehr  beschrankte  Zahl 


Grundsatze  der  evangelisch-protestantisclien  Mission.  123 

brauchbarer  AVerke  besitzen,  konnen  nur  solche  Arbeiten 
durchschlagend  wirken,  welche  mit  vollster  Kenntnis  der 
eigentiimlichen  Bediirfnisse  jener  Volker  verfafit  sind.  Frei- 
lich,  auch  sie  werden  noch  immer  etwas  zu  wiinschen  iibrig 
lassen.  Jene  Volker  miissen  letztlich  ihre  Apologeten  selbst 
hervorbringen.  Der  geborene  Jude  Paulus  vermochte  den 
Griechen  und  Romern  nicht  alles  das  zu  leisten,  was  ihnen 
spater  Hire  christlichen  Landsleute,  ein  Justin,  ein  Clemens 
und  ein  Origenes  geleistet  haben.  Von  einem  bestimmten 
Punkte  an  ist  der  grofie  Apostel  den  Griechen  unverstand- 
lich  geblieben  und  sie  ihm.  Vollen  Einblick  in  die  Volks- 
seele  hat  doch  nur,  wer  selbst  dem  Volke  angehort.  Aber 
das  schliefit  nicht  aus,  dafi  wir  europaische  Theologen  auch 
mit  unserer  Wissenschaffc  in  die  Missionsarbeit  eintreten. 
Unser  Verein,  zumal  sein  hochverehrter  Prases,  hat  schon 
seit  Jahren  in  dieser  Bichtung  Arbeiter  geworben,  aber 
fldie  Ernte  ist  grofi  und  der  Arbeiter  sind  wenige",  mufi 
er  klagen.  Ich  selbst  empfinde  es  als  eine  einzulosende 
Schuld,  seiner  Aufforderung  bisher  nicht  entsprochen  zu 
haben,  und  will  mich  nicht  hinter  die  mangelnde  Kenntnis 
der  besonderen  Bediirfnisse  verschanzen,  obgleich  sie  eine 
empnndliche  Schranke  bildet.  Wenn  wir  einst  an  alien 
unseren  Hochschulen  Lehrstuhle  fur  Missionskunde  und 
Religionswissenschaft  haben,  wird  vielleicht  manches  besser 
werden.  Aber  bis  dahin  konnen  wir  nicht  warten.  Schon 
jetzt  miissen  die  bescheidenen  Anfange  einer  wissenschaft- 
lichen  und  apologetisch-christlichen  Literatur  fur  die  fernen 
Volker  weiter  gepflegt  und  verstarkt  werden.  Die  Hand- 
biicher  unserer  Naturwissenschaffc  und  Technik  sind  bereits 
in  ihren  Handen;  geschulte  europaische  Mechaniker  unter- 
richten  in  alien  "Weltteilen ;  Eisenbahnen  und  Strafien  wer 
den  gebaut,  —  dies  alles  kann  nicht  zum  wirklichen  und 
dauernden  Segen  gereichen,  wenn  wir  die  fremden  Nationen 
nicht  in  das  Netzwerk  unserer  inneren  Geschichte  einzu- 
kniipfen  vermogen.  Unsere  innere  Geschichte  —  sie  ist 


124  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  IV. 

gegeben  in  der  Familie,  in  dem  Rechtsleben,  in  dem  unbeug- 
samen  Pnichtgefuhl,  in  der  aufopfernden  Arbeit  und  in  alle 
dem,  was  nns  ehrfurchtgebietend  nnd  ein  sittliches  Gut  ist. 
Damit  bin  ich  zn  dem  letzten  Mittel  der  christlichen 
Mission  iibergegangen,  zu  der  indirekten  Mission,  und  hier 
ist  es,  wo  ich.  Sie  alle  aufrafen  mochte,  die  Anwesenden 
alle  und  insonderheit  die  Burger  dieser  groflen,  herrlichen 
Stadt,  einzutreten  in  die  Missionsarbeit.  Ein  jeder  unter 
uns?  der  hinausgeht  in  die  Feme  und  seiner  heimisehen 
christlichen  Giiter  nicht  vergifit,  wirkt  daselbst  bauend, 
wirkt  als  Missionar.  Aber  auch  die,  welche  daheimbleiben, 
arbeiten  fur  die  Mission,  wenn  sie  ehrenfest  und  treu,  wenn 
sie  in  christlichem  Geiste  in  ihrem  Berufe  stehen;  denn  die 
Erde  ist  heute  ein  einziger  grofier  Schauplatz,  und  mit 
priifendem  Blick  wird  von  den  Bekennern  anderer  Religi- 
onen  unser  Handel  und  Wandel,  unser  ganzes  Leben  in 
Europa  verfolgt.  Wenn  sie  den  Eindruck  gewinnen,  hier 
ist  mehr  und  Besseres  als  bei  uns,  wenn  wir  ihnen  impo- 
nieren  nicht  nur  durch  unsere  Kanonen,  unsere  Technik 
und  unsere  verfeinerten  Bediirfnisse,  sondern  auch  durch 
unseren  Geist,  unsere  sittliche  Kraft  und  unsere  Menschen- 
liebe,  so  ist  alles  gewonnen.  Wenn  sie  aber  erkennen 
miissen,  dafi  unser  Christentum  und  unsere  Sittlichkeit  Ge- 
schwatz  und  Maskerade  sind  und  sich  unter  ihrer  Hiille 
nur  der  ihnen  wohlbekannte  Egoismus  sowie  die  rohe 
Erwerbs-  und  Genuflsucht  verbergen,  so  ist  alle  direkte 
Missionsarbeit  nahezu  verschwendet.  Mochten  sich  doch 
namentlich  die  Deutschen,  welche  sich  in  fremden  Landern 
niederlassen ,  klar  machen,  welche  Verantwortung  sie  auf 
sich  laden,  wenn  sie  ein  ungebundenes  Leben  fuhren  und 
sich  von  Christentum  und  Sittlichkeit  emanzipieren.  Ge- 
wifi,  sie  ziehen  hinaus,  um  zu  erwerben,  und  Handel,  Er- 
werb  und  Verdienst  unterliegen  ihren  eigenen  strengen 
Gesetzen,  die  der  einzelne  nicht  willkurlich  andera  kann. 
Aber  niemand  wird  behaupten,  dafi  diese  Gesetze  unver- 


Grundsatze  der  evangelisch-protestantisclien  Mission.          125 

traglich  seien  mit  wahrer  Humanitat,  mit  Menschenliebe 
und  Sittlichkeit.  Sofern  es  aber  allerdings  bedenklich  1st, 
einseitig  oder  vorherrschend  durch  den  Handel  zu  fremden 
Volkern  in  Beziehung  zu  treten,  mufl  es  unsere  Sorge  sein, 
die  Elemente  drauflen  zu  verstarken,  deren  Absicht  nicht 
blofi  auf  G-eldverdienen  und  schleunige  Heimkehr  mit  dem 
Verdienst  gerichtet  ist.  Ich  darf  mich  hier  wiederum  dem 
anschliefien,  was  der  Nationalokonom,  Prof.  Hathgen,  aus- 
gefuhrt  hat:  ^Mit  jedem  wirklich  gebildeten  Beamten," 
sagt  er,  wmit  jedem  Forscher,  der  zu  langerem  Aufenthalt 
in  uberseeische  Q-ebiete  entsandt  wird,  mit  jedem  Arzt, 
jeder  Diakonissin,  jedem  Lehrer,  die  draufien  mit  sittlichem 
Ernst  ihrem  Berufe  nachgenen,  verbreiten  wir  nicht  bloB 
deutsches  Wesen  und  deutsche  Geistesarbeit,  wir  verstarken 
auch  die  Kulturzusammenhange,  an  deren  Erhaltung  alles 
liegt.  Yor  allem  handelt  es  sich  um  die  Pnege  der  Insti- 
tutionen,  auf  welchen  der  geistliche  und  sittliche  Zusammen- 
hang  in  erster  Linie  beruht,  um  Kirche  und  Schule;"  niit 
ihnen  im  engsten  Zusarn m enhang ,  ja,  vor  ihnen,  um  die 
Familie  und  die  Frau.  Es  ist  die  wichtigste  indirekte 
Arbeit  fur  die  Mission,  dafi  die  eigenen  Volksgenossen  im 
fremden  Lande  moglichst  zahlreich  in  einem  festen  Familien- 
verbande  stehen,  und  daC  sie  ihre  Kirche  und  ihre  Schule 
haben.  ^Unsere  Neuheit  in  der  Weltpolitik  ist  auch  daran 
kenntlich,  wie  wenig  wir  im  Vergleich  mit  anderen  Volkern 
in  dieser  Bichtung  bisher  geleistet  haben,  wenn  man  etwa 
in  Tunis  oder  Tripolis  und  in  der  ganzen  Levante  die 
franzosischen  und  italienischen  Schulen  sieht,  wenn  man 
in  der  ganzen  Welt  britischen  kirchlichen  Organisationen 
begegnet.  Der  genialste  Kolonialpolitiker  unseres  Jahr- 
hunderts  Wakefield  ist  nicht  miide  geworden,  die  Aus- 
dehnung  der  englischen  Kirchenorganisation  auf  alle  eng- 
lischen  Kolonien  zu  fordern,  und  er  und  seine  Freunde 
haben  das  durchgefuhrt.  Englisches  Kirchentum  ist  gewifi 
manchem  in  seiner  aufieren  Erscheinung  wenig  sympathisch, 


126  Z welter  Band,  erste  Abteihing.     Eeden:  IV. 

aber  eine  gewaltige  sittigende  Kraft  fiber  ihre  Volksgenossen 
wird  man  der  englisclien  Kirche  iiber  See  nicht  abstreiten 
dlirfen.  Die  reiclien  Krafte  unserer  deutsclien  evangelischen 
Kirchen  konnen  und  miissen  ganz  anders  als  bisher  der 
Gemeindebildung  in  iiberseeischen  Grebieten  nutzbar  ge- 
macht  werden."  Unser  Verein  hat  das  von  Anfang  an  er- 
kannt  und  ist  danach  verfahren.  Er  ist  sich  wohl  bewuBt, 
dafi  durch  diese  Organisationen  auch  eigentiimliclie  Kon- 
flikte  zwischen  der  direkten  und  der  indirekten  Mission 
entstehen,  die  nicht  immer  leicht  zu  schlichten  sind.  Aber 
doch  ist  er  dariiber  nicht  im  Zweifel  gewesen,  dafi  die 
Sorge  fur  Kirche,  Schule  und  —  nicht  zu  vergessen  — 
Krankenhaus  bei  den  Landsleuten  im  Ausland  auch  in  sein 
Gebiet  fallt,  und  daB  die  Starkung  ihres  Familienlebens 
aufierordentlich  viel  bedeutet.  Zudem  leiten  Schule  und 
Krankenhaus  von  den  Landsleuten  ohne  weiteres  zur  di 
rekten  Mission  iiber,  und  die  ganze  Sphare,  die  durch  sie 
im  Vereine  mit  der  Familie  geschaffen  wird,  mufi  zu  einer 
eindrucksvollen  direkten  Predigt  werden.  Die  Frau,  der 
Lehrer,  der  Arzt  —  sie  sollen  gleichsam  als  Zwischenglieder 
zwischen  dem  Missionar  und  dem  Kaufmann  stehen.  So 
soil  im  kleinen  das  heimische  Gremeinwesen  im  fremden 
Lande  bliihen  und  seine  sittigenden  "Wirkungen  auf  die 
weitere  Umgebung  ausiiben. 

IV. 

Dies  sind  Grundsatze,  nach  welchen  unser  Missions- 
verein  sein  Werk  treiben  will  und  treibt.  Er  ist  ein  kleiner 
Verein,  und  er  hat  im  Laufe  der  sechzehn  Jahre,  die  er 
besteht,  viel  Schweres  durchmachen  und  grofie  Hemmungen 
von  innen  und  von  aufien  iiberwinden  miissen.  Er  ist  ein 
kleiner  Verein,  und  doch  hat  er  das  Recht,  sich  Allgemeiner 
evangelisch-protestantischer  Missionsverein  zu  nennen;  denn 
er  richtet  sich  mit  seiner  Aufforderung  zur  Teilnahme  an 
alle  evangelischen  deutschen  Christen,  unbeschadet.  ihres 


Grundsatze  der  evangelisch-protestantischen  Mission.  127 

besonderen  theologischen  Standpunkts,  und  er  hat  seine 
Aufgabe  von  vornherein  in  der  umfassendsten  "Weise  an- 
gelegt:  Einzelbekehrung ,  Sammhmg  von  Gremeinden,  lite- 
rarisch-apologetische  Arbeit  und  Pflege  der  Diaspora  sollen 
in  ihm  zusammenwirken.  Er  will  auch  nicht  die  heimischen 
kirchlichen  und  theologisclien  Verhaltnisse  auf  ein  neues 
Feld  einfach  iibertragen  oder  einen  bestimmten  konfessio- 
nellen  Typus  fortpflanzen,  sondern  er  will  das  Evangelium 
verkiindigen  und  den  Samen  des  gottlichen  Werks  aus- 
streuen.  Er  iiberlafit  es,  wie  richtig  noch  jiingst  gesagt 
worden  ist ,  der  Entwicklung  und  Fuhrung  Grottes ,  in 
welchen  kirchlichen  Formen  sich  das  evangelische  Wesen, 
entsprechend  der  Eigenart  der  betrefFenden  Volker,  aus- 
pragen  wird,  und  er  hofft  auf  diese  Weise  die  wanre,  die 
geistige  Union  der  christlichen  Kirchen  zu  fordern.  Denn  — 
wir  treiben  Mission  nicht  nur  um  der  Volker  willen,  deren 
Schuldner  wir  sind,  sondern  auch  urn  unsrer  selbst  willen. 
Wie  die  Mission  auf  dem  Boden  der  evangelischen  Kirchen 
in  dem  Momente  entstanden  ist,  wo  diese  sich  aus  dem 
Schlafe  der  Orthodoxie  erhoben  hat  und  durch  den  Pietis- 
mus  zu  einem  neuen  Leben  erweckt  wurde,  so  steht  auch 
heute  noch  innere  Lebendigkeit  des  heimischen  Christen- 
tums  und  Missionssinn  in  fruchtbarer  Wechselwirkung. 
Ein  Doppeltes  erwarten  wir  von  unsrer  Missionsarbeit  fur 
uns  selbst  und  diirfen  es  mit  Zuversicht  erwarten.  Erst- 
lich,  dafi  uns  die  Griiter  teurer  werden,  fur  deren  Verbrei- 
tung  wir  sorgen,  zweitens,  dafi  wir  immer  sicherer  die 
Hauptsache  erkennen  und  so  iiber  das  kirchliche  Partei- 
wesen,  den  Streit  und  Hader  im  eigenen  Lager,  erhoben 
werden.  Es  ist  um  die  Ausspendung  geistiger  Griiter  eine 
eigentiimliche  Sache.  Je  freigebiger  wir  sie  austeilen,  um 
so  sicherer  werden  sie  unser  Eigentum.  Das  weiC  jeder 
Lehrer,  der  mit  Ernst  und  Begeisterung  unterrichtet.  Im 
hochsten  Sinne  gilt  das  aber  von  den  geistlichen  Griitern, 
weil  sie  alle  in  der  Liebe  wurzeln  und  sich  in  der  Tat 


128  Z welter  Band,  erste  Abteilung.    Beden:  IV. 

offenbaren.  Die  Asketen  und  Monche  haben  Unrecht  — 
es  gibt  keine  einzige  christliche  Tugend ,  die  in  der  Be- 
schaulichkeit  geiibt  werden  kann,  und  kein  einziges  sitt- 
liches  Gut,  das  ins  Schweifituch  gekniipffc  werden  darf. 
Umgekehrt  aber  wird  aus  jeder  Betatigung  auch  die  Freude 
an  dem  Gut  wachsen  und  sein  Besitz  fester  werden.  Die 
Geschichte  der  Wirkungen  der  evangelischen  Mission  auf 
das  heirnische  Christentum  ist  noch  von  niemandem  ge- 
schrieben  worden,  und  vielleicht  kann  sie  iiberhaupt  nicht 
gesckrieben  werden;  aber  daft  diese  Wirkungen  vorhanden 
sind,  und  dafi  reiche  Strome  des  Segens  aus  der  Mission 
zuriickgestromt  sind,  ist  offenbar.  Kann  man  doch  manche 
Kirchen,  wie  die  schottische  oder  die  Easier,  recht  eigent- 
lich  als  Missionskirchen  bezeicnnen :  Die  Mission  hat 
inrem  eigenen  innern  Leben  das  Geprage  gegeben.  Und 
dann  das  Zweite  —  nicht  ungebundener  sollen  wir  in  un- 
serem  Christentum  werden,  aber  freier,  nicht  verschwom- 
mener,  aber  weitherziger ,  nicht  schwacher,  aber  fried- 
fertiger,  nicht  armer,  aber  einfacher.  Dazu  soil  uns  auch 
die  Missionsarbeit  verhelfen.  Angesichts  der  Note,  wie  sie 
in  Armenien  bestehen,  angesichts  der  grauenvollen  Bar- 
barei,  deren  Ausbriiche  wir  in  China  erleben,  angesichts 
der  ganzen  Last  von  Aberglauben,  Irrtum,  Gewalttat,  die 
auf  Millionen  von  Menschen  lastet  —  wenn  wir  ihnen 
gegeniiber  es  nicht  lernen,  die  Hauptsache  zu  erkennen, 
unter  uns  Frieden  zu  halten  und  in  Gemeinsamkeit  zu 
arbeiten,  auf  welche  Notigungen  warten  wir  noch?  Starkere 
Mahnungen  kann  es  nicht  geben;  achten  wir  also  auf  die 
Zeichen  der  Zeit!  Moge  es  unserem  Verein  beschieden  sein, 
mitzuarbeiten,  dafi  die  Deutschen  auch  als  Christen  ihren 
Weltberuf  erkennen,  und  erkennen,  wie  sie  ihn  treiben 
sollen.  Aufwarts  fuhrt  die  Geschichte  der  Menschheitj 
sehen  wir  zu,  dafi  wir  nicht  zuriickbleiben.  Soli  deo  gloria! 


ADOLF  HAENACK  •  REDEN  UND  AUFSATZE 
ZWEITER  BAND  .  ERSTE  ABTEILUNG 


REDEN:  V 

ZUR  GEGENWARTIGEN  LAGE  DES 
PROTESTANTISMUS 


Vortrag 

gehalten  am  6.  Okt.  1896  in  einem  kleinenKreise  von  Freunden  zu  Eisenaclu 

Erschienen  als  Nr.  25  der  ,,Hefte  zur  Christlichen  Welt"  bei  J.  C.  B.  Monr 

(Paul  Siebeck)  in  Tubingen. 


Vorwort. 


Urspriinglich  war  es  nicht  meine  Absicht,  diesen  Vor- 
trag,  der  am  6.  Oktober  in  Eisenach  in  einem  Kreise  von 
Freunden  gehalten  worden  ist,  zu  veroffentlichen.  Aber 
nachdem  er  auf  Grund  unvollstandiger  Referate  die  heftig- 
sten  Angriffe  erlebt  hat,  scheint  es  mir  urn  der  Sache 
willen  Pflicht  zu  sein,  ihn  der  Offentlichkeit  zu  iibergeben. 
Der  Reichsbote  (10.  Oktober)  hat  ihm  ,,radikale  Verwerfung 
des  Chris tentums,  des  christlichen  Grottesglaubens  und  G-ott- 
vertrauens,  die  sich  auf  die  geschichtliche  Offenbarungs- 
tatsache  Grottes  in  Christo  griinden"  nachgesagt,  und  er 
hat  seinen  Lesern  nahegelegt  zu  glauben,  dafi  ich  alles 
das  leugne,  was  er  in  einem  Eeferat  (von  funfzig  Zeilen!) 
iiber  den  Vortrag  nicht  gefunden  hat.  Auf  eine  solche  Pole- 
mik  zu  erwidern,  wird  mir  niemand  zumuten.  Sie  zeigt 
nur,  dafi  ich  in  meinem  Vortrage  die  Art,  in  der  heute  das 
,,Bekenntnis"  vertreten  wird,  noch  viel  zu  milde  charak- 
terisiert  habe. 

Ich  habe  den  Vortrag  acht  Tage,  nachdem  er  gehalten 
war,  wesentlich  aus  dem  Gredachtnis  niederschreiben  miissen 
und  mich  dabei  bemuht,  ihn  vor  iibelwollendem  Verstand- 
nis  zu  schiitzen,  ohne  seinen  Inhalt  irgendwo  zu  andern. 
Nicht  uberfliissig  wird  es  sein,  daran  zu  erinnern,  dafi  ich 
nur  zur  Lage  des  Protestantismus  habe  sprechen  wollen. 
Diese  Lage  umfaCt  noch  andre  schwere  Probleme,  die  ich 
absichtlich  beiseite  gelassen  habe. 


9* 


Ich  gedenke  nicht  von  der  G-egenwart  und  Zukunft 
unsrer  protestantischen  Landeskirchen  zu  sprechen,  sondern 
von  der  Gregenwart  und  Zukunft  des  Protestantismus.  Daft 
dabei  der  Zustand  der  protestantischen  Landeskirchen  ins 
Auge  gefafit  werden  mufi,  versteht  sich  von  selbst.  Aber 
—  um  gleich  meine  Meinung  zu  sagen  —  ich  gehore  nicht 
zu  denen,  die  unsre  protestantischen  Landeskirchen  in  einem 
Zustande  der  Zersetzung  sehen  und  meinen,  dafi  sie  in 
Balde  untergehen  werden  oder  doch  einer  gewaltigen  Krisis 
entgegensteuern.  Ich  glaube  umgekehrt,  dafi  sie  sich  zur 
Zeit  in  einer  Epoche  kraftiger  Konsolidierung  befinden,  daJS 
sich  diese  noch  verstarken  wird,  und  dafi  somit  irgend 
welche  Anzeichen  des  Untergangs  oder  der  Zersetzung  nicht 
vorhanden  sind.  So  wie  sie  sich  teils  von  ihrem  Ursprung 
her,  teils  in  besonders  kraftiger  Weise  in  unserm  Jahr- 
hundert  an  den  Staat,  die  Gresellschaft,  den  Patriotismus, 
die  Uberlieferung,  die  Autoritaten  und  die  populare  reli- 
giose  Stimmung  angeschmiegt  haben,  sind  sie  sehr  feste 
und  schwer  angreif  bare  Gebilde  geworden.  Sie  haben  sich 
in  der  gegenwartigen  Zeitepoche  eingerichtet,  wie  sich 
einst  das  alte  Christentum  im  romischen  Reich  eingerichtet 
hat,  und  nichts  deutet  darauf  hin,  dafi  sie  eine  kiirzere 
Dauer  haben  sollten  als  unsre  Epoche.  Sind  doch  um  die 
Wette  E/egierung  und  Gresellschaft,  frommer  Sinn  und  In- 
differenz,  in  gewisser  "Weise  Freund  und  Feind  bemiiht, 
den  Kirchen  auf  der  Entwicklungslinie,  auf  der  sie  sich 
befinden,  zu  Hilfe  zu  kommen,  damit  sie  immer  mehr  das 


Zur  gegenwartigen  Lage  des  Protestantismus.  133 

werden,    was    die   natiirliche   Entwicklung    der   Dinge    sie 
werden  lafit. 

Aber  sehr  anders  gestaltet  sich  freilicli  der  Ausblick, 
wenn  wir  statt  auf  die  protestantischen  Landeskirchen  auf 
den  Protestantisinus  sehen.  Die  alte  Firma  ,,protestantisch" 
ist  allerdings  noch  immer  vorhanden;  aber  Firmen  tauschen 
bekanntlich  in  der  G-eschichte.  Die  weltgeschichtliche  Tau- 
schung  der  Firma  ,,apostolischa  hat  die  Reformation  am 
Katholizismus  aufgedeckt.  Aber  sind  die  protestantischen 
Kirchen  vielleicht  nur  noch  in  dem  Mafie  protestantisch , 
wie  die  katholischen  apostolisch?  Jedenfalls  entscheiden  die 
Worte  nicht,  nnd  eine  Garantie  dafiir,  daB  es  dem  Pro- 
testantismus  nicht  ebenso  geht  wie  alien  Konfessionen  — 
dafi  sie  namlich  teils  durch  Beharrung,  teils  durch  all- 
mahliche  Umformungen  ihren  Charakter  verandern  —  ist 
nicht  gegeben. 

II. 

Was  war  der  alte  Protestantismus  ?  Was  sind  seino 
wesentlichen  Merkmale? 

Eine  Kirche,  die  ausschlieClich  auf  den  aus  der  hei- 
ligen  Schrift  gewonnenen  Articuli  fidei  ruhte,  die  Kenntnis 
und  das  Verstandnis  derselben  alien  ihren  Gliedern  zugang- 
lich  machen  wollte,  und  die  iiberzeugt  war,  dafi  sie  alles 
Wesentliche  getan  habe,  wenn  sie  den  richtigen  Bibel- 
glauben  verkiindigte. 

Im  Protestantismus  besteht  also  ein  festes,  ja  aus- 
schlieBliches  Verhaltnis  zwischen  Theologie  und  Kirche. 
Die  Grlaubenslehre,  die  im  Grunde  identisch  ist  mit  dem 
Bekenntnis  und  der  Theologia  sacra,  tragt  die  Kirche.  ISTur 
diese  Theologia  sacra  hat  die  Kirche  zu  predigen  und  zu 
lehren,  alles  iibrige  wird  sich  dann  von  selbst  finden.  Eifrig; 
wachte  man  gegeniiber  j,Schwarmgeistern"  und  ahnlichen 
Leuten,  dafi  nicht  ein  Mehreres  geschah.  Ein  strenger 
Puritanismus  in  der  Religion  und  der  religiosen  Padagogie 


134  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  V. 

war  die  Folge.  Nur  diese  bewufite  und  gewollte  Einseitig- 
keit  schuf  die  Kraft,  um  das  Grofite  zu  leisten,  was  in  der 
Geschichte  geleistet  werden  kann,  eine  alte,  mit  tausend 
Wurzeln  im  Boden  haftende  Religion  zu  reformieren.  Das 
Wort  allein,  und  darum  die  Lehre  allein,  und  der  Glaube 
allein!  Zugeschnitten  war  diese  ^Lehre"  auf  einen  zwar 
tief  bewegten,  aber  einformigen  Seelenzustand  und  auf  ein 
gedriicktes,  immerfort  gefahrdetes  irdisches  Dasein.  Dafi 
das  gepredigte  Wort  Kraft  und  Leben  wird,  ist  —  das 
war  eine  Grundiiberzeugung  —  allein  das  Werk  des  hei- 
ligen  Geistes,  dem  man  vertrauen  und  den  man  erwarten 
soil.  Der  Kirchenglaube  mufi  aber  als  JSTotitia,  Assensus  und 
Fiducia  in  vollig  gleichartiger  Weise  personlicher  Besitz 
jedes  Einzelnen  geworden  sein,  und  ein  jeder  soil  sich  von 
nichts  anderm  nahren  als  von  dem  Wort,  dessen  Aus- 
gestaltung  die  Theologia  sacra  ist. 

Diese  Theologia  sacra  im  Sinne  einer  unfehlbaren  Bibel- 
lehre  hat  sich  aufgelost.  Doch  lassen  Sie  mich  mit  ein  paar 
Worten  des  Ursprungs  der  ?,Theologie"  gedenken. 

Sie  war  nicht  von  Anfang  an  vorhanden.  Urspriing- 
lich  gab  es  nur  Prophetie  und  pneumatisches  Lehren.  Wer 
im  Namen  der  Religion  eine  Erkenntnis  vortrug  oder  eine 
religiose  Anweisung  gab,  tat  das  vom  Geiste  getrieben,  und 
die  ihn  horten,  waren  uberzeugt,  dafi  er  aus  dem  Antrieb 
des  Geistes  redete.  Aber  diese  Periode  dauerte  nicht  lange. 
Die  Prophetie  und  das  pneumatische  Lehren  horten  auf, 
und  an  ihre  Stelle  trat  die  verstandesmafiige ,  nach  be- 
stimmten  Regeln  arbeitende  Theologie,  die  in  bezug  auf 
das  Alte  Testament  schon  langst  vorbereitet  war.  Diese 
Theologie  war  aber  doch  Theologia  sacra;  denn  sie  hatte 
einen  heiligen  Text  —  nun  einen  doppelten,  den  des  Alten 
und  Neuen  Testaments,  zur  ausschliefilichen  Unterlage,  und 
man  behauptete,  daJ3  nur  ein  geheiligter  Verstand  ihn  aus- 
zulegen  vermag.  Doch  iiber  diesen  letzteren  Punkt  blieb 
ein  Schwanken  bestehen.  Dafi  bereits  der  natiirliche  Ver- 


Zur  gegenwartigen  Lage  des  Protestantismus.  ^35 

stand  den  rechten  Sinn  der  heiligen  Schrift,  mindestens  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  erkennen  konne,  wurde  doch  auch 
behauptet,  und  dafi  man  ein  MaU  von  ,,weltlicher"  Wissen- 
schaft  fur  die  Auslegung  no  tig  habe,  konnte  nicht  leicht 
verkannt  werden.  Aber  eben  deshalb  wurde  die  Theolosrie 

o 

von  Anfang  an  mit  Mifitrauen  in  der  Kirche  betrachtet. 
Bereits  der  erste  grofie  Theologe,  Origenes,  hat  das  er- 
fahren  miissen.  Ein  7,weltliches"  Element  war  notwendig 
in  die  Theologie  aufgenommen,  wenn  auch  seine  Ab- 
grenzung  gegeniiber  dem  Heiligen,  ja  iiberhaupt  sein  Exi- 
stenzrecht  zweifelhaffc  blieb. 

In  der  Kirche  der  Reformation,  dem  alten  Protestan 
tismus,  anderte  sich  das  nicht  wesentlich.  Alles  Hei- 
lige  wird  noch  ausschlieMcher,  als  es  im  Katholizismus 
geschehen  war,  in  die  Urkunde  geschoben,  und  eben  des 
halb  bleibt  die  Wissenschaft,  die  sich  mit  ihr  beschaftigt, 
Theologia  sacra.  Auf  diese  stiitzte  sich  der  Protestantis 
mus  noch  entschiedner  als  der  Katholizismus,  der  sich  eine 
viel  kompliziertere ,  aber  dem  Leben  und  seinen  Bedurf- 
nissen  abgelauschte  Grrundlage  geschafien  hat.  Der  Doppel- 
charakter  der  Theologie  blieb  iibrigens  ungeklart.  Einerseits 
sprach  man  so,  als  sei  der  ,,reine  Verstand"  der  heiligen 
Schrift  eine  Sache  natiirlieher  Vernunft  und  gewissenhafter 
Erkenntnis,  andrerseits  sollte  doch  nur  der  den  Schriftsinn 
treffen  konnen,  der  vom  heiligen  Geiste  erleuchtet  war.  Als 
die  "Wiedertaufer  die  reformatorische  Theologia  sacra  in 
pneumatische  Intuition  (die  nfortgesetzte  Offenbarung",  das 
ninnere  Licht")  und  ,,naturliche  Wissenschafb"  zu  spalten 
versuchten,  wurden  sie  abgewiesen  und  verdammt. 

Dennoch  loste  sich  die  Theologia  als  sacra  (als  ein  ab 
solutes  gottliches,  weil  aus  dem  inspirierten  Bibelkodex  ge- 
schopftes  Wissen)  allmahhch  auf.  Wie  das  geschehen  ist, 
das  darzulegen  wiirde  zu  weit  fiihren.  Erst  loste  sich  das 
Kirchenrecht  ab  und  ging  in  die  Form  einer  rein  welt- 
lichen  Disziplin  iiber;  dann  folgte  die  Kirchengeschichte: 


136  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  V. 

es  wurde  anerkannt,  im  Prinzip  allgemein  in  den  protestan- 
tischen  Kirchen  anerkannt,  dafl  wer  semen  Standort  in  der 
Greschichte  nimmt,  ihn  nicht  zugleich  in  dem  jeweiligen 
Zustande  des  Staats  oder  der  Kirche  nehmen  kann;  es 
wurde  eine  allgemeine  Forderung,  die  Greschiclite  der  Kirclie 
unparteiisch  zu  erzahlen  ohne  R/iicksicht  auf  die  vermeint- 
lichen  oder  wirklichen  G-rundlagen  und  Anspriiclie  einer 
Partikularkirche.  Dann  folgte  der  entscheidendste  Schritt: 
das  Verstandnis  und  die  Auslegung  des  Alten  und  Neuen 
Testaments  darf  sich  weder  durch  ein  ,,Bekenntnis"  etwas 
vorschreiben  lassen,  noch  darf  sie  sich  um  der  Heiligkeit 
des  Textes  willen  andrer  Methoden  bedienen,  als  der  all 
gemein  anerkannten  philologischen  und  historischen.  Die 
Revolution,  die  dieser  Grundsatz  in  der  Theologie  hervor- 
gerufen  hat,  zittert  noch  in  ihrer  gesamten  Arbeit  nach. 
Aber  im  Prinzip  wird  er  zur  Zeit  nur  noch  selten  im  Pro- 
testantismus  bestritten;  selbst  die  bestreiten  ihn  in  der 
Hegel  im  Prinzip  nicht,  die  seine  Durchfuhrung  im  ein- 
zelnen  als  sakrilegisch  brandmarken. 

Wie  ist  das  gekommen?  "Wer  hat  das  aufgebracht? 
Niemand  und  alle!  Es  ist  die  Folge  der  Entstehung  des 
historischen  Sinnes,  die  keine  geringere  Umwalzung  in  der 
Greschichte  der  Menschheit  bedeutet  als  die  naturwissen- 
schaftlichen  Entdeckungen.  Der  Begriff  der  Wissenschaft 
ist  ein  andrer  geworden;  wir  wissen  es  alle  —  wer  der 
Wissenschaft  die  Ergebnisse,  zu  denen  sie  gelangen  soil, 
vorschreibt,  der  lost  sie  damit  auf.  Und  das,  was  hier 
hervorgebrochen  ist,  kann  nicht  mehr  gehemmt  werden. 
,,Die  Wahrheit  ist  wie  ein  Quellwasser,  welchem  man  ent- 
weder  seinen  Lauf  lassen  oder  gewartig  sein  mufi,  daB  es 
anderweit  ausbreche,  wo  es  uns  am  wenigsten  gelegen  ist." 
Dafi  auch  seltsame  Uberstiirzungen  nicht  fehlen,  wird  nie- 
manden  wundern,  der  den  Lauf  menschlicher  Dinge  kennt. 
So  wird  in  einer  jiingst  erschienenen  Abhandlung:  rDas 
Dogma  vom  Neuen  Testament"  alles  Ernstes  verlangt,  man 


Zur  gegenwartigen  Lage  des  Protestantismus.  137 

solle  jedes  Werturteil  aus  der  Betrachtung  der  Urges cL.ich.te 
des  Christentums  ausschliefien,  also  alles  auf  eine  Flaclie 
nebeneinander  stellen.  Aber  aucli  in  dieser  Forderung, 
die  die  (reschichtschreibung  der  Kritiklosigkeit  iiberant- 
wortet  und  auf  eine  ganz  niedrige  Stufe  zuriickfiihren 
wiirde,  zeigt  sich  das  gewissenhafte  Streben,  die  wissen- 
schaftliche  Erkenntnis  rein  zu  erhalten  und  ihr  nichts 
Fremdes  beizumischen.  Dafi  iibrigens  die  Emanzipation 
der  exegetischen  und  historischen  neutestarnentlichen  For- 
schung  zu  immer  radikaleren  Ergebnissen  gefiihrt  hat, 
kann  kein  Einsichtiger  behaupten.  Das  Gregenteil  ist  der 
Fall.  Nicht  nur  die  Fragen  des  Ursprungs  und  der  Echtheit 
neutestamentlicher  Schriften  werden  mit  gro'Berer  Vorsicht 
und  hoherm  Respekt  gegenuber  der  Tradition  behandelt 
als  friiher,  sondern  auch  die  Eigenart  der  christlichen  Re 
ligion  und  die  Eigenart  religiosen  Lebens  iiberhaupt  wird 
objektiver  und  scnarfer  bestimmt  als  friiher.  Auch  ist  dar- 
iiber  kein  Zweifel:  nur  der  vermag  das  Bibelwort  wirklich. 
zu  verstehen,  der  von  seinem  Greiste  innerlicli  beriihrt  ist. 
Aber  freilich  —  es  gibt  keine  heilige  Uberlieferung,  vor 
der  die  geschichtliche  Forschung  einfach  kapituliert. 

ni. 

Also  ist  es  die  Wissenschaft  gewesen,  die  die  Theo- 
logie  im  alten  Sinne  des  Worts  gesprengt  und  ihr  die 
..Heiligkeit"  genommen  hat?  Ja  —  aber  sie  ist  nur  der 
eine  Faktor  in  diesem  Prozefi.  Der  andre  ist  in  der  Kirche 
selbst  zu  suchen,  und  die,  die  am  lautesten  iiber  den  Ver- 
lust  der  Theologia  sacra  klagen,  sind  an  ihrer  Auflosung 
sehr  stark  beteiligt.  Parallel  namlich  mit  der  Umbildung 
der  Theologie  geht  seit  Jahrzehnten  eine  Umbildung  des 
Verhaltnisses  von  Theologie  und  Kirche.  Seit  Schleier- 
machers  Darlegungen  iiber  das  Wesen  der  Religion  und 
der  Kirche  ist  in  alien  Richtungen  der  deutschen  evange- 
lischen  Kirchen  das  altprotestantische,  ausschliefiliche  Ver- 


138  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  V. 

haltnis  von  Tlieologie  und  Kirche  gesprengt.  Mcht  nur 
gegen  dogmatische  Systeme  ist  man  skeptisch  und ,  was 
mehr  bedeutet,  indifferent  geworden  —  das  Wort:  ndie 
Systeme  sind  das  Malheur  der  Wissenschaften"  wird  in  be- 
zug  auf  die  Dogmatik  in  alien  kirchlichen  Lagern  unter- 
schrieben  — ,  sondern  auch  gegen  die  Tlieologie  als  Lehre 
nnd  geschichtliche  Erkenntnis  iiberhaupt  herrscht  eine  Ab- 
neigung  und  Greringschatzung,  in  der  hervorragende  Fiihrer 
der  verschiedensten  kirchlichen  Richtungen  zusammen- 
stimmen.  Einst  waren  im  Protestantismus  die  Theologen 
die  Schiedsrichter  in  alien  kirchlichen  Fragen,  heute  sitzt 
man  nur  noch  iiber  sie  zu  Grericht.  Einst  herrschte  die 
Theologie  unbedingt  in  der  Kirche;  heute  wird  sie  zuriick- 
geschoben  oder  ihre  Arbeit  als  eine  Quantite  negligeable, 
als  unfruchtbar  und  unpraktisch  fur  den  kirchlichen  Dienst 
bezeichnet.  Das  gilt  keineswegs  nur  von  der  sogenannten 
modernen  Theologie.  Dafl  auf  die  Theologie  „ iiberhaupt 
nicht  soviel  ankommt",  ist  ein  Satz,  der  mir,  freilich  hau- 
figer  leise  geflustert  als  laut  proklamiert,  in  Wort  und 
Schrift  unzahlige  Male  entgegengebracht  worden  ist.  Doch 
werden  die  Bemiihungen  der  Theologieprofessoren  vom 
Standpunkt  der  „ Kirche"  allmahlich  immer  offner  als  iiber- 
flussig  und  storend  bezeichnet.  ,,Undogmatisches  Christen- 
tum"  oder  Liebestatigkeit  oder  irgend  etwas  andres,  das 
man  noch  nicht  kennt,  soil  an  die  Stelle  treten.  Hit  der 
Theologie  ist  nichts  mehr  zu  erreichen;  sie  stort  nur  die 
lebendige  Verwertung  der  Krafte  der  Religion.  Ich  meine 
diese  TJberzeugung,  wenn  auch  in  sehr  verschiedner  Weise, 
sowohl  aus  dem  Reichsboten  wie  aus  den  kraftigen  Pre- 
digten  Naumanns  und  den  ernsten  Ratschlagen  von  So- 
dens  herauszuhoren. 

Ich  urteile  nicht,  sondern  ich  suche  einen  Tatbestand, 
so  wie  er  vorliegt,  darzustellen.  Dafi  dieser  Zustand  eine 
notwendige  Reaktion  ist  gegenuber  jener  altprotestantischen 
Einseitigkeit,  Lehre  und  Religion  ausschliefilich  miteinander 


Zur  gegenwartigen  Lage  des  Protestantismus.  139 

zu  verbinden,  ist  gewifi,  und  dafi  hinter  der  relativen  GHeich- 
gliltigkeit  gegen  die  Theologie  auch  das  Bestreben  wirksam 
ist,  die  Religion  aus  dem  Intellektualismus  herauszufuhren 
und  ihren  verschiednen  Kraften  und  Ausdrucksformen  ge- 
recliter  zu  werden,  ist  unverkennbar. 

Aber  —  wendet  man  ein  —  wie  darf  man  von  Mcht- 
achtung  der  Theologie  in  einem  Zeitalter  sprechen,  das 
den  Ruf:  R/iickkehr  zum  Bekenntnis,  so  laut  und  sturmisch 
erschallen  lafit,  und  wie  kann  man  sich  iiber  den  Mangel 
an  schuldigem  E/espekt  vor  der  Theologie  beklagen  in  einer 
Epoche,  in  der  ein  so  energischer  Theologe  wie  Ritschl 
gewirkt  und  eine  so  allgemeine  Beachtung  gefunden  hat? 

Was  den  ersten  Einwurf  betriift,  so  werden  wir  iiber 
ihn  sofort  ausfuhrlicher  zu  reden  haben;  was  aber  den 
zweiten  anlangt,  so  ist  es  richtig,  dafi  in  Ritschls  Theo 
logie  das  altprotestantische  doktrinare  Element  kraftig 
hervortritt.  In  dieser  Hinsicht  ist  er  bis  auf  weiteres  der 
letzte  lutherische  Kirchenvater;  denn  seine  Eigenart  be- 
stand  darin,  dafi  er  die  beiden  Elemente  des  Protestantis 
mus,  das  doktrinare  und  das  originalreligiose ,  verstarkt 
und  in  enger  Yerbindung  gehalten  hat.  Aber  wie  er  in 
dieser  Hinsicht  eine  Ausnahme  bildet,  so  zeigte  auch  die 
Aufnahme  seiner  theologischen  Arbeit,  dafi  der  Protestan 
tismus  fur  diese  seine  Haltung  keine  Sympathie  und  kein 
Verstandnis  mehr  besafi.  Nur  einige  altlutherische  Theo- 
logen  von  striktester  und  daher  undiplomatischer  Obser- 
vanz  erkannten  die  altprotestantische  Haltung  seiner  Lehre 
dankbar  an;  die  iibrigen  —  von  seinen  Schiilern  abgesehen 
—  fiihlten  sich  von  seinen  energischen  theologischen  An- 
spriichen  vielleicht  noch  mehr  abgestofien  als  von  einzelnen 
bedenklichen  Lehren.  Dafi  er  ganz  und  gar  Theologe  war 
und  von  der  Theologie  aus  Vorschriften  zu  geben  wagte, 
dafi  ihm  jeder  Zug  des  Traditionalisten,  des  Liturgikers, 
des  Yirtuosen,  der  mit  sich  reden  lafit,  des  Latitudinariers, 
der  andre  reden  lafit,  des  Kirchenpolitikers ,  der  mit  in- 


140  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  V. 

direkten  Mitteln  arbeitet,  fehlte  —  das  war  das  Befremd- 
lichste  nnd  Anstofiigste  an  dieser  kraffcvollen  Personlichkeit. 
Die  Aufnahme,  die  Ritsehl,  der  lutherische  Theologe, 
gefunden  hat,  ist  also  nur  em  neuer  Beleg  fur  die  Wahr- 
nehmung,  dafi  die  Schatzung  der  Theologie  in  der  Kirche 
reifiend  abnimmt.  Wahrend  sich  die  Theologie  den  An- 
spriichen  der  allgemeinen  Wissenschaft  unterwarf,  hat  sich 
teils  infolge  hiervon,  teils  von  ganz  andern  Kraften  bestimmt 
die  Kirche  von  der  Theologie  getrennt  oder  doch  das  aus- 
schliefiliche  Verhaltnis  von  Theologie  nnd  Kirche  gesprengt. 

IV. 

Welches  sind  diese  „ andern  Krafte"?  Man  kann  sie  in 
einem  Worte  zusammenfassen :  es  ist  die  fortschreitende 
Katholisierung  nnsrer  protestantischen  Landeskirchen.  Ich 
will  versuchen,  ans  dem  ungeheueren  und  weitschichtigen 
Material,  das  for  die  Begriindung  dieser  Behauptung  zn 
Grebote  steht,  einiges  herauszugreifen.  Dabei  wird  anch 
deutlich  werden,  in  welchem  Sinne  das  Wort  ^Katholi- 
sierung"  hier  verstanden  ist. 

Allem  zuvor  hat  man  den  Finger  auf  den  Kirchenbe- 
griff  zu  legen.  Der  evangelische  Kirchenbegriff  ist  nahezu 
verschwunden ,  und  wer  an  ihn  im  praktischen  Leben  zu 
erinnern  wagt,  wird  als  unpraktischer  Traumer  verschrieen. 
Die  Mehrzahl  unsrer  einfluBreichen  Kirchenzeitungen ,  zu 
denen  auch  ein  paar  politische  Zeitungen  zu  rechnen  sind, 
arbeitet  mit  einem  katholischen  Begriif  der  Kirche.  Ich 
lese  seit  acht  Jahren  regelmaCig  den  Reichsboten  und  kann 
mich  nicht  erinnern,  unter  den  unzahligen  Ausfuhrungen 
uber  die  ?,Kirche"  auch  nur  ein  einziges  Mai  einer  Stelle 
begegnet  zu  sein,  in  der  der  siebente  Artikel  der  Augs- 
burgischen  Konfession  zu  seinem  vollen  Hechte  gekommen 
ware.  Dagegen  wird  in  der  Regel  einfach  so  gesprochenr 
als  sei  die  Kirche  Jesu  Christi  das  kirchliche  Institut  mit 
seineii  Majoritaten,  Lehrordnungen  und  Ausstattungen  — 


Zur  gegenwartigen  Lage  des  Protestantismus. 

solange  es  im  Sinne  der  Kirchenzeitungen  arbeitet.  Un- 
bedenklich  werden  auf  dieses  Institut  alle  Verheifiungen 
Christ!  iibertragen.  Ein  Unterscliied  zwischen  der  Kirche 
des  Grlaubens  und  der  Landeskirclie  wird  kaum  inehr  ge- 
macht,  und  alle  Ordnungen  und  Fixierungen  der  Landes 
kirclie,  die  den  Majoritaten  genehm  sind,  werden  unter  den 
Schutz  und  die  Autoritat  des  Heiligen  gestellt.  ?,Die  Kirche 
spricht",  ndie  Kirche  verlangt"  —  diese  "Wendungen  werden 
wie  dem  Staate,  so  Andersdenkenden  gegeniiber  in  einem 
Sinne  gebraucht,  als  handle  sich's  um  die  Stimme  Gottes 
gegeniiber  der  Stimme  der  "Welt,  wahrend  es  sich  sehr 
haufig  nur  um  die  Wiinsche  kurzsichtiger  Majoritaten 
handelt  und  zugleich  um  Fragen,  in  denen  der  auf  christ- 
licher  Kultur  erwachsene  Staat  eine  sehr  viel  sichrere  Biirg- 
schaft  bietet.  Dieser  Prozefi  der  Katholisierung  des  evan- 
gelischen  Kirchenbegriffs  vollzieht  sich  so  zielsicher  und 
siegreich  und  mit  so  elementarer  Qewalt,  dafi  die  Kirchen- 
regierungen  augenscheinlich  groBe  Muhe  haben,  sich  ihm 
zu  widersetzen.  Sie  zensurieren  ab  und  zu  diese  oder  jene 
nlrrlehre"  mit  der  Umsicht  und  Weisheit,  die  eine  lange 
kirchliche  Erfahrung  verleiht;  aber  sie  sind  fast  machtlos 
gegeniiber  der  tiefgreifenden  Umbildung  des  Kirchenbegriffs, 
die  sich  unter  ihren  Augen  vollzieht,  weil  sie  allmahlich 
die  Autoritat  eines  neuen  Dogmas  gewinnt  und  sich  un- 
trennbar  mit  der  Religion  der  Majoritat  der  Frommen  zu 
verbinden  scheint,  die  jedes  Kirchenregiment  respektieren 
mufi.  DaB  wir  Evangelische  mit  diesem  katholischen 
Kirchenbegriff,  der  die  Kirche  des  Grlaubens  und  die  em- 
pirische  Kirche  identifiziert,  allmahlich  auch  alle  Folgen 
des  katholischen  Kirchenbegriffs  mitbekommen  —  den 
Fanatismus,  die  Herrschsucht,  die  Ungeduld,  die  Ver- 
folgungssucht,  die  kirchliche  Uniform,  die  kirchliche  Polizei 
—  liegt  auf  der  Hand  und  kiindigt  sich  schon  an.  Nicht 
G-ott  der  Herr  baut  sich  ja  innerhalb  der  Landeskirchen 
seine  Kirche  der  Grlaubigen,  sondern  die  Majoritaten  miissen 


142  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  V. 

sie  bauen  und  tragen  die  ganze  Verantwortung!  Da  kann 
sich  niemand  wundern,  wenn  sie  unter  der  Wucht  dieser 
Aufgabe  keinen  Mut,  keine  freudige  Zuversicht,  keine  Ge- 
duld  mehr  besitzen,  sondern  scheltend  und  jammernd, 
sch.mah.eiid  und  verfolgend,  politisierend  und  alle  Machte 
der  Welt  in  Bewegung  setzend  ihr  saures  Tagewerk  ab- 
arbeiten.  Selbst  die  Sprache  hat  fur  jeden  Kenner  bereits 
wieder  den  Ton  Cyprians  und  der  mittelalterlichen  Polemiker 
erreicht,  und  der  Appell  an  die  Gewalt,  der  Schrei  nach 
ITnterdriickung  aller  Andersdenkenden  in  der  Form  der 
^Kirehenzucht"  ist  sehr  begreiflich  —  noch  ist  nicht  abzu- 
sehen,  wie  weit  er  gehen  und  ob  der  Staat  ihm  etwa  gar 
seinen  Arm  leihen  wird. 

Die  Katholisierung  des  Kirchenbegriffs  ist  die  starkste 
Wurzel  der  tiefgreifenden  Umbildungen,  die  der  Protestantis- 
mus  im  neunzehnten  Jahrhundert  erlebt.  Aber  mit  selbst- 
standiger  Kraft  setzen  sich  einige  ihrer  wichtigsten  Folge- 
erscheinungen  durch.  Hier  ist  vor  allem  die  Stellung  zum 
Bekenntnis  zu  nennen.  Es  wurde  oben  bemerkt,  dafi  in 
den  evangelischen  Kirchen  der  G-egenwart  die  Theologie 
zuriickgeschoben  wird,  weil  man  nach  einer  breiteren  Basis 
sucht  und  ungestort  sein  will.  Um  so  lebhafter  wird  die 
Autoritat  des  Bekenntnisses  gefordert.  Aber  in  welchem 
Sinne?  In  demselben  Sinne,  in  dem  die  katholische  Kirche 
die  Respektierung  der  Tradition  neben  der  Schriffc  verlangt. 
In  der  katholischen  Kirche  ist  die  Tradition  in  erster  Linie 
Rechtsordnung,  die  zum  Gehorsam  und  zu  Devotion  ver- 
pnichtet,  nicht  sowohl  Lehre,  als  die  bestimmte,  irreformable 
Form  des  Kirchendaseins  selbst.  Der  alte  Protestantismus 
aber,  so  ernst  er  es  mit  dem  Bekenntnis  nahm,  hat  doch 
nie  vergessen  konnen,  dafi  das  Bekenntnis  Zusammenfassung 
des  Heilsglaubens  ist,  lediglich  fur  den  Glauben  besteht 
und  immerfort  gewartig  sein  mufi,  sich  aus  dem  besser 
verstandnen  Worte  Gottes  berichtigen  zu  lassen.  "Wer  dem 
gegeniiber  das  Bekenntnis,  sei  es  nun  das  streng  Lutherische, 


Zur  gegenwartigen  Lage  des  Protestantismus.  143 


sei  es  irgend  ein  Exzerpt  aus  ihrn,  als  irreformable  Rechts- 
ordnung  aufrichtet  und  allem  zuvor  verlangt,  da£  man  sich 
Him  unterwirft,  3  a  in  solcher  Unterwerfung  die  Vorbe- 
dingung  evangelischer  Christlichkeit  sieht,  der  denkt  in 
diesem  Punkt  katholisch.  Aber  wie  weit  sind  wir  auf  dieser 
Linie  schon  vorgesckritten!  Die  geistige  Aneignung  und 
Vertretung  der  gesamten  sproden  altprotestantischen  Lehre 
wird  eigentlich  niemandem  mekr  zugemutet  —  soweit  man 
naeh  den  offentlichen  Kundgebungen  schliefien  kann,  ist 
die  Beschaftigung  mit  den  Bekenntnisschriften  eine  hochst 
geringe;  Kirchenzeitungen  und  Manner,  die  sich  for  ortho 
dox  halten,  lassen  sich  grobe  Verstofie  gegen  die  alte  Kirchen- 
lehre  zu  Schulden  kommen;  die  evangelischen  Lehren  von 
der  Freiheit  und  G-nade,  von  der  Rechtfertigung,  von  der 
Kirche  usw.  werden  im  Namen  der  Orthodoxie  durch  Hare- 
sien  entstellt,  ohne  dafl  sich  auch  nur  eine  Stimme  da- 
gegen  erhebt,  weil  niemand  es  zu  merken  scheint;  selbst 
die  altdogmatische  Christologie  wird  haufig  in  einer  so 
rohen  Verkiirzung  reproduziert,  dafi  man  an  ein  innerliches 
Erfassen  derselben  bei  ihren  Vertretern  nur  schwer  zu 
glauben  vermag  —  ;  aber  um  so  lauter  wird  die  Forderung 
einer  Greltung  des  Bekenntnisses  sans  phrase  erhoben.  Es 
mag  jedem  iiberlassen  bleiben,  wie  er  sich  innerlich  zu  den 
einzelnen  Stiicken  verhalt;  aber  er  soil  das  Bekenntnis  in 
keinem  Punkte  anzweifeln  oder  antasten;  denn  es  soil  die 
intangible  Grundordnung  der  Kirche  sein.  Wahrend  bei 
dem  eigentiimlichen  Wesen  des  Protestantismus  kirchliche 
Kontroversen  iiber  einzelne  Lehren  unausbleiblich  sind  und 
als  Zeichen  des  Lebens  und  des  innerlichen  Anteils  mit 
Ruhe  und  Greduld  sachlich  ausgefochten  werden  sollten  in 
der  Grewifiheit,  dafi  das  Licht  des  Evangeliums  nicht  er- 
loschen  wird,  wird  vielmehr  in  jeder  Kontro  verse  eine  Auf- 
lehnung  wider  ndie  Eorche"  erkannt.  Folgerecht  wand  ein 
sich  —  wie  im  Katholizismus  —  die  Lehrprozesse  in  In- 
subordinationsprozesse:  der  G-ehorsam  und  die  Devotion 


144  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  V. 

erscheinen  als  angetastet,  und  die  Entgegnung  der  herrschen- 
den  Partei  erfolgt  aus  der  erbitterten  und  angstvollen 
Stimmung  heraus,  die  verletzter  Autoritat  und  beleidigtem 
Selbstgefuhl  eigentumlich  ist.  Wie  der  angefochtene  Lehr- 
punkt  sachlich  zu  verteidigen  ist,  ist  die  geringste  Sorge 
• —  nur  so  nebenbei  werden  einige  apologetisehe  Bemerkungen 
gemacht,  die  nirgends  rechten  Kredit  finden;  denn  man 
kommt  mit  ihnen  auf  das  heikle  und  unbequeme  Gebiet 
der  Theologie;  wenn  man  notgedrungen  dieses  betreten 
mufi,  erfolgt  nur  ein  hilfloses  Stammeln  und  das  Aufgebot 
wilder  Kontraste  und  Extremitaten  — ,  die  Person  des 
Gegners  muB  vielmehr  niedergeschlagen  und  ihm  deutlich 
gemacht  werden,  dafi  seine  Haresie  in  der  Auflehnung 
wider  eine  Rechtsordnung  besteht.  Das  Bekenntnis  so 
handhaben  heiGt  es  katholisch  gebrauchen,  und  folgerecht 
wird  es  damit  immer  mehr  dem  innern  Leben  der  Gemeinden 
entzogen  und  zu  einem  Gesetz  fur  den  geistlichen  Stand. 
Ich  mochte  es  nicht  glauben,  dafi  neulich  einmal  das  Wort 
gefallen  sein  soil:  nTrate  doch  N.  N.  aus  der  tneologischen 
Fakultat  in  die  philosophische !  Dann  hatten  wir  statt 
eines  unglaubigen  Theologen  einen  glaubigen  Philosoplien"; 
aber  unmoglich  ist  es  bei  der  stark  vorgeschrittenen 
Stimmung  nicht.  Welcher  Glaubensbegriff  und  welche 
Vorstellung  von  dem  Verhaltnis  der  Geistlichen  und  Laien 
diesem  Worte  zu  Grunde  liegt,  braucht  nicht  erst  nachge- 
wiesen  zu  werden. 

Hand  in  Hand  mit  der  veranderten  Stellung  zum  Be 
kenntnis  gehen  die  Bestrebungen,  die  gottesdienstlichen 
Ordnungen  iiberall  kirchenpolizeilich  zu  uniformieren  und 
die  Lehre  agendarisch  festzulegen.  Dem  alten  Protestan- 
tismus  waren  diese  Bestrebungen  vollig  fremd;  wir  aber 
stehen  bereits  mitten  in  einer  liturgischen  Katholisierung 
unsrer  Kirchen.  Nach  evangelischen  Grundsatzen  soil  der 
Gottesdienst  etwas  Freies  und  Innerliches  sein,  und  so  ge- 
wiO  er  Normen  braucht,  so  gewiG  sollen  diese  eben  nur 


Zur  gegenwartigen  Lage  des  Protestantismus.  145 

Normen  sein,  nach  denen  sich  der  einzelne  G-eistliche,  die 
Qemeinde  und  der  einzelne  Christ  frei  bewegen  kann.  Eine 
Gottesdienstordnung  als  Rechtsordnung  auferlegen,  den 
punktlichen  Yollzug  eines  vorgeschriebnen  Rituals  fur  eine 
hochst  wichtige,  notwendige  und  heilige  Sache  erachten, 
das  Ritual  mifibrauchen,  um  gewissenhafte  Christen  zu  be- 
driicken,  zu  angstigen,  die  Aussprache  ihres  Q-laubens  zu 
zwingen  und  zu  belasten,  ist  nicht  evangelisch.  An  diesem 
Punkte  gerade  hat  die  Reformation  eingesetzt,  und  hier 
ihren  Puritanismus  und  ihre  Freiheit  anzutasten,  bedeutet 
eine  Verletzung  ihres  "Wesens.  Aber  wie  unsicher  sind 
Tausende  von  Protestanten  an  diesem  Punkte  geworden. 
G-eht  man  doch  geradezu  so  weit,  die  agendarischen  Ord- 
nungen  der  Kirche  fur  den  Q-ottesdienst  zu  benutzen,  urn 
durch  sie  mlGliebige  theologische  Richtungen  zu  bekampfen! 
Mit  vollen  Segeln  steuert  man  in  das  gefahrlichste  Fahr- 
wasser,  und  die  Indifferenz  ist,  wie  immer,  der  stille  Bun- 
desgenosse  katholisierender  Majoritaten:  ,,eine  Kirche  mufi 
doch  feste  Ordnungen  haben" ;  77erst  wenn  wir  das  Yorbild 
der  katholischen  Kirche  in  dieser  Beziehung  erreicht  haben, 
wird  der  Protestantismus  eine  Kirche  und  eine  Macht  sein ! " 
Neben  diesen  prinzipiellen  Umbildungen  sind  Symp- 
tome  in  Fiille  vorhanden,  die  die  verhangnisvolle  Annahe- 
rung  an  katholische  Formen  bekunden.  Die  Sakramente 
werden  in  unevangelischer  Weise  vom  Wort  getrennt  und 
ihnen  neben  diesem  ein  besondrer  geheimnisvoller  Wert 
beigelegt.  Der  Puritanismus  des  Protestantismus  wird 
durch  Redensarten  wie  ,,die  heiligen  Grefafie"  und  viele 
ahnliche  sowie  durch  eine  Art  von  Heiligkeit,  die  man 
gottesdienstlichen  Dingen,  Formen  und  Zeiten  beizulegen 
anfangt,  groblich  verletzt.  Schilderungen  von  Kirchen- 
visitationen  und  andern  kirchlichen  Feiern  werden  in  einem 
Tone  gegeben,  als  handle  es  sich  um  hierarchische  Veran- 
staltungen.  Der  geistliche  Stand  wird  in  bedenklicher 
Weise  aus  den  iibrigen  christlichen  Standen  herausgehoben. 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    n.  10 


146  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  V. 

Die  in  jedem  geordneten  Kirchenwesen  nnvermeidliclie  Auf- 
sicht  und  Kontrolle  und  die  Abstufungen  kirchlicher  Amter 
erscheinen  mit  einem  Schimmer  des  Heiligen  umflossen. 
Von  den  G-eneralsuperintendenten  redet  man  gern  als  von 
,,0berhirten"  und  mochte  sie  in  dem  Grlanze  und  derWiirde 
katholischer  Bischofe  sehen;  ihr  6ffentlich.es  Auffcreten  wird 
beschrieben,  als  kame  der  Bote  G-ottes  zu  den  Gemeinden, 
und  an  ihren  Grabern  ist,  wie  Zeitungen  versichern,  schon 
gebetet  worden:  ,,Erhore  uns  um  Deines  Knechtes  willen." 
Wie  schwer  haben  es  diese  Manner,  der  unevangelischen 
Auffassung  entgegenzutreten ,  die  sick  an  ihr  Amt  heftet, 
und  welches  voile  MaB  katholischer  Geliiste  wird  unter  dem 
Titel  ,,Selbstandigkeit  der  Eorche"  zum  Ausdruck  gebracht! 
Vom  Kirchenregimente  —  gewifi  dem  schwersten  Amte, 
das  es  heute  gibt  —  wird  verlangt,  dafi  es  iiberall  ein- 
greife,  iiberall  Verordnungen  erlasse,  nichts  werden  und 
wachsen,  nichts  kommen  und  vergehen  lasse,  sondern  statt 
Greduld,  Unparteilichkeit  und  indirekte  Pflege  zu  iiben, 
vielmehr  das  Polizeiamt  sei,  das  in  den  kirchlichen  Tages- 
streitigkeiten  von  den  Majoritaten  dieWeisungen  empfangt. 
Aber  nicht  nur  in  diesen  bedenklichen  Entwicklungen 
zeigt  sich  die  Umbildung  des  alien  Protestantismus  in  eine 
neue  Form,  sondern  auch.  in  erfreulichen  Erscheinungen. 
Doch.  lafit  sich  auch  hier  von  einer  Katholisierung ,  d.  h. 
Verallgemeinerung  und  Politisierung  der  evangelischen  Kir- 
chen  sprechen.  Einst  war  der  Protestantismus  Predigt- 
kirche  und  Katechismusschule,  nichts  mehr;  denn  wdas 
Wort  allein  mufi  es  tun"  wie  viel  reicher,  wie  viel 
komplizierter  sind  seine  Lebensformen  nun  ge worden!  Ein 
bluhendes  Vereinsleben  auf  evangelischer  Grundlage  hat 
sich  ausgestaltet.  In  segensreicher  Weise  wirken  Diako- 
nissinnen  und  Diakonen,  Stadtmissionare,  Sonntagsschul- 
lehrer  und  -Lehrerinnen,  kurz  die  Verkiindigung  des  Worts 
und  die  Praxis  der  Religion  hat  sich  die  verschiedensten, 
abgestuften  Organe  geschaffen.  Auch  die  religiosen  Ver- 


Zur  gegenwartigen  Lage  des  Protestantismus.  147 

sammlungen  selbst  haben  sehr  mannigfaltige  Formen  an- 
genommen  in  freien  Erbauungsversammlungen  und  bis  zur 
aufiersten  Grenze  der  ,,Familienabendeu.  In  alle  mensch- 
lichen  Berufsverhaltnisse  und  Korporationen  dringt  die  Re 
ligion  ein  und  schafft  in  ihnen  christliche  Gemeinschaft 
und  christlich-sittlichen  Halt.  Auf  die  Fiille  der  Fragen, 
die  man  die  soziale  Frage  nennt,  werden  die  Kirchen  auf- 
merksam  und  suchen  an  ihrem  Teile  der  Not  und  dem 
Elend  zu  steuern.  Welch  ein  andres  Bild,  wenn  man  den 
Protestantismus,  wie  er  vor  dreihundert  Jahren  bestand, 
mit  dem  Protestantismus  der  Gegenwart  vergleicht! 

In  alien  diesen  Momenten  zusammen  stellt  sich  das 
dar,  was  man  die  Katholisierung  des  Protestantismus  nennen 
darf,  und  wir  sind  ein  jeder  in  irgend  welchem  Mafie  von 
dieser  Umbildung  affiziert.  Aber  das  eben  ist  das  Kritische 
unsrer  Tage,  dafi  die  alte,  enge,  doktrinare  Form  des  Pro 
testantismus  verschwindet,  dafi  das  alte  Verhaltnis  von 
Theologie  und  Kirche  nicht  mehr  besteht,  dafi  die  E/eligions- 
padagogie  der  altern  Zeit  sich.  als  unzureichend  erwiesen 
hat,  dafi  sich  also  mit  Recht  etwas  Neues  in  Erweiterung, 
Umbildung  und  Konsolidierung  durchsetzt,  wahrend  die 
klare  Einsicht  in  die  Lebensbedingungen  des  Protestantis 
mus  im  Schwinden  begriffen  ist.  Fehlt  aber  dieses  Kor- 
rektiv,  so  kann  es  nicht  ausbleiben,  dafi  wir  eine  Doublette 
zum  Katholizismus  werden.  Das  kann  dann  noch  immer 
eine  Kirche  sein,  die  Grofies  zuwege  bringt  und  Seelen 
trostet  und  starkt;  aber  der  Geist  des  evangelischen  Glau- 
bens  und  der  Freiheit  wird  aus  ihr  entschwunden  sein. 

V. 

Ein  aufgeklarter  franzosischer  Katholik  hat  vor  ein 
paar  Jahren  in  der  Revue  des  deux  mondes  einen  merk- 
wiirdigen  Aufsatz  geschrieben.  Ich  will  einige  Ausfuhrungen 
aus  ihm,  verbunden  mit  verwandten  Gedanken,  wie  ich  sie 

im  Gedachtnis  habe,   mitteilen:   ,,Frankreich  ist  das  ortho- 

10* 


148  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  V. 

doxeste  Land;  denn  es  1st  das  religios  indifferenteste  Land. 
Der  Kathohzismus ,  wie  er  1st,  1st"  uns  aber  gerade  recht. 
Eine  weitschichtige  Religion  von  Mythen,  Superstitionen, 
Absurditaten  und  wiederum  voll  tiefsinniger  Gredanken, 
sinnvoller  Riten,  reichbliihender  Symbolik  mit  alien  kiinst- 
lerischen  Reizen  im  Bunde  und  doch  asketisch,  alien  Stim- 
mungen  entgegenkommend ,  jeden  Ring  der  Greschichte  in 
seinem  machtigen  Stamme  bewahrend.  Zweifel  und  seelen- 
qualende  Fragen  gibt  es  nicht,  nnd  wo  sie  aufbauchen,  ist 
die  Autoritat  sofort  zur  Stelle.  Niemandem,  am  wenigsten 
einem  gebildeten  Laien  wird  aber  zugemutet,  sich  dieses 
imgehenre  System  „  Religion"  geistig  und  glaubig  anzu- 
eignen.  Vielmehr  sind  alle  Stellungen  zu  ihm  und  in  ihm 
moglich  und  ertraglich,  und  selbst  der  Spotter  bemerkt 
noch  eine  Seite,  vor  der  sein  Spott  stille  halt.  Also  findet 
nier  jede  Individualitat  ihre  Rechnung;  anders  lebt  sich. 
die  Frau  hier  ein,  anders  der  Mann,  anders  der  Grlaubige, 
anders  der  Freigeist:  er  respektiert  und  er  lachelt.  Die 
Priester  allein  sind  beauftragt,  das  Ganze  in  Kraft  zu  er- 
halten;  das  konnen  sie  natiirlich  nur,  wenn  sie  schon  friih- 
zeitig  in  dies  System  eingefuhrt  und  gegen  die  moderne 
Bildung,  namentlich  gegen  die  Wissenschaft,  abgesperrt 
werden.  Die  seminaristische  Erziehung  ist  daher  durchaus 
am  Platze.  Nur  keine  verstandige  Religion;  denn  diese 
wird  sofort  zudringlich  und  sucht  sich  der  Kopfe  und  der 
G-ewissen  zu  bemachtigen!  So  steht  es,  sagt  der  Katholik, 
mit  dem  Protestantismus ;  er  ist  eng,  borniert,  anmafiend 
und  zudringlich.  Er  verlangt,  dafi  alle  dasselbe  glauben, 
und  dafi  sie  alles  wirklich  innerlich  glauben,  was  die  Kirche 
glaubt,  und  ihre  ganze  Weltanschauung  und  Lebensordnung 
darnach  richten.  Darum  ist  er  auch  zersplittert  und  poli- 
tisch  machtlos,  ein  Schlupfwinkel  fur  verschrobne  und  enge 
Kopfe.  Wie  groB,  wie  universal,  wie  elastisch  ist  dem 
gegeniiber  der  Katholizismus!" 

Das  Bildj  das  hier  vom  Katholizismus  entworfen  wird, 


Zur  gegenwartigen  Lage  des  Protestantismus.  149 

ist  das  Bild,  das  uns  droht!  Aber  sollen  wir  nicht  auf 
diese  drohende  Entwicklung  eingehen?  Sollen  wir  nicht 
einen  Strich  unter  unsre  Privatmeinungen  und  unsre  Theo- 
logie  machen  und  uns  in  der  unter  der  Hand  sich  neu- 
bildenden  Kirche  so  einrichten,  wie  sich  Origenes  in  der 
Kirche  des  dritten  Jahrhunderts  eingerichtet  hat  —  in 
dieser  Kirche,  die,  wie  es  scheint,  unabwendbar  kommt,  an 
deren  Herstellung  die  Majoritaten,  die  Zeitungen,  die  In- 
diiferenten  so  zielsicher  arbeiten?  Und  teilen  wir  nicht 
selbst  ihre  Voraussetzungen?  Haben  nicht  auch  wir  mit 
dem  Intellektualismus  in  der  Religion  gebrochen?  Wiin- 
schen  nicht  auch  wir,  daft  die  Religion,  ungehemmt  durch 
lastende  Doktrinen,  elastisch  und  frei  auf  alle  die  kompli- 
zierten  Zustande  und  Stimmungen  des  Lebens  eingehe?  Er- 
kennen  nicht  auch  wir  an,  dafi  der  alte  Protestantismus  eng 
und  sprode  war?  Also  warum  zogern?  Finden  wir  uns  viel- 
mehr  mit  dieser  Kirche  durch  Unterwerfung ,  durch  Fides 
implicita  ab  —  in  einem  Willensentschlufi  ist  es  geschehen 
—  und  eilen  wir  dann  unsern  Briidern  in  die  Arme,  um 
die  Streitaxt  zu  begraben  und  friedlich  und  wetteifernd 
mit  ihnen  die  Kirche  zu  bauen!  Die  Menschen  sind  nun 
einmal  in  Grlauben  und  Lehre  nicht  unter  eine  Formel  zu 
bringen;  also  moge  der  Kliigere  nachgeben  und  so  fort, 
bis  die  handfestesten  Bekenntnisse  allein  das  Feld  behaupten. 
"Wer  eine  grofie  Kirche  will,  muB  sich  ihrer  Natur  und 
Montur  anbequemen.  Die  Verniinftigen ,  G-eistigen  und 
Innerlichen  sind  immer  nur  eine  unscheinbare  Sekte  in  der 
Kirche  gewesen!  Sie  mogen  ihre  G-edanken  unter  Hullen 
produzieren!  Es  gibt  hundert  verschiedne  Weisen,  um  sich 
mit  einer  gegebnen  Formel  elastisch  auseinanderzusetzen, 
und  ebensoviele  Mittel,  um  eine  erkannte  Wahrheit  zu  ver- 
schleiern!  Und  ist  die  Wahrheit  unter  dem  Schleier  nicht 
besonders  reizvoll?  Man  hebt  den  Schleier,  deutet  an,  und 
senkt  ihn  wieder!  Und  lafit  sich  das  Letzte  in  der  Reli 
gion  iiberhaupt  in  Worte  fassen?  Wenn  nicht  —  warum 


150  Z  welter  Band,  erste  Abteilung.     Beden:  "V". 

soil  man  sich  niclit  "Worte  gefallen  lassen,  und  warum  soil 
naan  nicht  schweigen? 

Wirklich  —  das  1st  verlockend!  Welchen  Denkenden 
und  Sorgenvollen  hat  diese  Versuchung  nicht  schon  ge- 
packt.  Aber  es  ist  die  Versuchung;  denn  so  wird  der  Pro- 
testantismus ,  das  Evangelium  und  die  "Wahrheit  preis- 
gegeben.  Cringe  unmerklich  die  Entwicklung  so  weiter, 
und  wiirden  wir  einfach  ihr  gegeniiber  kapitulieren ,  so 
wiirde  sich  aus  der  Konsolidierung  des  Protestantismus  ein 
z weiter  Katholizismus  bilden,  nur  diirftiger  und  religios 
minder  ernst  als  der  erste;  denn  —  der  romische  Katho 
lizismus  hat  den  Papst  und  er  hat  die  Heiligen  und  Monche. 
Die  werden  wir  nicht  bekommen.  In  der  monchischen 
Tendenz  auf  die  Heiligenbildung ,  in  dieser  hingebenden, 
weltfluchtigen  Frommigkeit  liegt  im  Katholizismus  ein  un- 
geheurer  religioser  Antrieb  und  ein  Korrektiv  gegeniiber 
der  verweltlichten,  komplizierten  Kirche,  das  wir  nicht  be- 
sitzen.  Und  im  Papsttum  liegt  die  Kraft  der  Anpassung 
an  die  Zeitlage,  die  personliche  Autoritat  gegeniiber  der 
Autoritat  des  Buchstabens,  die  Konservierung  des  Ge- 
dankens,  wenn  auch  in  politischer  Umformung  und  Ver- 
zerrung,  dafi  die  Kirche  Grottes  letztlich  nicht  von  einer 
Tradition  regiert  werden  darf,  sondern  von  lebendigen,  vom 
Greiste  G-ottes  bewegten  Menschen.  Aber  im  Protestantis 
mus,  wenn  er  dauernd  auf  die  Linie  des  Katholizismus  ge- 
riete,  waren  diese  Grrofien  nicht  mehr  zu  erreichen;  denn 
sie  sind  durch  seine  Voraussetzungen  ausgeschlossen.  Das 
bleibt  in  ihm,  mag  er  auch  noch  so  tiefgreifende  Wand- 
lungen  erleben,  unveranderlich  bestehen,  dafi  er  Giaubige 
und  nicht  Heilige  erziehen  will,  und  dafi  er  somit  die  Aus- 
gestaltung  des  aufiern  und  innern  Lebens  in  der  Form  as- 
ketischer  Frommigkeit  den  Einzelnen  iiberlaflt.  Zwar  ist 
auch  hier  in  dem  Grebiet  des  Protestantismus  ein  Wetter- 
leuchten  zu  bemerken,  das  katholische  Tendenzen  beleuchtet. 
Als  neuste  Erkenntnis  und  Weisheit  wird  uns  mitgeteilt, 


Zur  gegenwartigen  Lage  des  Protestantisnms.  151 

daft  die  originale  und  klassische  Form  der  Religion  stets 
die  Ekstase,  die  Vision  und  die  asketische  Vita  coelestis  sein 
und  bleiben  mufi.  Diese  Annalime  fiihrt  direkt  auf  die 
katholische  Spur,  daft  die  ,,Heiligen"  die  eigentlichen  Re- 
ligiosi  sind,  an  die  die  G-laubigen  als  Religiosi  zweiter  Ord- 
nung  sich  anlehnen.  Sie  verwirft  die  protestantische  Uber- 
zeugung,  dafi  uberall  der  Grlaube  vorangeht,  dafi  er  das 
Granze  ist,  und  dafi  er  selbstandige  und  freie  G-otteskinder 
in  mannigfaltiger  Auspragung  schafft.  Aber  wir  diirfen 
diese  atavistische  Betrachtung  der  Religion,  aus  der  wir 
freilich  Beherzigenswertes  lernen  konnen,  beiseite  lassen, 
sie  wird  im  Protestantismus  nicht  zur  Herrschaft  kommen, 
und  sie  wird  die  Uberzeugung  nicht  verdrangen  konnen, 
daB  eine  Religion  um  so  holier  steht,  je  ruhiger,  freudigcr 
und  friedvoller  sie  den  ganzen  Menschen  durchdringt. 

VI. 

Es  sind  bedenkliche  und  sorgen voile  Ausblicke,  die 
wir  bisher  eroffnet  haben.  Aber,  Grott  sei  Dank,  noch  gibt 
es  ein  Gregengewicht,  noch  gibt  es  Krafte  in  unsern  evan- 
gelischen  Landeskirchen,  die  einer  unprotestantischen  Kon- 
solidierung  entgegenarbeiten.  Sie  werden  langst  erwartet 
haben,  dafi  ich  sie  nenne;  denn  sie  stehen  Ihnen  vor  der 
Seele.  Es  sind  zwei  Elemente,  die  noch  im  ganzen  Grebiet 
des  Protestantismus  lebendig  sind.  Das  eine  —  es  wurde 
eben  angedeutet  —  ist  die  Uberzeugung,  daB  die  Religion 
letztlich  nichts  andres  ist  als  die  stetige  Stimmung  des 
Herzens  im  kindlichen  Vertrauen  auf  Grott,  jene  feste,  freu- 
dige  Zuversicht  zu  Grott,  wie  sie  Paul  G-erhardt  in  seinem 
Liede  wlst  G-ott  fur  mich,  so  trete  gleich  alles  wider  mich" 
ausgesprochen  hat.  Das  andre  ist,  daU  dieses  Kindesver- 
trauen  untrennbar  verbunden  ist  mit  der  schlichten,  ein- 
fachen  Moral,  dafi  das  sittliche  Leben  mit  seinem  ganzen 
heiligen  Ernst  das  Korrelat  zur  Religion  ist,  ohne  das  sie 
Abgotterei  und  Seelentauschung  wird.  Diese  tJberzeugungen 


152  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  V. 

—  in  den  Seligpreisungen  der  Bergpredigt  sind  sie  zu- 
sammengefafit  —  sind  die  starke  Kraft  des  Protestantis- 
mus  nnd  sein  verborgner  Schatz.  Wie  sie  ohne  Frage  sein 
Wesen  innerhalb  des  gemein  Christlichen  begriinden,  so 
sind  sie  zugleich  der  wesentliche  Inhalt  des  Evangeliums 
selbst;  denii  man  mag  noch  so  viel  an  den  Worten  Jesu 
Christi  herumforschen  und  sie  mit  zeitgeschichtlichen,  apo- 
kalyptischen  und  asketischen  Gfedanken  zusammenhalten, 
man  wird  doch  schliefilich  wieder  bei  der  alten  kirchlichen 
Einsieht  anlangen,  dafl  das  Wesen  des  Evangeliums  niclit 
in  diesen  Nebendingen  zu  suchen  ist,  sondern  in  der  Ver- 
kundigung  der  Kinds chaft  und  der  Siindenvergebung  und 
in  dem  heiligen  Ernst,  mit  dem  das  Sittengesetz  hier 
aus  irreligiosen  Verbildungen  herausgefuhrt  und  dem  Ge- 
wissen  eingepragt  ist. 

Aber  ich  kann  von  diesen  hohen  Dingen  niclit  reden, 
ohne  einen  Ehrenkranz  des  innigen  Dankes  auf  das  Grab 
Albreclit  Ritschls  zu  legen.  Er  hat  die  Grrundgedanken 
des  Evangeliums  und  der  Reformation  kraftig  und  klar  er- 
fafit  und  aus  den  romantischen ,  kirchenpolitischen,  philo- 
sophischen  und  mystischen  Verklitterungen  und  Banden  her 
ausgefuhrt.  Er  hat  nichts  neues  entdeckt,  und  andre  mogen 
andern  zu  Dank  verpnichtet  sein,  aber  die  grofie  Mehrzahl 
derer,  die  in  diesem  Saale  versammelt  sind,  verdanken  ihm 
die  christliche  Zuversicht  und  Freudigkeit.  Das  soil  ihm 
bei  uns  nie  vergessen  sein! 

Die  beiden  Grundelemente  christlicher  Religion,  die  ich 
eben  genannt,  leben  aber  noch  in  unsern  protestantischen 
Landeskirchen;  sie  leben  auch  im  Herzen  unsrer  evan- 
gelischen  Briider,  mit  denen  wir  als  Theologen  zu  kampfen 
gezwungen  sind;  darum  war  es  eine  pessimistische,  ein- 
seitige  Betrachtung,  die  uns  am  Protestantismus  zu  ver- 
zweifeln  antrieb.  Nein  —  wir  bleiben  auch  in  diesen  kriti- 
schen  Zeitlaufen  treu  bei  seiner  Fahne ;  wir  bleiben  in  unsern 
Landeskirchen  und  kampfen  in  unsrer  Kirche,  die  ihr  Erb- 


Zur  gegenwartigen  Lage  des  Protestantismus.  153 

gut  nicht  verloren  hat,  fur  die  Kirche,  damit  sie  ihre  Krone 
behalte,  damit  sie  innerhalb  der  Konsolidierung,  Verbreite- 
rung  und  Politisierung ,  die  sie  in  unsrer  Epoche  erlebt, 
nicht  ein  heilig-weltliches  Institut  werde,  damit  sie  eine 
Kirche  des  Glaubens,  der  Freiheit  und  der  Q-eduld  bleibe. 
Wir  sind  nicht  in  der  Lage,  sie  zu  leiten;  aber  wir  konnen 
ein  Gegengewicht  ausiiben,  und  weil  wir  es  konnen,  ist  es 
unsre  heilige  Pflicht,  der  wir  nicht  entsagen  diirfen.  Ver- 
gessen  wir  auch  nicht,  dafi  der  Protestantismus  in  jeder 
Epoche,  die  er  durchlebt,  unter  den  schwersten  inneren 
Grefahren  gestanden  hat:  einen  begrifflich  reinen  Protestan 
tismus  hat  es  niemals  gegeben.  "Wir  kampfen  also  nur; 
wie  unsre  Vater  auch  gekampft  haben. 

vn. 

Was  aber  ist  uns  not?  Was  kann  geschehen?  Ich  will 
drei  Fragen  aufwerfen  und  sie  kurz  zu  beantworten  ver- 
suchen. 

1.  Wenn  der  Intellektualismus  des  alten  Protestantis 
mus  gebrochen  ist  und  sich  unsre  Landeskirchen  auf  brei- 
terer  Grundlage  konsolidieren  —  wie  fassen  wir  den  evan- 
gelisch-protestantischen  Grlauben?  G-ewiB,  es  ist  moglich, 
eine  Zeit  lang  eine  Gresinnungsgemeinschaft  zu  bilden  ohne 
eine  Bekenntnisgemeinschaffc,  eine  Gesinnungsgemeinschaft, 
die  feste  Prinzipien  hat  und  sie  durch  die  Tat  bewahrt. 
Aber  die  Aufgabe,  den  vorhandnen  evangelischen  Bekennt- 
nissen  ein  Bekenntnis  hinzuzufiigen ,  das  die  wesenthchen 
Punkte  des  Heilsglaubens  als  Norm  des  kirchlichen  Amts 
und  der  Kirchenleitung  enthalt,  darf  nur  aufgeschoben, 
nicht  aufgehoben  werden;  denn  eine  solche  feste  Form  ist 
ein  der  Kirche  unentbehrliches  Schutz-  und  Kampfmittel. 
Auch  kann  sich  ein  solches  Bekenntnis  nicht  ohne  ent- 
schiedne  Auseinandersetzung  mit  der  Zeitbildung,  mit  den 
Erkenntnissen  in  Natur  und  Geschichte  entwickeln,  als  ein 
kurzer  Inbegriff  der  Grlaubenslehre,  deren  eigentliche  Auf- 


154  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  V. 

gabe  immer  darin  bestehen  wird,  auch  Apologetik  zu  sein. 
Die  Forderung  eines  undogmatisclien  Christentums  und  die 
Behauptung,  man  konne  die  Selbstandigkeit  der  Religion 
dadurch  am  besten  betatigen,  dafi  man  die  andern  Greistes- 
gebiete  sich  selbst  uberlaJ3t,  ist  verfehlt.  Das  Moralische 
freilich  braucht  man  nicht  erst  zu  formulieren,  denn  das 
versteht  sich,  Gott  sei  Dank,  im  Protestantismus  immer  von 
selbst.  Unsre  alten  Bekenntnisse  haben  also  ganz  recht, 
wenn  sie  das  eigentliche  Wesen  der  christlichen  Religion, 
d.  h.  den  Glauben  an  Q-ott  und  an  Jesus  Christus,  den  Sohn 
Grottes,  im  Bekenntnis  zum  Ausdruck  gebracht  haben.  Auf 
ihren  Spuren  haben  wir  uns  zu  halten;  aber  einfach  bei 
ihnen  beruhigen  konnen  wir  uns  nicht;  denn  wir  sind  durch 
eine  verwickelte  Geschichte  von  ihnen  getrennt,  und  nie- 
mand  unter  uns  kann  sich  einfach  in  die  Situation,  die 
Vorbedingungen,  den  Erkenntnisstand  zuriickversetzen,  aus 
dem  sie  entstaminen.  Darum  konnen  sie  heute  in  der  Kirche 
gar  nicht  mehr  scharf  und  bestimmt  in  Wirksamkeit  ge- 
setzt  werden;  Abstriche  und  Abmilderungen  miissen  viel- 
mehr  iiberall  gemacht  werden.  Dieser  Zustand  mufi  ein- 
mal  aufhoren;  sonst  droht  die  Q-eschichte  der  protestan- 
tischen  Kirchen  in  unberechenbare  Zufalle  zu  versinken 
und  der  arbitraren  Leitung  der  Majoritaten  zu  verf alien. 
Mag  auch  die  heutige  Zeit  nach  menschlichem  Ermessen 
fur  eine  Bekenntnisbildung  so  ungeeignet  wie  moglich  sein, 
mogen  die  auch  Spott  und  Hohn  ernten,  die  diese  Forde 
rung  stellen  —  die  Aufgabe,  den  alten  evangelischen  Grlau 
ben  neu,  schlicht  und  klar  in  der  Sprache  der  Q-egenwart 
auszusprechen,  durfen  wir  nicht  preisgeben.  Je  breiter  und 
fester  sich  die  Landeskirche  konsolidiert,  um  so  notwen- 
diger  ist  es,  ihre  evangelisch-protestantische  Eigenart  in 
einem  Bekenntnis  der  Gregenwart  zum  Ausdruck  zu  bringen; 
denn  die  evangelischen  Kirchen  sind  die  Kirchen  des  Worts, 
des  Grlaubens  und  der  innerlichen  Zustimmung.  Und  in 
diesem  Sinne  miissen  wir  wiinschen,  dafi  das  altprotestan- 


Die  gegenwartige  Lage  des  Protestantismus.  155 

tische  Verhaltnis  von  Theologie  und  Kirche  nicht  hinfalle. 
Die  Theologie  mufl  eine  Fiihrerin  der  Kirclie  bleiben:  derm 
ihre  Hauptaufgabe  —  wenn  sie  auch  eine  geschichtliche 
Wissenschaft  geworden  ist  —  kann  doch  nur  die  sein,  das 
Bild  der  Personlichkeit  Jesu  Christi,  des  Herrn  und  Hei- 
landes,  sicherer  zu  erfassen  und  darzustellen. 

2.  Wenn  der  Intellektualismus  des  alien  Protestantis 
mus  gebrochen  ist  und  sich  unsre  Landeskirchen  auf  brei- 
terer  Grundlage  konsolidieren  —  wie  erzielien  wir  uns 
selbst  und  unser  Volk  in  der  Religion?  "Wir  haben  die 
tiberlieferung  durch  die  alte  Glaubenslehre  zu  erzielien, 
und  gewifl  —  wir  wollen  die  Schatze,  die  in  ihr  liegen, 
fleifiig  brauchen.  Wir  wollen  auch  nicht  vergessen,  dafi 
alles,  was  wachst,  in  Binden  wachst,  und  dafi  wir  uberall 
an  die  Vergangenheit  anzukniipfen  haben.  Aber  auf  ein 
Doppeltes  glaube  ich  doch  besonders  hinweisen  zu  miissen. 
Wir  sind  nicht  elastisch  genug  in  der  Ausbeutung  und 
Verwertung  der  modernen  Gedankenschatze  zu  gunsten  der 
religiosen  Erziehung.  Wie  sehr  ist  uns  hier  das  Christen- 
tum  in  England  voraus!  Welch  ein  breiter  und  tiefer 
Strom  religioser  Gredanken  durchzieht  dort  die  Literatur, 
und  umgekehrt,  wie  energisch  und  umfassend  nimmt  dort 
die  Religion  Anteil  an  alien  Bewegungen  des  Greistes!  Bei 
uns  dagegen  sind  nur  bescheidene  Anfange  in  dieser  Hin- 
sicht  vorhanden,  und  wo  die  Religion  Fiihlung  sucht  mit 
der  Literatur,  da  geschieht  es  in  der  Regel  noch  immer 
in  einer  kindlichen  Weise.  Und  doch  —  welche  Schatze 
birgt  auch  unsre  Literatur,  und  gerade  die  klassische,  die 
zur  Vertiefung  und  Verteidigung  des  religiosen  Sinns  dienen 
konnen.  Ich  weise  nur  auf  Goethe  hin,  z.  B.  auf  seine 
G-esprache  mit  Eckermann,  seine  J5Maximen  und  Reflexionen" 
und  vieles  ahnliche.  Wir  konnen  nicht  erwarten,  dafi 
unser  Glaube  eine  Macht  in  dem  geistigen  Leben  unsers 
Volks  wird,  wenn  wir  nicht  zu  zeigen  vermogen,  dafi  sich 
in  ihm  die  tiefsten  Erkenntnisse  des  Menschenlebens  und 


156  Z  welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  V. 

der  G-eschichte  zusammenschliefien  und  durch  ihn  Kraft 
und  Weihe  erhalten.  Aber  nach  einer  andern  Seite  hin 
bedarf  unsre  religiose  Erziehung  einer  Erganzung.  Den 
Satz  unsers  Katechismus  verstehen  lernen:  ,,Wo  Vergebung 
der  Siinden  ist,  da  1st  auch  Leben  und  Seligkeit",  ist  das 
Ziel  alles  christlichen  Unterrichts ;  aber  ich  meine  nicht  zu 
irren,  wenn  ich  behaupte:  dafl  der  evangelische  Grlaube 
(eben  weil  er  Glaube  an  die  Stindenvergebung  ist)  freudige, 
mutige  und  selbstandige  Personlichkeiten  schafft,  das 
mufi  gezeigt  werden.  Und  damit  im  Zusammenhang  gilt 
auch  hier  —  wir  miissen  elastischer  und  reicher  werden! 
Wie  viele  Typen  religiosen  Lebens  und  christlicher  Eigen- 
art  hat  der  mittelalterliche  Katholizismus  erzeugt  und 
ertragen.  Suchen  wir  doch  in  dieser  Beziehung  auf  evan- 
gelischem  Boden  ihn  nachzuahmen.  Unsre  Zeit  bedarf 
wahrlich  nicht  einformige  Institute,  sondern  erweckte,  ge- 
schlossene  und  selbstandige  Personlichkeiten  in  mannig- 
faltigster  Auspragung.  Eben  deshalb  habe  ich  die  Nau- 
mannsche  Bewegung  freudig  begriiOt,  weil  sie  mir  ein 
Zeichen  zu  sein  scheint,  dafi  auf  positiver  christlicher 
Grrundlage  freie  und  selbststandige  Personlichkeiten  ein 
groGes  Werk  unternehmen.  Grewifi,  das  Evangelium  hat 
kein  gesetzliches  soziales  Programm;  aber  das  christliche 
Grewissen  in  bezug  auf  die  Not  und  das  Elend  der  Briider 
zu  gemeinschaffclicher  Hilfeleistung  verfeinert  sich,  und  diese 
Vertiefung  des  Grewissens  muC  der  christlichen  Charakter- 
bildung  zu  gute  kommen.  Endlich, 

3.  Wenn  der  Intellektualismus  des  alten  Protestantis- 
mus  gebrochen  ist  und  unsre  Landeskirchen  in  Gefahr 
stehen,  in  einen  falschen  Katholizismus  uberzugehen  —  wie 
fassen  wir  unsre  Stellung  in  diesen  Kirchen  auf?  Nach 
dem  Ausgefiihrten  habe  ich  dariiber  wenig  mehr  zu  sagen: 
es  gilt,  zu  bauen  und  Greduld  zu  iiben.  Weder  konnen 
wir  gegebne  Kirchen  leiten  noch  sprengen  noch  neue  stiften 
wollen.  In  diese  Landeskirchen  gehoren  wir  hinein;  hier 


Die  gegenwartige  Lage  des  Protestantismus.  157 

haben  wir  unsern  Beruf  empfangen,  mit  ihnen  wissen  wir 
uns  einig  in  den  Hauptstiicken  evangelischen  Grlaubens, 
und  in  ihnen  haben  wir  noch  immer  Spielraum  nnd  Frei- 
heit,  nach  nnserm  Grewissen  zu  leben  und  zu  wirken.  Die 
Kampfe  werden  nicht  ausbleiben,  sie  werden  heiCer  werden, 
aber  miide  niachen  sollen  uns  auch  die  Machtigsten  nicht, 
und  auch  nicht  unfreudig.  Impossibile  est,  ut  non  laetetur 
qui  sperat  in  Domino! 


ADOLF  HARNACK  .  REDEN  UND  AUFSATZE 
ZWEITER  BAND  .  ERSTE  ABTEILUNG 


REDEN:  VI 

DIE  AUFOABE  DEH  THEOLOaiSCHEN  FAKULTATEN 
UND  DIE  ALLGEMEINE  EELiaiONSG-ESOHKjHTE 

NEBST  EINEM  NACHWOET 


\ 

Rede 

zur  Gedachtnisfeier  des  Stifters  der  Berliner  Universitat  KOnig  Friedrich. 
"VVilhelms  III.  gehalten  in  der  Aula  derselben  am  3.  Aug.  1901. 

Erschienen  in  3.  Aufl.  1901   bei  Alfred  TOpelmann  (vormals  J.  Eickers 
Verlag)    in  GrieBen. 

Das  Naohwort  erschien  in  der  ,,Christl.  Welt"  1901  Nr.  47. 


,,Die  von  Euch  vorgetragene  Angelegenheit  wegen  Ein- 
richtung  einer  allgemeinen  und  hoheren  Lehranstalt  in 
Berlin  finde  Ich  fiir  hohere  Greistesbildung  im  Staate  so 
wichtig,  dafi  Ich.  die  Errichtung  einer  solchen  allgemeinen 
Lehranstalt  mit  dem  alten  hergebrachten  Namen  einer 
Universitat  nicht  verschieben  will."  Durch  diese  an  die 
Minister  gerichtete  Kabinetts-Ordre  vom  16.  August  1809 
hat  Friedrich  Wilhelm  III.  unsere  Hochschule  gegriindet. 
Aber  schon  zwei  Jahre  friiher  (4.  Sept.  1807)  hatte  der 
Konig  an  den  Kabinettsrat  Bey  me  geschrieben:  ,,Ich  habe 
beschlossen,  eine  allgemeine  Lehranstalt  in  Berlin  in  an- 
gemessener  Verbindung  mit  der  Akademie  der  Wissen- 
schaften  zu  errichten."  Die  Universitaten  Halle  und  Er- 
langen  waren  dem  Staate  genommen;  aber  die  grofien 
Manner  waren  ihm  geblieben,  und  er  trotzte  dem  Greschick, 
indem  er  die  Universitat  Berlin  schuf.  Niemals  wird  man 
aufhoren,  in  PreuGen  die  herrliche  Zeit  zu  preisen,  die  aus 
der  Not  einen  ganzen  Chor  von  Tugenden  geschaffen  hat, 
und  niemals  wird  man  des  Konigs  vergessen,  der  urn  sich 
einen  Greneralstab  versammelte,  wie  inn  Deutschland  noch 
nicht  gesehen  hatte,  einen  Humboldt  und  Stein,  Fichte 
und  Niebuhr,  Siivern  und  Schleiermacher. 

Vielleicht  ist  Ihnen  in  beiden  koniglichen  Erlassen  die 
Bezeichnung  ,,Allgemeine  Lehranstalt"  aufgefallen.  Nicht 
zufallig  war  sie  gewahlt.  In  den  zehn  Jahren  ihrer  Vor- 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    n.  H 


162  Zweiter  Band,  erste  Abteihing.    Eeden:  VI. 

geschichte  heiflt  unsere  Hoehschule  niemals  „  Universitat", 
sondern  stets  wAllgemeine  Lehranstalt".  Dieser  Name 
stammt  von  dem  Manne,  der  die  erste  Anregung  zn  ihrer 
Stiftung  gegeben  hat  —  von  En  gel  — ,  und  steht  in  einem 
gewissen  G-egensatz  zum  Begriff  der  Universitat.  „  Wurde 
in  Berlin",  sagt  Engel,  weine  grofle  Lehranstalt  errichtet, 
die  von  den  lacherlichen  Bocksbeuteleien  der  Universitaten 
frei  ware  und  doch  alle  Vorteile  derselben  gewahrte,  dann 
ware  Berlin  die  Hauptstadt  des  nordlichen,  vielleicht  des 
ganzen  Deutschlands ,  der  Mittelpnnkt  der  Nation.  Die 
Menschen  neigen  sich  wie  die  Pflanzen  unwillkiirlicli  da- 
hin,  woher  ihnen  das  Liclit  zustromt."  Keine  Universitat 
wiinschte  Engel,  sondern  etwas  ganz  Neues  —  was,  das  war 
freilich  schwieriger  zu  sagen;  an  die  Akademie  der  "Wissen- 
schaften  sollte  es  angelehnt  sein,  aber  doch  nur  angelehnt; 
die  Qenies  unter  den  dents chen  Schriftstellern  sollten  sich 
hier  sammeln,  aber  die  Anstalt  sollte  doch  nniitzlichertt 
werden  als  die  Universitaten.  Das  letztere  leuchtete  dem 
Konige  ein.  Auch  er  wollte  zunachst  keine  Universitat. 
Als  diese  Willensmeinung  bekannt  wurde,  regnete  es  Pro- 
jekte  von  Berufenen  und  Unberufenen.  Eousseausche  Ge- 
danken,  die  neue  Padagogik,  mehr  Freiheit  und  mehr 
Zwang  machten  sich  gleichzeitig  als  Forderungen  geltend. 
Am  kiihnsten  schritt  Fichte  in  seinem  ^Deduzierten  Plan 
einer  zu  Berlin  zu  errichtenden  hoheren  Lehranstalt"  vor. 
Auf  mehr  als  100  Druckseiten  entwickelte  er  Ideen,  die 
von  aller  padagogisch-gesehichtlichen  Uberlieferung  losge- 
lost  waren.  Das  Nationalinstitut,  welches  er  an  Stelle  der 
alten  Universitaten  setzen  wollte,  war  dazu  bestimmt,  den 
Kampf  der  Vernunftwissenschaft  wider  das  herrschende 
bose  Prinzip  zu  fuhren  und  auf  das  Universum  EinfLufi  zu 
gewinnen.  Aber  je  naher  die  Verwirklichung  der  Stiftung 
riickte,  um  so  mehr  kehrten  die  MaCgebenden  zur  alten 
Form  der  Universitat  zuruck.  Schleiermacher  und  Wolf 
hatten  in  Halle  ihren  bleibenden  Wert  schatzen  gelernt, 


Die  Aufgabe  der  theologisohen  Fakultaten.  163 

tmd  die  Humboldts  hatten  zu  viel  gescliiclitlichen  Sinn, 
um  ein  Experiment  zu  wagen.  Auch  die  alte  Einteilung 
in  Fakultaten  wurde  beibehalten.  Dafl  sie  schwere  Nach- 
teile  in  sich  schlofl,  wuflte  man.  Schon  jene  Manner  em- 
pfanden  wie  wir  und  erkannten,  dafl  wdie  wissenschaffcliche 
Entwicklung  unter  keinen  Fesseln  mehr  gelitten  hat,  als 
unter  denen,  in  die  sie  sich  selber  geschlagen  —  geschlagen 
durch  die  groflenteils  in  den  aufierlichen  Verhaltnissen  des 
akademischen  Unterrichts  begriindete  Scheidung  natiirlich 
zusammengehoriger  Disziplinen".  Aber  jene  Manner  glaub- 
ten,  durch  ein  inniges  Zusarn m enwirken  der  Mitglieder  der 
verschiedenen  Fakultaten  die  Nachteile  auf  heben  zu  konnen. 
In  der  Tat,  sie  haben  hier  GrroJJes  geleistet.  Wie  Schleier- 
macher  Theologie  und  Philosophie,  Niebuhr  und  Savigny 
Geschichte  und  Jurisprudenz,  Bockh  Philologie  und  Volks- 
wirtschaft  miteinander  verkniipft,  wie  dann  die  Briider 
Humboldt,  ein  jeder  in  seiner  Weise,  die  Fakultatszaune 
niedergerissen  und  die  Gteometrie  der  Facher  beseitigt  ha 
ben,  das  wurde  fur  diese  junge  Universitat  charakteristisch. 
Und  wir  durfen  sagen,  sie  hat  in  den  drei  Menschenaltern 
ihres  Daseins  eben  diesen  Charakter  bewahrt.  Alle  die 
groBen  Fortschritte  der  Wissenschaft,  deren  Vorbedingung 
auf  der  Verschmelzung  der  Disziplinen  beruht,  sind  ent- 
weder  hier  entstanden  oder  haben  doch  hier  ihre  besondere 
Pflege  gefunden.  Darf  ich  Sie  an  Bopps  Sprachwissen- 
schaft,  an  Humboldts  Kosmos,  an  Bitters  Geographie, 
an  Johannes  Miillers  Physiologie,  an  Q-erhards  Archao- 
logie  erinnern,  um  von  jenem  Vergangenen  zu  schweigen, 
das  fur  uns  noch  eine  begliickende  Gegenwart  ist. 

Die  alten  Fakultaten  wurden  beibehalten,  und  sie 
haben  sich  bis  heute  behauptet.  Selbst  unsere  philoso- 
phische  Fakultat,  an  Zahl  der  Lehrstuhle  die  einer  mitt- 
leren  Universitat  erreichend,  hat  jede  Teilung  abgelehnt. 
Es  mufi  doch  eine  innere  Vernunft  in  dieser  Fakultaten- 
gruppierung  stecken;  die  Uberlieferung  allein  und  die 

11* 


164  Zweiter  Band,  erste   Abteilung.     Reden:  VT. 

Praxis  erklaren  ihre  Zahigkeit  nicht.  Aber  gilt  dasselbe 
auch  von  dem  Umkreise  der  Aufgaben,  die  jeder  Fakultat 
zugewiesen  sind?  1st  hier  nicht  manches  Veraltete  und 
Riickstandige?  Die  theologische  Fakultat  hat  Grund,  sich 
diese  Frage  zn  stellen.  Werden  doch  ringsum  Stimmen 
laut,  die  ihr  Programm  for  zu  kurz  und  darum  fur  wissen- 
schaftlich  ungeniigend  erklaren:  nicht  als  Fakultat  fur 
christliche  Theologie,  sondern  nur  als  Fakultat  fur  allge- 
meine  Religionswissenschaft  und  -geschichte  habe  sie  ein 
Recht  auf  Existenz.  Nur  in  dem  Mafie  als  sie  gleichmaBig 
auf  alle  Religionen  eingehe,  konne  sie  die  eine  Religion 
wirklich  verstehen,  und  nur  so  konne  sie  Vorurteile  ab- 
streifen,  die  sonst  unbezwinglich  seien;  mindestens  aber  sei 
zu  fordern,  daB  bei  jeder  theologischen  Fakultat  ein  oder 
mehrere  Lehrstiihle  fiir  allgemeine  Religionsgeschichte  er- 
richtet  werden.  In  unserem  Nachbarlande  Holland  haben 
diese  Forderungen  bereits  zu  Umwalzungen  der  theolo 
gischen  Fakultaten  gefiihrt  bezw.  zu  ihrer  Auf hebung  durch 
den  Staat,  und  in  anderen  Landern  gart  es.  Bei  uns, 
wird  man  einwenden,  sei  die  Frage  nicht  brennend;  denn 
unsere  Hegierung  denke  nicht  daran,  hier  Anderungen 
eintreten  zu  lassen.  Allein  es  wiirde  der  Fakultat  iibel 
anstehen,  an  die  Stelle  ihres  wissenschaftlichen  Grewissens 
gleichsam  einen  staatlichen  Pafi  zu  setzen  und  in  dem 
sicheren  Besitz  desselben  die  Entscheidung  der  Frage  zu 
vertagen.  Ich  bitte  Sie  daher  um  Ihr  Gehor,  wenn  ich  es 
versuche,  das  ,,Fur"  und  7,Wider"  in  dieser  Frage  zu  er- 
ortern:  haben  bei  der  Stiftung  unserer  Hochschule  die 
maCgebenden  Manner  recht  daran  getan,  die  theologische 
Fakultat  wesentlich  auf  die  Erforschung  und  Darstellung 
der  christlichen  Religion  zu  beschranken,  oder  soil  sie  sich 
zu  einer  Fakultat  fur  allgemeine  Religionsgeschichte 
erweitern? 

Kein  Zweifel  —  die  abstrakte  Theorie  spricht  fiir  eine 
solche  Erweiterung.    1st  die  Religion  nicht  etwas  Zufalliges 


Die  Aufgabe  der  theologischen  Fakultaten.  165 

und.  daher  Yorubergehendes  in  der  Geschichte  der  Mensch- 
heit,  kommt  in  ihr  ein  elementares  Grundverhaltnis  zum 
Ausdruck ,  ohne  welches  der  Mensch  nicht  der  Mensch 
ware,  einerlei  ob  jeder  das  empfindet,  so  mufi  es  einen 
allgemeinen  Begriff  fur  sie  geben.  Dieser  allgemeine  Be 
griff  kann  gewifi  nicht  aus  den  einzelnen  Erscheinungen 
der  Religion  durch  eine  einfache  Abstraktion  gewonnen 
werden;  denn  sie  ist  wie  die  Moral  und  die  Kunst  ein 
Gegebenes  und  Werdendes  zugleich,  ihr  wahrer  Begriff  ein 
sich  enthiillendes  Ideal.  Aber  auch  zur  Erkenntnis  eines 
solchen  Begriffes  ist  eine  moglichst  vollstandige  Induktion 
der  Erscheinungen  wiinschenswert.  Man  rnufi  die  ganze 
Stufenleiter  der  Religion  iiberschauen,  man  mufi  die  Yer- 
bindungen  kennen  lernen,  in  die  sie  eintritt,  die  Yerhiil- 
lungen,  mit  denen  die  Yolker  und  die  Einzelnen  sie  um- 
geben  und  abstumpfen,  die  Reizmittel,  durch  welche  sie 
sie  zu  steigern  versuchen,  urn  zu  erfahren,  was  sie  wirklich 
ist.  Yon  hier  aus  erscheint  also  die  Forderung  sehr  be- 
rechtigt,  daB  die  Religionsgeschichte  in  ihrem  vollen  Um- 
fange  studiert  werde.  Die  Beschrankung  auf  eine  Religion 
scheint  eine  unstatthafte  Yerkiirzung  zu  sein. 

Aber  weiter,  nur  nach  einer  und  derselben  Methode 
konnen  die  Religionen  studiert  werden,  namlich  der  ge- 
schichtlichen ,  und  diese  lafit  sich  nicht  willkiirlich  be- 
schranken.  Wie  sie  jede  zeitliche  Grenze  iiberspringt,  die 
man  ihr  ziehen  will,  so  geht  sie  auch  unerbittlich  von 
einem  verwandten  Objekt  zum  anderen  uber.  Sie  kennt 
nur  Ketten,  nicht  isolierte  Glieder.  Und  mag  sie  auch 
iniierhalb  der  einzelnen  Erscheinung  auf  etwas  ganz  Singu- 
lares  stofien,  was  sich  der  entwicklungsgeschichtlichen  Ab- 
leitung  entzieht  -  -  um  so  strenger  ist  sie  verpflichtet,  in 
die  Breite  und  in  die  Tiefe  zu  gehen  und  ihren  ganzen 
Erwerb  einzusetzen.  Eine  besondere  Methode  aber,  nach 
welcher  die  christliche  Religion  zu  studieren  ist  im  Unter- 
schied  von  den  anderen,  kennen  wir  nicht.  Einst  kannte 


166  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  VI. 

man  eine  solche,  eine  Art  von  biblischer  nnd  philoso- 
phischer  Alchemie,  und  rechtfertigte  sie  mit  nicht  geringem 
Scharfsinn.  Aber  die  Folge  war,  dafl  man  sich  immer 
welter  von  der  reinen  Erkenntnis  des  Objekts  entfernte 
und  den  eignen  Q-eist  an  die  Stelle  der  Sache  setzte.  Die 
historische  Methode  allein  ist  konservativ;  denn  sie  sichert 
die  Ehrfurcht  —  nicht  vor  der  Uberliefemng,  sondern  vor 
den  Tatsachen  und  maclit  der  Willkiir  ein  Ende,  Blei  in 
Q-old  und  Q-old  in  Blei  verwandeln  zu  wollen. 

Endlich  aber,  auch  die  kirchliche  Praxis  scheint  die 
Erweiterung  der  theologischen  Fakultaten  zu  verlangen. 
G-ebieterischer  als  in  unseren  Tagen  ist  die  Forderung  der 
christlichen  Mission  seit  einem  Jahrtausend  nicht  aufge- 
treten.  Ich  denke  nicht  nur  an  den  vereinfachten  und 
ins  grofle  gesteigerten  Weltverkehr  mit  den  neuen  Pflich- 
ten,  die  er  auferlegt  —  die  Tatsache  kommt  vor  allem  in 
Betracht,  dafi  die  christlichen  Volker  sich  anschicken,  den 
Erdball  aufzuteilen ,  ja  beinahe  schon  aufgeteilt  haben. 
Ob  eine  dauernde  und  gehaltvolle  Zivilisation  ohne  die 
Predigt  des  Evangeliums  moglich  ist,  die  Frage  mag  man 
bejahen  oder  verneinen  —  gewiB  ist,  dafi  die  Volker, 
welche  die  Erde  jetzt  aui'teilen,  mit  der  christlichen  Zivili 
sation  stehen  und  fallen,  und  daB  die  Zukunft  keine  an- 
dere  neben  ihr  dulden  wird.  Damit  sind  den  Christen, 
den  Kirchen,  Aufgaben  gestellt  wie  nie  zuvor;  sie  werden 
sie  nur  zu  losen  vermogen,  wenn  sie  nicht  die  Zivilisation, 
sondern  das  Evangelium  verkiindigen;  aber  eine  unerlafl- 
liche  Vorbedingung  scheint  es  zu  sein,  daB  sie  die  Reli- 
gionen  der  fremden  Volker  griindlich  kennen  lernen. 
Sollen  da  die  theologischen  Fakultaten  nicht  ihre  Pforten 
offnen  und  sich  zu  religionsgeschichtlichen  Fakultaten  er- 
weitern? 

Man  sieht,  es  sind  starke  Griinde,  welche  fur  eine 
solche  Ausdehnung  sprechen,  und  doch  wage  ich  nicht,  sie 
zu  empfehlen.  Schwerwiegende  Bedenken  stehen  im  Wege. 


Die  Aufgabe  der  theologischen  Fakultaten.  167 

Erstlich  bedarf  es  nur  einer  kurzen  Erwagung,  run 
zu  erkennen,  dafl  das  Studium  jeder  einzelnen  Religion 
von  dem  Studium  der  gesamten  Q-eschichte  des  betref- 
fenden  Volkes  schlechterdings  nicht  losgelost  werden  darf. 
Zu  dieser  Q-eschichte  gehort  aber  vor  allem  die  Sprache 
des  Volkes,  sodann  seine  Literatur,  weiter  seine  sozialen 
und  politischen  Zustande.  Die  Religion  allein  studieren 
wollen,  ist  ein  noch  kindlicheres  Unterfangen  als  das,  statt 
der  ganzen  Pflanze  nur  die  Wurzel  oder  nur  die  Bliite  zu 
untersuchen.  Die  Sprache  ist  nicht  nur  die  Scheide,  dar- 
innen  das  Messer  des  Geistes  steckt;  sie  ist  viel  mehr  als 
die  Scheide,  zumal  in  bezug  auf  die  Religion.  Die  Reli 
gion  hat  zum  Teil  die  Sprache  geschaifen,  und  in  der 
Sprachgeschichte  spiegelt  sich  die  Religionsgeschichte.  Nur 
wer  jene  in  alien  ihren  Nuancen  kennt,  kann  versuchen, 
die  Religion  zu  entziffern.  Weiter  aber,  die  wirtschaft- 
lichen  Zustande  und  die  politischen  Erlebnisse  und  Insti- 
tutionen  eines  Volkes  sind  fur  die  Ausgestaltungen  seiner 
religiosen  Ideen  und  seines  Kultus  maflgebend.  Und  bleibt 
auch  die  Religion,  einmal  geschaffen  und  formiert,  stets 
hinter  dem  Fortschritt  der  Gesamtentwicklung  zuruck,  ist 
ein  Teil  der  offentlichen  Religion  somit  stets  nsuperstitio" 
und  bloCes  Ritual  —  so  kann  nur  umfassende  und  lang- 
jahrige  Forschung  entscheiden,  was  in  einem  gegebenen 
Moment  in  einer  bestimmten  Religion  wirklich  lebendig 
ist.  Wie  soil  man  nun  der  theologischen  Fakultat  zu- 
muten,  alle  diese  Studien,  d.  h.  nicht  weniger  als  die  ge- 
samte  Sprachwissenschaft  und  Geschichte,  in  ihre  Mitte 
aufzunehmen?  Weist  man  ihr  aber  nur  die  von  Sprache 
und  Q-eschichte  losgeloste  Religionsgeschichte  zu,  so  ver- 
urteilt  man  sie  zu  einem  heillosen  Dilettantismus.  Das 
Ergebnis  ware,  dafi  dieselbe  Aufgabe  in  der  philosophischen 
Fakultat  gut,  in  der  theologischen  Fakultat  aber  schlecht 
bearbeitet  wurde.  Zu  einer  solchen  Verdoppelung  kann 
doch  wohl  niemand  raten.  Auf  ihrem  eigenen  Grebiete 


168  Z  welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VI. 

aber,  namlich  dem  der  alttestamentliclien  und  der  christ- 
lichen  Religion,  verfahrt  die  Theologie  langst  nach  der 
aufgestellten  umfassenden  Forderung.  "Wie  sie  ihre  Auf- 
gaben  hier  im  engsten  Bunde  mit  hebraischer  und  grie- 
chischer  Philologie  gelost  hat  und  noch  lost,  wie  sie  andere 
Religionen  nach  Mafigabe  ihres  Einflusses  auf  die  alt- 
testamentliche  und  christliche  behutsam  herbeizieht,  wie  sie 
Religions-  und  Greschichtsforschung  in  fester  Verbindung 
halt,  darin  steht  sie  hinter  keiner  geschichtlichen  Disziplin 
zuriick;  ja  sie  hat  fur  die  ihr  verwandten  Disziplinen 
mustergiiltige  Leistungen  auf  ihrem  Grebiete  aufgestellt. 

Zweitens,  wohl  bleibt  es,  ideal  angesehen,  eine  Ver- 
kiirzung,  dafi  sich  die  theologische  Fakultat  auf  eine  Religion 
zuriickzieht,  aber  welche  Religion  ist  das?  Es  ist  die 
Religion,  deren  Eigentum  die  Bibel  ist,  deren  Geschichte 
einen  erkennbaren,  nirgendwo  unterbrochenen  Zeitraum 
von  nahezu  drei  Jahrtausenden  umfafit  und  die  noch  heute 
als  lebendige  Religion  studiert  werden  kann.  In  diesen 
drei  verbundenen  Merkmalen  erhebt  sie  sich  so  gewaltig 
iiber  alle  anderen  verwandten  Erscheinungen,  dafi  man  wohl 
das  "Wort  wagen  darf:  Wer  diese  Religion  nicht  kennt, 
kennt  keine,  und  wer  sie  saint  ihrer  Geschichte  kennt, 
kennt  alle.  Zunachst  —  sie  besitzt  die  Bibel.  Ich  miifite 
befurchten,  trivial  zu  werden,  wollte  ich  es  unternehmen, 
auch  nur  ein  Wort  zur  Charakteristik  derselben  hier  zu 
sagen.  Es  mufi  geniigen,  daran  zu  erinnern,  dafi  die  Bibel 
das  Buch  des  Altertums,  das  Buch  des  Mittelalters  und 
—  wenn  auch  nicht  auf  offentlichem  Markte  —  das  Buch 
der  Neuzeit  ist.  "Was  bedeutet  Homer,  was  die  Veden, 
was  der  Koran  neben  der  Bibel!  Und  sie  ist  unerschopf lich ; 
jede  Zeit  hat  ihr  noch  neue  Seiten  abzugewinnen  vermocht. 
Mit  Recht  heifit  daher  der  Doktor  der  Theologie  Doktor 
der  heiligen  Schrift:  auf  sie  konzentriert  sich,  urn  sie  grup- 
piert  sich  letztlich  alle  Arbeit  der  theologischen  Fakultaten. 
Und  so  oft  es  einem  einzelnen,  Laien  oder  Theologen,  ge- 


Die  Aufgabe  der  theologischen  Fakultaten.  169 

geben  war,  neu  und  voll  aus  ihr  zu  schopfen,  und  das  Ge- 
schopfte  den  anderen  darzubieten,  so  oft  1st  die  christliche 
Menschheit  in  ihrer  inneren  Greschichte  auf  eine  hohere 
Stufe  gehoben  worden.  Damit  ist  das  andere  beriihrt,  was 
ich  als  zweites  Merkmal  dieser  Religion  genannt  habe,  ihre 
zeitliche  Ausdehnung  und  Universalitat.  In  ihrer  Vorge- 
schichte,  der  alttestamentlichen  Stufe,  bedeckt  sie  einen 
Zeitraum  von  tausend  Jahren,  und  ihre  Greschichte  steht 
bereits  im  20.  Jahrhundert.  An  sich  bedeuten  die  grofien 
Zahlen  freilich  nicht  viel  —  Agypten,  Indien  und  China 
prasentieren  uns  grofiere,  von  der  Praehistorie  zu  schweigen. 
Aber  hier  fallt  der  Zeitraum  mit  dem  Zeitraum  zusammen, 
auf  den  das  Wort  „  Greschichte"  allein  anwendbar  ist,  und 
der  Schauplatz  dieser  Religionsgeschichte  ist  der  Schauplatz 
der  Geschichte  iiberhaupt.  So  zeigt  denn  bereits  die  alt- 
testamentliche  Religion  einen  auBeren  und  inneren  Kontakt 
mit  Babylonien  und  Assyrien,  mit  Agypten  und  Griechen- 
land,  d.  h.  mit  der  Universalgeschichte  der  alten  Welt,  und 
durchlauft  selbst  alle  Stufen  von  einem  naiven  barbarischen 
Volkskultus  bis  zu  der  Religion  der  Psalmisten.  Wer  diese 
Entwicklung  forschend,  entziffernd,  nachdenkend,  nach- 
erlebend  durchmifit,  der  braucht  kein  Vielerlei  •  von  Religi- 
onen  zu  studieren,  um  zu  wissen,  wie  es  in  der  Religion 
und  der  Religionsgeschichte  der  Menschheit  zugeht.  Er 
hat  an  diesem  Stoffe  einen  Ausschnitt,  der  ihm  die  Kennt- 
nis  der  Religionsgeschichte  in  ihrer  ganzen  Breite  nahezu 
ersetzt.  Ja  noch  mehr:  nicht  er  bedarf  der  anderen  Reli- 
gionshistoriker,  sondern  sie  bediirfen  seiner.  Die  alttestament- 
liche  Religionsgeschichte  bietet  den  Schllissel  zum  Ver- 
standnis  vieler  allgemeiner  religionsgeschichtlicher  Probleme, 
die  ohne  sie  ungelost  bleiben  mufiten.  Diese  Religionsge 
schichte  lafit  die  stummen  Trummerstucke  fremder  ver- 
gangener  Religionen  red  en  und  haucht  ihren  Bildwerken 
Leben  ein.  Und  doch  ist  dies  erst  die  Vorgeschichte.  Das 
Neue  Testament  und  das  Christentum  treten  nun  ein.  Wie 


170  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  VI. 

dieses  einerseits  als  der  Abschlufl  der  ganzen  bisherigen 
religionsgeschichtlichen  Entwicklung  erseheint  durch  eine 
ungeheure  Reduktion,  die  den  Kern  aller  Religion  enthullt 
und  in  Kraft  setzt,  so  erscheint  es  andererseits  als  die 
zweite  Stufe  in  der  Religionsgeschichte,  auf  der  sich  alle 
friiheren  Erscheinungen  der  Religion  in  eigentumlicher  Um- 
formung  und  gesteigert  wiederholen.  Nehmen  Sie  z.  B. 
den  abendlandischen  Katholizismus  mit  seinen  mittelalter- 
lichen  Nebenschofllingen  und  iiberschauen  Sie  ihn  in  der 
ganzen  Breite  seiner  Entwicklung.  Sie  werden  finden, 
dafl  es  kaum  eine  religiose  Lehre,  kaum  einen  religiosen 
Ritus  gibt,  so  viele  ihrer  in  der  Geschichte  aufgetaucht 
sind,  die  dort  nicht  ihre  Parallelen  haben.  Weiter,  Sie 
werden  keine  religiose  Stimmung  entdecken,  von  der 
demiitigen  und  zartesten  Hingebung  an  das  Heilige  bis 
zur  herrschsuchtigeB.  Leidenschaft,  die  nicht  dort  ihre  Ver- 
treter,  ja  sogar  ihre  Anweisungen  und  Vorschriften  hat. 
Und  von  dem  reinsten  Monotheismus,  wie  ihn  Augustin  in 
den  Konfessionen  ausgepragt,  bis  zu  einer  naiven  Heiligen- 
verehrung  finden  sich  hier  alle  denkbaren  Standpunkte 
wieder.  Die  ganze  Religionsgeschichte  in  der  Sukzession 
ihrer  Erscheinungen  ist  auf  katholischem  Boden  gleichsam 
repetiert  und  unifiziert;  aus  dem  Nacheinander  ist  ein 
JSTebeneinander  geworden.  Will  man  aber  feststellen,  in 
welche  Verbindungen  die  Religion  mit  der  Wissenschaft, 
dem  Welterkennen,  der  Ethik,  der  Politik,  der  Jurisprudenz 
treten  kann  und  in  welchen  Verbindungen  sie  mit  den 
wirtschaftlichen  Verhaltnissen  steht,  so  ist  es  wiederum  die 
Geschichte  der  christlichen  Religion,  die  dafiir  das  eigent- 
lich  entscheidende  Material  liefert.  Religion  und  Wissen 
schaft  —  man  studiere  Origenes,  Augustin,  Thomas  von 
Aquino  und  Schleiermacher ;  grofiere  Theologen  wird  man 
nirgendwo  finden.  Religion  und  Politik  —  man  studiere 
die  Geschichte  der  Gregore  und  Innocenze,  die  Politik 
der  Papste.  Religion  und  Jurisprudenz  —  man  lese  Al- 


Die  Aufgabe  der  theologischen  Fakultftten.  171 

plions  von  Liguori.  Uberall  1st  innerhalb  der  christlichen 
Kircliengeschichte  nicht  nur  die  Fulle  der  Moglichkeiten 
nahezu  erschopft,  sondern  diese  selbst  sind  in  Reprasen- 
tanten  von  unubertreif  licher  Klarheit  und  Kraft  vorhanden. 
Wie  soil  es  daher  den  Kirchenhistoriker,  auch  wenn  er  for 
die  Religion  im  weitesten  Sinn  des  Worts  lebendiges  In- 
teresse  hat,  locken,  sich  zu  den  Babyloniern,  Indern  und 
Chinesen  oder  gar  zu  den  Negern  oder  Papuas  zu  be- 
geben?  Endlich  aber  —  und  dies  ist  vielleicht  das  Wich- 
tigste  — -  hier  hat  er  eine  lebendige  Religion  vor  sich  und 
um  sich.  Wir  haben  in  der  Biologie  langst  und  in  der 
Sprachwissenschaft  jiingst  gelernt,  dafi  man  einen  Orga- 
nismus  nur  als  lebendigen  wirklich  verstehen  kann.  Erst 
als  man  das  Sprechen  zu  belauschen  anfing,  ist  man  wirk 
lich  in  die  Sprache  eingedrungen,  und  nun  erst  gelang  es, 
sichere  Lautgesetze  und  Rhythmen  zu  finden,  vage  Moglich 
keiten  auszuschalten  und  die  Fiille  der  Erscheinungen  in 
organisch  bedingte  und  in  irrationalhistorische  zu  scheiden. 
Mutatis  mutandis  gilt  dasselbe  von  der  Religionsgeschichte. 
Wahrhaft  sichere  Erkenntnisse  konnen  nur  an  der  leben 
digen  Religion,  an  der  Erkenntnis  der  Frommigkeit  selbst 
gewonnen  werden.  Zwar  ist  die  Aufgabe  eine  ungleich 
schwerere  wie  bei  der  Sprache;  denn  das  Sprechen  selbst 
ist  die  Sprache,  aber  die  Religion  liegt  stets  hinter  ihrer 
sinnlichen  Erscheinung;  auch  das  schlichteste  Q-ebet  ist 
bereits  ein  Abgeleitetes.  Dennoch  wiirde  sich  die  Wissen- 
schaft  der  Religion  ihres  wichtigsten  Hilfsmittels  selbst  be- 
rauben,  wollte  sie  sich  auf  das  tote  Material  beschranken. 
Zurzeit  ist  sie  hier  noch  sehr  zuruckhaltend  —  nicht  ohne 
Q-rund,  denn  sie  sieht,  wie  manche  Neuerer  in  wunderlicher 
Einseitigkeit  nur  gewisse  Exzentrizitaten  einer  echauffierten 
Frommigkeit  fur  Religion  zu  halten  scheinen  — ;  indessen 
langsam  und  sicher  nahert  sie  sich  der  neuen  Aufgabe. 
Dann  aber  ist  es  wieder  die  christliche  Religion,  die  im 
Vordergrunde  stehen  und  das  Feld  behaupten  wird.  Nicht 


172  Zweiter  Band,  erste  Abteihmg.    Reden:  VI. 

nur  well  die  Forscher  Christen  sind,  sondern  weil  die 
reichsten  und  mannigfaltigsten  Formen  religiosen  Lebens 
hier  dicht  nebeneinander  stehen  und  zusammen  iiberschaut 
werden  konnen.  Man  gehe  mit  einem  franzosischen  Schrift- 
steller  nach  Lourdes  und  beobachte  die  wundersiichtige 
Frommigkeit ,  wie  sie  sich  dort  ausspricht;  dann  versetze 
man  sich  im  Geiste  in  ein  evangelisches  Pfarrhaus,  in 
welchem  die  Uberlieferungen  von  Luther  und  Schleier- 
macher  regieren.  Man  studiere  die  Frommigkeit  des  russi- 
schen  Volkes,  wie  sie  uns  Tolstoi  in  seinen  Dorfgeschichten 
geschildert  hat,  und  stelle  einen  puritanischen  Christen 
Ainerikas  oder  einen  Offizier  der  Heilsarmee  daneben.  Ge- 
wifi  gebieten  der  Buddhismus  und  der  Islam  iiber  einen 
ahnlichen  Reich  turn;  aber  im  besten  Falle  lernten  wir  hier 
unsicher,  was  wir  bei  uns  selbst  besser  und  sicherer  zu  er- 
kennen  vermogen.  Manche  Typen  christlicher  Frommig 
keit  aber,  und  gerade  die  hochsten,  haben  dort  keine 
Parallelen,  wahrend  mir  das  Umgekehrte  nicht  bekannt 
ist.  Selbst  die  rasenden  Derwische  haben  in  der  Kirchen- 
geschichte  aller  Zeiten,  auch  der  neuesten,  ihr  Analogon, 
und  es  gibt  keine  so  entsetzliche  Form  der  "Weltnucht  und 
keine  Schwarmerei,  die  sich  nicht  auch  bei  christlichen 
BilGern  und  Visionaren  heute  noch  fande. 

Aber  mit  dem  Hinweis  auf  den  Umfang  und  die  Fiille 
des  Christentums,  dessen  Studium  das  Studium  der  iibrigen 
Religionen  nahezu  ersetzt,  ist  doch  nicht  das  Entschei- 
dende  in  der  Frage,  die  uns  hier  beschaftigt,  gesagt.  Wir 
wiinschen,  daB  die  theologischen  Fakultaten  fur  die  Er- 
forschung  der  christlichen  Religion  bleiben,  weil  das 
Christentum  in  seiner  reinen  Grestalt  nicht  eine  Religion 
neben  anderen  ist,  sondern  die  Religion.  Es  ist  aber  die 
Religion,  weil  Jesus  Christus  nicht  ein  Meister  neben  an 
deren  ist,  sondern  der  Meister,  und  weil  sein  Evangelium 
der  eingeborenen,  in  der  Greschichte  enthiillten  Anlage  der 


Die  Aufgabe  der  theologischen  Fakultaten.  173 

Menschheit  entspricht.  Ich  habe  vorhin  ausgefuhrt,  dafi 
die  Bibel  es  sei,  welche  den  Mittelpunkt  aller  Studien  der 
theologischen  Fakultaten  bilde.  JSToch  genauer  miifite  ich 
sagen:  dieser  Mittelpunkt  ist  Jesus  Christus.  Was  die  ersten 
Jiinger  von  ihm  empfangen  haben,  das  geht  weit  iiber  die 
einzelnen  Worte  und  iiber  die  Predigt  hinaus,  die  sie  von 
ihin  gehort  hatten,  und  darum  iiberbietet  das,  was  sie  iiber 
ihn  ausgesagt  und  wie  sie  ihn  erfafit  haben,  sein  eigenes 
Selbstzeugnis.  Das  konnte  nicht  anders  sein:  diese  Jiinger 
waren  sich  bewufit,  an  Christus  nicht  nur  einen  Lehrer  zu 
besitzen,  sondern  sie  haben  einen  inneren  Tatbestand  so 
zum  Ausdruck  gebracht  und  gedeutet,  wie  sie  ihn  durch 
Christus  erlebt  hatten  und  wie  sie  ihn  empfanden.  Sie 
wufiten  sich  als  erloste,  neue  Menschen,  eiiost  durch  ihn. 
Darum  haben  sie  ihn  als  den  Herrn  und  Heiland  ver- 
kiindigt,  und  in  dieser  Predigt  ist  das  Christentum  durch 
die  Jahrhunderte  gegangen.  Ist  dies  aber  keine  Illusion, 
sondern  eine  fortwirkende  Tatsache,  dann  gibt  es  inner- 
halb  der  Greschichte  fur  die  Menschheit  keine  wichtigere 
Angelegenheit  als  diese,  und  es  ist  wohlgetan,  dafi  man 
dieser  Religion,  die  darbietet,  was  die  anderen  erstreben, 
auch  bei  der  Gruppierung  der  Aufgaben  der  Wissenschaffc 
ihren  besonderen  Platz  anweist.  Nicht  als  ob  es  der  wissen- 
schaftlichen  Erkenntnis  moglich  ware,  alles  das  von  den 
Wirkungen  dieser  Religion  und  von  ihrem  Stifter  auszu- 
sagen,  was  der  Grlaube  bekennt  oder  die  fromme  Speku- 
lation  behauptet  —  die  Religion  selbst  entriickt  ja  den 
Weg  zu  ihrem  tiefsten  Inhalte  den  Anstrengungen  des 
Verstandes,  und  die  Spekulationen  sind  von  verganglichen 
zeitgeschichtlichen  Elementen  abhangig.  Wohl  aber  bejaht 
die  geschichtliche  Erkenntnis  den  Anspruch  dieser  Religion, 
das  hochste  Grut  zu  sein,  welches  die  Menschheit  besitzt, 
das  heilige  Gut,  das  sie  iiber  die  Welt  erhebt,  ihre  wahre 
Freiheit  und  Briiderlichkeit  begriindet  und  ihr  ein  sicheres 
Ziel  steckt.  Innerhalb  der  Wissenschaft  und  mit  den  be- 


174  Z  welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VI. 

scheidenen  Mitteln,  die  sie  hier  darbietet,  Hnterin  dieses 
geistigen  Gruts  zu  sein,  es  in  seiner  Reinheit  zu  bewahren, 
vor  MiBverstandnissen  zu  schiitzen  und  seine  gesehichtlich 
erkennbaren  Ziige  zu  immer  klarerer  Erkenntnis  zu  bringen 
—  das  ist  die  Aufgabe  der  evangelisch-theologischen  Fa 
kultaten.  Mit  dieser  hohen  Aufgabe  betraut,  mussen  sie 
es  ablehnen,  sich  mit  den  Religionen  der  ganzen  Erde  ver- 
antwortlich  zu  belasten.  Sie  wollen  dariiber  keinen  Zweifel 
lassen,  dafi  sie  sich.  um  die  Religion  iiberhaupt  bemuhen, 
indem  sie  sich  um  das  Christentum  bemuhen,  und  daJ3  sie 
nicht  nur  die  Kenntnis,  sondern  mit  ihr  auch  die  G-eltung 
desselben  in  Kraft  erhalten  wollen. 

Damit  bin  ich  zu  dem  Letzten  gekommen:  die  theolo- 
gischen  Fakultaten  haben  auch  einen  praktischen  Beruf, 
und  auch  um  dieses  Berufs  willen  soil  der  Kreis  ihrer 
Aufgaben  unverandert  bleiben.  Sie  haben,  wie  es  in  den 
Statuten  unserer  Fakultat  heiflt,  wdie  sich  dem  Dienst  der 
Kirche  widmenden  Jiinglinge  fur  diesen  Dienst  tiichtig  zu 
machen".  Mit  der  evangelischen  Kirche  also  stehen  sie  in 
einem  Zusammenhang,  und  sie  sind  sich  der  Verantwortung 
bewuflt,  die  ihnen  dieses  Verhaltnis  auferlegt.  In  der  Auf- 
fassung  ihrer  Pflichten  hier  bestehen  freilich  noch  driickende 
Verschiedenheiten,  die  zu  schweren  Spannungen  gefuhrt 
haben.  Q-eschichtlich  sind  diese  Spannungen  wohl  ver- 
standlich.  Einst  gait  fur  alle  vier  Fakultaten  die  oberste 
Bestimmung,  dafi  sie  eine  feste,  ein  fur  allemal  gegebene 
Lehre  zu  tradieren  haben.  Fur  die  Juristen  war  es  die 
des  Corpus  juris,  fur  die  Mediziner  Hippokrates  und  Q-alen, 
fiir  die  Philosophen  Aristoteles  und  fur  die  Theologen 
waren  es  die  symbolischen  Biicher.  Unter  schweren  Krisen 
setzte  sich  seit  dem  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  ein  neuer 
Begriff  von  Wissenschaft  durch  und  unterwarf  sich  die 
Universitaten:  Wissenschaft  ist  nicht  abgeschlossene  Lehre, 
sondern  stets  zu  kontrollierende  Forschung,  und  Wissen 
schaft  ist  allein  an  die  kritisch  geordnete  Erfahrung  ge- 


Die  Aufgabe  der  theologiscken  Fakultaten.  175 

bnnden.  In  den  anderen  Fakultaten  hatte  sich  diese  neue 
Auffassung,  die  den  padagogischen  Beruf  gewifl  bedeutend 
erschwert,  am  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  durchgesetzt. 
Auch  in  den  evangelisch-theologischen  Fakultaten  war 
man  damals  so  weit.  Da  brach  eine  schwere  Reaktion 
ein,  in  mancher  Hinsicht  sachlich  berechtigt;  aber  bald 
suchte  sie  diese  Fakultaten  in  ihrer  Freiheit  um  ein  Jahr- 
hundert  und  mehr  zuriickzuwerfen.  In  heiCem  Kampfe 
haben  sie  ihren  wissenschaftlichen  Charakter  zwei  G-ene- 
rationen  hindurch  erstreiten  mussen.  Der  Kampf  ist  noch 
nicht  beendigt;  aber  in  weitesten  Kreisen  der  evangelischen 
Kirche  selbst  und  derer,  die  sie  leiten,  ist  doch  die  Uber- 
zeugung  zum  Durchbruch  gekommen,  dafi  der  evange 
lischen  Theologie  dieselbe  Freiheit  zu  gewahren  ist  wie 
jeder  anderen  Wissenschaft.  Man  kann  wohl  in  der  Politik 
zwischen  Freiheit  und  Zwang  einen  Mittelweg  ausfindig 
machen,  indem  man  bald  diesen,  bald  jene  walten  und  aus 
diesem  Zickzack  eine  Art  von  mittlerer  Marschroute  ent- 
stehen  laflt;  aber  in  bezug  auf  die  Frage,  ob  man  die  Er- 
kenntnis  frei  lassen  soil  oder  nicht,  gibt  es  kein  mittleres 
Verfahren;  denn  sie  ist  schon  in  Banden  geschlagen,  wo 
auch  nur  der  Schein  einer  Bevormundung  entsteht.  Man 
wendet  dem  gegenuber  die  Ubersturzungen  und  Fehler  der 
freigelassenen  "Wissenschaft  ein  und  dafi  sie  nun  der  Praxis 
die  alten  Dienste  nicht  mehr  voll  leisten  konne  —  aber  was 
will  das  besagen  gegenuber  der  furchtbaren  Kalamitat,  die 
notwendig  eintreten  mufi,  der  Kalamitat,  dafi  dem  Lehrer 
die  Freiheit  gebrochen  wird,  und  der  Lernende  die  Inte- 
gritat  und  Wahrhaftigkeit  seines  Lehrers  beargwohnen 
muB.  Ein  einziger  solcher  Fall  wiegt  zehnmal  all  den 
Schaden  auf,  der  durch  MiJJbrauch  der  Freiheit  entsteht. 
Die  evangelische  Kirche  selbst  wiinscht  solch  einen  Zu- 
stand  nicht,  und  sie  wird  sich  lieber  bei  der  Tatsache  be- 
scheiden  wollen,  dafl  ihr  die  theologischen  Fakultaten  nicht 
mehr  dasselbe  leisten  wie  friiher,  als  dafi  sie  sie  in  Ver- 


176  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VI. 

suchung  fuhre.  Ob  diese  Fakultaten  ihr  aber  niclit  im 
freien  Dienst  Besseres  gewahren,  darf  man  wohl  fragen. 
Wilhelm  v.  Humboldt  hat  einst  das  tiefe  Wort  ge- 
sprochen:  ,,Die  Wissenschaft  giefit  oft  dann  ihren  wohl- 
tatigsten  Segen  auf  das  Leben  aus,  wenn  sie  dasselbe  ge- 
wissermaBen  zu  vergessen  scheint."  Das  gilt  auch  liier. 
Wir  konnen  und  diirfen  bei  unsrer  geschichtlichen  Arbeit 
nicht  an  die  Lehren  und  Bediirfnisse  der  Kirchen  denken; 
wir  waren  pflichtvergessen,  wenn  wir  in  jedem  einzelnen 
Fall  etwas  anderes  im  Auge  hatten  als  die  reine  Erkenntnis 
der  Sache.  Aber  dafi  ein  Theologe  kein  Herz  fiir  seine 
Kirche  hatte,  fiir  ihr  Bekenntnis  und  fur  ihr  Leben,  dafi 
er  nicht  lieber  ihr  beistimmen  als  sie  korrigieren  mochte, 
dagegen  spricht  alle  Erfahrung.  Was  sollte  ihn  auch 
locken,  in  diesen  verantwortungsvollen  Beruf  einzutreten 
nnd  in  ihm  zu  verharren,  wenn  nicht  die  Sache  selbst, 
welche  der  Theologie  und  der  Kirche  gemeinsam  ist?  Die 
theologischen  Fakultaten  werden  nicht  aufhoren,  sich  der 
Kirche  verpflichtet  zu  wissen  im  freien  Dienst;  sie  wollen 
sie  nicht  meistern,  sondern  bieten  ihr  an,  was  sie  erarbeitet 
haben.  Dafi  aber  die  zukiinffcigen  Diener  der  evangelischen 
Kirche  durch  eine  solche  Schule  hindurchgehen,  die  sie  zur 
ernstesten  Priifung  auffordert,  das  entspricht  letztlich  den 
obersten  Grrundsatzen  dieser  Kirche  selbst. 

Ich  habe  die  Grriinde  darzulegen  versucht,  welche  die 
theologischen  Fakultaten  bestimmen,  die  alte  Aufgabe  in 
Kraft  zu  erhalten  und  nicht  Fakultaten  fiir  allgemeine 
Religionsgeschichte  zu  werden;  auch  mit  einem  Lehrstuhl 
fiir  diese  uniibersehbare  Wissenschaft  ist  es  hier  nicht  ge- 
tan.  Wohl  mag  es  einzelne  besonders  ausgezeichnete  und 
arbeitskraffcige  Manner  geben,  die  ihn  zur  Not  zu  bekleiden 
vermogen;  aber  das  sind  seltene  Ausnahmen.  Um  so  leb- 
hafter  aber  ist  unser  Wunsch,  daB  der  Indologe,  der  Arabist, 
der  Sinologe  etc.  auch  der  Religion  des  Volkes,  dem  er  sein 
Studium  gewidmet  hat,  voile  Beachtung  schenke  und  die  Er- 


Die  Aufgabe  der  theologischen  Fakultaten.  177 

gebnisse  seiner  Arbeit  in  Vorlesungen  und  Biichern  mitteile. 
Dankbar  hat  die  evangelische  Theologie  von  solchen  Werken 
bereits  Grebrauch  gemacht  und  durch  sie  nicht  nur  ikren 
G-esichtskreis  erweitert,  sondern  auch  ihr  kritisches  Ver- 
mogen  gescharft.  Dafi  kein  Theologe  die  Universitat  ver- 
laflt,  ohne  eine  gewisse  Kenntnis  mindestens  einer  auBer- 
christlichen  Religion,  ist  ein  Wunsch,  der  sich  vielleicht 
verwirklichen  laBt;  wir  rechnen  dabei  auch  auf  die  bereits 
erprobte  Hilfe  wissenschaftlich  gerichteter  Missionare,  die 
in  die  Heimat  zuriickkehren.  Aber  indem  wir  bei  der 
alten  Aufgabe  unsrer  Fakultat  verharren,  geschieht  dies 
in  der  doppelten  Voraussetzung,  dafi  ihrer  Freiheit  keine 
Schranken  gezogen  werden,  und  dafi  sich  iiber  die  aufieren 
Zaune  hinweg  Vertreter  verwandter  Facher  —  wie  zur  Zeit 
der  Anfange  unserer  Universitat  —  die  Hand  reichen  zu 
gemeinsamer  Forschung.  Vielleicht  kommen  wir  so  nach 
langer,  langer  Arbeit  zu  einer  vergleichenden  Religions- 
wissenschaft.  Vor  drei  Menschenaltern ,  als  diese  unsere 
Universitat  gestiftet  wurde,  glaubte  man  diesem  Ziele  naher 
zu  sein  als  heute.  Wie  oft  ist  es  doch  der  Wissenschaft 
schon  begegnet,  dafi  die  Fiille  neuer  Erkenntnisse  sie  schein- 
bar  zuriickgeworfen  hat.  Indem  man  reicher  wurde,  wurde 
man  armer,  armer  an  allgemeinen  Erkenntnissen.  Mogen 
uns  in  der  Wissenschaft  Manner  geschenkt  werden,  die 
auf  dem  Grunde  solider  Forschung  den  Mut  der  Zusammen- 
fassung  haben;  denn  jede  Zusammenfassung  ist  Tat  des  Mu- 
tigen.  Moge  unsere  Universitat  fort  und  fort  der  G-eist  be- 
leben,  der  in  Schleiermacher  und  Humboldt  lebendig 
war;  moge  der  Hochsinn  Fichtes  in  uns  und  unseren  Kom- 
militonen  niemals  aussterben;  moge  mit  diesem  Hochsinn 
verbunden  bleiben  die  Ehrfurcht  vor  den  gottlichen  Dingen, 
vor  dem  Wirklichen,  vor  jedem  ehrlichen  Beruf  —  jene  Ehr 
furcht,  welche  die  lebendige  Wurzel  aller  Gresittung  ist.  So 
wird  uns  das  strahlende  Morgenrot  unseres  Aufgangs  einen 
dauernden  Sonnentag  bedeuten!  Dafi  aber  die  herrlichen 

Harnack,  Reden  und  Aufsiitze.    2.  Aufl.    II.  12 


Zweiter  Band,  erste  Abteiluns-.     Keden:  VI. 

Manner,  deren  Erben  wir  sind,  zu  Baumeistern  des  Baues 
berufen  wurden,  den  wir  mit  Stolz  den  unsrigen  nennen,  das 
verdanken  wir  unserem  Koniglichen  Stifter.  Seine  Huld  und 
Seinen  Schutz  hat  Er  vererbt  auf  Seine  Nachfolger,  vererbt 
auf  Seinen  Urenkel,  unseren  Konig  und  Herrn.  Ihm  ist  die 
Wissenschaft,  Ihm  ist  diese  unsre  Universitat  ein  teures  Grut, 
und  wir  haben  die  zuversichtliche  und  gegriindete  Hoff- 
nung,  daB  Er  wie  Er  ihr  Erhalter  bleiben,  so  auch  ihr  Mehrer 
Bein  wird.  Gott  schutze  den  Konig! 


Nachwort. 

In  Nr.  39  der  ,,Christlichen  "Welt"  hat  D.  Bade  meine 
unter  vorstehendem  Titel  gehaltene  Rektoratsrede  be- 
sprochen,  manchen  wichtigen  Punkten  zugestimmt,  aber 
,,mit  Bedauern  wahrgenommen",  dafi  ich  die  Errichtung 
besonderer  Lehrstiihle  for  die  allgemeine  Religionsgeschichte 
bei  den  theologischen  Fakultaten  ablehne. 

Die  Frage,  ob  solche  Lelirstiihle  errichtet  werden  sollen, 
1st  eine  praktisch-organisatorische  oder  schultechnische;  man 
kann  daher  zweifeln,  ob  sie  fiir  den  Leserkreis  dieser  Zei- 
tung  hinreichendes  Interesse  bietet.  Indessen  da  sie  ein- 
mal  hier  aufgeworfen  worden  ist,  so  sei  es  rrn'r  gestattet, 
mich  auch  vor  den  Freunden  der  Christlichen  Welt  zu 
inr  zu  auJBern. 

Zunachst  nmfl  ich  ein  MiCverstandnis  beseitigen.  D. 
Hade  schreibt:  wMan  erfahrt  beilaung,  dafi  die  preufiische 
Regierung  nicht  daran  denkt,  Lehrstiihle  fur  allgemeine 
Religionsgeschichte  bei  den  theologischen  Fakultaten  zu  er- 
richten."  Das  klingt  so,  als  hatte  ich  mich  iiber  die  Ab- 
sichten  der  Regierung  auf  Grrund  einer  besonderen  Infor 
mation  geaufiert.  Allein  das  ist  nicht  der  Fall;  ich  habe 
lediglich  den  naheliegenden  Einwurf  eines  Dritten  vorweg- 
genommen,  man  solle  doch  nicht  iiber  eine  aussichtslose 
Sache  streiten.  Uber  das,  was  das  preuCische  Unterrichts- 
ministerium  in  dieser  Frage  will  oder  nicht  will,  bin  ich 
nicht  unterrichtet. 

Sodann  muC  ich  auf  die  Frontstellung  meiner  Rede 
aufmerksam  machen,  die  Hade,  sei  es  durch  meine  Schuld, 

12* 


180  Z  welter  Band,  erste  Abteilung.    Eeden:  VI. 

niclit  richtig  verstanden  hat.  Sie  richtet  sich  doch  nicht 
gegen  diejenigen,  welche  die  wissenschaftliche  Erforschung 
der  christlichen  Religion  gegeniiber  den  anderen  Religionen 
absperren  wollen  —  in  der  Wissenschaft  haben  wir  es  mit 
ihnen  nicht  zu  tun  — ,  sondern  gegen  die,  welche  die  theo- 
logischen  Fakultaten  bereits  aufgelost  haben  (Holland),  so- 
wie  gegen  die,  welche  die  zentrale  Stellung  der  christlichen 
Religion  verwischen  oder  den  wissenschaftlichen  Charakter 
der  Theologie  bemangeln,  wenn  diese  nur  das  Christentum 
und  nicht  auch  die  anderen  Religionen  zn  ihremObjekt  macht. 
Nun  wird  es  von  Q-ewinn  sein,  wenn  ich  das  MaB  der 
tJberemstimmung,  welches  zwischen  Rade  und  mir  in  dieser 
Frage  besteht,  feststelle.  Ich  fasse  es  in  drei  Thesen  zu- 
sammen,  fur  die  ich  der  Zustimmung  meines  Freundes 
sicher  bin: 

1.  Die   Erforschung  und  Darstellung   der   christlichen 
Religion  soil  aus  sachlichen  und  aus  praktischen  Grriinden  die 
eigentliche  Aufgabe  der  theologischen  Fakultaten  bleiben; 
diese  sollen  nicht  in  Fakultaten  fur  allgemeine  Religions- 
geschichte  verwandelt  werden. 

2.  Die  Greschichte  der  christlichen  Religion  kann  nach 
Ursprung  und  Entwicklung   nicht  ausreichend  verstanden 
werden,  wenn  man  nicht  jene  Q-ruppe  fremder  Religionen 
beriicksichtigt,  die  einen  starken  Einnufi  auf  sie  ausgeiibt 
und  ihr  wesentliche  Momente  zugefiihrt  haben.  Ihre  Kennt- 
nis  ist  aber  auch  deshalb  unerlafilich,  weil  sich  die  Natur 
und   der   Spielraum   zentraler    religioser    Faktoren   (Offen- 
barungsglaube,  Bedeutung  des  Kultus,  Propheten,  Priester 
usw.)  und  Anschauungsformen  nur  durch  eine  Vergleichung 
sicher  ermitteln  und  erkennen  lafit. 

3.  Dariiber  hinaus  ist  nicht  nur  die  Kenntnis  anderer 
Religionen,  sondern  auch  die  der  ganzen  Religionsgeschichte 
—  ideal  genommen  —  ein  notwendiges  Erfordernis;  daher 
ist  jede  solide  Erweiterung  des  theologischen  Arbeitsfeldes 
in  dieser  Richtung  als  Fortschritt  zu  begriifien. 


Die  Aufgabe  der  theologischen  Fakultaten.  181 

Ergibt  sich  nun  aus  diesen  Satzen  die  Forderung,  es 
miifiten  bei  den  theologischen  Fakultaten  Lehrstiihle  fiir 
allgemeine  Religionsgeschichte  errichtet  werden?  1st  der 
ein  Reaktionar,  der  sie  ablehnt?  Wenn  in  einer  solchen 
Frage  die  abstrakte  Theorie  oder  die  Traume  wissenschaft- 
licher  Konstruktore  entschieden,  so  mag's  sein.  Aber  wir 
haben  es  mit  den  wirklichen  Verhaltnissen  zu  tun. 

Ich  frage  erstens:  Wie  steht  es  denn  zur  Zeit  mit  der 
„  allgemeinen  Religionsgeschichte"  und  zweitens :  „  Was  haben 
die  theologischen  Fakultaten,  bes.  unsre  Studenten  notig?" 

In  bezug  auf  die  „ allgemeine  Religionsgeschichte"  hort 
man  in  Deutschland  immer  nur  von  einem  Kolleg  sprechen, 
welches  Bedeutung  erlangt  habe,  das  des  verewigten  Roth, 
der  in  Tubingen  Professor  der  indischen  Philologie  gewesen 
ist.  Diese  Vorlesung  mag  sehr  anregend  und  sehr  nutzlich 
gewesen  sein;  aber  wenn  die  evangelische  Theologie  seit 
dreifiig  Jahren  Fortschritte  in  dem  Studium  fremder  Re- 
ligionen  und  in  bezug  auf  ihre  Vergleichung  mit  der  christ- 
lichen  gemacht  hat,  so  verdankt  sie  das  —  soweit  meine 
Kenntnis  reicht  —  nicht  oder  nur  zum  kleinsten  Teil  dem 
Einflufi  jenes  Kollegs.  "Weder  zeichnen  sich  die  wiirttem- 
bergischen  Theologen,  die  unter  Roths  Einflufi  gestanden 
haben,  durch  besondere  Energie  in  religionsgeschichtlicher 
Hinsicht  aus,  noch  sind  meines  Wissens  die  Theologen,  denen 
hier  besondere  Verdienste  gebiihren,  von  Roths  Vorlesung 
beeinflufit  worden.  Andere  Nam  en  sind  zu  nennen,  Namen 
von  sehr  verschiedenen  Mannern,  die  Spezialisten  waren 
oder  sind,  aber  aus  ihren  speziellen  Studien  heraus  auf 
ganz  bestimmte  religionsgeschichtliche  Probleme  gefuhrt 
wurden  und  fur  diese  Enthusiasmus  und  Eifer  zu  ent- 
ziinden  verstanden.  Ich  glaube  mich  nicht  zu  irren,  wenn 
ich  behaupte,  dafi  z.  B.  Lagarde  und  Usener  der  reli- 
gionsgeschichtlichen  Forschung  innerhalb  der  evangelischen 
Theologie  einen  sehr  viel  kraffcigeren  AnstoB  gegeben  haben 
als  Roth,  und  dafi  der  stille  Einflufi,  den  E  ich  horn  auf 


182  Z  welter  Band,  erste  Abteiktng.     Reden:  VI. 

die  jiingeren  Kirchenhistoriker  ausiibt,  wirksamer  1st  als 
ein  allgemeines  religionsgeschichtliches  Kolleg. 

Und  wie  steht  es  rait  den  Handbuchern  und  der  all- 
gemeinen  religions  wissenschaftlichen  Literatur?  Wir  haben 
den  Tiele  und  den  Chantepie  de  la  Saussaye,  dazu  sehr 
lehrreiche  religionswissenschaftliche  Zeitschriften.  Wir  freuen 
uns  dieses  Besitzes;  aber  glaube  niemand,  dafi  der  Eintritt 
in  die  Religionswissenschaft  durch  diese  Kaserneiihofe  fiilirt. 
Mcht  einmal  Interesse  vermag  jemand  aus  den  Zusammen- 
stellungen  zu  gewinnen,  kaum  das  vorhandene  zu  starken. 
Wem  es  gelingt,  den  Chantepie  de  la  Saussaye  durchzu- 
lesen,  dem  widme  ich  meine  Bewunderung.  Ich  glaube 
aber  nicht,  dafi  das  jemand  schon  fertig  gebracht  hat,  es 
sei  denn,  dafi  ihn  der  Greist  trieb,  ein  Kolleg  iiber  allge- 
meine  E/eligionsgeschichte  zu  lesen. 

Wer  will  denn  allgemeine  Sprachgeschichte  —  ich  meine 
nicht  Einleitung  in  die  Sprachwissenschaffc  —  horen  und  wer 
ist  so  unvorsichtig,  sie  als  Vorlesung  anzukundigen?  Gribt 
es  deshalb  keine  allgemeine  Sprachwissenschaft?  Mit  der 
allgemeinen  Religionsgeschichte  steht  es  aber  noch  anders. 
Sie  umfafit  Sprache,  My  thus,  Sitte,  Kultur,  Wissenschaft, 
kurz  die  Geschichte  der  Volker  und  ist  von  ihnen  nicht 
zu  trennen.  Oder  soil  aus  den  verschiedenen  Religionen 
der  Volker  je  ein  ,,Prinzip"  gemacht  und  dann  lustig  rait 
diesen  ,,Prinzipien"  gebaut  werden?  Die  Zeiten  sind  vor- 
iiber.  Aber  es  gibt  doch  auch  „  Allgemeine  Weltgeschichte" , 
und  man  liest  daruber  sogar  Vorlesungen?  GrewiG,  aber 
man  hat  sich  langst  verstandigt,  was  man  unter  diesem 
Titel  versteht  —  politische  Greschichte.  Die,  welche  den 
Begriff  erweitern  und  eine  wirkliche  Universalgeschichte 
aus  ihm  machen  wollen,  markieren  entweder  nur  die  un- 
endliche  Aufgabe,  an  der  wir  alle  arbeiten,  oder  treiben 
allerlei  feuilletonistischen  Unfug. 

Eine  allgemeine  Religions geschichte  gibt  es  auch  nur 
als  unendliche  Aufgabe  vieler  Disziplinen,  und  dafur  richtet 


Die  Aufgabe  der  theologisclien  Fakultaten.  183 

man  keine  Lehrstuhle  ein,  weder  bei  der  theologischen  noch 
bei  der  philosophischen  Fakultat. 

Also  soil  allgemeine  Religionsgeschichte  schlechterdings 
nicht  gelesen  werden?  Das  1st  nicht  meine  Meinung  und 
folgt  auch  nicht  aus  dem  Gresagten.  Wer  eine  Religion 
griindlich  in  ihren  Beziehungen  und  ihrer  Greschichte  stu- 
diert  hat,  dem  werden  wir  gern  zuhoren,  wenn  er  den  Mut 
und  die  Lust  hat,  seine  Kenntnisse  und  Gredanken  in  bezug 
auf  andere  Religionen  zu  offenbaren.  Er  wird  —  wenn  er 
kein  Schelm  ist,  der  mehr  gibt  als  er  hat  -  -  sie  zeichnen, 
wie  er  sie  von  der  Stelle  aus  sieht,  die  er  beherrscht,  also 
in  Umrissen,  wie  man  eine  feme  Berglandschaffc  zeichnet, 
und  ohne  eine  Intimitat  zu  simulieren,  die  er  nicht  be- 
sitzt.  Eindringen  in  eine  fremde  Religion  kann  nur  wer 
sie  nachzuerleben  vermag.  Auch  solche  Virtuosen,  die 
das  fur  ein  Dutzend  Religionen  vermogen,  mag  es  geben; 
aber  dadurch,  dafi  man  aus  Biichern  der  verschiedensten 
Autoren  verschiedene  Religionen  zusammenriickt,  entsteht 
keine  n Allgemeine  Religionsgeschichte". 

Angenommen,  man  entschlosse  sich  heute  in  Deutsch- 
land  in  die  evangelisch- theologischen  Fakultaten  oder  in 
die  philosophischen  Professoren  fur  allgemeine  Religions- 
geschichte  zu  setzen,  woher  sollten  sie  kommen?  Und 
wenn  -  -  wie  das  selbstverstandlich  ware  —  nur  solche 
Q-elehrte  gewahlt  wiirden,  die  eine  Religion  samt  Sprache 
und  Greschichte  griindlich  beherrschten,  ist  nicht  sicher  zu 
hoifen,  dafi  diese  so  verstandig  waren,  der  Unterrichtsver- 
waltung  zu  erklaren:  ,,Den  Lehrauftrag  fur  allgemeine 
Religionsgeschichte  bitten  wir  als  einen  unverbindlichen 
betrachten  zu  diirfen;  wir  wollen  iiber  eine  Religion  und 
daneben  Religionsgeschichtliches  im  allgemeinen  Sinne,  aber 
nicht  Religionsgeschichte,  lesen." 

Und  nun  -  -  was  haben  die  theologischen  Fakultaten, 
bez.  unsre  Studenten  notig? 

Erstlich,   sie  haben  gewisse  Kenntnisse  anderer  Reli- 


184  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Beden:  VI. 

gionen  notig,  um,  wie  ich  sclion  sagte,  die  Natur  und  den 
Spielraum  der  grofien  Elemente  nnd  Anschauungsformen 
der  hoheren  Religionen  zu  erkennen;  diese  Kenntnis  wird 
ihnen  in  den  Vorlesungen  iiber  alttestamentliche  und  ur- 
ckristliche  Disziplinen,  sowie  in  religionsphilosophischen 
nnd  systematischen  Vorlesungen  mitgeteilt.  Hier  bedarf 
es  aber  keineswegs  einer  vollstandigen  religionsgeschicht- 
lichen  Induktion,  um  diese  Hauptfaktoren  zu  wiirdigen. 
Das  Wichtigste  leistet  bereits  die  Religion  der  Testamente 
und  die  Vielheit  der  christlichen  Bildungen  in  den  zwei 
ersten  Jahrhunderten.  Was  z.  B.  Propheten  sind  und  was 
Prophetismus ,  und  wie  sich  diese  Erscheinung  entwickelt, 
kann  man  mit  fast  hinreichender  Deutlichkeit  am  Alten 
und  Neuen  Testament  lernen,  und  was  Opfer  und  Priester 
sind,  nicht  minder  an  jenem.  Aus  der  allgemeinen  Eeli- 
gionsgeschichte  gewonnenes  Material  wird  freilich  hier 
manches  verdeutlichen  und  sicherstellen. 

Zweitens,  eine  konkrete  Kenntnis  bestim.mter  Phasen 
der  babylonischen,  persischen,  vorderasiatischen  und  grie- 
chischen  Religionen  ist  erforderlich,  um  wichtige,  zum  Teil 
grundlegende  Erscheinungen  der  testamentarischen  Reli- 
gionsgeschichte,  bez.  der  Kirchengeschichte,  sei  es  zu  ver- 
stehen,  sei  es  genetisch  zu  erklaren,  und  deshalb  begriiCen 
wir  jeden  alt-  oder  neutestamentlichen  Theologen,  der  sich 
mit  einer  dieser  Religionen  oder  mit  mehreren  grlindlich 
beschaftigt.  Im  einzelnen  ist  freilich  dabei  allerlei  zu  er- 
innern.  Das  wichtigste  Moment  scheint  mir  zu  sein,  daB 
fur  die  Epoche,  in  der  wir  die  fremden  Heligionen  in 
dringendster  "Weise  in  Anspruch  zu  nehmen  haben  (300 
vor  Christus  bis  300  nach  Christus),  sie  sich  teils  durch 
parallele  Entwicklung,  teils  durch  Austausch,  teils  durch 
philosophisch-ethische  Zersetzung  soweit  einander  genahert 
haben,  dafi  die  Zuriickfuhrung  auf  die  urspriinglichen  Ele 
mente  im  einzelnen  Fall  teils  aussichtslos,  teils  ohne  Nutzen 
ist.  Sie  sind  alle  neu  und  relativ  gleichartig  geworden  — 


Die  Aufgaben  der  theologischen  Fakultaten.  185 

zumal  unter  dem  Prinzipat  des  Hellenismus  — ,  nnd  es  ist 
daher  ziemlich  gleichgiiltig ,  was  sie  einst  gewesen  sind; 
denn  ihre  urspriingliche  Natur  1st  zum  Phlegma  geworden. 
Und  mag  auch  hier  und  dort  dieses  Phlegma  in  urspriing- 
licher  Energie  noch  eine  Kraft  geblieben  sein  —  wir  wollen 
den  ausgezeichneten  Grelehrten,  die  es  herausspiiren,  Dank 
wissen  — ,  so  ist  es  doch  ungleich  wichtiger,  die  neuen 
religiosen  und  geistigen  Stimmungen,  Wiinsche  und  Er- 
kenntnisse  zu  erheben,  die  so  laut  sprechen  und  die  unter 
der  Hulle  der  physikalisch-historischen  Weisheit  der  judi- 
schen  Apokalyptiker  oder  der  zu  geschich.tlich.en  Legenden 
aufgestutzten  uralten  My  then  der  religiosen  Erzahler  oder 
der  Aonenlehre  der  Grnostiker  so  gleichartig  zum  Ausdruck 
kommen.  Das  Zeitalter  der  Apokalypsen,  der  neutestament- 
lichen  Schriftsteller  und  der  G-nostiker  ist  auch  das  Zeit 
alter  der  Allegorie;  das  steht  fest.  Zusehen  mogen  also 
die,  die  es  angeht,  dafi  sie  nicht  fur  die  600  Jahre  von 
Alexander  bis  Diokletian  eine  Munzsammlung  zusammen- 
stellen,  die  zwar  durch  das  hohe  Alter  hochst  interessant 
ist,  deren  Stiicke  aber  zum  grofiten  Teil  bereits  damals 
aufier  Kurs  gesetzt  waren  oder  den  aufgepragten  Wert 
verloren  hatten.  Nun  bitte  ich,  dafi  man  mich  nicht  so 
versteht,  als  wollte  ich  mit  dieser  Betrachtung  alien  Stoff, 
um  den  es  sich  hier  handelt,  als  bereits  in  den  Hellenismus 
eingeschmolzen  bezeichnen.  Das  fallt  mir  nicht  ein;  aber 
dies  wollte  ich  allerdings  sagen,  dafi  fur  die  angegebene 
Epoche  genetische  Untersuchungen  (in  bezug  auf  die  Ur- 
spriinge  religioser  Erscheinungen)  hinter  der  Erhebung  des 
Tatbestandes  selbst  und  der  Darlegung  seiner  geistigen 
Bedeutung  zuriickzutreten  haben,  weil  jene  Untersuchungen 
teils  aussichtslos ,  teils  unerheblich,  teils  sogar  irrefuhrend 
sind.  Irrefuhrend  konnen  sie  werden,  wenn  der  Forscher 
nicht  angibt,  wie  der  eisgraue  Mythus,  den  er  in  einer 
religiosen  Erscheinung  des  hellenistischen  Zeitalters  ent- 
deckt  hat,  verwertet  und  empfunden  worden  ist,  ob  als 


186  Z  welter  Band,  erste  Abteiltmg.     Eeden:  VI. 

handf ester  GJ-laube  oder  als  unverstandener  Gegenstand  der 
Pietat  oder  als  Form  der  religiosen  Vorstellung  oder  als 
Unterlage  fur  eine  Allegorie  oder  als  Zukunftsbild  oder  als 
Schmuck  und  Poesie. 

Was  folgt  aus  dem  alien  flir  unsre  Frage?  Ich  meine, 
dafi  wir  den  Grang  der  Dinge  preisen  sollen,  welcher  die 
langsame  Erforschung  der  Religionen  des  synkretistischen 
Zeitalters  den  Theologen  und  den  Hellenisten  unter  den 
Grrazisten  zugewiesen  hat.  "Welchen  Grewinn  wiirde  die 
theologische  Wissenschaft  davon  haben,  wenn  sie  in  ihre 
Fakultaten  Q-elehrte  als  allgemeine  Religionshistoriker  be- 
kame,  deren  Spezialgebiet  das  Babylonisch-Assyrische  oder 
das  Persische  oder  auch  das  klassisch  G-riecliisclie  ware? 
Diese  Manner  wiirden  gewifi  so  verstandig  sein,  alle  ihre 
Kraft  der  klassischen  Grestalt  der  betreffenden  Religion  zu- 
zuwenden  und  hatten  fiir  die  Zersetzung  derselben  ein  ge- 
ringeres  Interesse;  diese  aber  interessiert  uns.  Unsere 
Theologie-Studierenden  mogen  jene  Gfelehrten  eifrig  horen 
—  ich  freue  mich  iiber  jedes  religionsgeschichtliche  Spezial- 
kolleg,  das  ich  im  Belegbuch  eines  Studenten  finde  — , 
aber  sie  fur  unsre  Fakultaten  in  Anspruch  zu  nehmen,  da- 
fur  fehlt  jeder  Grund.  Eine  besondere  Spezies  von  Reli- 
gionshistorikern  aber  zu  schaffen,  die  sich  nur  in  den  theo- 
logischen  Fakultaten  sehen  lassen  diirfen,  dafiir  danken  wir. 

Diese  Verhaltnisse  liegen  so  klar  und  sind  auch  in 
meiner  von  Rade  angegriffenen  Rektoratsrede  so  unmifi- 
verstandlich  angedeutet,  dafl  man  nach  einer  besonderen 
Ursache  suchen  muB,  welche  den  Angriff  erklart.  Tausche 
ich  mich  nicht,  so  haben  wir  an  die  wohl  verstandliche 
Empfindlichkeit  moderner  Theologen  zu  denken.  Weite 
Kreise  in  der  Kirche  beanstanden  es  noch  —  von  ihrem 
Standpunkt  mit  vollem  Recht  — ,  dafi  bei  der  Erforschung 
der  christlichen  Religion  fremde  Religionen  iiberhaupt  an- 
ders  als  des  Kontrastes  wegen  herangezogen  werden.  Unter 
diesem  starken  Druck  hat  der  Herausgeber  der  Christlichen 


Die  Aufgaben  der  theologischen  Fakultaten.  187 

Welt  den  Q-leichmut  nicht  ganz  bewahrt  und  deshalb 
meiner  Rede,  well  sie  in  bezug  auf  die  allgemeine  Reli- 
gionsgeschichte  und  die  theologischen  Fakultaten  Schranken 
iiberhaupt  erwahnt,  ein  ,,Bedauern"  nachgesandt,  wahrend 
hier  doch  nichts  zu  bedauern  ist.  Fiir  die  der  allgemeinen 
Religionsgeschichte  gewidmeten  Lehrstiihle  bei  den  theo 
logischen  Fakultaten  wird  er  sich  bei  ruhiger  Erwagung 
schwerlich  noch  erwarmen.  Um  diese  allein  handelt  es 
sich  aber;  denn  in  die  seltsame  Lage  hat  mich  Hade  doch 
nicht  bringen  wollen,  mich  gegen  den  Vorwurf,  die  Theo- 
logie  verwandten  Disziplinen  gegeniiber  abzusperren,  ver- 
teidigen  zu  iniissen. 


ADOLF  HARNACK  .  REDEN  UND  AUFSATZE 
ZWEITER  BAND  .  ERSTE  ABTEILUNG  <&2 


REDEN:  VII 

DIE  KONIGLICH  PREUSSISCHE  AKADEMIE 
DER  WISSENSCHAFTEN 


Rede 

zur   Zweihundertjahrfeier    der  Akademie    gehalten  in    der   Festsitzung 
am  20.  Marz  1900  und  erschienen  in  den  Sitzungsberichten  der  Akademie. 


Wo  nur  immer  ein  holier  Tag  festlich  begangen  wird, 
da  empfangt  er  seine  "Weihe  durch  geschichtliche  Erinnerung. 
In  besonderem  Sinne  gilt  dies  von  den  Festen  der  Wissen- 
schaft.  Sie,  die  stets  in  einem  historischen  Elemente  lebt, 
sucht  an  solchen  Tagen  ihre  lebendige  Geschichte  auf.  Freu- 
dig  feiert  sie  die  Manner,  aus  deren  Handen  sie  das  Erbe 
empfangen  hat,  und  vertieft  und  erweitert  ihre  Geschichte, 
bis  sie  sie  als  Geschichte  des  Geistes  zu  fassen  vermag. 
So  lassen  auch  wir  an  dem  heutigen  Tage  die  Erinnerung 
walten  und  gruBen  die  Vorfahren,  die  ihn  uns  bereitet 
haben.  Wir  griiUen  dankerfiillt  das  erlauchte  Herrscher- 
paar,  welches  diese  Akademie  gestiftet  hat;  wir  griifien 
ehrfurchtsvoll  die  stolze  Heihe  unserer  Konige  und  Protek- 
toren;  wir  grufien  alle  die,  welche  diese  Schopfung  in  Kraft 
und  Glanz  erhalten  haben,  die  Gelehrten  und  Staatsmanner, 
von  Leibniz  an  bis  zu  den  Forschern,  die  jiingst  aus 
unserer  Mitte  geschieden  sind. 

Wiirdig  aber  ist  es,  dafl  wir,  ihrer  gedenkend,  die 
hochste  Anschauung  von  Wissenschaft  zu  erfassen  suchen, 
zu  der  sie  sich  erhoben  haben;  denn  eben  diese  haben  sie 
in  dem  Gemeinwesen  zum  Ausdruck  gebracht,  dessen  Jubel- 
fest  wir  feiern.  Die  Geschichte  der  Akademie  ist  die  Ge 
schichte  der  Ideen  und  Krafte  ihres  Stifters  und  ihrer 
groCen  Mitglieder;  denn  in  ihrer  Einrichtung  und  in  der 
Entwicklung  ihrer  Organisation  haben  sich  die  Erkenntnisse 
und  die  Ziele  jener  gleichsam  verdichtet.  Dieser  Bau  stellt 
darum  in  lebendiger  Verwirklichung  ein  Stuck  Geschichte 


192  Z  welter  Band,  erste  Abteilung.    Reden:  YTE. 

der  Wissenschaft  dar  —  Tind  nicht  nur  der  Wissenschaft  in 
diesem  Lande.  Den  hentigen  Tag  feiert  die  gesamte  wissen- 
schaffcliche  Welt  mit  Tins;  denn  unsere  Greschichte  ist  ihre 
Greschiehte. 

Es  umfaflt  aber  die  Entwicklung  der  Akademie  vier 
sich  scharf  voneinander  abhebende  Stufen.  In  merkwur- 
diger  Regelmafligkeit  begreift  eine  jede  von  ihnen  et- 
wa  ein  halbes  Jahrhundert.  Die  Akademie  Leibniz  ens 
beherrscht  die  erste  Halfte  des  18.  Jahrhunderts ;  in  der 
zweiten  wird  sie  znr  fridericianischen  Akademie.  Dann 
sind  es  die  Briider  Humboldt,  Niebuhr  und  Schleier- 
macher  gewesen,  die  ihr  for  fiinfzig  weitere  Jahre  Grund- 
lage  und  Bichtung  gegeben  haben.  Die  vierte  Stufe  ist 
die  unsrige.  Wir  betrachten,  wie  anf  jeder  die  Aufgabe 
der  Wissenschaft  in  der  Akademie  erfaflt  und  wie  sie  in 
ihrer  Arbeit  durchgefiihrt  worden  ist. 

^Se.  Kurf.  Durchlaucht  haben  gnadigst  resolvieret, 
eine  Academie  des  Sciences  und  ein  Observatorium,  wie 
vorgeschlagen,  zu  etablieren"  —  so  lauten  die  denkwiirdigen 
Worte,  durch  welche  unsere  Akademie  gestiftet  worden 
ist.  Einige  Berliner  Q-elehrte,  an  ihrer  Spitze  der  Hof- 
prediger  Jablonski,  hatten  den  Plan  ausgearbeitet,  die 
Kurfurstin  Sophie  Charlotte  ihn  bei  ihrem  Q-emahl  be- 
furwortet.  Von  Anfang  an  war  Leibniz  als  President  ins 
Auge  gefafit;  von  ihm  war  die  Idee  ausgegangen,  und  er 
hatte  die  Berliner  Freunde  beraten.  Den  nachsten  AnlaB 
aber  zur  Stiftung  bot  die  grofie  Kalenderreform,  die  eben 
vollzogen  worden  war.  Sie  verlangte  zu  ihrer  Durchfuhrung 
regelmafiige  astronomische  Beobachtungen  und  daher  auch 
eine  Sternwarte.  Wie  einst  im  alten  Babylonien  die  Wissen 
schaft  mit  der  Himmelskunde  begonnen  hat,  so  begann  die 
neue  Stufe,  auf  die  sie  in  diesem  Lande  gehoben  werden 
sollte,  wiederum  mit  der  Astronomie.  Noch  mehr  —  ein 
voiles  Jahrhundert  lang  hat  die  Wissenschaft  hier  in  Berlin 


Die  Kttniglich  Preuflische  Akademie  der  Wissenschaften.       193 

im  buchstablichen  Sinne  des  "Worts  von  der  Astronomie 
gelebt;  denn  fast  die  gesamte  Einnahme  der  Akademie 
flofi  in  dieser  Zeit  aus  dem  ihr  verliehenen  Kalendermono- 
pol.  So  bildeten  die  Astronomie  und  die  mit  ihr  ver- 
schwisterte  Mathematik  das  eigentliche  Fundament  der 
neuen  Schopfung. 

Aber  nicht  nur  ihrer  okonomischen  Leistungen  wegen 
nahmen  sie  diese  Stelhmg  ein.  Durch  Kepler  und  Cartesius, 
durch  Newton  und  Leibniz  war  die  Mechanik  des  Himmels 
und  die  mathematische  Physik  auf  eine  Hohe  gehoben,  die 
in  gewissem  Sinne  einem  AbschluB  gleichkam.  Der  Natur- 
bewegung  hatten  sie  das  Q-eheimnis  abgetrotzt,  ein  neues 
Weltbild  gewonnen  und  damit  den  Beweis  geliefert,  dafi 
der  menschliche  Verstand  fahig  sei,  durch  Beobachtung 
und  Spekulation  in  die  unermefilichen  Himmelsraume  vor- 
zudringen  und  die  Qesetze  aller  Bewegung  zu  entziffern. 
Wie  eine  Offenbarung  wirkten  die  neuen  Erkenntnisse, 
und  schon  strahlte  die  Hoffnung  auf,  zahlreiche  Natur- 
erscheinungen  nun  in  den  Dienst  nehmen  und  beherrschen 
zu  konnen.  Dieser  jungen  Wissenschaft  eine  Statte  zu 
bereiten,  war  Leibnizens  vornehmste  Absicht  bei  der 
Stiftung  unserer  Akademie.  Von  den  Universitaten  er- 
wartete  er  nichts;  der  Betrieb  der  Wissenschaft  dort  steckte 
in  veralteten  Formen:  eine  riickstandige  Lehre  iiberlieferten 
sie  in  einformiger  Wiederholung.  Er  aber  wollte  auf  Grrund 
der  neu  gewonnenen  Prinzipien  eine  Anstalt  fur  Forschung 
griinden;  denn  eben  diese  Prinzipien  erschienen  der  reich- 
sten  Entwicklung  fahig  und  eroffneten  der  Anwendung 
ein  unbegrenztes  Q-ebiet. 

Darin  aber  erhob  sich  Leibniz  iiber  alle  seine  Zeit- 
genossen,  dafi  er  seinen  Blick  durch  keine  Spezialwissen- 
schaft,  sei  es  auch  die  umfassendste,  einschranken  lieC.  Wie 
er  die  mathematische  Physik  sofort  mit  dem  ganzen  Kreise 
der  metaphysischen  Probleme  inVerbindung  setzte  und  teils 
im  Anschlufi  an  Spinoza,  teils  in  scharfem  Gegensatz  zu 

Harnack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Anfl.    n.  13 


194  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  YH. 

ihm  eine  nene  Kosmologie  ausarbeitete ,  so  behielt  er  mit 
stets  gleichem,  produktiven  Interesse  die  Mannigfaltigkeit 
in  der  Abfolge  der  Erscheinungen  und  alle  wissenschaft- 
lichen  Disziplinen  im  Auge.  nDie  verschiedenen  Arten  der 
Wissenschaften  sind  dergestalt  miteinander  verbunden,  dafi 
sie  niclit  wohl  ganzlich  getrennt  werden  konnen"  —  so  heifit 
es  in  unserer,  von  Leibniz  entworfenen  Stiftungsurkunde. 
Sah  er  doch  in  alien  Bewegungs-  und  Lebensvorgangen 
nur  die  unendlich  reichen  Entfaltungen  eines  einzigen, 
aber  in  einer  Fiille  von  Erscheinungen  sich  answirkenden 
Prinzips.  Das  Studium  dieser  Auswirkungen  verlangt  In- 
dividualisierung ;  aber  selbst  die  intimsten  Besonderheiten 
las  sen  sich  ohne  Kenntnis  der  "Wechselwirkungen,  in  denen 
sie  stehen,  nicht  ergriinden  und  weisen  auf  ein  Allgemeinstes 
zuriick.  Traumte  er  doch.  davon,  dafi  es  gelingen  konne, 
die  ganze  Fiille  der  Erscheinungen  mit  dem  Gredanken  so 
sicher  zu  erfassen,  dafi  sie  sich  als  ein  Grewebe  von  ZijBfern 
und  Rechnungen  darstellen  lasse. 

Grilt  es  nun,  eine  wissenschaftliche  Anstalt  zu  griinden, 
die  dieser  Aufgabe  entspricht,  so  kann  nur  eine  Akademie, 
oder  wie  Leibniz  lieber  sagte,  eine  Sozietat  der  Wissen 
schaften  in  Frage  kommen.  Unter  einer  solchen  verstand 
er  nicht  eine  einzelne  Anstalt  in  einem  Lande  und  mit 
beschrankten  Aufgaben,  dergleichen  es  schon  in  anderen 
Landern  manche  gab,  sondern  den  Zusammenschlufi  aller 
Forscher  auf  der  ganzen  Erde.  In  jedem  Kulturstaate 
soil  eine  Sozietat  der  Wissenschaften  gegriindet  werden; 
sie  sollen  in  engster  Verbindung  miteinander  stehen,  sollen 
nach  einem  gemeinsamen  Plane  arbeiten,  sich  derselben 
Methoden  und  Ausdrucksmittel  bedienen  und  so  eine  grofie 
Gemeinschaft  darstellen.  Das  hohe  Ideal  der  Platoniker 
leuchtet  hier  wieder  auf,  aber  auf  den  Boden  von  Europa 
gestellt.  Mit  religiosem  Enthusiasmus  hat  Leibniz,  ein- 
undzwanzig  Jahre  alt,  diesen  Gredanken  erfafit,  und  noch 
als  Q-reis  hat  er  eigentlich  nur  fur  ihn  gelebt.  Staaten 


Die  Koniglich  Pretiflisclie  Akademie  der  Wissenschaften.       195 

und  Kirchen  verblaBten  ihm  neben  der  neuen  Q-emeinschaft, 
wie  sie  seinem  G-eiste  vorschwebte.  In  ihr  stellt  sich  die 
Menschheit  dem  groflen  Baumeister  der  Welten  zu  Dienste; 
in  ihr  hat  die  wahre  Verehrung  Gottes,  die  in  der  Er- 
kenntnis  seiner  "Werke  besteht,  ihre  Statte;  aus  ihr  muB 
sich  ein  neuer  intellektueller  und  sittlicher  Zustand  und 
eine  bisher  nicht  gekannte  Grliickseligkeit  entwickeln. 

Aber  wie  eine  solche  Sozietat  begriinden  und  wo  an- 
fangen?  Zuerst  dachte  er  an  den  Kaiser  und  darum  an 
Mainz  und  Wien.  An  der  Wiirde  des  Kaisers  haftete 
noch  immer  etwas  Universales  —  das  heilige  romische 
Reich  war  noch  kein  ganz  leerer  Begriff.  Unter  den  Fitti- 
chen  seines  Adlers  sollen  die  neuen  Bestrebungen  Kraft 
und  Gestalt  gewinnen.  Vergebliche  Hoffnung!  Von  Han 
nover  aber,  seiner  engeren  Heimat,  konnte  Leibniz  vollends 
nichts  erwarten.  Da  lenkte  sich  sein  Blick  auf  Branden 
burg.  Als  der  Staat  des  groBen  Kurfursten,  als  Vormacht 
des  Protestantismus  und  der  religiosen  Freiheit,  als  Q-renz- 
land  der  wissenschaftlich  noch  unentdeckten  G-ebiete  des 
Os tens  riickte  Brandenburg-PreuBen  in  den  Mittelpunkt 
seiner  wissenschaftlichen  und  politischen  Interessen.  Mit 
zaher  Energie  suchte  er  Eingang  in  das  Land,  dessen  grofie 
Zukunft  er  sicher  vorausgesehen  hat.  Die  ersten  Anlaufe 
miBgluckten.  Dann  aber  kam  seinen  Planen  die  hohe 
Frau  entgegen,  die  mit  lebendigem  Anteil  alien  Bewe- 
gungen  des  Zeitalters  folgte  —  Sophie  Charlotte.  Die 
Sozietat  wurde  gestiftet. 

Das  Statut  vom  Juli  1700  steckt  der  neuen  Schopfung 
die  weitesten  Grrenzen  und  stellt  ihr  bisher  unerhorte  Auf- 
gaben.  Ausdriicklich  heifit  es,  daB  diese  Sozietat  sich 
Dalles  das  zum  Objekt  nehmen  soil,  was  die  anderswo  auf- 
gerichteten  Sozietaten,  Akademien  und  Vereine  —  ein- 
schliefilich  der  Missionsvereine  —  in  alien  Zweigen  der 
Wissenschaft  verfolgen".  Auch  wird  die  Unterscheidung 
einer  rein  betrachtenden  und  einer  praktischen  Tatigkeit 

13* 


196  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:   VII. 

in  der  Wissenschaft  nicht  zugestanden;  denn  es  handelt 
sich  um  die  Forderung  ,,des  ganzen  gemeinen  "Wohlwesens": 
Produktivitat  und  Konnen  sind  fur  alle  Disziplinen  die 
hochsten  Mafistabe.  Darum  soil  es  kerne  besondere  philo- 
sophische  Klasse  in  der  Sozietat  geben  —  die  wahre  Philo- 
sophie  kommt  allein  durch  das  Zusammenarbeiten  aller 
Klassen  zustande.  Urspriinglich  wurden  drei  unterschieden, 
die  physikaKsch-mathematische,  die  deutsche  und  die  hi- 
storisch-literarische  Klasse.  Bald  aber  wurde  eine  vierte, 
die  medizinisch-naturwissenschaftliche,  hinzugefugt.  Jeder 
wurden  bestimmte  Hauptaufgaben  vorgeschrieben.  Die 
physikalisch-mathematische  soil  magnetische  Beobachtungen 
vom  Rhein  bis  zur  Memel  anstellen  lassen,  nach  RuJSland 
und  China  vordringen  und  diese  weiten  Q-ebiete  wissen- 
schaffclicn  nach  alien  JEliehtungen  untersuchen.  Sofern  sie 
in  iiberseeische  Lander  geht,  wird  ihr  die  Unterstutzung 
^Unserer  afrikanischen  und  amerikanischen  Kompagnie" 
versprochen.  Als  physikalisch-technisches  Kollegium  soil 
sie  alle  neuen  Entdeckungen ,  Maschinen,  Modelle  usw. 
priifen,  Mafie  und  G-ewichte  inspizieren  und  sie  einheitlich 
nach  dem  Dezimalsystem  regeln.  Die  medizinisch-natur- 
wissenschaftliche  KHasse  soil  uberall  im  Lande  ,7medizinische 
Observationen"  veranlassen,  das  Wetter  beobachten,  den  Zu- 
sammenhang  der  Epidemien  mit  ihm  studieren,  iiber  Wachs- 
tum  und  Schadigung  der  Feldfriichte  regelmaflige  Erkun- 
digungen  einziehen,  Bodenuntersuchungen  anstellen  und 
die  Ursachen  von  Kalamitaten  ergriinden.  Die  deutsche 
Klasse  —  ihre  Niedersetzung  geschah  auf  speziellen  Befehl 
des  Kurfiirsten  —  soil  wdie  uralte  teutsche  Sprache  in  ihrer 
natiirlichen,  anstandigen  Reinigkeit  und  Selbststand  er- 
halten",  gute  deutsche  Redensarten  an  Stelle  der  Fremd- 
worter  hervorsuchen  und  wden  Sohatz  des  teutschen  Alter- 
tums,  auch  die  Rechte  und  Grewohnheiten  unserer  Vor- 
fahren,  so  in  den  alten  jetzt  fast  unbekannten  Worten 
verborgen  stecken,  anmerken,  sammeln  -and  erlautern". 


Die  Kttniglich  Preuflische  Akademie  der  Wissenschaften.       197 

Die  literarische  Klasse  soil  sich  ndas  wichtige  Werk  der 
Historien,  sonderlich  der  teutschen  Nation  und  Kirchen, 
zumalen  in  Unseren  Landen,  angelegen  sein  lassen,  Alles 
soviel  moglich,  aus  Diplomatibus,  glaubwiirdigen  Skripturen 
und  gleichzeitigen  Skribenten  darthun",  und  das  Wesen 
und  Recht  der  deutschen  Reformen  ins  Licht  stellen  und 
verteidigen.  Dazu  soil  sie  die  orientalischen  Sprachen  und 
Studien  pflegen  und  zusammen  mit  der  mathematischen 
Klasse  in  fremde  Lander  vordringen,  um  sie  fur  die  christ- 
liche  Kultur  und  Gtesittung  erobern  zu  helfen.  Die  ge- 
samte  Akademie  endlich  soil  als  erne  wissenschaftliche  Auf- 
sichtsbehorde  und  als  eine  Normalanstalt  fur  alle  notwen- 
digen  Hand-,  Lehr-  und  Schulbucher  fungieren. 

Welch  eine  Fulle  von  Aufgaben!  Und  noch  ist  langst 
nicht  alles  genannt,  was  dieser  ersten  universalen  Akademie 
in  Europa  an  ihrer  Wiege  als  Zweck  gesetzt  worden  ist. 
Mit  dem  Auge  des  Propheten  schaute  Leibniz  in  die  Zu- 
kunft,  weil  er  in  seinem  Greiste  die  ganze  Entwicklung  der 
"Wissenschaften  gleichsam  schon  erlebt  hatte.  Keine  einzige 
hohe  Aufgabe  fehlt  hier,  und  keine  ist  genannt,  die  niclit 
in  der  Folgezeit  aufgenommen  worden  ware.  Die  Q-eschichte 
kennt  nur  einen  Mann,  der  ahnliches  geleistet  hat,  Ari- 
stoteles.  Me  aber  soil  es  diese  Akademie  vergessen,  dafi 
sie  es  gewesen  ist,  welche  ausersehen  wurde,  die  erste 
Tragerin  universaler  wissenschaftlicher  Aufgaben  in  der 
modernen  Zeit  zu  werden!  Wie  wunderbar  ist  doch  der 
Q-ang  der  Geschichte!  Von  dem  kleinen  Wittenberg  ist 
die  Reformation  Europas  ausgegangen,  und  die  damals 
noch  unbedeutende  Hauptstadt  des  brandenburgischen  Kur- 
furstentums  wurde  als  Statte  fur  wissenschaftliche  Bestre- 
bungen  ausersehen,  wie  sie  in  dieser  Universalitat  weder 
in  Paris  noch  in  London  zu  finden  waren.  Und  auch  darin 
hat  sich  Leibnizens  Seherblick  bewahrt,  dafi  er  einen 
ganzen  KJreis  von  Akademien  in  der  Zukunft  schaute. 
Heute  stehen  wir  in  einem  solchen;  sie  sind,  soweit  sie 


198  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  YII. 

universale  sind,  samtlich  nach  dem  Muster  der  unsrigen 
gestiftet  worden,  und  sie  haben  sich  zu  gemeinsamen  Auf- 
gaben  vereinigt. 

Aber  so  genial  und  grofi  gedacht  der  Plan  der  neuen 
Schopfung  war,  so  weit  blieb  diese  selbst  am  Anfang  hinter 
ihrer  Aufgabe  zuriick.  Es  fehlte  nahezu  alles,  die  Personen 
und  die  Mittel.  Solange  Leibniz  lebte,  war  er  selbst  die 
Akademie.  Aufier  ihm  hat  sie  in  den  vierzig  ersten  Jahren 
ihres  Bestehens  kaum  ein  halbes  Dutzend  nennenswerter 
Grelehrter  besessen.  Die  Kraft,  bildend  auf  Personlichkeiten 
einzuwirken  und  bedeutende  Manner  zu  erziehen,  1st  ihni 
versagt  gewesen.  Dazu  kam  noch  ein  anderes:  um  einen 
wirklichen  Fortschritt  in  der  ganzen  Breite  der  Entwick- 
lung  zu  bewirken,  war  es  notwendig,  die  dumpfen  Mauern 
vollends  niederzureiflen,  in  denen  die  alte  Zeit  gelebt  hatte. 
Der  scholastische  Betrieb  der  "Wissenschaften  war  aufgelost; 
ihre  Emanzipation  von  der  Kirche  und  Theologie  war  im 
Prinzip  vollzogen;  es  gait,  die  Ruinen  zu  beseitigen.  Aber 
die  Kraft  der  Exklusive  fehlte  dem  grofien,  alles  in  eins 
schauenden  Denker;  auch  das  Veraltete  vermochte  er  zu 
konservieren  und  das  Fragwiirdigste  an  irgend  einer  Stelle 
seines  weitschichtigen  Weltbildes  noch  unterzubringen:  seine 
Starke  war  auch  seine  Schwache.  So  vermochten  die 
Qeisteswissenschaften  noch  nicht  zu  einem  frischen  Leben 
zu  gelangen.  Die  Elemente  fur  einen  neuen  Bau  waren 
noch  zerstreut;  auch  besafien  sie  noch  nicht  die  Bedeutung 
durchschlagender  produktiver  und  kritischer  Prinzipien. 
Freiheit  und  Q-eschmack,  sichere  Beobachtung  und  strenger 
Stil  fehlten:  vom  Englander  und  Franzosen  war  der  Deut 
sche  noch  durch  einen  weiten  Abstand  getrennt.  Und  vor 
allem:  nicht  nur  der  deutsche  Greist  schlummerte  noch  — 
es  gab  noch  keinen  deutschen  Staat!  Die  Qeisteswissen 
schaften  aber  bedurfen  zu  ihrer  Bliite  den  frischen  Tau 
personlichen  Lebens  und  die  feste  Unterlage  nationalen 
Volks-  oder  Staatsbewufitseins.  Ohne  sie  fuhren  sie  ein 


Die  KOniglich.  Preufiische  Akademie  der  Wissenschaften.       199 

blofles  Scheindasein.  Das  hat  der  Monarch,  wohl  erkannt, 
vor  dessen  Blick  alles  Scheinwesen  sich  aufloste,  Friedrich 
Wilhelm  I.  Er  dachte  daran,  die  Akademie  aufzuheben, 
da  sie  nichts  ErsprieBliches  leiste.  Zu  Hilfe  zu  kommen 
vermochte  er  ihr  nicht  -  -  das  lag  aufierhalb  des  Kreises 
seiner  Fahigkeiten  und  Aufgaben.  Mit  seiner  offenbaren 
Ungunst  belastet,  eines  Fiihrers  entbehrend,  ohne  Mittel, 
sich  wiirdig  zu  erganzen,  durchlebte  die  Akademie  dunkle 
Jahre.  Und  doch  hat  sie  auch  in  dieser  Zeit  gezeigt,  daB 
sie  lebte.  Die  Schriften,  welche  sie  erscheinen  liefi,  sind 
nicht  weltbewegend,  aber  forderlich  gewesen. 

Die  Dammerung ,  in  der  das  geistige  Leben  unseres 
Vaterlandes  lag,  wich,  als  der  groBe  Friedrich  den  Thron 
bestieg.  Schon  als  Kronprinz  hatte  ihn  die  Frage  der 
Neubildung  der  Akademie  lebhaffc  beschaftigt.  So  bald  er 
die  Ziigel  der  Regierung  ergrifFen  hatte,  begann  er  sie 
durchzuf iihren ,  ja,  er  wollte  urspriinglich  eine  ganz  neue 
Akademie  stiften.  An  die  ersten  Gelehrten  Enropas  schrieb 
er,  um  sie  zu  gewinnen.  Die  schlesischen  Klriege  ver- 
zogerten  das  Werk.  Unterdessen  hatte  der  geistvolle  Feld- 
marschall  von  Schmettau  eine  literarische  Gesellschaft  in 
engem  Anschlufi  an  den  Hof  und  die  Aristokratie  nach 
dem  Vorbild  franzosischer  Societes  gegriindet.  Der  Konig 
befahl  die  Verschmelzung  beider  G-esellschaften,  stellte  den 
beriihmtesten  Grelehrten  des  Zeitalters,  Maupertuis,  mit 
auitarordentlichen  Gewalten  an  die  Spitze  der  neuen  Schop- 
fung,  hiefi  sie  die  lateinische  Sprache  mit  der  franzosi- 
schen  vertauschen  und  erklarte  sich  selbst  nicht  nur  zum 
Protektor,  sondern  auch  zum  wirklichen  ,,Academicien". 
So  wurde  die  Akademie  die  fridericianische  und  eine  fran- 
zosische  zugleich. 

Es  ist  iiblich,  das  eine  zu  verherrlichen  und  das  an- 
dere  zu  beklagen.  Uberschlagt  man  aber,  in  welchem  Zu- 
stande  sich  Geist,  Wissenschaft  und  Geschmack  bei  den 
Deutschen  um  das  Jahr  1745  befanden,  so  wird  man  dem 


200  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  VII. 

Konige  recht  geben.  Nicht  nur  wurde  erst  jetzt  die  preu- 
flische  Akademie  wirklich  auf  die  europaische  Biihne  ge- 
stellt,  sondern  sie  gewann  auch  in  der  franzosischen  Schule 
Form  und  Haltung;  sie  lernte  fur  das  Publikum  —  im 
idealen  Sinne  des  Worts  —  schreiben  und  sich  ein  solches 
in  Deutschland  erziehen.  Der  deutsche  Geist  aber  ging 
dabei  nicht  unter:  ihn  belebte  der  grofle  Konig  nicht  durch 
Worte,  sondern  durch  Taten,  und  die  liervorragendsten 
G-elehrten  in  seiner  Akademie  neben  Maupertuis  und 
Lag  range  waren  nicht  die  schiffbriichigen  franzosischen 
Theologen  und  Literaten,  sondern  die  deutschen  Forscher 
—  ein  Euler  und  Lambert,  ein  Marggraf,  Lieberkiihn, 
Sufimilch  u.  a. 

"Was  hat  die  fridericianische  Akademie  geleistet?  Sie 
hat  eine  feste  und  eigentumliche  Vorstellung  von  ihren 
Aufgaben  besessen  und  sie  hat  sie  ehrenvoll  durchgefuhrt. 
Auf  drei  Linien  stellt  sich  das  dar. 

Erstlich,  in  der  Mathematik  und  den  Naturwissen- 
schaften  hat  sie  stetig  und  fruchtbringend  gearbeitet.  Die 
Mathematiker  Euler  und  Lagrange  waren  die  Fiihrer  in 
ihrer  AVissenschaffc;  die  Astronomen  der  Akademie  waren 
hoch  angesehen,  und  von  den  Chemikern  durffce  Mauper 
tuis  riihmen,  ,,dafi  sie  alle  Chemiker  Europas  ausstechen". 
Die  naturwissenschaftlichen  Leistungen  der  Akademie  ver- 
dienen  um  so  grofiere  Anerkennung,  als  der  Konig  sie 
nicht  lebhaft  unterstiitzte.  ^Alle  die  Bemiihungen  in  bezug 
auf  Elektrizitat,  Q-ravitation  und  Chemie  haben  die  Men- 
schen  nicht  gebessert",  schrieb  er  an  d'Alembert,  ?3und 
ihren  moralischen  Zustand  nicht  geandert:  sie  sind  also 
ein  Luxus.  Was  wollen  alle  jene  Entdeckungen  der  Mo- 
dernen  fur  die  Gresellschaft  bedeuten,  wenn  die  Philosophic 
das  Kapitel  der  Moral  und  der  Sitten  vernachlassigt?"  Die 
Naturforscher  lieBen  sich  nicht  irre  machen,  sondern  ar- 
beiteten  ruhig  weiter. 

Aber   auch  die  Aufgabe,    welche  ihr  koniglicher  Pro- 


Die  KOniglich  Preuflische  Akademie  der  Wissenschaften.       201 

tektor  der  Akademie  besonders  nahe  legte,  1st  von  ihr  ener- 
gisch  aufgenommen  worden.  Es  ist  die  zweite  Linie,  auf 
der  sie  sich  bewegte,  und  sie  ist  mit  einem  Worte  charak- 
terisiert:  Aufklarung.  Der  Konig  lebte  in  dem  antiken, 
lateinischen  Begriff  von  Wissenschaft  und  Philosophie  und 
in  der  franzosischen  Kultur  des  17.  Jahrhunderts.  Die 
Wissenschaft  war  ihm  kein  loses  Gefuge  von  Disziplinen, 
sondern  ein  Ganzes,  und  die  Ausbildung  einer  neuen  Form 
wissenschaftlicher  Mitteilung  im  Gegensatz  zur  scholasti- 
schen  war  ihm  ebenso  wichtig  wie  die  Sache  selbst.  Dieses 
Wertlegen  auf  die  Form  entsprang  einem  sehr  lebhaften 
didaktischen  und  moralischen  Bestreben:  er  wollte  nicht 
Wissenschaft  um  ihrer  selbst  willen  verbreitet,  noch  we- 
niger  tote  Gelehrsamkeit  gepflegt  sehen,  sondern  eine  ver- 
niinftige  Denkungsart  durchsetzen,  iiberall  die  Aufklaning 
befordern  und  den  sittlichen  Zustand  der  Gresellschaft  da- 
durch  bessern.  Durch  ^Raison",  klar  und  formvollendet 
an  jedem  wissenswiirdigen  Objekt  entwickelt,  zur  Moral 
und  Toleranz:  das  ist  die  Aufgabe  der  "Wissenschaft!  Die 
Geschichte  vermag  seit  sechzehnhundert  Jahren  wenig  oder 
nichts  zu  lehren;  es  gilt  vielmehr,  sich  von  ihr  zu  befreien. 
Am  besten  ware  es,  uber  sie  hinweg  einfach  zu  den  Alten 
zuriickzukehren ;  da  dies  unmoglich,  so  soil  jede  Uber- 
zeugung,  mit  Griinden  vorgetragen,  verniinftig  entwickelt 
und  gefallig  dargestellt,  respektiert  werden.  Anfk1a.rn.ng 
ist  bereits  dort,  wo  Geist  und  Klarheit,  Zucht  der  Ge- 
danken  und  Anmut  herrschen.  Wenn  sich  in  dies  em  Me 
dium  der  Theologe,  der  Historiker,  der  Naturforscher  und 
der  Philosoph  zusammenfinden,  so  ist  zu  hoifen,  dafi  die 
schlimmsten  Wirkungen  der  Superstition,  namlich  Barbarei, 
Zuchtlosigkeit  und  Fanatismus  schwinden. 

Diese  Ideen  des  Konigs  sind  von  seiner  Akademie  er- 
griffen  worden.  Man  durchblattere  die  vierzig  Bande  ihrer 
Abhandlungen  aus  jenen  Jahren.  Die  Standpunkte  ihrer 
Verfasser  sind  ganz  verschieden;  die  Themata  entstammen 


202  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VII. 

alien  moglichen  Wissenschaften  —  aber  dennoch  sind  die 
Arbeiten  von  einem  Greiste  beherrscht  tind  dienen  einer 
Aufgabe:  ein  strebsames,  fiir  die  hoheren  Fragen  aufge- 
schlossenes  Publikum  zu  schaffen,  es  von  alien  Einseitig- 
keiten  zu  befreien,  es  an  gesundes  Denken  zu  gewohnen 
und  ihm  lebendigen  Sinn  und  Greschmack  fiir  die  Wissen 
schaften  zu  geben.  So  arbeitete  die  Akademie,  und  in 
dieser  Tatigkeit,  formgebend,  vermittelnd,  aufklarend  und 
tolerierend,  war  sie  die  fridericianische.  Wissenschaft  und 
Literatur  bildete  fiir  sie  noch  ein  untrennbares  Granzes;  in 
alien  Hauptfragen  trat  die  Q-esamtakademie  zusammen  und 
iibeiiieB  die  Entscheidung  nicht  einer  einzelnen  Klasse.  So 
stand  alles  noch  in  einer  wirksamen  Einheit. 

In  keiner  Periode  ihrer  Greschichte  hat  sich  die  Wissen- 
schaft  so  hohe  Verdienste  urn  die  Kultur  in  der  Breite 
ihrer  Entwicklung  erworben  wie  damals.  Nun  erst  wurde 
die  mittelalterliche  Weltanschauung  in  unserem  Vaterlande 
wirklich  gestiirzt,  ihre  veralteten  Hervorbringungen  be- 
seitigt.  Welch  ein  Publikum  hatten  unsere  groBen  Klas- 
siker  gefunden,  wenn  die  Aufklarung  ihnen  nicht  vor- 
gearbeitet  hatte?  Und  an  einer  fuhrenden  Stelle  in  ihr 
stand  die  fridericianische  Akademie.  Unverflochten  mit  den 
Tagesfragen  deutschen  Kleinlebens,  alien  grofien  Problemen 
der  wissenschaftlichen  Entwicklung  folgend,  jeden  Stand- 
punkt  in  ihrer  Mitte  duldend,  aber  alle  an  dieselbe  Regel 
wissenschaftlicher  Aussprache  bindend,  eine  Statte  der  Ver- 
nunft  und  der  Toleranz  —  so  hat  die  Academie  E/oyale 
des  Sciences  et  Belles-Lettres  vierzig  Jahre  gewirkt  und 
das  neue  Preufien  erziehen  helfen. 

Endlich  noch  ein  Drittes:  Die  Vertretung  der  Leibniz- 
Wolf  fschen  Philosophic  war  ein  iiberkommenes  Erbe  der 
Akademie;  aber  sie  hat  sich  niemals  mit  ihr  identifiziert. 
Im  Gregenteil,  sie  hat  sie  sehr  bald  unter  die  Kontrolle  der 
Erfahrung  gestellt  und  dem  scharfen  Luftzuge  der  eng- 
lischen  Philosophie  ausgesetzt.  Wie  es  Volt  air  es  Verdienst 


Die  KOniglich  PreuBische  Akademie  der  Wissenschaften.       203 

gewesen  1st,  diese  auf  den  Kontinent  gebracht  zu  haben, 
so  haben  die  Berliner  Akademiker  ein  redliches  Stiick  Ar 
beit  in  der  Kritik  und  den  Ausgleichsversuchen  der  idea- 
listischen  und  der  empiristischen  Philosophic  geleistet.  Die 
Weltanschauung  ihres  Konigs  respektierend,  sind  sie  doch 
stets  ihre  eigenen  Wege  gegangen;  sie  haben  La  Met  tries 
kecke  Satze  ebenso  abgelehnt  wie  den  Skeptizismus  Humes 
und  die  Probleme  vor  den  Gewaltsamkeiten  schnellfertiger 
Dogmatiker  geschiitzt. 

Aber  als  der  grofle  Konig  die  Augen  schlofl,  war  auch 
die  Zeit  fur  diese  seine  Schopfung  abgelaufen,  ja  sie  hatte 
ihre  Aufgabe  bereits  seit  einem  Jahrzehnt  erfullt.  Um  das 
Jahr  1786  war  eine  Akademie  in  Deutschland  zum  Ana- 
chronismus  geworden,  die  franzosisch  sprach,  Kant  nicht 
begrrff  und  des  wirklichen  Zusammenhangs  mit  Herder 
und  Q-oethe,  mit  der  hoher  strebenden  deutschen  Greistes- 
bewegung  jener  Tage  entbehrte.  Dafi  die  Akademie  eine 
deutsche  werden  miisse,  erkannte  der  patriotische  Staats- 
mann,  dem  Fxiedrich  Wilhelm  II.  die  Sorge  fur  sie  an- 
vertraute,  Hertzberg;  aber  dafi  der  Zeiger  der  Zeit  nicht 
mehr  bei  der  ,,Aufklarung"  stand,  erkannte  er  nicht.  Er 
hielt  diese  vielmelir  fur  den  bleibenden  Hohepunkt  des 
Q-eistes  und  beeilte  sich,  ihren  ganzen  berlinischen  Greneral- 
stab,  Castillon,  Teller,  Zollner  usw.,  in  die  Akademie 
aufzunehmen  —  aufzunehmen,  als  er  bereits  von  der  Ge- 
schichte  besiegt  war.  Traurigere  Tage  hat  die  Akademie 
kaum  je  friiher  erlebt  als  die  letzten  vierzehn  Jahre  des 
achtzehnten  Jahrhunderts.  Jene  Aufklarer  kommandierten 
nur  noch  Schatten,  lebten  vom  Huhm  ihrer  Vergangenheit 
und  sperrten  sich  selbstzufrieden  gegen  den  neuen  Geist 
ab.  Vollends  aber  schien  die  Akademie  zu  versinken,  als 
Wollner  und  nach  ihm  der  Minister  von  Massow  die  Pa 
role  ausgaben,  die  reine  Wissenschaft  sei  zu  nichts  niitze,  die 
Technik  aber  sei  das  Mittel,  durch  welches  der  Staat  gebaut 


204  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VII. 

werden  miisse:  die  Akademie  solle  sicli  whumanisieren"  und 
ihre  Krafte  dem  ,,gemeinen  Leben"  und  seiner  Verbesserung, 
sowie  alien  seinen  Bediirfnissen  zuwenden;  sie  moge  die 
nationale  Industrie  heben,  die  Vorurteile  des  Volkes  auf- 
klaren  und  das  Erziehungswesen  reinigen  und  fordern. 
Wurde  ihr  doch  durch  eine  Kabinettsordre  vom  April  1798 
geradezu  zugemutet,  die  Niitzlichkeit  in  Paragraphen  zu 
fassen  und  sich  als  technische  Staatsanstalt  und  als  Staats- 
erziehungsbehorde  zu  etablieren.  GewiO  kiindigten  sich.  hier 
auch  neue,  sehr  berechtigte  Bedurfnisse  an,  vor  allem  das 
nach  einer  hoheren  Lehranstalt,  einer  zentralen  Universitat. 
Sie  fehlte  in  Berlin  und  im  preuJSischen  Staate  noch,  und 
es  war  ein  richtiger  Gedanke,  sie  in  Verbindung  mit  der 
Akademie  zu  setzen.  Aber  eine  einfache  Verwandlung  der- 
selben  in  eine  hohe  Schule  war  hochst  bedenklich.  Der 
Akademie  gelang  es,  sich.  dieser  Zumutung  zu  entziehen, 
aber  besser  wurde  es  auch  nicht:  noch  im  Jahre  1799  wurde 
der  Grofimeister  der  Aufklarung,  Nicolai,  aufgenommen, 
und  die  Publikationen  der  Akademie  riickten  in  bedenk- 
liche  Nahe  zu  der  ^Allgemeinen  deutschen  Bibliothek". 

Aber  der  grofie  Umschwung  trat  doch  ein;  nur  kam 
er  anders,  als  Mas  sow  und  die  Nutzlichkeitsfanatiker  ihn 
gewiinscht  hatten.  Der  erste  Dank  gebiihrt  dem  Geheimen 
Kabinettsrat  Bey  me.  Begeistert  von  dem  Idealismus 
Fichtes  und  verehrungsvoll  zu  Goethe  und  Schiller 
aufschauend,  1st  er  es  gewesen,  dem  die  Akademie  die 
Grundlegung  ihrer  Reorganisation  verdankt.  Nicht  neue 
Statuten  sind  zunaehst  notig,  sondern  neue  Manner:  das 
war  die  Einsicht,  nach  der  er  gehandelt  hat.  Nachdem  im 
Jahre  1800  Alexander  von  Humboldt  aufgenommen 
war,  fuhrte  Bey  me  in  den  nachsten  Jahren  der  Akademie 
Hufeland,  Thaer  und  Johannes  von  Miiller  zu. 
Schiller  und  Goethe,  mit  denen  er  verhandelt  hat,  blieben 
unerreichbar,  und  Fichte,  dessen  Aufnahme  er  energisch 
betrieb,  wurde  von  der  Akademie  abgelehnt.  Aber  Fried- 


Die  KOniglich  PreuBische  Akademie  der  Wissenschaften.       205 

rich  August  Wolf,  von  Buch  und  Buttmann  wurden 
ihr  schon  vor  der  grofien  Katastrophe  des  Staates  zugefuhrt. 
Die  Akademie  war  bereits  in  der  Umwandlung  begriifen, 
als  die  Reinigung  eintrat,  die  zur  Wiedergeburt  des  preufli- 
schen  Volkes  gefuhrt  hat.  Mitten  in  der  Niederlage  er- 
starkte  der  Glaube  an  eine  neue,  hohere  Existenz,  an  die 
umbildende  Kraft  der  G-esinnung  und  der  Wissenschaft, 
die  den  Menschen  in  seinem  ganzen  Dasein  erfassen  sollten, 
damit  aus  dem  G-eiste  alles  neu  wiirde,  damit  unter  den 
Triimmern  der  Bau  der  Zukunft  entstiinde.  Wilhelm  von 
Humboldt,  Niebuhr,  Schleiermacher  und  Savigny 
traten  fast  gleichzeitig  in  die  Akademie  ein:  sie  haben  die 
dritte  Periode  unserer  Q-eschichte  begriindet. 

Diese  neue  Periode  ist  durch  ein  Doppeltes  charak- 
terisiert:  durch  das  Verhaltnis,  in  welches  die  Akademie 
zu  der  damals  gestifteten  Berliner  Universitat  gesetzt  wor- 
den  ist,  und  durch  den  neuen  Q-eist,  in  welchem  sie  ihre 
eigene  Aufgabe  und  die  der  Wissenschaft  iiberhaupt  er- 
faflt  hat. 

Die  Universitaten  waren  im  18.  Jahrhundert  langsam 
wieder  aufgebluht.  Das  Vorbild  Halles  hatte  machtig  ge- 
wirkt,  und  in  Q-ottingen  war  ein  Muster  aufgestellt  worden, 
welches  die  Schwesteruniversitaten  zur  Nachfolge  reizte. 
In  Halle  bluhte  ein  philologisches  Seminar,  welches  die 
ganze  Altertumswissenschaft  auf  eine  hohere  Stufe  hob, 
und  auch  in  Q-ottingen  wurde  nicht  nur  gelehrt,  sondern 
wirklich  geforscht.  Noch  mehr:  an  dieser  Zentralstatte 
deutscher  Bildung  war  eine  Sozietat  der  Wissenschaften 
mit  der  Universitat  vereinigt,  und  diese  Verbindung  trug 
reiche  Friichte.  Als  nun  in  Berlin  die  neue  grofie  Lehr- 
anstalt  gestiftet  werden  sollte  und  wirklich  ins  Leben  trat, 
als  viele  Stimmen  verlangten,  die  Akademie  solle  einfach 
in  sie  eingeschmolzen  werden,  da  war  es  vor  allem  Wil- 
helm  von  Humboldt,  der  den  richtigen  Weg  wies.  Er 


206  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Reden:  VII. 

erkannte  unbefangen  an,  dafl  die  Akademien  in  Deutsch- 
land  bisher  noch  nicht  Befriedigendes  geleistet  hatten,  aber 
er  erkannte  auch,  daB  die  Idee,  die  ihnen  zugrunde  liegt, 
richtig  sei  und  daB  sie  lebensfahig  werde,  wenn  man  die 
Akademien  mit  den  Universitaten  in  Verbindung  bringe. 
,,Die  Idee  einer  Akademie",  so  lauten  seine  Worte,  ,,als  die 
hochste  und  letzte  Freistatte  der  Wissenschaft  und  die  vom 
Staate  am  meisten  unabhangige  Korporation  muB  festge- 
halten  werden;  man  muB  es  auf  die  Grefahr  ankommen 
lassen,  ob  eine  solche  Korporation  durch  zu  geringe  oder 
einseitige  Tatigkeit  beweisen  wird,  daB  das  Rechte  nicht 
immer  am  leichtesten  unter  den  giinstigsten  auBeren  Be- 
dingungen  zustande  kommt.  Man  muB  es  darauf  an 
kommen  lassen,  weil  die  Idee  an  sieh  schon  nnd  wohltatig 
ist,  und  immer  ein  Augenblick  eintreten  kann,  wo  sie  auch 
auf  eine  wiirdige  Weise  ausgefullt  wird."  „  Akademie,  Uni- 
versitat  und  groB"e  wissenschaftliche  Einzelinstitute" ,  fahrt 
er  fort,  75sind  drei  gleich  unabhangige  und  integrante  Teile 
der  wissenschaftlichen  Gesamtanstalt  des  Staates.  Aka 
demie  und  Universitat  sind  beide  gleich  selbstandig,  allein 
insofern  verbunden,  dafi  sie  gemeinsame  Mitglieder  habeii 
und  daB  die  Universitat  alle  Akademiker  zu  dem  Rechte, 
Vorlesungen  zu  halten,  zulaBt." 

In  maBgebenden  Ausfuhrungen  hat  Humboldt  das 
Wesen  und  Recht  der  Akademie  neben  der  Universitat  — 
aber  nie  ohne  sie  —  dargelegt.  Das,  was  er  gefordert  und 
geordnet  hat,  hat  sich  bis  auf  den  heutigen  Tag  bewahrt. 
Ihm  und  seinen  Mitarbeitern  verdanken  wir  unser  neues 
Dasein,  ihm  und  ihnen  die  Verbindung  mit  der  Universitat, 
die  uns  im  hoheren  Sinne  wirklich  erst  lebensfahig  gemacht 
hat.  Erst  jetzt  war  die  Akademie  sicher,  daB  es  ihr  nie 
an  ausgezeichneten  Kraften  fehlen  werde,  wahrend  bisher 
die  Wahl  neuer  Mitglieder  bei  den  knappen  Mitteln  stets 
die  grofiten  Schwierigkeiten  gemacht  hatte.  Erst  jetzt 
erhielt  sie  fort  und  fort  Grelehrte,  die  ihre  Wissenschaft 


Die  Koniglich  Preufiische  Akademie  der  Wissenschaften.       207 

auch  als  Lehre  erprobt  batten,  und  wurde  doch  endgiiltig 
von  der  Verpflichtung  entbunden,  fur  die  Verbreitung  der- 
selben  zu  sorgen.  An  dem  heutigen  Tage  bezeugt  daher 
die  Akademie  ihrer  jiingeren,  in  mancher  Beziehung  mach- 
tigeren  Schwester,  der  Universitat,  ihren  lebhaften  Dank; 
sie  bezeugt  auch,  dafi  niemals  ein  MiBton,  niemals  auch 
nur  ein  Schatten  von  Eifersucht  ihr  gegenseitiges  Ver- 
haltnis  getriibt  hat. 

Aber  das  neue  Dasein,  welches  die  Akademie  empfing, 
war  doch  nicht  nur  in  der  segensreichen  Verbindung  mit 
der  Universitat  gegeben:  ein  neuer  Greist  hielt  seinen  Ein- 
zug,  unterwarf  sich  alle  Anschauungen  und  Erkenntnisse, 
steckte  neue  Ziele  und  hauchte  Kraft  und  Leben  ein. 
Polyhistorie,  E/aison  und  Moral  waren  die  Devisen  des  ver- 
gangenen  Jahrhunderts  gewesen,  ein  aufgeklarter  Cicero- 
nianismus,  teils  franzosisch  gefarbt,  teils  in  deutscher 
Schulgestalt  —  keine  Spur  von  7,Griechheit".  Nun  aber 
war  durch  Rousseau  die  Individualitat  und  das  Innenleben 
entfesselt  worden  —  entfesselt  durch  die  Phantasie  und 
den  Drang  nach  Freiheit;  nun  hatten  Kant  und  Fichte 
die  behagliche  Ruhe  eines  konventionellen  Idealismus  ge- 
stort  und  die  Anspannung  aller  sittlichen  KJrafte  verlangt; 
nun  war  durch  Winckelmann  das  Auge  erschlossen  worden 
fiir  die  Schonheit  griechischen  Lebens,  und  der  hohere 
Kunstsinn  war  geweckt;  nun  entschleierte  sich  durch 
Herder  dem  empfindenden  und  nachempfindenden  Geiste 
das  Antlitz  seiner  bisher  verhiillten  G-eschichte:  die  Berge 
taten  sich  auf ;  Volkerpoesie  und  Volkergeschichte  in  der 
unendlichen  Anzahl  ihrer  Typen  erschlossen  sich  und  trafen 
mit  einem  neuen  Verstandnis  des  Menschen  zusammen. 
Und  iiber  das  alles  —  nun  erlebte  man  Groethe  und  erlebte 
in  ihm  einen  Dichter  und  Denker,  in  welchem  sich  das 
neue  Dasein  wie  von  einer  gottlichen  Naturkraft  ausge- 
wirkt  darstellte. 

In  der  Philologie  als  der  genialisch-kritischen  Wissen- 


208  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Beden:  VII. 

schaffc  vom  Altertum  fanden  die  neuen  Erkenntnisse  zuerst 
Ausdruck  und  Halt.  In  ihr  liefi  man  Plato  wieder  auf- 
leuchten  mit  dem  grofien,  tiefen  Auge,  und  well  man  den 
Geist  des  Altertums,  wie  man  inn  auf  den  Hohen  empfing, 
verehrte,  nahm  man  es  auch  genau  mit  dem  Buchstaben; 
man  wollte  die  ganze  herrliche  Welt  wiedererwecken ,  die 
einst  eine  Wirklichkeit  und  jetzt  noch  kein  Traum  schien. 
Aber  das  Griechische  war  in  Wahrheit  dock  nur  ein  ideali- 
siertes  Paradigma:  der  eigene  Sinn  fur  das  Bewegte  und 
Lebendige,  das  Hohe  und  Erhebende  war  geweckt  und 
ziindete  dem  verwandten  griechischen  Geiste  das  erste 
Lobopfer  an.  Bald  aber  verbreitete  sich  dieser  Sinn  iiber 
alle  Gebiete  geschichtlicher  Erkenntnis  und  Wissenschaft, 
die  Religionslehre,  das  Studium  des  Rechts,  die  heimische 
Sprache,  die  Sprachwissensehaft  iiberhaupt,  das  Leben  und 
die  Dichtung  aller  Yolker.  Die  herrliche  Erhebuag  der 
Freiheitskriege  machte  auch  die  Denker  schaffensfreudig. 
Mit  unausloschlicher  Dankbarkeit  schauen  wir  auf  zu  der 
Generation  von  Gelehrten,  die  in  jenen  Jahrzehnten  unsere 
Akademie  neu  gebaut,  die  moderne  Geisteswissenschaffc  in 
alien  ihren  Disziplinen  begriindet,  ja  geschaffen  und  unser 
Vaterland  an  die  Spitze  der  geistigen  Bewegung  in  Eu- 
ropa  gestellt  haben.  In  diesen  Mannern  hat  Deutschland 
die  zweite  Epoche  seiner  Renaissance  erlebt.  Mit  dem 
reinsten  Eifer  fiir  die  Wissenschaft  verbanden  sie  ein 
starkes  Gefuhl,  einen  edlen  Freiheitssinn  und  eine  kraftige 
Uberzeugung  von  der  wesentlichen  Einheit  aller  hoheren 
Erkenntnisse.  Von  einer  erhebenden  Weltanschauung  ge- 
tragen,  strebten  sie  danach,  eben  diese  Anschauung  durch 
ihre  Arbeit  zu  erweitern  und  zu  befestigen.  Unsere  Aka 
demie  hat  die  Ehre  gehabt,  die  Mehrzahl  dieser  deutschen 
Gelehrten  zu  ihren  Mitgliedern  zahlen  zu  diirfen.  Sie  hat 
von  ihnen  den  Gehalt  und  die  Form,  sie  hat  den  E/uhm, 
aber  auch  heilige  Pflichten  als  Erbe  empfangen.  Brauche 
ich  Sie  an  Schleiermachers  Religionsphilosophie,  an  Nie- 


Die  KOniglicli  Preuflische  Akademie  der  Wissenschaften.       20'J 

buhrs  romische  Gesch.ich.te,  Wilhelm  von  Humboldts 
und  Bopps  Sprachwissenschaft,  an  Savignys  romisches 
Recht,  an  Grimms  deutsche  Grammatik  und  Volkskunde, 
an  Bockhs  Altertumswissenschaft,  an  Hitters  Geographic 
und  an  Lachmanns  Textkritik  zu  erinnern?  Alle  diese 
Manner  wirkten  einmiitig  in  dieser  Akademie  zusammen 
und  hoben  die  historisch  -  philologische  Klasse  auf  eine  be- 
herrschende  Hohe.  Die  akademischen  Abhandlungen ,  die 
sie  veroffentlichten,  haben  eine  tiefe  innere  Verwandtschaft: 
sie  verbinden  eine  neue  Betrachtung  des  Stoffs  mit  einer 
Methode,  die  deshalb  ,,exaktu  ist,  weil  sie  sich  des  Ein- 
zelnen  wie  des  Ganzen  mit  Liebe  bemachtigt.  Dazu  sind 
diese  Abhandlungen  durchwaltet  von  einer  inneren  Idealitai 
der  Sprache,  die  ihnen  einen  unvergangliehen  Reiz  verleiht. 
Im  achtzehnten  Jahrhundert  schrieb  man  mit  Esprit,  wei] 
man  sich  selbst  fur  kliiger  hielt  als  die  Geschichte,  jene 
aber  sind  mit  Geist  geschrieben;  denn  sie  sind  aus  der 
Begeisterung  fur  die  Sache  geboren. 

Nicht  ebenso  schnell  und  umfassend  entwickelten  sicL 
die  Naturwissenschaften  bei  uns.  Zu  weit  und  zu  langt 
war  Deutschland  hier  hinter  anderen  Landern  zuriickge- 
blieben,  und  als  eine  Erhebung  begann,  da  muGte  der 
schwere  Kampf  ausgefochten  werden  wider  eine  phantas- 
tische  Naturphilosophie.  Die  Akademie  wies  diese  Pseudo- 
wissenschaft  von  Anfang  an  ab,  und  um  Alexander  von 
Humboldt,  der  endlich  aus  Paris  —  nachdem  er  der 
deutschen  Wissenschaft  dort  unsagliche  Dienste  geleistet 
hatte  —  zuriickgekehrt  war,  sammelten  sich  allmahlich 
Seebeck,  Mitscherlich,  Encke,  E/ose,  Dirichlet  und 
Jacob i.  Humboldt  ist  es  gewesen,  der  in  PreuCen  der 
Naturwissenschaft  in  ihrem  ganzen  Umfange  das  Haus  ge- 
baut  und  der  Wissenschaft  uberhaupt  im  Staatsleben  die 
gebiihrende  Stellung  errungen  hat,  an  Vielseitigkeit  der 
Interessen  und  wirksamer  Sorge  fur  das  Ganze  einem 
Leibniz  wahlverwandt.  Um  1835  standen  die  physika- 

Harnack,  Reden  and  Aufsatze.    2.  Aufl.    II.  14 


210  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Beden:  VII. 

lisch-mathematischen  Disziplinen  in  ebenbiirtiger  Vertretung 
neben  den  historischen;  die  biologischen  aber  erhielten  in 
Johannes  Miiller  den  epochemachenden,  universalen  For- 
scher,  der  der  Lehrer  der  Lehrer  geworden  ist. 

Immer  deutlicher,  wenn  auch  durch  schwere  innere 
Spannungen  hindurch,  erkannte  die  Akademie  jetzt  die 
Aufgabe,  die  ihr  im  Unterschied  von  alien  anderen  wissen- 
schaftlichen  Anstalten  obliegt.  Als  dreifache  hat  sie  sie 
bestimmt.  Erstlich,  sie  wurde  sich  bewuBt,  dafi  sie  als 
reprasentierende  und  begutachteride  Korperschaft  die  ideal e 
Einheit  der  Wissenschaft  zu  verwirklichen  und  im  Leben 
des  Staates  und  der  Gesellschaft  darzustellen  habe.  Zwei- 
tens,  sie  erkannte,  dafi  es  ihre  Aufgabe  sei,  ,,wie  ein 
machtiges  Schiff  die  hohe  See  der  Wissenschaft  zu  halteii 
und  in  tonangebenden  Vortragen  und  Mitteilungen  alle 
auftauchenden  Spitzen  der  Forschung  neu  und  frisch  her- 
vorzuheben".  Drittens,  sie  begann  einzusehen,  daB  sie  ihre 
Organisation  ausniitzen  miisse,  um  grofie  wissenschaftliche 
Unternehmen  zu  leiten,  deren  Durchfuhrung  die  Krafte 
des  Einzelnen  iibersteigt.  Schleiermacher,  Niebuhr  und 
Savigny  sind  es  gewesen,  die  dies'e  Aufgabe  der  Akademie 
erkannt  und  gefordert  haben,  zuerst  durchgefuhrt  hat  sie 
Bockh  in  seinem  Corpus  Inscriptionum  Grraecaram.  Doch 
erst  in  unserer  Periode  ist  die  Aufgabe  durch  die  vor- 
bildlichen  Leistungen  eines  Mannes  zu  ihrer  vollen  Ver- 
wirklichung  gelangt. 

So,  im  einzelnen  und  ini  groBen  arbeitend,  dem  ge- 
nialen  Forscher  Raum  gebend  und  verstreute  Krafte  sam- 
melnd,  in  der  Stille  wirkend  und  doch  bewegt  und  be- 
wegend,  hat  die  Akademie  Friedrich  Wilhelms  III.  und 
Friedrich  Wilhelms  IV.  sich  bewahrt. 

Langsam  aber  anderten  sich  seit  der  Mitte  des  Jahr- 
hunderts  die  Ziele  und  Aufgaben  der  Wissenschaft.  ?,Ent- 
wickelung"  und  ,,Q-eschichte"  waren  schon  in  seiner  ersten 


Die  Kttniglich.  Preuflische  Akademie  der  Wissenschaften.        211 

Halfte  die  Losung  gewesen,  aber  es  besteht  ein  fundamen- 
taler  Unterschied  zwischen  damals  und  jetzt.  Damals  faBte 
die  Wissenschaft  noch  mit  Vorliebe  in  alien  Disziplinen  das 
Ungemeine  und  Hervorragende  ins  Auge,  gleichsam  die 
Bliite  der  Erscheinungen.  Der  Forscher  wollte  unmittelbar 
durch  seinen  Gregenstand  erhoben  sein;  darum  wahlte  er 
sich  das  Grroflte.  Entschlofi  er  sich  zu  niederen  Formen 
herabzusteigen,  so  geschah  es,  um  das  Erhabene  in  ein 
belles  Licht  zu  setzen.  Einige  geniale  Naturforscher,  wie 
Groethe,  abgerechnet,  hatte  man,  trotz  allem  Ausschreiten 
ins  Allgemeine,  docli  noch.  keinen  rechten  Sinn  fur  das 
Ganze  und  darum  auch  keine  Ehrfurcht  vor  ihm.  Immer 
lockte  noch.  das  hervorragend  Besondere  und  hielt  Sinn 
und  Interesse  gefangen.  Daswurde  nun  anders.  Man  lernte 
einsehen,  dafi  ein  voiles  Verstandnis  der  Erscheinungen  nur 
an  ihren  Urspriingen  und  auf  Gfrund  des  ganzen  Tatsachen- 
materials  aufgehen  konne.  Umfassende  Induktion  und  pein- 
lichste  Kritik,  Massenbeobachtung  und  Argwohn  gegeniiber 
einem  vorgreifenden  Idealismus  wurden  die  Grundziige  der 
wissenschaftlichen  Haltung  in  der  zweiten  Halfte  des  Jahr- 
hunderts.  Die  Forderung  der  Massenbeobachtung  fiihrte 
zur  Forderung  der  Arbeitsteilung,  die  Aufgabe  der  ,,Ent- 
wicklungsgeschichte"  zum  Studium  der  ersten  Grlieder  in 
jeder  Reihe.  Von  den  Hohen  nicht  nur  der  Spekulation, 
sondern  auch  der  Betrachtung  komplizierter  Ordnungen  stieg 
die  Wissenschaft  uberall  herab  zu  den  JSTiederungen  der 
primitiven  Tatsachengruppen.  Fast  darf  man  sagen,  sie 
entaufierte  sich  ihres  ,,humanena  Charakters,  um  zunachst 
die  Erscheinungen  zu  studieren,  welche  die  elementaren 
Voraussetzuugen  fiir  alles  Sein  und  Werden  bilden.  Der 
Biologe  studierte  vor  allem  die  niedersten  Organismen;  der 
Psychologe  wurde  zum  Psychophysiker ,  der  Sprachphilo- 
soph  zum  Lautphysiologen,  der  Historiker  zum  Wirtschafts- 
statistiker  oder  Urkundenforscher. 

Es  ware  ungerecht,  zu  behaupten,  dafl  diese  Wendung 

14* 


212  Z welter  Band,  erste  Abteilung.     Beden:  VII. 

des  wissenschaftlichen  Betriebs  zur  Empirie  iiberall  ein  Er- 
lahmen  der  tieferen  geistigen  Arbeit  verursacht  habe.  Zwar 
erliegen  kleinere  Greister  der  Versuchung,  sick  alles  hohere 
Streben  abzugewohnen,  heute  leichter;  denn  die  Briicke, 
die  von  der  Einzelwissenschaft  zu  einer  Weltanschauung 
und  zurWeisheit  fuhrt,  ist  schwerer  zu  finden  als  ehedem. 
Allein  die  Meister  stehen,  was  Vielseitigkeit  in  der  Anwen- 
dung  wissenschaftlicher  Methoden  und  gesunde,  tiefe  Spe- 
kulation  anlangt,  keinem  friiheren  Zeitalter  nach.  Das 
G-esetz  von  der  Erhaltung  der  Kraft  und  die  Gresetze  ent- 
wickelungsgeschichtlicher  Bewegung,  nicht  ertraumt,  son- 
dern  bewiesen,  schweben  iiber  der  gesamten  Forschung  und 
verheiflen  jeder  Grruppe  von  Untersuchungen  Erucht.  Dazu: 
die  tieferen  entwicklungsgeschicntlichen  Forschungen  haben 
zwar  die  Allgemeingiiltigkeit  des  Mechanismus  gelehrt,  nicht 
aber  seine  Alleingiiltigkeit.  Der  Einsicht,  dafi  es  ein  iiber 
all  tatiges,  formgebendes ,  teleologisch  wirkendes  Prinzip 
gibt,  dem  der  kausale  Ablauf  der  Erscheinungen  eingeordnet 
ist  —  dieser  Einsicht  sind  wir  heute  naher  als  vor  dreifiig 
Jahren,  und  das  leere  Spiel  mit  "Worten,  die  Grewaltsam- 
keiten  und  die  tauschenden  Zuriickschiebungen  der  Pro- 
bleme  haben  wieder  der  einfachen,  alten  Fragestellung 
weichen  miissen. 

Den  Naturwissenschaften  ist  in  erster  Linie  dieser  Um- 
schwung  der  Dinge  zugute  gekommen,  und  nicht  mit  Un- 
recht  spricht  man  von  dem  ,,naturwissenschaffclichen  Zeit 
alter".  Ihrem  Aufstreben  kam  noch  ein  besonderer  Umstand 
zu  Hilfe.  Die  gesteigerten  Anforderungen  des  modernen 
Lebens  bedeuteten  ebenso  viele  Anfragen  an  die  Leistungs- 
fahigkeit  der  Naturerkenntnis,  und  sie  hat  ihnen  in  glan- 
zender  "Weise  entsprochen.  Neben  Helmholtz  steht  Werner 
Siemens.  Wir  diirfen  sie  stolz  die  Unsrigen  nennen;  aber 
wir  nennen  sie  auch  als  die  bleibenden  Vorbilder  echt  wissen- 
schaftlicher  Haltung.  Von  Werner  Siemens,  dem  Tech- 
niker,  stammt  das  Wort:  nDie  wissenschaftliche  Forschung 


Die  Kttniglich.  PrenBisclie  Akademie  der  Wissenschaften.       213 

darf  nicht  Mittel  zum  Zweck  sein,  sie  mufl  urn  ihrer  selbst 
willen  betrieben  werden,"  und  das  Geheimnis  der  Kraft 
Helmholtzens  lag  in  der  geschlossenen  Grofle  seines  ein- 
zig  auf  Erkenntnis  gerichteten  Geistes.  Helmholtz  und 
Siemens  sind  uns  entrissen  worden;  aber  der  Dritte  aus 
ihrem  Kreise,  der  Gelehrte,  der  die  Pathologie  der  Zelle 
begriindet  und  die  ganze  Heilkunde  reformiert  hat,  wirkt 
in  ungeschwachter  Kraft  noch  unter  uns;  er  verbindet  die 
heutige  Naturforschung  mit  der  stolzen  Epoche  ihrer  Grund- 
legung. 

Blicken  wir  auf  die  Geisteswissenschaften :  auch  das 
Studium  der  Geschichte  und  der  Sprachen  blieb  in  diesem 
Zeitraume  hinter  dem  der  Naturwissenschaften  nicht  zuriick. 
Welche  Erinnerungen  steigen  in  uns  auf,  wenn  wir  neben 
den  ausgezeichneten  Naturforschern  einem  Dubois- 

Reymond,  von  Hofmann,  Pringsheim  und  anderen  - 
der  Namen  Haupt  und  Curtius,  Droysen  und  Duncker, 
Miillenhoff  und  Scherer,  Sybel  und  Treitschke  und 
so  vieler  anderer  gedenken,  wenn  wir  Ranke  nennen,  ihn, 
dessen  Schiller  wir  alle  sind.  Die  neue  Sprachforschung 
und  Geschichtschreibung  hat  an  dieser  Akademie  ihren 
Ursprung  gewonnen,  und  hier  ist  sie  zur  Bliite  gebracht. 
Noch  geniefien  wir  das  Gliick,  in  unseren  Senioren  die 
lebendigen  Zeugen  des  Aufschwungs  verehren  zu  diirfen. 
Was  die  7,R6mische  Geschichte"  und  die  „ Geschichte  der 
griechischen  Philosophie"  bedeuten,  weiO  mit  uns  die  ganze 
gebildete  "Welt.  Auch  die  Geschichts-  und  Sprachforschung 
haben  in  dem  letzten  halben  Jahrhundert  Umwandlungen 
erlebt,  die  an  Bedeutung  keiner  friiheren  nachstehen.  Auch 
sie  haben  den  ihnen  iiberlieferten  Entwicklungsgedanken 
neu,  d.  h.  exakt  und  konkret,  anzuwenden  gelernt,  liber- 
all  die  elementaren  Bedingungen  aufgesucht,  die  Wechsel- 
wirkungen  studiert  und  an  der  Fiille  des  Einzelnen  die 
Lebensbewegung  des  Ganzen  zu  durchschauen  begonnen. 

Aber  die  Akademie   hat   sich  niemals  weniger   als  in 


214  Zweiter  Band,  erste  Abteilung.     Eeden:  VII. 

dem  letzten  halben  Jahrhundert  darauf  beschrankt,  den  Mit- 
teilungen  ihrer  Mitglieder  zu  lauschen.  Den  Grofibetrieb 
der  Wissenschaft,  den  das  Zeitalter  forderte,  hat  sie  auf- 
genommen  und  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  mehr  als 
zwanzig  umfassende  Unternehmungen  ins  Werk  gesetzt, 
welche  die  Krafte  des  einzelnen  Mannes  iibersteigen  und 
Menschenalter  zu  ihrer  Durchfiihrung  erheischen.  Sie  hat 
treue  Arbeiter  ermittelt  und  gesammelt;  sie  ist  die  Schutz- 
statte  der  jungen  Talente  geworden,  und  sie  hat  auch  dort 
gesat,  wo  sie  selbst  nicht  ernten  wird.  Diese  Unternehmungen 
einzuleiten  und  im  Grang  zu  erhalten,  ware  der  Akademie 
aber  unmoglich  gewesen,  hatte  ihr  nicht  die  G-nade  ihrer 
Koniglichen  Protektoren  die  Mittel  gewahrt  und  hatte  sie 
nicht  die  Fiirsorge  der  Koniglichen  Staatsregierung  in  reich- 
stem  Mafie  stets  gefunden.  Das  heutige  Fest  bietet  uns 
erwiinschten  Anlafi,  vor  dieser  illustren  Versammlung  es 
dankbar  auszusprechen ,  was  die  Wissenschaft  in  Preufien, 
was  diese  Akademie  der  Koniglichen  Unterrichtsverwaltung 
verdankt.  Niemals  hat  sie  uns  im  Stiche  gelassen;  unsere 
Unternehmungen  hat  sie  wie  ihre  eigenen  betrachtet,  ihren 
Rat  und  ihre  tatkraftige  Hilfe  ihnen  zugewandt,  und  doch 
stets  Freiheit  walten  lassen.  Ihrer  Fiirsprache  verdanken 
wir  die  neue  Institution,  unsere  wissenschaftlichen  Beamten. 
Sie  hat  damit  den  Grand  zu  einer  noch  umfassenderen 
Wirksamkeit  der  Akademie  gelegt.  Zu  hochst  aber  richtet 
sich  unser  Dank  an  unseren  allergnadigsten  Protektor,  Ko- 
nig  und  Herrn.  Unter  Seinem  Schutze  arbeiten  wir;  Ihm 
ist  auch  die  Wissenschaft  vertraut;  Seine  Sorge  waltet  iiber 
uns.  Koniglich  hat  Er  diese  Akademie  geehrt.  Wir  wollen 
uns  solcher  Ehre  wiirdig  erweisen,  wie  es  dem  PreuBen 
geziemt:  wir  wollen  unsere  Pnicht  tun.  G-ott  schiitze  den 
Konig! 

Die  Wissenschaft  ist  nicht  die  einzige  Aufgabe  der 
Menschheit,  sie  ist  auch  nicht  die  hochste;  aber  die,  denen 
sie  befohlen  ist,  sollen  sie  von  ganzem  Herzen  und  mit 


Die  KCniglich  PreuBische  Akademie  der  Wissenschaften.       215 

alien  Kraften  treiben.  Wie  verschieden  sicli  auch  die  wissen- 
schaftlichen  Epochen  gestalten  —  im  Grunde  bleibt  die 
Aufgabe  immer  dieselbe:  den  Sinn  fiir  die  Wahrheit  rein 
und  lebendig  zu  erhalten  und  diese  Welt,  die  uns  gegeben 
ist  als  ein  Kosmos  von  Kraften,  nachzuschaffen  als  einen 
Kosmos  von  G-edanken.  Moge  es  unserer  Akademie  in 
ihrem  dritten  Jahrhundert  beschieden  sein,  an  diesem  Werke 
der  Menschheit  mitzuarbeiten;  mogen  finstere  Macnte  ilir 
fern  bleiben;  moge  das  Licht,  das  im  Anfang  war,  ihren 
Weg  bestrahlen  und  das  Wort,  das  im  Anfang  war,  ihrem 
G-eiste  leuchten. 


ADOLF  HARNACK  •  REDEN  UND  AUFSATZE 
S^  ZWEITER  BAND  •  ZWEITE  ABTEILUNG  ^ 


AUFSlTZE:  I 

THE  PRESENT  STATE  OF  RESEARCH  IN 
EARLY  CHURCH  HISTORY 


Vortrag 

gehalten  in  der  theologischen  Konferenz  zu  Giefien  im  Sommer   1885 

und     in     englischer    "Ubersetzung    (Joseph    King)     erschienen     in     der 

„ Contemporary  Eeview"  1886  August  S.  221—238. 


If  the  present  position  of  inquiry  in  the  field  of  early 
Church  History  is  to  be  understood,  we  must  start  with 
this  branch  of  knowledge  as  it  was  thirty  years  ago.  The 
Tubingen  school,  led  by  a  great  master,  had  examined  with 
rare  industry  the  Christian  literature  of  the  first  two  centuries, 
and  believed  that  it  had  found  a  key  which  unlocked  every 
problem.  "Jewish  Christianity,1'  "Gentile  Christianity" — 
these  were  the  magic  words  which  sufficed  to  explain  the 
development  of  the  Church  up  to  the  time  of  Irenaeus.  It 
was  an  immanent  process,  which,  beginning  with  the 
appearance  and  preaching  of  Jesus  Christ,  branched  into 
two  opposite  tendencies,  the  Petrine  and  the  Pauline,  and 
advanced  through  a  cycle  of  antitheses  and  syntheses  till 
it  culminated  in  the  Catholic  Church.  An  echo  of  the 
assured  conviction  that  all  problems  are  now  solved  may 
be  heard  in  the  words  uttered  eleven  years  ago  by  a 
famous  critic,  that  theology  could  now  describe  the  rise 
of  the  ancient  Catholic  Church  as  clearly  or  distinctly  as 
the  growth  of  a  plant.  He  who  did  not  believe  in  the 
picture  as  Baur  had  painted  it  was  almost  sure  to  be 
written  down  as  an  "apologist,"  a  man  who  attempted  to 
hinder  the  progress  of  knowledge.  Many  may  still  retain 
a  lively  recollection  of  those  days,  when  in  historical  theo 
logy  the  words  "Jewish  Christianity,"  "Gentile  Christianity," 
buzzed  for  ever  about  our  ears,  and  beside  them  the 
philosophical  notions  of  "Consciousness,"  "Idea,"  and 
"Reality."  "It  is  the  fate  of  the  Idea  in  positing  itself  to 
posit  itself  in  an  infinitely  manifold  way" — so  Schelling 
and  Hegel  had  said,  and  so  the  ideas  "posited  themselves" 


220  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

in  primitive  Christianity,  though  in  a  manner  less  manifold 
than  monotonous,  till  they  posited  themselves  to  rest  in 
Catholicism. 

I  am  far  from  disparaging  the  historical  importance 
which  belongs  to  the  Tubingen  school.  Everything  has 
been  said  which  need  be  said,  and  the  highest  praise  has 
been  accorded  when  we  confess  that  the  main  problem, 
the  rise  of  Catholicism,  was  first  rightly  defined  by  this 
school  as  a  problem,  that  it  was  the  first  to  attempt  to  draw 
with  frank  openness  and  tenacious  energy  a  picture,  which 
was  possible,  of  the  period  in  question,  and  that,  following 
the  only  true  method,  it  discovered  as  at  once  the  clearest 
and  the  surest  point  with  which  all  inquiry  must  begin— 
Paul  and  Paulinism.  But  the  possible  picture  which  it 
sketched  was  not  the  real,  and  the  key  with  which  it 
attempted  to  solve  all  problems  did  not  suffice  even  for 
the  most  simple.  It  is  not  my  purpose  to  show  how  far 
the  views  of  the  Tubingen  school  with  respect  to  the 
Apostolic  age  were  just,  and  how  far  they  are  still  valid. 
They  have  indeed  been  compelled  to  undergo  very  large 
modifications.  But  as  regards  the  development  of  the 
Church  in  the  second  century,  it  may  safely  be  said  that 
the  hypotheses  of  the  Tubingen  school  have  proved  them 
selves  everywhere  inadequate,  nay  erroneous,  and  are  to 
day  held  only  by  a  very  few  scholars.  Indeed,  the  critic, 
who  eleven  years  ago  used  the  simile  of  the  plant,  confesses 
to-day  that  "knowledge  grows  daily  more  chary  of  assertions 
touching  early  Christianity,  and  grows  more  so  in  the 
very  proportion  that  it  becomes  richer  in  historical  points 
of  view." 

"Richer  in  historical  points  of  view" — on  this  advantage, 
above  all,  is  the  advance  on  the  Tubingen  school  founded. 
This  will  at  once  appear  if  we  simply  indicate  the  chief 
matters  through  knowledge  of  which  this  advance  has 
been  made. 


The  present  state  of  research  in  early  church  history.         221 

I.  The  Tubingen  school  saw  in  Judaism,  so  far  as  it  had 
significance  for  the  earliest  history  of  Christianity,  but  few 
differences  of  shade;  they  fondly  emphasized  its  rigid 
monotheism  and  strict  legalism,  attending,  in  addition, 
only  to  the  philosophical  Judaism  of  Philo.  But  now  we 
know  that  Judaism  in  the  age  of  Christ  and  his  Apostles 
was  a  richly-composed  and  multiform  picture;  that  it  had 
many  and  very  varied  differences  in  its  shades,  which  have 
become  highly  important  for  the  history  of  the  development 
of  primitive  Christianity.  The  Judaism  of  the  dispersion, 
in  distinction  from  the  Palestinian,  claims  to-day  our 
particular  attention,  and  we  know  that  it  was  in  many 
ways  both  the  prelude  to  Christianity  and  the  bridge 
leading  over  to  it. 

HE.  The  Tubingen  school  identified  the  standpoint  of 
the  original  Apostles  with  that  of  the  rigidly  legal  and 
exclusive  Jewish  Christians.  But  now  the  great  majority 
of  critics  are  agreed  on  this  point:  to  distinguish  beside 
the  Pauline  two  other  standpoints — the  Pharisaic  Judseo- 
Christian,  which  was  the  more  exclusive,  and  that  of  the 
"Pillar- Apostles,1'  which  was  freer,  and  conceded  in  principle 
the  gospel  of  Paul. 

III.  The    Tubingen    school   identified   Paulinism   with 
G-entile  Christianity.     Now,    however,    we  know — and  this 
knowledge   is    of  the   highest   importance— that  Paulinism 
was  a  Judaeo-Christian  doctrine,   really  intelligible  only  to 
Jewish    Christians,    while    the  Gentile    Christianity    of  the 
first  and  second  centuries  was   an  altogether  original  and 
independent   view   of  the  Gospel,    which  agreed  with  the 
Pauline   theology   only  in   holding  to   the  universalism  of 
the  salvation  brought  by  Christ. 

IV.  The  Tubingen  school  resolved  all  the  antagonisms 
which    are    found    in   the    Church    of  the    second    century 
into  the  one  great  antithesis  between  Jewish  and  Gentile 
Christianity.      But   to-day    it    is    recognized    that    Jewish 


222  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

Christianity  was  in  the  second  century  no  longer  a  factor 
in  the  development  of  the  Church;  rather  that  on  the  soil 
of  Grentile  Christianity  quite  new  antitheses  took  form, 
and  new  questions,  which  had  absolutely  nothing  to  do 
with  the  problems  at  issue  between  Paul  and  the  exclusive 
Jewish  Christians,  came  to  be  discussed.  The  Tubingen 
school,  in  fact,  did  not  acknowledge  that  a  new  element 
streamed  into  the  Church  after  the  controversies  between 
Paul  and  the  Judaizers;  from  these  controversies  it  meant, 
rather,  to  explain  all  that  followed.  To-day,  on  the  con 
trary,  we  have  come  to  see  that  even  in  the  first  century 
there  streamed  in  a  potent  new  element,  the  Greek  spirit, 
the  spirit  of  the  ancient  world. 

V.  The  Tubingen  school  had,   properly  speaking,   an 
eye  for  the  history  of  the  development  of  the  Church  so 
far  as  it  was  registered  in  images,  conceptions,  and  dog 
matic    statements.     Everything   led   finally   to   these,    even 
the  forms   of  worship  and  of  polity.     But  to-day  we  have 
more  truly  learned  that  the  Christian  religion  was,  above 
everything,  a  new  life  and  a  new  form  of  human  society. 
Not  only  do  new  opinions  create  new  life,  new  life  creates 
new  opinions.     Much  more  attention  is  therefore  now  di 
rected  to  the   social  life,  the  public  worship,  the  morality 
and  the  discipline  of  the  early  Christians,   than  was  ever 
the  case  with  the  Tubingen  school. 

VI.  The  first  question  of  the  Tubingen  school  in  cri 
ticizing   the   writings  of  the  New   Testament,    was   always 
"genuine  or  counterfeit?"    The  first  question  which  we  now 
put  is  whether  these  canonical  books  have  been  transmitted 
to  us  pure  and  without  additions? — i.  e.,  whether  they  did 
not   receive,    perhaps    on   their   canonization,    those    super 
scriptions,   author's  name,  &c.,  which  we  now  read  there? 
We  know  that  the  canonization  of  books,  in  and  for  itself, 
obscures  their  origin  und  true  meaning;  and  we  must  there 
fore    always    ask    whether    the    obscuration    has    not    been 


The  present  state  of  research  in  early  church  history.          223 

helped  by  outer  cases.  Only  after  this  question  is  answered 
may  we  propose  the  other,  "Genuine  or  counterfeit?"  Many 
books  which  critics  used  to  regard  as  forgeries  are  no  for 
geries,  but  are  only  documents  which  have  come  to  us 
falsely  labelled. 

If  these  points  of  difference  be  considered,  it  will  be 
found  that  they  all  result  from  the  fact  that  we  are  "richer 
in  historical  points  of  view."  But  to  grow  richer  is  to  grow 
more  cautious.  So  long  as  only  a  simple  and  meagre  theory 
was  employed,  it  was  deemed  permissible  to  cut  out  and 
ascribe  to  a  later  period  all  that  could  not  be  comprehended 
under  the  theory.  But  to  have  perceived  the  vast  variety 
of  the  contemporaneous  phenomena  is  to  have  been  taught 
caution.  The  immediate  result  of  this  was  to  restore  with 
tolerable  unanimity  to  the  first  century  a  series  of  writings 
for  which  before  no  place  could  be  found  there.  Thus  most 
critics  now  regard  as  genuine  the  Epistle  to  the  Philippians 
and  the  two  Epistles  to  the  Thessalonians. 

But  why  have  we  become  so  much  "richer  in  histo 
rical  points  of  view?"  Three  main  causes  may  be  speci 
fied.  First,  the  emancipation  of  the  science  of  history  form 
the  thraldom  of  philosophical  systems.  After  the  complete- 
dearth  of  ideas  which  characterized  Rationalism,  the  age 
of  Romanticism  and  Philosophy  was  indeed  a  wholesome 
reaction;  but  it  was  still  only  a  reaction,  and  as  such  it 
brought  with  it  new  limitations,  which  have  been  gradually 
overcome.  We  have  become  more  realistic,  and  a  historical 
temper  has  been  formed.  We  have  become  more  elastic, 
and  have  acquired  the  power  to  transplant  ourselves  into 
other  times.  Great  historians — men  like  Ranke — have  taught 
us  this.  The  second  cause  has  been  the  union  of  ecclesias 
tical  history  with  general  history,  the  recognition  that  only 
by  accurate  knowledge  of  the  soil  on  which  the  Church 
has  grown  can  this  growth  be  rightly  understood.  Every 
period  and  every  people  has  only  one  history:  the  history 


224  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

of  religion  and  of  the  Clmrch  is  only  a  section  of  this  one 
history,  and  only  from  the  standpoint  of  the  whole  can 
the  section  be  understood.  Here  let  me  mention  a  Church 
historian  whose  very  great  merits  have  not  yet  been 
sufficiently  recognized — I  mean  Richard  Rothe.  It  was 
Rothe  who,  in  his  lectures  on  Church  History,  showed  that 
the  rise  and  development  of  the  ancient  Catholic  Church 
remains  unintelligible  unless  studied  throughout  in  relation 
to  the  ancient  world;  for,  he  says,  "the  ancient  world  built 
up  the  Catholic  Church  on  the  foundation  of  the  Gospel, 
but  in  doing  so  it  built  itself  bankrupt."  What  a  store  of 
historical  knowledge  is  packed  into  that  sentence!  Only  if 
it  be  carefully  applied  to  all  the  branches  of  early  Church 
history,  will  this  history  be  really  understood.  Along  with 
Rothe  let  me  mention  another  great  scholar,  whose  "Vie  de 
Jesus"  has  made  its  author  rather  notorious — Renan.  But 
let  us  not  judge  the  six  later  volumes  of  his  "Histoire  des 
Origines  du  Christianisme"  by  his  "Vie  de  Jesus."  They 
contain  quite  as  much  solid  research  as  broad  and  compre 
hensive  views  of  history.  When  we  compare  this  work 
with  Baur's  "Church  History  of  the  First  Three  Centuries," 
or  with  the  first  volume  of  Meander's  "Church  History," 
we  are  astonished  at  the  progress  which  history  has  made 
by  taking  the  living  as  alive,  and  by  studying  the  soil  upon 
which  the  tree  of  the  Catholic  Church  grew.  Beside  Rothe 
and  Renan  stand  a  band  of  scholars  who  have,  by  bringing 
their  special  topics  in  ancient  ecclesiastical  into  connection 
with  universal  history,  promoted  in  a  remarkable  way 
special  branches  of  inquiry.  I  may  name  Von  Engelhardt, 
Hatch,  Heinrici,  Overbeck,  and  De  Rossi. 

The  third  cause  is  the  new  discoveries  which  have  en 
riched  historical  knowledge.  We  can  say  with  gladness: 
in  the  region  of  ancient  Church  history  we  live  once  more 
in  an  age  of  discovery.  That  these  discoveries  have  come 
to  us  more  by  accident  than  by  well-directed  inquiry,  awakens 


The  present  state  of  research  in  early  church  history.         225 

the  hope  that  systematic  research  may  have  still  happier 
results.  If  it  was  possible  to  discover,  only  a  few  years 
ago,  not  perchance  in  Turkey  or  Africa,  but  in  Italy,  a 
fine  and  hitherto  unknown  codex  of  the  Gospels,  the  Pur- 
pureus,  dating  from  the  sixth  century;  if  Dr.  von  Gebhardt 
alone  has  within  three  years  been  able  to  find  in  Germany, 
France,  and  Italy,  more  than  a  dozen  manuscripts  previously 
unknown  of  Hermas,  we  may  surely  expect  to  be  enriched 
by  still  undreamed-of  treasures.  The  harvest  truly  is  great, 
but  the  labourers  are  few.  Alas!  it  were  not  hard  to 
reckon  the  number  of  theologians  able  to  search  for  lite 
rary  treasures,  and  appraise  treasures  already  discovered. 
Here  is  a  splendid  opening  for  service! 

The  discoveries  made  in  recent  years  in  the  field  of 
Early  Church  History  may  be  divided  into  four  groups. 

I.  First,  in  the  case  of  several  very  important  works, 
which  have  hitherto  reached  us  in  partly  corrupt  and  partly 
defective  forms,  we  have  obtained  new  and  better  manu 
scripts.  This  applies  not  only  to  the  New  Testament,  and 
there  notably  to  the  discovery  of  the  Sinaitic  MS.,  but  also 
to  patristic  literature.  We  read  to-day  the  Epistle  of  Bar 
nabas,  the  Pastor  of  Hermas,  and  other  important  docu 
ments,  in  far  better  manuscripts  than  existed  thirty  years 
ago.  Our  knowledge  has  thus  become  more  certain,  and 
often  the  new  manuscripts  have  solved  hard  problems  which 
owed  their  very  existence  to  the  old  defective  texts.  Only 
the  other  day  came  news  of  a  remarkable  discovery — the 
fragment  of  a  Gospel  written  on  a  piece  of  papyrus  not 
larger  than  the  half  of  an  ordinary  visiting  card.  It  was 
found  in  a  bundle  of  more  than  a  thousand  very  old  papyri, 
brought  from  the  Fayoum  in  Egypt,  and  now  at  Vienna. 
I  cannot  but  agree  with  the  editor,  the  Catholic  scholar 
Dr.  Bickell,  that  in  all  probability  we  have  here  the  frag 
ment  of  a  Gospel  which  contained  a  more  original  text 
than  even  our  Matthew  and  Mark. 

Ha  mack,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    H  16 


226  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze :  I. 

II.  Secondly,  from  a  critical  examination  of  their  sources, 
original  works,  which,  had  been  lost,  have  been  recovered 
from  the  books  into  which  they  had  been  elaborated.    These 
are  real  discoveries.    Thus  from  the  many  late  works  against 
Gnosticism,  the  older  and  more  important,   which  had  pe 
rished,  have  with   no   little   certainty   been   approximately 
restored.    Thus  Krawutzky,  some  years  before  the  "Teaching 
of  the  Twelve  Apostles1'  had  been  discovered,  reconstructed 
the  first  half  of  it  from  the  seventh  book  of  the  Apostolic 
Constitutions,  the  so-called  Apostolic  Church  Order,  and  from 
the  conclusion  of  the  Epistle  of  Barnabas.     Again,  from  a 
work  belonging  to  the  fifth  century,  hitherto  judged  insigni 
ficant,  and  accordingly  overlooked,  there  has  been  recovered 
a  fragment  of  the  time  of  Hadrian — a  dialogue  between  a 
Jew  and  a  Christian. 

III.  The  third  group  of  discoveries  is  connected  with 
the  inscriptions  found  in  the  catacombs  at  Rome.    Thanks  to 
the  untiring  labour  and  genius  of  De  Rossi,  new  Christian 
inscriptions   are  ever  coming   to   light   from  the  debris  of 
ancient  Rome;  hitherto  unknown  catacombs   are  being  dis 
covered,  and  those  already  known  are  being  more  thoroughly 
explored.    "What  these  discoveries  teach  is  certainly  nothing 
(in  the  strict  sense  of  the  word)  new,  while  accurate  dating 
is  almost  impossible.    But  as  the  relics  of  departed  friends 
are  more  dear  to  us  than  any  mere  notice  of  them,   and 
as  from  the  lines  of  the  original  manuscript  the  spirit  of 
the  writer  rises  more  distinctly   before  us   than  from  the 
varied  figures  of  the  printed  copy,  so  these  old  stones,  in 
scriptions   and  paintings  have  for  us  a  quite  unique  worth. 
"While,  for  example,    we   may   know   well   enough  that  to 
the  ancient  Christian  the  sure  hope  of  resurrection  was  the 
most  valued  possession,  yet  this  knowledge  grows  strangely 
vivid  when  we  enter  those  subterranean  cemeteries  of  the 
ancient  saints,  and  with  our  own  eyes  see  how  here  every 
thing  breathes  peace  and  joy,    and  how  the  certain  hope 


The  present  state  of  research  in  early  church  history.         227 

of  a  glorious  awakening  rules  over  all.  And,  besides,  many 
a  detail  emerges  which  enriches  or  confirms  our  historical 
knowledge;  thus  the  uncovering  of  the  vault  of  the  old 
Roman  bishops  has  proved  highly  important,  and  the  dis 
covery  of  the  catacomb  of  Domitilla  has  shown  that  at  the 
end  of  the  first  century  there  were  not  only  Christians 
among  the  servants  of  the  Emperor  in  the  Palatine  Pa 
lace — of  such  Paul  had  already  spoken — but  that  Christia 
nity  had  actually  penetrated  into  the  imperial  family  of 
the  Flavii. 

IV.  But  even  the  third  group  of  discoveries  is  thrown 
into  the  background  by  the  fourth  and  last  group  which  I 
have  to  mention — viz.,  the  discovery  of  entirely  new,  hitherto 
unknown,  primitive  Christian  writings.  Leaving  on  one 
side  the  less  important  of  these,  like  the  new  Acts  of  the 
Martyrs  of  the  second  century — which,  however,  are  not 
to  be  despised — I  would  specify  four  great  discoveries  of 
recent  years: — 1.  The  complete  Epistles  of  Clement;  2.  A 
large  fragment  of  the  lost  "Apology"  of  Aristides;  3.  The 
Diatessaron  of  Tatian;  4.  "The  Teaching  of  the  Twelve 
Apostles." 


[In  dem  Vortrage  wurden  diese  vier  neuen  Funde  nun 
naher  charakterisiert;  ich  lasse  hier  diesen  Abschnitt  fort, 
vgl.  Band  I,  S.  313  ff.  dieses  Werks.] 


After  this  survey  of  the  discoveries  of  the  last 
years  let  us  return  to  the  point  from  which  we  started, 
I  quoted  above  a  sentence  of  Rothe,  to  which  we  may 
again  refer:  "The  ancient  world  built  up  the  Catholic 
Church  on  the  foundation  of  the  Gospel,  but  in  doing  so  it 
built  itself  bankrupt."  This  sentence,  the  bearings  of  which 
Rothe  himself  had  not  fully  perceived,  is  in  fact  the  egg 

15* 


228  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

of  Columbus.  For  long  Lad  it  been  customary  to  remark 
upon  the  great  distance  which  divided  the  Apostolic  litera 
ture  from  Jewish  Christianity  on  the  one  hand,  and  on 
the  other  from  post- Apostolic  writings,  no  matter  how 
different  these  were  in  relation  to  each  other.  Heinrich 
Thiersch  has  consequently  supposed  that  at  the  end  of 
the  first  century  the  Church,  in  a  measure,  fell,  like  our 
first  parents.  The  Tubingen  school  sought  so  to  explain 
the  difference  between  the  Apostolic  and  post-Apostolic 
literatures  as  to  see  in  the  latter  the  product  of  a  com 
promise.  It  spoke  of  a  modified  Jewish  Christianity  and 
of  a  modified  Paulinism;  from  these  modifications,  and 
from  the  consequent  lessening  of  the  early  antitheses,  it 
believed  that  it  was  able  to  explain  the  varied  riches  of 
the  later  formations,  as  they  concerned  not  only  doctrine, 
but  also  the  constitution,  discipline,  and  cultus  of  the 
Church.  Where,  for  example,  it  found  in  the  Apostolic 
Fathers  and  apologists  an  ethical  mode  of  thought — Christi 
anity  conceived  as  the  new  law — it  assumed  the  working 
of  Jewish  Christianity,  which  had  merely  given  up  cir 
cumcision  and  the  ceremonial  law;  where  it  detected  the 
formation  of  a  fixed  order  of  worship— elders,  priests,  and 
so  forth — there,  it  thought,  could  not  but  be  seen  the  con 
tinued  influence  of  the  synagogue  shaping  the  growth  of 
the  early  Catholic  Church;  conversely,  where  it  found  the 
universalism  of  the  Q-ospel  impressed  on  these  Fathers,  but 
without  the  Pauline  basis  of  justification  by  grace  only, 
there  it  believed  that  a  modified,  and  as  it  were  bisected 
Paulinism,  must  be  recognized.  Nay,  more,  in  movements 
as  late  as  the  Montanistic  it  tried  to  see  the  operation  of 
Jewish  Christianity,  and,  conversely,  in  Gnosticism,  a  per 
verted  form  of  Paulinism.  But  this  conception  could  be 
upheld  only  by  doing  violence  to  the  facts  and  reading 
into  them  a  foreign  meaning.  About  thirty  years  ago  a 
reaction  set  in,  led  by  the  work  of  Albrecht  Bitschl,  "Die 


The  present  state  of  research  in  early  church  history.         229 

Entstehung  der  altkatholischen  Kirche".  In  this  work 
there  are  four  determining  principles,  which  have  since 
been  clearly  formulated,  and  have  found  acceptance,  if  not 
with  all,  yet  with  the  majority  of  independent  critics. 
These  principles  are  as  follows: — 

1.  The    divergence    of  the    Christianity    of   the    sub- 
Apostolic  from  the  Christianity  of  the  Apostolic  age  is  to 
be  explained  by  the  fact  that  the  Gentile  Christians  either 
did  not  know  or   did  not  understand   the   Old  Testament 
principles  which  the  Jewish  Christians  possessed. 

2.  The    G-entile    Christians    brought   into    Christianity 
the  religious  interests,    hopes,   and  aspirations,  which  ani 
mated  them,   and  could    accept  at  first  only  some  of  the 
fundamental  ideas  of  that  Gospel  which  rested  on  the  Old 
Testament — those,  viz.,  which  they  had  to  receive  necessa 
rily  before  all  others — the  belief  in  one  Q-od,  the  duty  of 
holy    living,    the    redemption    from    death    through   Jesus 
Christ   the   Son   of  God,   the   Judgment,    and   the  Resur 
rection. 

3.  Where,  then,  we  find  among  the  G-entile  Christians 
any  peculiarities   in  doctrine,  public  worship,  constitution, 
&c. — and  such  peculiarities  occur  from  the  very  first — we 
must  not,  in  order  to  explain  them,  bring  in  the  Pauline 
theology,  still  less  that  of  the  strictly  Jewish  Christianity, 
but  we  must  consider  as  factors — (a)    certain   fundamental 
thoughts  in  the  Gospel,  (b)  the  letter  of  the  Old  Testament, 
which  was  certainly  not  understood  and  which  the  Gentile 
Christians  treasured  as  a  collection  of  divine  oracles,  and 
(c)  the  state  and    constitution  of  the  Greece-Roman  world 
at  the  time  of  the  first  preaching  of  the  Gospel. 

4.  The  ensuing  Catholicism  which  became  fully  formed 
in   the   third    century,  is   therefore   not  to   be   understood 
either  on  the  basis  of  Paulinism  or  of  Jewish  Christianity, 
or    apprehended   as    a   compromise   between   the   two;    but 
the    Catholic    Church   is    rather   that   form    of  Christianity 


230  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

in  which  every  element  of  the  ancient  world  was  succes 
sively  assimilated  which  Christianity  could  in  any  way 
take  up  into  itself  without  utterly  losing  itself  in  the 
world. 

If  these  principles  are  accepted,  it  follows  that  the 
problems  which  Church  history  proposes  for  inquiry  are 
changed  at  one  stroke;  for  it  now  becomes  no  longer  pos 
sible,  after  the  manner  of  the  old  historical  schools,  to  limit 
ourselves  to  the  written  sources  of  the  Christian  religion. 
The  historian  must  rather  make  his  horizon  wider,  and 
get  a  view  of  the  general  history  of  the  civilization,  morals, 
and  political  organization  of  his  period.  He  must  study 
the  earliest  sub-Apostolic  writings  with  a  view  to  seeing 
whether  already,  in  their  deviations  from  the  oldest  Pales 
tinian  tradition  of  the  Gospels,  traces  of  that  spirit  of  the 
ancient  world,  which  we  call  Catholicism,  are  not  to  be 
found.  It  is  remarkable  that  the  earliest  Protestant  Church 
historians,  Flacius  and  Gottfried  Arnold,  had  a  forecast  of 
how  the  question  really  stood:  they  both,  for  example, 
called  attention  to  the  fact  that  the  peculiar  Christianity 
of  Justin  Martyr,  in  its  deviation  from  Paul  and  Judseo- 
Christianity,  is  to  be  understood  from  its  heathen  ante 
cedents;  and  both  saw  in  the  constitution  which  the  Ca 
tholic  Church  elaborated  for  herself  the  effective  action  of 
the  constitution  of  the  Roman  State;  yet  their  conclusions 
on  those  two  points,  because  still  unverified,  remained  with 
out  any  effect.  The  task  set  in  this  field  for  our  modern 
historical  science  is  to  apply  these  principles  to  the  four 
great  problems  of  pre-Nicene  Church  history — that  is,  to  the 
problems  which  relate  to  its  literature,  public  worship,  con 
stitution,  and  doctrine.  As  regards  all  these  problems,  it  may 
be  shown  that  the  Catholic  process  of  formation  was  nothing 
else  than  a  building  up  of  the  ancient  world  on  the  ground 
of  the  Gospel,  and  that  in  the  heathen  world  old  forms  and 
thoughts  died,  as  soon  as  they  were  assimilated  by  Christianity. 


The  present  state  of  research  in  early  church  history.         231 

It  is  of  course  impossible  in  the  space  of  an  article 
to  bring  forward  all  the  evidences  in  proof  of  this  position; 
inquiry  on  this  method  has  only  just  begun,  yet  good  work 
has  already  been  accomplished — as  regards  the  history  of 
the  literature,  by  Overbeck;  of  the  public  worship,  by  Rothe 
and  Theodosius  Harnack;  of  the  constitution  of  the  Church, 
by  Rothe,  Renan,  and  Hatch;  of  its  doctrine,  by  M.  von 
Engelhardt.  But  with  reference  to  one  problem,  the  his 
tory  of  the  literature,  a  few  remarks  may  be  allowed. 
The  history  of  Christian  literature  has  been  hitherto  very 
unfruitfully  treated,  because  it  has  been  handled  generally 
from  the  entirely  inadequate  point  of  view  of  the  history 
of  doctrine.  There  is  perhaps  no  literature  in  the  world 
which  is  still  so  little  scientifically  investigated  as  the  pa 
tristic;  and  yet  what  a  high  significance  it  possesses!  It 
became,  when  it  stepped  into  the  place  of  the  ancient  heathen 
literature,  like  the  maternal  bosom  for  all  the  literatures  of 
the  Latin  and  Q-ermanic  peoples.  But  into  the  place  of 
the  ancient  heathen  literature  it  stepped  only  after  it  had 
appropriated  all  its  forms  and  a  portion  of  its  spirit.  Christian 
literature  begins  in  the  first  century  with  quite  peculiar 
forms,  alien  alike  from  the  Greek  and  Roman;  in  particular 
it  begins  with  the  forms  of  the  Apocalypse  and  the  Gospel. 
But  as  early  as  the  fourth  century  it  made  use  of  all  the 
literary  forms  known  to  the  ancient  world — the  scientific 
treatise,  the  dialogue,  the  commentary,  the  philosophical 
system,  the  elegant  oration,  the  panegyric,  the  historical 
essay,  the  chronicle,  the  romance,  the  novel,  the  hymn, 
the  ode,  the  didactic  poem,  &c.  &c.  Here,  then,  is  the 
great  question  for  the  history  of  early  Christian  literature. 
How,  in  what  order,  and  under  what  conditions  did  Chris 
tianity  make  itself  the  master  of  the  old  classical  literary 
forms?  In  answering  this  question  historical  science  has 
to  show  that  Christianity  at  first  stood  in  a  relation  of 
very  deep  distrust  to  these  forms,  that  the  so-called  Gnosticism 


232  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.    Aufsatze:  I. 

did  indeed  in  the  conflict  for  the  Gospel  lay  hold  upon 
them,  but  that  the  Church  still  declined  this  prize.  "We 
must  further  show  how  the  Church,  gradually  indeed  and 
cautiously,  turned  to  the  literature  which  was  alien  to  her, 
and  passed  from  her  own  earliest  forms  (the  Gospel,  Apoca 
lypse,  the  prophetic  oracle)  to  the  forms  of  profane  lite 
rature.  The  most  important  precaution  taken  by  the  Church 
was  the  formation  of  the  Canon  of  the  New  Testament, 
which  places  before  us  a  selection  of  the  primitive  Christian 
literature.  After  the  Canon  had  been  formed,  and  placed 
as  something  sacred  above  all  other  writings,  the  Church 
could  well  allow  profane  literature  to  come  in,  so  far  as  it  did 
not  contradict  the  Canon.  The  profane  or  classical  Church 
style  began  with  the  Apologies,  to  them  succeeded  one 
style  after  another;  and  finally  in  the  catechetical  school 
of  Alexandria  almost  all  the  forms  of  ancient  literature 
were  cultivated.  The  patristic  literature  is  nothing  else 
than  the  continuation  of  the  ancient  classical  literature,  but 
under  the  control  of  the  two  Testaments.  The  ancient 
heathen  literature  died  out  in  the  fourth  and  fifth  centuries, 
so  that  at  length  nothing  remained  but  the  Catholic. 
But  this,  which  had  taken  into  itself  every  element  in  the 
ancient  that  still  retained  any  vitality,  had  now  fused 
the  G-ospel  and  the  spirit  of  Greek  and  Roman  antiquity 
into  innermost  union  within  itself.  Whatever  the  German 
people  has  received  of  spiritual  good,  the  inheritance  of 
antiquity  and  the  inheritance  of  Christianity,  they  have 
received  through  the  patristic  literature.  It  appears  at 
the  first  glance  barren  and  without  spirit;  but  when  we 
bear  in  mind  that  it  possessed  spirit  enough  to  found 
the  mediaeval  literatures  of  all  European  peoples,  we  shall 
see  that  it  must  be  due  to  our  defective  study  and 
understanding  if  we  find  no  spirit  in  it.  What  more 
important  or  interesting  historical  undertaking  can  there 
be  than  to  describe  the  development  of  Catholic  litera- 


The  present  state  of  research  in  early  church  history.         233 

ture,  and  to  show  how  it  gradually  made  all  the  forms  of 
classical  literature  its  own,  how  it  thereby  became  rich  and 
attractive,  and  how,  like  some  creeping  plant,  it  so  ex 
hausted  the  heathen  literature  that  the  mighty  tree  it  fed 
on  could  only  die. 

Precisely  the  same  holds  good  of  the  public  worship, 
the  doctrine,  and  the  organization  of  the  Christian  Church. 
Christianity  throughout  took  the  marrow  out  of  the  ancient 
world,  and  assimilated  it;  even  dogma  is  nothing  but  the 
Christian  faith  nourished  on  ancient  philosophy,  and  the 
whole  of  Catholicism  is  nothing  else  than  the  Christianity 
which  devoured  the  possessions  of  the  Graeco -Roman  world. 
What  an  insight  do  we  thus  get  into  Catholicism!  Whatever 
in  the  old  world  was  still  capable  of  life,  noble  and  good, 
Christianity  appropriated — of  course  with  much  that  was 
bad  and  untrue — and  placed  all  under  the  protection 
of  the  Q-ospel.  Out  of  this  material  it  created  for  itself 
a  body:  thus  did  it  preserve  and  save  for  the  future 
whatever  was  worth  saving  from  the  culture  and  the 
ideas  of  the  old  world.  To  the  young  German  peoples 
the  Church  came  not  only  as  the  Society  of  the  Preacher 
of  Galilee,  but  also  as  the  great  impressive  secular  power 
which  alone  held  sway  over  all  the  forces  of  civilization, 
literature,  and  law.  It  is  indeed  nothing  else  than  the 
universal  Roman  Empire  itself,  but  in  the  most  wonderful 
and  beneficent  metamorphosis,  built  upon  the  Gospel  as 
a  kingdom  of  Jesus  Christ:  Christus  vincit,  Christus 
regnat,  Christus  triumphat.  The  fittest  and  most  sugges 
tive  criticism  we  can  to-day  pass  on  Catholicism  is  to 
conceive  it  as  Christianity  in  the  garb  of  the  ancient 
world,  covered  with  a  mediaeval  overcoat:  the  Pope  is  the 
Roman  Emperor,  the  archbishops  and  bishops  are  the  old 
pro-consuls,  the  monks  and  priests  are  the  Roman  soldiery, 
the  Mass  is  the  old  Graeco- Roman  mystery- cult,  the 
system  of  doctrine  is  the  Greek  philosophy;  and  so  on. 


234  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  I. 

The  strength  and  greatness  of  the  Q-ospel  has  consisted  in 
this,  that  it  could  always  attract  to  itself  and  preserve 
everything  worthy  of  life  which  the  ages  possessed.  Just 
through  this  power  of  assimilation  and  expansion  the 
Gospel  has  established  its  right  to  be  the  universal  religion, 
and  has  proved  itself  the  most  conservative  of  forces  upon 
the  face  of  the  earth,  because  it  has  secured  endurance  to 
everything  worthy  to  endure. 

But  surely  this  great  enrichment  could  not  take  place 
without  the  more  definite  ideas  in  the  Gospel  becoming 
diminished  and  changed.  A  pure  embodiment  of  the 
Gospel  was,  under  such  conditions,  not  possible.  What  is 
the  Reformation  but  the  work  of  God  which  was  to  set 
the  Church  free  again  from  that  bondage  which  for  but 
1400  years  had  bound  it  to  the  ancient  world?  When 
Luther  did  away  the  Mass,  and  restored  the  service  of 
God  in  spirit  and  in  truth;  when  he  overthrew  the  whole 
Roman  ecclesiastical  system;  when  he  wished,  in  opposition 
to  the  scholastic  theology,  to  establish  the  Christian  society 
again  on  the  pure  word  of  God— all  this  may  be  expressed 
by  saying  that  the  Reformation  is  a  return  to  the  pure 
Gospel.  Only  what  is  sacred  is  to  be  held  sacred:  the 
traditions  of  men,  though  they  be  most  fair  and  most 
worthy,  must  be  taken  for  what  they  are — viz.,  the  or 
dinances  of  men. 

But  in  recognizing  all  this  let  us  not,  as  many  pole 
mical  Protestants  have  done,  condemn  the  old  Catholicism 
and  the  whole  development  of  the  Church  up  to  the  Re 
formation.  Everything  has  its  time,  and  every  step  in 
the  history  of  the  Church  was  needed.  If  it  was  possible 
in  Christ's  own  sense  to  follow  Him  within  the  pale  of 
Judaism  and  its  law,  without  anything  being  annulled,  it 
was  certainly  quite  as  possible  in  this  sense  to  live  accord 
ing  to  the  Gospel  within  that  ancient  Catholic  Church. 
It  was  God's  providence  that  so  guided  the  development 


The  present  state  of  research  in  early  church  history.        235 

of  the  Roman  Empire  that  it  resulted  in  that  wonderful 
covenant  between  Christianity  and  the  ancient  world  which 
lasted  nearly  1500  years.  When  it  had  done  its  work, 
when  the  time  was  accomplished,  the  covenant  was  dissol 
ved;  and  it  was  possible  to  dissolve  it  because  the  Church 
in  her  New  Testament  possessed  Scriptures  which  have 
nothing  to  do  with  that  covenant,  because  they  are  older  than 
it.  Therein  lies  the  abiding  value  of  the  New  Testament. 
I  have  attempted  to  show  the  various  points  of  view 
from  which,  in  the  field  of  early  Church  history,  work 
may  now  be  done.  We  now  know  what  we  want  and 
what  we  ought  to  do.  But  I  am  far  from  thinking  that 
we  have  accomplished  much.  No  one  can  feel  more  than 
myself  how  much  we  still  need  to  do — that  we  stand  only 
at  the  beginning  of  the  day,  and  labourers  are  few.  But 
the  greater  the  part  the  Church  takes  in  the  work,  the 
more  rapidly  will  it  advance.  Borne  up  and  supported  by 
the  living  interest  of  the  brethren,  protected  and  preserved 
from  the  mistrust  and  malevolence  that  walks  in  darkness, 
our  wings  shall  wax  strong  for  flight. 


ADOLF  HARNACK  .  REDEN  UND  AUFSATZE 
"32  ZWEITER  BAND  •  ZWEITE  ABTEILUNG 


AUFSATZE:  II 

EINTGE  BEMERKUNGEN  ZUR  GESCHICHTE 
DER  ENTSTEHUNG  DES  NEUEN  TESTAMENTS 


Eosum6  eines  auf  dem  internationalen  historischen  Kongrefl  zn  Eom 

am    6.  April  1903    gehaltenen  Vortrags.      Deutsch.  und  italienisch  er- 

scliienen    in   den    ,,Studi    religiosi,    Rovista    critica    e    storica"    1903 

Maggio-Giugno  si  227—240. 


Die  G-eschichte  der  Entstehung  des  Neuen  Testaments 
ist  im  letzten  Jahrhundert  mit  erstaunlichem  Fleifi  und 
ausgezeichnetem  Erfolg  untersucht  worden;  aber  es  sind 
einige  Fragen  iibrig  geblieben,  und  zwar  sehr  wichtige. 
Sie  sind  iibrig  geblieben,  weil  das,  woran  man  sich  ge- 
wohnt  hat,  als  das  selbstverstandliche  erscheint,  und  daher 
die  Untersuchung  nicht  herausfordert.  Drei  solche  Fragen 
will  ich  hier  aufwerfen,  um  sie  dem  Nachdenken  zu  em- 
pfehlen,  und  ich  will  versuchen,  ihrer  Losung  naher  zu 
kommen. 


I.  Warum  haben  wir  im  Neuen  Testament  vier  Evan- 
gelien  und  nicht  eines? 

Die  Antwort:  nEs  ist  ein  unerklarlicher  Zufall,"  geniigt 
nicht;  denn  der  G-ottesdienst,  die  Katechese  usw.  verlangten 
ein  Evangelium.  So  war  es  in  der  altesten  Zeit  -  -  die 
Judenchristen  hatten  ein  Evangelium  (das  Hebraerevange- 
lium),  ebenso  die  Marcioniten,  die  Agypter  etc.,  —  und  so 
ist  es  auch  in  der  mittleren  und  neueren  Zeit;  denn  man 
macht  for  den  Unterricht  und  die  evangelische  Uber- 
lieferung  aus  den  vier  Evangelien  noch  jetzt  kiinstlich  ein 
einziges. 

Auch  die  Antwort  ist  ungeniigend,  man  habe  die  vier 
Evangelien  zusammengestellt,  um  verschiedenen  theolo- 
gischen  Standpunkten  gerecht  zu  werden  und  sie  zu  ver- 
mitteln;  denn  die  drei  ersten  Evangelien  sind  in  bezug 


240  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IE. 

auf  ihren  theologischen  Standpunkt  nur  wenig  verschieden. 
Aber  auch  das  vierte  Evangelium  kann  jener  alten  Zeit 
nicht  so  verschieden  erschienen  sein,  wie  uns.  Man  be- 
merkte  wohl  einen  Unterschied  der  Stufe  —  eine  kleine 
Partei  hat  auch  sachliche  bedeutende  Unterschiede  erkannt, 
—  aber  nicht  dogmatische  Verschiedenheiten. 

Sind  aber  die  beiden  versuchten  Antworten  unge- 
niigend,  so  bleibt  nur  noch  eine  iibrig,  namlich  dafl  die 
vier  Evangelien  zusammengestellt  warden,  um  sie  in  eines 
zu  verarbeiten,  dafi  aber  dann  rasch  Verhaltnisse  eintraten, 
welche  eine  solche  einheitliche  Verarbeitung  unratsam 
machten  und  hemmten. 

Beweise : 

1.  DaB  ein  einheitliches  Evangelium  zu  besitzen,  stets 
das  letzte  Ziel  sein  mufite,  liegt  in  der  Natur  der  Sache 
(s.  o.). 

2.  Unser  1.    und    3.   Evangelium    setzen   sicher,   unser 
2.  und  4.  Evangelium  setzen  hochst  wahrscheinlich  bereits 
kiirzere   Evangelien   voraus,    aus    denen    sie   zusammenge- 
arbeitet  word  en  sind.     Sie    sind    selbst   schon  Evangelien- 
harmonien. 

3.  Dieser  Prozefi,   aus    mehreren  Evangelien   eines   zu 
machen,   hat  sich  auch  fortgesetzt,   als  unsere  Evangelien 
bereits    nebeneinander   standen.     Justin   hat   um  das  Jahr 
150  wahrscheinlich  eine  Harmonie  aus  mehreren  Evangelien 
benutzt,  unter  denen  sich  unsere  befanden,  und  von  Tatian 
wissen  wir  gewifi,   dafi  er  aus  unseren  4  Evangelien  eine 
Harmonie,   ein   ,,Diatessaron",  verfertigt   hat.     Dieses  Dia- 
tessaron  ist  bis  zum  Anfang  des  5.  Jahrhunderts  das  Evan 
gelium  der  syrischen  Kirche  und  ihrer  Tochterkirchen  ge- 
wesen. 

4.  Den  hemmenden  Faktor,   der   es   verhinderte,    dafl 
sich    das    Diatessaron    oder    ein    ahnliches    Buch    in    den 
Kirchen  durchsetzte,  konnen  wir  sicher  angeben,  —  es  ist 
der  G-nostizismus.     Er  notigte  die  Kirchen,  ihre  Urkunden 


Bemerkungen  zur  Gesch.  der  Entstehung  des  Neuen  Test.      241 

nicht  welter  mehr  zu  verandern,  urn  moglichst  authentische 
Urkunden  zu  bewahren.  Diese  Riicksicht  wurde  starker 
als  das  praktische  Bedurfnis,  ein  einheitlich.es  Evangelium 
zu  besitzen,  und  hemmte  so  den  ProzeB,  aus  den  vier 
Evangelien  eines  zu  machen.  Indem  diese  Absicht  durch- 
kreuzt  wurde,  blieb  die  Kirche  in  bezug  auf  das  praktische 
Bediirfnis  in  einer  unvollkommenen  und  schwierigen  Situ 
ation  stecken,  —  sie  mufite  fortan  das  Evangelium  aus  4 
Biichern  lesen  — ,  aber  die  Hemmung  gewahrte  der  Folge- 
zeit  den  grofien  Vorteil,  dafi  sie  das  Evangelium  in  einer 
relativ  urspriinglicheren  Grestalt  erhielt  und  dauernd  be- 
wahrte.  Unsere  Kenntnis  von  Jesus  Christus  und  seinem 
Evangelium  ware  eine  sehr  viel  unsicherere  geworden, 
wenn  wir  statt  der  4  Evangelien  ein  Diatessaron  erhalten 
hatten.  Dem  G-nostizismus  gegeniiber  wurde  der  Buch- 
stabe  der  4  Evangelien  geheiligt  und  damit  bewahrt. 

NB.  Warum  um  das  Jahr  120—130  (um  diese  Zeit 
handelt  es  sich)  grade  diese  4  Evangelien,  und  nicht  3 
oder  5  oder  andere  in  Kleinasien  zusammengestellt  worden 
sind,  um  sie  einheitlich  zu  bearbeiten,  das  entzieht  sich 
unsrer  Kenntnis  ganz.  Im  besten  Fall  kann  man  dariiber 
einige  Vermutungen  aufstellen.  Dafi  aber  in  Kleinasien 
die  Zusammenstellung  erfolgt  ist,  lafit  sich  sehr  wahr- 
scheinlich  machen. 


II.  Wie  konnten  apostolische  Briefe,  namentlich  Pau- 
lusbriefe,  mit  gleicher  Wiirde  und  gleichem  Ansehen  neben 
die  Evangelien  gestellt  werden? 

Diese  Tatsache,  die  wir  im  Neuen  Testamente  vollzogen 
sehen,  ist  vielleicht  das  Paradoxeste,  was  die  Sammlung 
bietet:  Briefe,  zum  Teil  ganz  individuellen  Inhalts,  stehen 
mit  gleichem  Ansehen  neben  dem  Herrnwort!!  Wie  ist  die 
Tatsache  zu  erklaren?  Aus  der  inneren  Greschichte  der 
groBen  Kirche  ist  sie  unerklarbar.  Die  Antwort,  der  Apo- 

Harnack,  Eeden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    H.  16 


242  Z  welter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  II. 

stolos  sei  den  Evangelien  beigegeben  worden,  wie  die  Pro- 
plieten  den  Biichern  Mosis,  erklart  den  Ursprung  der  Zu- 
sammenstellung  nicht;  denn  diese  Vergleichung  1st  erst 
gemacht  worden,  nachdem  Evangelien  nnd  Briefe  bereits 
zusammengestellt  waren.  Nur  das  Eine  lafit  sich  sagen  — 
und  das  ist  nicht  unwichtig  — :  Briefe  von  Aposteln  (aber 
auch  von  anderen  G-eistestragern)  sind  friihe  gesammelt 
und  in  den  Gremeindegottesdiensten  verlesen  worden,  nicht 
iiur  einmal,  sondern  wiederholt  und  regelmafiig.  Dadurch 
kamen  sie  ortlich  und  auch  der  Bedeutung  nach  in  die 
Nahe  der  Evangelien.  Aber  dafi  sie  ihnen  gleichgestellt 
und  kanonisch  wurden,  ist  damit  doch  nicht  erklart. 

Der  Ursprung  der  Verbindung  ist  dort  zu  suchen,  wo 
Paulus  ein  ahnliches  Ansehen  genofi  und  geniefien  muBte, 
wie  Jesus  Christus  selbst,  also  bei  den  Grnostikern  und  vor 
allem  bei  den  Marcioniten.  Ihnen  war  Paulus  der  authen- 
tische  Interpret  Christi  und  zugleich  der  Heformator  gegen- 
iiber  einer  ,,judaistischen"  Fassung  des  Chris tentums,  welche 
Marcion  sogar  den  Uraposteln  vorwarf.  Bei  Marcion  finden 
wir  auch  wirklich  zuerst,  dafi  er  das  Evangelium  und  Paulus- 
Briefe  verbunden  und  diesen  dasselbe  Ansehen  gegeben 
hat  wie  jenem.  Fur  mehrere  gnostische  Vereine  diirfen  wir 
vermuten,  dafi  sie  dasselbe  getan  haben.  Auch  ihnen  war 
Paulus  der  Interpret  Christi  und  der  Reformator. 

Aber  wie?  sollen  wir  annehmen,  dafi  die  grofie  Kirche 
dem  Marcion  und  den  Grnostikern,  ihren  Todfeinden,  ge- 
folgt  ist,  und  ihre  Ansicht  und  Ordnung  nachgeahmt  hat? 
GrewiB  nicht!  Die  Sache  machte  sich  vielmehr  ganz  von 
selbst.  Die  grofie  Kirche  konnte  den  Paulus  nicht  niedriger 
schatzen  als  es  Marcion  und  die  G-nostiker  taten;  damit  hatte 
sie  ihn  denselben  ausgeliefert.  Allmahlich,  aber  sicher  mufiten 
die  paulinischen  Briefe  dieselbe  Schatzung  in  der  grofien 
Kirche  gewinnen  wie  in  den  haretischen.  Ohne  merkuch 
zu  werden,  konnte  sich  diese  Wandlung  vollziehen;  denn 
die  Paulus  -  Briefe  wurden  ja  (s.  oben)  in  dem  Grottes- 


Bemerkungen  zur  Gescli.  der  Entstehung  des  Neuen  Test.      243 

dienst  der  grofien  Kirclie  gelesen.  Naturlich  suchte  diese 
aber  Briefe  urapostolisclier  Manner  den  Paulus-Briefen  hin- 
zuzufiigen. 

Ein  schones  aufleres  Zeugnis  des  Prozesses,  der  sich 
zwischen  160  und  190  vollzogen  haben  mufi,  besitzen  wir 
noch  in  den  Akten  der  Martyrer  von  Scili,  die  ans  dem 
Jahre  181  stammen.  Auf  die  Frage  des  Prokonsuls:  wQuae 
sunt  res  in  capsa  vestra,"  antwortet  Speratus:  ,,Libri  et 
epistulae  Pauli  viri  iusti."  Die  ,,Bucher"  sind  das  Alte 
Testament  und  die  Evangelien.  Die  Paulus-Briefe  werden 
bereits  neben  ihnen  genannt,  aber  doch  noch  von  ihnen 
nnterschieden.  So  hatte  man  nm  das  Jahr  160  noch  nicht, 
und  um  das  Jahr  200  nicht  mehr  gesprochen. 


III.  "Wie  ist  es  gekommen,  dafi  die  Kirchen  ein  ein- 
heitliches  Neues  Testament  erhalten  haben? 

Bei  Beantwortung  dieser  Frage  mufi  man  eine  Unter- 
scheidung  machen.  DaB  die  Sammlung  von  27  Schrifteii, 
wie  wir  sie  jetzt  besitzen,  zuerst  in  Agypten  (Alexandrien) 
zustande  gekommen  ist,  und  sich  im  Laufe  des  4.  und 
5.  Jahrhunderts  —  besonders  durch  die  Autoritat  des  Atha- 
nasius  —  in  den  anderen  orientalischen  Kirchen  und  im 
Abendland  durchgesetzt  hat,  steht  fest.  Aber  schon  vor 
dieser  Zeit,  namlich  in  der  2.  Halfte  des  3.  Jahrhunderts, 
hatten  fast  alle  Kirchen  einen  gemeinsamen  Grrundstock 
des  Neuen  Testaments,  namlich  eine  Sammlung  von  20  bez. 
22  Schriften  (es  fehlten  II.  und  IH.  Joh.,  n.  Petrus,  Ja- 
kobus,  Hebraerbrief,  bez.  auch  Apokalypse  und  Judas).  Wie 
ist  dieser  Grundstock  entstanden?  Er  weist  eine  ganz  be- 
stimmte  Struktur  auf,  namlich  in  der  Mitte  stehen  die 
Apostelgeschichte  und,  mit  ihr  verbunden,  Schiiften  der 
Urapostel;  den  rechten  Fliigel  bilden  die  Evangelien  und 
den  linken  die  Paulus-Briefe. 

16* 


244  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  II. 

Fragt  man,  wo  dieses  Neue  Testament  entstanden  1st, 
so  scheiden  die  syrische,  die  alexandrinische,  die  gallische 
und  die  nordafrikanische  Kirche  aus;  denn  es  ist  nach- 
weisbar,  dafi  sie  diese  Sammlung  spater  erhalten  haben, 
bez.  von  anderen  Kirchen  abhangig  waren.  Es  bleiben  nur 
die  kleinasiatische  nnd  die  romische  Kirche  iibrig.  Die 
Sammlung,  wie  sie  nicht  ein  formloses  Aggregat  darstellt, 
sondern  einen  deutlichen  Plan  zeigt,  kann  nicht  zufallig 
und  an  mehreren  Orten  zugleich  entstanden  sein,  sondern 
mufi  einen  bestimmten  Ursprung  haben.  Dann  aber  ist  es 
hochst  wahrscheinlich,  dafi  sie  in  Rom  entstanden  ist  (viel- 
leicht  unter  Teilnahme  kleinasiatischer  Bischofe). 

In  Horn  namlich  sind:  1.  nachweisbar  die  beiden  an 
deren  apostolisch -katholischen  Mafistabe  um  dieselbe  Zeit 
entstanden,  die  apostolisch  -  katholische  G-laubensregel  und 
die  Auffassung  vom  apostolischen  Amte  der  Bischofe.  Mit 
diesen  beiden  Mafistaben  ist  die  apostolisch -katholische 
Schriftensammlung  aufs  nachste  verwandt. 

2.  In  Rom  ist  zuerst  die  Sammlung  von  22  Schriften 
sicher  nachweisbar.  Es  entspricht  aber  auch  dem  Charakter 
der  romischen  Kirche,  solche  formale  Ordnungen  und  Gre- 
setze  aufzustellen ;  denn  das  Charisma  dieser  Kirche  ist 
stets  —  und  auch  im  Altertum  —  nicht  die  Theologie  ge- 
wesen,  sondern  die  Ordnung  und  das  Q-esetz.  Im  Kampf 
gegen  den  Grnostizismus  hat  Rom  die  Grenzen  und  Ord 
nungen  des  Christlichen  festgestellt,  und  von  Rom  aus  sind 
diese  Mafistabe  in  den  Jahren  190 — 250  auch  zu  den  an 
deren  Kirchen  gekommen  und  von  ihnen  adoptiert  worden. 


Dies  sind  die  drei  Fragen,  welche  ich  vorlegen  und 
dem  Nachdenken  iibergeben  wollte.  Die  Losungen,  welche 
ich  versucht  habe,  halte  ich  nicht  fur  wissenschaftlich  be- 
wiesen,  aber  fur  sehr  wahrscheinlich.  Nicht  erwahnt  habe 


Bemerkungen  zur  Gesch.  der  Entstehung  des  Neuen  Test.     245 

ich  die  wichtigste  Frage,  wie  es  iiberhaupt  zu  einem  Neuen 
Testamente  gekommen  1st?  Bedenkt  man,  dafl  weder 
Christus  noch  die  Apostel  etwas  Ah.nlich.es  angeordnet 
haben  ( —  wie  anders  steht  es  im  Islam!  man  denke  an 
den  Koran!  — ),  und  dafi  die  Kirche  ja  bereits  eine  um- 
fangreiche  ?,littera  scripta"  in  dem  Alten  Testamente  be- 
safi,  so  erscheint  die  Schopfung  des  Neuen  Testaments  als 
ein  grofies  Problem,  zugleich  aber  anch  als  eine  grofie  Tat 
der  Freiheit  und  Selbstandigkeit  der  Kirche.  Ohne  Be- 
ziehung  freilich  auf  den  Gregensatz,  die  haretischen  Be- 
wegungen,  wird  man  die  Entstehung  des  Neuen  Testa 
ments  nicht  erklaren  konnen. 


ADOLF  HARNACK  •  REDEN  UNO  AUFSATZE 
ZWEITER  BAND  .  ZWEITE  ABTEILUNG 


AUFSATZE :  HI 

WAS  WIR  VON  DER  ROMISCHEN  KIRCHE 
LERNEN  UND  NIGHT  LERNEN  SOLLEN 


Diesem  Aufsatz  liegt  ein  Vortrag  zugrande,  der  im 
Januar  1891  im  Bunde  evangelischer  Studierender  zu  Berlin 
ohne  schriftliche  Unterlage  gehalten  worden  ist.  Den 
Wiinschen,  ihn  nachtraglich  niederzuschreiben,  glaubte  ich 
entsprechen  zu  sollen  und  liefi  den  Vortrag  in  der  nCkrist- 
licken  Welt"  1891  Nr.  18  (30.  April)  erscheinen. 


"Was  wir  von  der  romischen  Kirche  lernen  und  niclit 
lernen  sollen:  vielleicht  wird  die  erste  Halfte  der  Frage 
nicht  wenige  befremden.  Sie  werden  sagen:  Von  der  ro 
mischen  Kirche  haben  wir  nichts  zu  lernen.  Allein  bei 
naherem  Nachdenken  wird  wohl  jeder  gestehen  miissen, 
dafl  es  mit  der  bloflen  Abwehr  nicht  getan  ist.  Sollen  wir 
doch  auch  vom  Feinde  lernen,  und  die  romische  Kirche  ist 
nicht  in  jeder  Hinsicht  unser  Feind.  Was  ist  die  romische 
Kirche? 

Allem  zuvor  —  sie  ist  nicht  mir  religiose  Gremein- 
schaft,  sondern  ein  Staat,  und  zwar  die  Fortsetzung  des 
alten  romischen  Weltreiches,  ja  dieses  Reich  selbst  mit 
demselben  politisch-juristisch-religiosen  Geiste.  Ich  spreche 
hier  nicht  im  Sinne  einer  Vergleichung,  sondern  ich  bitte, 
mich  ganz  wortlich  zu  verstehen.  Das  westromische  Reich 
lebt  in  der  Form  der  romischen  Kirche  wirklich  unter  uns 
fort  mit  seinem  Despotismus,  mit  seinen  Heiligtumern  — 
voran  die  ewige  Roma  selbst  — ,  mit  seinen  Rechtsgrund- 
lagen  und  seiner  vorwiegend  juristischen  Auffassung  der 
irdischen  und  himmlischen  Dinge.  Man  mag  auf  die  Ver- 
fassung,  die  Disziplin,  den  Kultus  bis  auf  die  Priesterge- 
wander  blicken:  iiberall  sieht  man  sich  an  das  alte  Reich 
erinnert,  an  die  vierte  Danielische  Weltmonarchie,  und  sehr 
vieles  im  Wesen  und  Leben  dieser  Kirche  wird  einem  iiber- 
haupt  nur  klar,  wenn  man  bei  der  geschichtlichen  Beur- 
teilung  nicht  von  Jesus  und  den  Aposteln  ausgeht,  sondern 
von  den  Casaren,  nicht  von  Q-alilaa,  sondern  von  Rom, 
nicht  von  der  Bibel,  sondern  von  dem  kaiserlichen  Recht. 


250  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.    Aufsatze:  III. 

Einst   hat  Alphanus  von  Salerno   den   groflen   Hildebrand 
also  anger edet: 

Nimm  des  ersten  Apostels  Schwert, 
Petri  gltihendes  Schwert,  zur  Hand! 
Brich  die  Macht  und  den  Ungestlim 
Der  Barbaren:  das  alte  Joch 
LaB  sie  tragen  fiir  immerdar! 

Sieh,  wie  groB  die  Gewalt  des  Banns: 
Was  mit  StrOmen  von  Kriegerblut 
Einstmals  Marius  Heidenmut 
Und  des  Julius  Kraft  erreicht, 
Wirkst  du  jetzt  durch  ein  leises  Wort. 

Rom,  von  neuem  durch  dich  erhoht, 
Bringt  dir  schuldigen  Dank;  es  bot 
Nicht  den  Siegen  des  Scipio, 
Keiner  Tat  der  Quiriten  je 
Wohlverdienteren  Kranz  als  dir. 

Uberzeugter  und  kraftvoller  kann  man  den  Q-edanken, 
die  romische  Kirche  sei  das  alte  Horn,  der  Papst  der  Casar, 
die  Q-ermanen  noch  immer  die  zu  unterjochenden  Barbaren, 
nicht  ausdriicken,  als  es  dieser  italienische  Erzbischof  getan 
hat!  Nur  die  Sprache  hat  gewechselt,  nicht  der  Greist. 

Die  romische  Kirche  ist  zweitens  eine  Schule  und  eine 
Versicherungsanstalt  —  eine  Schule  fur  die  ewig  Unmun- 
digen,  weil  sie  es  bequem  finden,  in  religiosen  Dingen  un- 
miindig  zu  bleiben,  eine  Versicherungsanstalt  fur  die,  welche 
die  Giiter  des  Evangeliums  wiinschen,  ohne  ergriffen  zu 
sein  von  der  innern  Macht  des  Evangeliums.  Keine  Kirche 
vermag  sich  wider  solche  sicher  zu  stellen,  aber  nur  die 
romische  Kirche  versichert  sie. 

Die  romische  Kirche  hat  aber  endlich  auch  das  Evan- 
gelium  noch  immer  in  ihrer  Mitte.  Es  hat  in  ihr  zu  alien 
Zeiten  gute  und  grofie  Christen  gegeben,  und  ich  zweifle 
nicht,  dafi  es  noch  heute  in  ihr  solche  gibt.  Sie  wissen 
sich  zugleich  als  treue  Sohne  ihrer  Kirche,  und  wir  haben 
kein  Recht,  das  in  Frage  zu  stellen  oder  sie  der  Selbst- 


Was  wir  von  der  rOmischen  Kirche  lernen  und  nicht  lernen  sollen.    251 

tauschung  anzuklagen.  Ein  jeder  wird  ungerecht  gegen 
die  romische  Kirche,  der  diese  Tatsache  nicht  wiirdigt. 
Das  Q-eheimnis  dieser  Kirche  1st,  dafl  sie  Weltstaat,  Schule, 
sakramentale  Versicherungsanstalt  und  Q-emeinschaft  des 
Q-laubens  zugleich  ist.  Wer  bezweifelt,  dafi  dies  moglich 
ist,  soil  sich  aus  der  Greschichte  belehren,  dafl  es  wirklich  ist. 

Was  konnen  wir  von  dieser  Kirche  fiir  unsre  eigne 
Kirche,  fur  den  Protestantismus,  lernen? 

Nun  erstlich  —  Geduld.  Was  die  vollkommene  und 
einheitliche  Ausgestaltung  des  Katholizismus  betriffb,  so 
hatte  ein  Kirchenhistoriker  des  fiinfzehnten  Jahrhunderts 
die  Frage  nach  dem  Wesen  dieser  Kirche  nur  mit  grofier 
Schwierigkeit  oder  vielmehr  gar  nicht  beantworten  konnen, 
so  verschiedene  Stromungen,  Lehren  und  Ziele  waren  da- 
mals  in  ihr  vorhanden.  Wenn  er  sich  mit  seiner  Beurtei- 
lung  nach  Q-erson  oder  nach  Hus  oder  nach  Thomas  von 
Kempen  oder  nach  Papst  Pius  II.  oder  nach  Savonarola 
oder  nach  Picus  von  Mirandola  gerichtet  hatte,  so  hatte  er 
jedesmal  ein  andres  Bild  bekommen.  So  vielgestaltig  wie 
die  katholische  Kirche  im  fiinfzehnten  Jahrhundert  war,  so 
vielgestaltig  ist  heute  der  Protestantismus ,  der  erst  drei- 
undeinhalb  Jahrhunderte  besteht.  Wir  konnen  daraus 
lernen,  dafi  Konfessionen  sich  sehr  langsam  entwickeln  und 
erst  allmahlich  ihr  wahres  Wesen  zu  eindeutigem,  klarem 
Ausdruck  bringen.  Der  romische  Katholizismus  hat  mehr 
als  1500  Jahre  gebraucht.  An  diesem  Maflstabe  gemessen, 
diirfen  wir  vielleicht  sagen,  dafi  der  Protestantismus  sich 
noch  in  der  Zeit  der  Kinderkrankheiten  befindet,  und 
miissen  Mut  in  Qeduld  fassen. 

Zweitens  konnen  wir  aus  der  Q-eschichte  der  katholi- 
schen  Kirche  lernen,  dafi  selbst  in  dieser  Kirche,  die  so 
ganz  auf  die  Verfassung  gestellt  ist,  niemals  die  Verfas- 
sungsreformen,  sondern  stets  die  lebendigen  frommen  Per- 
sonen  einen  Aufschwung  bewirkt  und  einen  Fortschritt 
herbeigefuhrt  haben.  Die  grofien  Monche  haben  neue 


252  Z  welter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  III. 

Stufen  in  der  Entwicklung  der  Kirche  herbeigefiihrt,  nicht 
die  grofien  Politiker,  oder  vielmehr  die  Politiker  nur,  weil 
sie  auf  den  Schultern  der  Monche  standen.  Hier  konnen 
wir  lernen,  dafl  es  mit  Verfassungsveranderungen  in  der 
Kirche  nicht  getan  ist,  mag  man  nun  starker  binden  oder 
entschlossener  losen.  Es  konmit  uberall  nur  auf  die  Per- 
sonen  an,  die  sich  von  der  Welt  befreit  und  in  Grott  ihre 
Starke  gefunden  haben.  Ein  Franziskus  ist  machtiger  ge- 
wesen  als  viele  Kirchenfursten.  Der  E/uf:  Mehr  Freiheit 
fur  die  Kirche!  ist  letztlich  ebenso  gleichgiiltig  wie  der 
andre:  Man  mufi  der  Kirche  einen  Zaum  anlegen.  Wenn 
ein  wirkliches  Leben  fehlt,  wird  die  Freiheit  nichts  niitzen, 
und  wenn  es  vorhanden  ist,  wird  der  Zaum  nicht  schaden. 
Ein  Drittes,  was  wir  von  der  romischen  Kirche  lernen 
konnen,  ist  der  Gredanke  der  Katholizitat,  der  Zug  nach 
einer  allgemeinen  und  wirksamen  Verbriiderung  der  Men- 
schen  durch  das  Evangelium,  das  Streben  nach  Verwirk- 
lichung  des  Q-edankens  Jesu  Christi:  Ein  Hirt  und  eine 
Herde.  Ich  glaube  es  aussprechen  zu  diirfen  —  der  ernste 
Katholik  empfindet  den  Segen  einer  grofien  christlichen  Gre- 
meinschaft  lebendiger,  die  Spaltung  der  Christenheit  schmerz- 
licher,  die  Aufgabe,  die  alien  G-laubigen  gesetzt  ist,  ge- 
wissenhafter  als  wir.  Bei  uns  ist  das  BewuCtsein  um  diese 
Aufgabe,  alle  Menschen  innerlich  als  Kinder  Gottes  und 
Briider  Jesu  Christi  zu  verbinden,  in  der  E/egel  nur  schwach 
entwickelt.  Es  gibt  bei  uns  viele,  die  nicht  nur  die  Tren- 
nung  zwischen  Katholizismus  und  Protestantismus  fur  nor 
mal  halten,  sondern  auch  die  Spaltung  des  letztern  in  un- 
zahlige  Landeskirchen  und  Freikirchen,  die  sich  sogar  haufig 
die  Bruderhand  verweigern.  Aber  der  grofie  Gredanke  der 
allgemeinen  durch  das  Christentum  herbeizufuhrenden  Ein- 
heit  der  Volker  wird  durch  andre  Ideale  nicht  ersetzt.  Wir 
freuen  uns,  wenn  in  dieser  Welt  der  materiellen  Interessen 
ein  edler  Patriotismus  gepflegt  wird.  Aber  wie  armselig 
ist  doch  der  Mensch,  der  im  Patriotismus  sein  hochstes 


Was  wir  von  der  rOmisciien  Kirclie  lernen  und  nioht  lernen  sollen.   253 

Ideal  erkennt  oder  im  Staate  die  Zusammenfassung  aller 
Griiter  verehrt!  Welch  ein  Riickfall,  nachdem  wir  in  dieser 
"Welt  Jesus  Christus  erlebt  haben!  Wir  sollen  daher  mit 
aller  Kraft  die  christliche  Einheit  der  Menschheit  erstreben, 
in  unsern  kleinen  Kreisen  aufgeschlossen  und  weitherzig 
sein,  um  fahig  zu  werden,  daran  zu  glauben,  dafi  die 
briiderliche  Einheit  der  Menschheit  kein  Traum  der  Traumer 
ist,  sondern  ein  vom  Evangelium  unabtrennbares  Ziel.  DaB 
wir  hier  stumpfer  geworden  sind,  ist  eine  Folge  unsrer 
Trennung.  Diese  Trennung  war  notwendig;  aber  nur  ein 
ganz  kurzsichtiger  Protestant  kann  verkennen,  dafi  sie 
nicht  nur  unsern  G-egnern  Schaden  gebracht  hat,  sondern 
auch  uns. 

Ich  fiirchte  nicht,  dafi  das  bisher  Gresagte  auf  Wider- 
spruch  stofit,  auch  nicht,  dafi  das,  was  wir  von  der  romi- 
schen  Kirche  hier  lernen  konnen,  verkannt  wird.  Aber 
ich  habe  noch  andres  zu  erwahnen,  was  nicht  von  vorn- 
herein  auf  Zustimmung  rechnen  kann.  Ich  werde  mich 
bemiihen,  es  so  zu  sagen,  dafi  ich  jede  Mifideutung  aus- 
schlieBe. 

Richten  wir  unsre  Aufmerksamkeit  auf  das  innere 
Leben  der  katholischen  Kirche.  Es  ist  das  Moment  der 
Anbetung,  das  ich  erstlich  ins  Auge  fassen  mochte.  Unser 
evangelisches  Christentum  ist  doktrinar  geworden,  und 
unser  offentlicher  Gottesdienst  nicht  minder.  Dieser  Dok- 
trinarismus  ist  der  Schatten  unsrer  berechtigten  Eigenart 
und  unsrer  besten  GHiter,  aber  er  ist  doch  ein  Schatten. 
Die  Religion  ist  ein  Leben,  und  als  ein  Leben  soil  sie  sich 
uberall  darstellen,  wo  sie  sich  einen  Ausdruck  gibt  —  sie 
ist  ein  Leben  in  Grott.  Leben  in  Grott  ist  Anbetung.  Wohl 
ist  forcierte  Anbetung  etwas  hochst  Abschreckendes ,  aber 
ein  Sprechen  iiber  die  Religion,  die  Formel  anstatt  der 
Sache,  die  Hulse  anstatt  des  Kerns,  ist  nicht  minder 
schrecklich.  Und  nun  vollends,  wenn  diese  Formeln  abge- 
braucht  und  schal  geworden  sind,  wenn  sie  auch  den  Yer- 


254  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  lit. 

stand  nicht  mehr  interessieren ,  der  das  Herz  so  lange  ge- 
tauscht  hat!  Oder  wenn  die  Theologie  mit  ihren  histori- 
sclien  und  kritischen  Problemen  sich  einmischt  in  die 
Frommigkeit  und  diese  allmahlich  durchsetzt  und  zum  bunt- 
scheckigsten  G-ewande  macht!  Eine  Studentengeschichte 
will  wissen,  ein  beriihmter  Theologe  habe  einst  gebetet: 
GrroJBer  Jahveh,  den  der  unwissende  Gresenius  noch  immer 
Jehova  nennt!  Es  ist  eine  schlimme  Greschichte,  die  sicher- 
lich  erfunden  ist,  aber  sie  ist  nicht  ubel  erfunden.  Es  gibt 
einen  Doktrinarismus  in  der  Religion,  der  alle  Religion 
profaniert,  und  es  gibt  einen  andern  Doktrinarismus,  der 
sie  allmahlich  lahmt.  Ihm  gegeniiber  gilt  es,  die  Religion 
immer  wieder  auf  sich  selbst  zuriickzufuhren  und  ihr  auch 
in  der  offentlichen  Darstellung  Gelegenheit  zu  geben,  sie 
selbst  zu  sein.  Wir  konnen  hier  von  der  katholischen 
Kirche  viel  lernen.  Sie  fordert  energischer  und  vielfaltiger 
zur  Anbetung  auf  als  wir,  innerhalb  und  aufierhalb  des 
Grottesdienstes.  Ich  vermag  keine  Ratschlage  zu  geben, 
wie  wir  es  machen  sollen;  aber  ich  sehe  deutlich,  was  uns 
fehlt.  An  der  altesten  Kirche  konnen  wir  uns  ein  Muster 
nehmen.  Ihre  G-emeindezusammenkunfte  dienten  der  ge- 
meinsamen  Anbetung  und  der  Nachstenliebe.  Wir  wollen 
nicht  verlieren,  was  wir  haben;  aber  wir  miissen  unser 
gottesdienstliches  Q-emeindeleben  neu  gestalten,  um  nicht 
zu  verlieren,  was  wir  haben. 

Zweitens,  der  Protestantismus  richtete  sich  von  Anfang 
an  gegen  die  Messe  und  damit  gegen  das  Schema  vom 
Opfer  uberhaupt.  Das  war  notwendig  nach  alien  den 
schweren  Miflbrauchen,  die  mit  ,,0pfern"  getrieben  worden 
waren.  Aber  wir  haben  die  Idee  des  Opfers,  die  doch  eine 
neutestamentliche  ist,  im  Grunde  vollstandig  verworfen. 
Ich  finde,  dafi  weder  in  der  Predigt  noch  im  Unterricht 
noch  in  der  praktischen  Anwendung  der  Religion  vom 
Opfer  bei  uns  mehr  die  Rede  ist,  es  sei  denn  in  der  An 
wendung  des  Begriffs  auf  das  Werk  Christi.  Das  ist  ein 


Was  wir  von  der  rttmischen  Kirche  lernen  und  niclit  lernen  sollen.  255 

ungeheurer  Umschwung  in  der  Religionsgesch.ich.te;  denn 
noch  hat  es  keine  Religion  gegeben,  in  der  iiicht  die  Opfer- 
idee  das  Leben  der  Religion  beherrschte.  Aber  wir  fordern 
im  Protestantismus  doch  das  Hochste,  die  Hingabe  der 
ganzen  Personlichkeit.  Grewifi  —  nur  fiirchte  ich,  dafi  bei 
uns  das  Bessere  oft  der  Feind  des  Ghiten  ist,  und  dafi  wir 
uns  durch  eine  gewisse  abstrakte  Strenge,  das  Hochste  zu 
fordern  oder  nichts,  oftmals  die  Seelen  entgehen  lassen. 
Der  Mensch  lebt  im  Leben  des  Tages  nicht  deutlieh  in 
den  groBen  Kontrasten,  sondern  in  dem  Widerspiel  abge- 
stufter  Stimmungen  und  Motive.  Hier  kann  kein  andres 
Schema  das  des  Opfers  ersetzen.  Man  mufi  Opfer  bringen, 
wenn  man  Ideale  hat  und  geistige  Giiter  erwerben  oder 
festhalten  will.  Der  Mensch  hat  nur  soviele  Ideale,  als  er 
Opfer  bringt.  Es  wird  bei  uns  zu  wenig  Entsagung  ver- 
langt,  und  zu  selten  hort  man  die  eindringliche  Mahnung 
an  unser  Geschlecht,  dafi  es  opferscheu  ist  und  deshalb  lau, 
mutlos  und  charakterlos.  Das  Wort  „  Opfer"  hat  fast  einen 
so  schlimmen  Klang  bei  uns  erhalten,  wie  das  Wort 
,,Tugend".  In  beiden  Fallen  haben  grofie  religionsge- 
schichtliche  Umwalzungen  die  Quieszierung  dieser  Begriffe 
veranlafit;  aber  um  unser  geistiges  und  inneres  Leben  ge- 
sund  zu  erhalten,  welches  mit  den  geringsten  Mitteln  ge- 
baut  ist,  konnen  wir  diese  Schemata  nicht  entbehren. 
Wir  miissen  den  MLGbrauch  vermeiden,  und  doch  von  An- 
fang  an  unsre  Jugend  wieder  lehren,  dafl  alles  religiose 
und  sittliche  Leben  auf  Opfer  gestellt  ist,  und  dafi  nur 
der  das  G-rofiere  gewinnt,  der  freudig  das  Gtaringere  da- 
hingibt. 

Drittens,  die  Reformation  hat  an  die  Stelle  des  Sakra- 
ments  der  Bufie  die  aus  dem  Grlauben  entspringende  buC- 
fertige  G-esinnung  gesetzt.  Es  war  ihre  groUte  und  ein- 
schneidendste  Tat,  dafi  sie  Bufie  und  Vergebung  streng  und 
sicher  aufeinander  bezogen  und  demgemaB  die  Beichte 
und  die  Satisfaktionen  zuriickgestellt  hat.  Aber  wir  haben 


256  Z welter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  in. 

dabei  doch  eine  Einbufie  erlitten,  indem  die  Beichte,  well 
dogmatisch  gleichgultig,  verkiimmert  ist  und  schliefilich  in 
der  Praxis  so  gut  wie  ganz  aufgehort  hat.  Wohl  erziehen 
wir  unsre  Kinder  so,  daB  sie  ihre  Fehler  und  Siinden 
mundlich  bekennen  sollen,  und  auch  die  Verbrecher  in  den 
Grefangnissen  suchen  wir  zu  einem  Schuldbekenntnis  zu 
bewegen.  Aber  iiber  Kinder  und  Grefangne  hinaus  haben 
wir  die  Einsicht  des  Segens  der  confessio  verloren.  Dafur 
haben  wir  uns  an  allgemeine  Schuldbekenntnisse  in  Bausch 
und  Bogen  gewohnt.  Sie  fallen  uns  auBerordentlich  leicht, 
so  leicht,  dafi  es  bereits  zum  guten  Kirchenton  gehort,  wo 
nur  immer  eine  christliche  Versammlung  zur  Besprechung 
einer  wichtigen  Tagesfrage  abgehalten  wird,  ein  allge- 
meines  Schuldbekenntnis  vorauszuschicken.  Eine  seltsame 
und  traurige  Verwechslung !  Statt  dem  Einzelnen  die 
Uberlieferung  und  die  Grelegenheit  zu  schaffen,  sich  zu  be 
kennen  und  durch  Aussprache  innerlich  zu  befreien,  tauscht 
man  ein  Formular  ein.  Jenes  ist  schwer,  aber  heilsam; 
dieses  ist  leicht,  aber  vollig  gieichgiiltig,  ja  abstumpfend. 
Ich  bin  wohl  gegen  das  Mifiverstandnis  gedeckt,  als 
wiinschte  ich  eine  obligatorische  Ohrenbeichte.  Sie  ist  das 
Schlimmste  von  dem  Schlimmen,  denn  sie  fuhrt,  wie  die 
Erfahrung  gelehrt  hat,  zur  Luge.  Darum  ist  jeder  andre 
Zustand  ihr  vorzuziehen.  Aber  zwischen  der  obligatorischen 
Ohrenbeichte  und  dem  Mchts,  das  wir  an  ihre  Stelle  ge- 
setzt  haben,  gibt  es  noch  viele  Stufen.  Ich  mochte  auch  gar 
nicht  in  erster  Linie  die  Pfarrer  und  offentliche  kirchliche 
Einrichtungen  herangezogen  wissen,  sondern  ich  mochte, 
dafi  man  es  auch  den  Erwachsenen  eindringlich  einpragt, 
welch  ein  Mittel  fur  die  Gresundheit  der  Seele  und  welch 
ein  Mittel  fur  eine  geistige  G-emeinschaft  sie  damit  preis- 
geben,  dafi  ein  jeder  seine  eigne  Last  tragt  und  darauf 
verzichtet,  sich  auszusprechen.  Gewifi  gibt  es  Menschen, 
so  stark  und  so  zart,  daB  sie  mit  sich  und  ihrem  Grott 
allein  fertig  werden  konnen  und  miissen;  aber  sie  sind 


Was  wir  von  der  rOmischen  Kirche  lernen  und  nicht  lernen  sollen.   257 

nicht  in  der  Mehrzahl.  Fur  die  meisten  gilt  es,  daB  sie 
sich  von  sich  selbst  und  von  boser  Schuld  nur  in  dem 
MaBe  zu  befreien  vermogen,  als  sie  offen  gegen  andre  sind 
und  ihre  Seele  von  der  Liebe  eines  Bruders  fiihren  lassen. 
Jede  Aussprache  starkt  bereits  den  Charakter,  und  zu  wissen, 
dafi  eine  andre  Seele  die  eigne  Last,  die  man  bekannt  hat, 
mit  tragt,  ist  einer  der  starksten  Hebel  zum  Gruten.  Diirfen 
wir  sagen,  dafi  in  unsrer  evangelischen  Kirche  in  dieser 
Richtung  etwas  Nennenswertes  geschieht?  Haben  wir  eine 
Uberlieferung  hierfiir?  Konnen  wir  hier  nicht  von  der 
katholisehen  Kirche  lernen,  und  ist  es  nicht  strafliche 
Torheit,  der  wurmstichigen  Friichte  wegen  den  ganzen 
Baum  der  Beichte  auszurotten? 

Viertens,  die  Reformation  hat  das  Monchtum  abgetan 
und  jener  vermessenen  Frommigkeit  den  Krieg  erklart,  die 
da  glaubte,  furs  Leben  iiber  sich  entscheiden  zu  konnen. 
Wer  aus  der  Geschichte  den  Jammer  des  obligatorischen 
Zolibats  und  den  Jammer  des  Monchtums,  der  gebrochenen 
Seelen,  der  befleckten  Grewissen  und  der  gezwungenen  „ Re 
ligion"  kennt,  wird  nicht  aufhoren,  die  befreiende  Tat  der 
Reformation  zu  preisen.  Aber  lag  nicht  eine  Wahrheit  in 
dem  Monchtum?  Niemand  wird  diese  Frage  verneinen, 
der  die  Institution  unsrer  Diakonissen  schatzt.  Er  wird 
auch  nicht  in  Abrede  stellen,  wenn  er  das  Leben  kennt, 
dafi  ohne  Regel  keine  Gremeinschaft  von  Arbeitern  bestehen 
kann,  und  dafi  die,  welche  sich  zum  Dienst  am  ISTachsten 
im  besondern  Sinne  verpflichten,  den  besondern  irdischen 
Griitern  freiwillig  ent sagen  und  Qehorsam  iiben  miissen. 
Aber  was  uns  erst  in  diesem  Jahrhundert,  nicht  ohne  Wider- 
spruch,  in  bezug  auf  die  Diakonissen  aufgegangen  ist,  ist 
uns  in  bezug  auf  Diakonen,  oder  wie  man  sie  nennen  mag, 
noch  nicht  oder  nur  in  bescheidenster  Weise  klar  geworden. 
Und  doch  ist  es  mir  keinen  Augenblick  zweifelhaft,  dafi 
wir  in  den  sozialen  und  kirchlichen  Noten  der  Gregenwart 
Gremeinschaften  brauchen,  erfullt  von  dem  Greiste,  wie  ihn 

Harnack,  Reden  und  Aufsiitze.    2.  Aufl.    U.  17 


258  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  III. 

die  rechtschaifenen  und  lauteren  Monche  besessen  haben 
und  noch  besitzen.  Wir  brauchen  Menschen  im  Dienste 
des  Evangeliums ,  ,,die  alles  verlassen  haben",  urn  denen 
zu  dienen,  die  niemand  bedient.  Die  Parallele  mit  den 
katholischen  Monchen  schreckt  mich  nicht.  Die  evan- 
gelisclien  Monche  werden  von  Verdiensten  nichts  wissen 
und  werden  deshalb  jeden  Augenblick  zuriicktreten  konnen, 
ohne  Schmach  und  Schande.  Man  wendet  ein,  dafl  die 
Kraft  des  Monchtums  eben  in  der  Unwiderruflichkeit  des 
Greliibdes  liegt,  also  in  dera  Zwang.  Aber  ware  das  wahr, 
so  ware  das  Monchtum  von  seiner  Wurzel  her  profaniert, 
also  unmoglich.  Die  evangelischen  Kirchen  werden  ent- 
weder  noch  kiimmerlicher  werden,  als  sie  schon  sind,  oder 
die  Liebe  wird  sie  erfinderisch  machen,  und  sie  werden  das 
in  sich  erwecken,  was  heute  noch  keine  Form  hat,  aber 
sich  in  dem  dringenden  Bediirfnis  bereits  ankiindigt  und 
in  kleinen  Anfangen  lebt.  So  gut  wir  Missionare  haben 
fur  die  Heiden,  die  freiwillig  vieles  entbehren  miissen,  so 
gewiJB  konnen  wir  auch  Gremeinschaften  von  Briidern  haben, 
die  um  des  besondern  Berufs  willen  Entsagung  iiben,  um 
frei  zu  sein  fur  den  Dienst  derjenigen,  die  an  den  Land- 
straBen  und  Zaunen  liegen. 

Aber  noch  in  einer  andern  Richtung  konnen  wir  von  den 
Klostern  lernen.  Wir  haben  Zuchthauser  und  Arbeitshauser, 
aber  wir  haben  keine  Statten,  in  welche  sich  die  zuriick- 
ziehen  konnen,  die  im  Sturme  des  Lebens  Schiffbruch  er- 
litten  haben  und  sich  in  der  grofien  Welt  nicht  mehr  zu 
halten  vermogen.  Wie  viele  gibt  es,  die  sich  zuriickziehen 
sollten,  und  die  es  auch  wollen,  wenn  ihnen  nur  irgend 
ein  Hafen  winken  wiirde,  sei  es  zum  Ausruhen,  sei  es  vor 
allem  zu  neuer  Tatigkeit!  Wie  viele  konnten  bewahrt  wer 
den,  wenn  sie  E/iickhalt  fanden  an  einer  geschlossenen 
Gremeinschaft,  in  der  sie  nach  stronger  Regel  zu  gemein- 
nutzigem  Wirken  angeleitet  wiirden  und  sich  selber  dienten, 
indent  sie  andern  dienstbar  werden.  Doch  ich  darf  diesen 


Was  wir  von  der  rttmischen  Kirche  lernen  und  nicht  lernen  sollen.   259 

Punkt  nicht  naher  ausfuhren.  Sie  wiirden  meine  pia  de- 
sideria  vielleicht  allzu  kuhn  finden.  Aber  ich  weifi,  dafi 
ich  nicht  der  einzige  bin,  der  sie  hegt,  dafi  sie  vielmehr 
jeder  teilen  moG,  der  nicht  den  Protestantismus  zur  Kon- 
fession  des  latenten  Christentums  fortzuentwickeln  den  Mut 
hat,  und  ich  weiG  auch,  dafi  die  Geschichte  der  christlichen 
Kirche,  wie  sie  sich  im  Monchtum  darstellt,  nicht  nur  die 
Greschichte  eines  groJBen  Irrtums  ist. 

Noch  manches  andre  ware  zu  nennen,  was  wir  von 
der  katholischen  Kirche  lernen  konnen.  Ich  brauche  nur 
zu  fragen,  in  welcher  Kirche  Deutschlands  das  sogenannte 
,,Laienchristentum"  eine  grofiere  Macht  ist,  ob  in  der  Kirche 
des  allgemeinen  Priestertums  oder  in  der  romischen  Kirche? 
Doch  auf  diesen  Punkt  einzugehen,  wiirde  zu  weit  fiihren; 
denn  die  ,7groBere  Macht",  wie  sie  sich  aufierlich  darstellt, 
entscheidet  noch  nicht  und  ist  nur  unter  Voraussetzungen 
wiinschenswert,  die  im  Katholizismus  nicht  erfullt  sind. 
Ich  beschranke  mich  auf  das  bisher  Angedeutete  und  wende 
mich  zu  der  zweiten  Frage:  wWas  wir  von  der  romischen 
Kirche  nicht  lernen  sollen?" 

Sie  werden  antworten,  nicht  ihre  Dogmatik,  nicht  ihre 
Verfassung,  nicht  ihren  Kultus.  Aber  damit  ist  so  viel 
gesagt,  dafi  ich  furchte,  es  ist  sehr  wenig  Eindrucksvolles 
gesagt.  Ich  werde  mich  auf  einige  besonders  wichtige 
Punkte  beschranken. 

Erstlich:  wir  sollen  unser  Christentum  und  unsre  Kirche 
nicht  festnageln  auf  einer  bestimmten  Stufe  der  Erkennt- 
nis  und  Kultur.  Die  romische  Kirche  vermag  es,  alle  mog- 
lichen  Erkenntnisse ,  Formen  und  Mittel  unsrer  Zeit  zu 
ihrem  Nutzen  zu  verwerten;  aber  im  Grrunde  steht  sie  be- 
harrlich  fest  auf  der  Stufe  des  Mittelalters,  des  dreizehnten 
Jahrhunderts.  Alles  iibrige,  was  sie  herbeizieht,  ist  nur 
Dekoration  oder  politisches  Mittel  zum  Zweck.  Die  kirch- 
liche  Yerfassungsform ,  die  sie  fur  die  gottliche  ausgibt, 
ist  die  Kirchenverf assung ,  wie  sie  Innocenz  III.  und  IV. 

17* 


260  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  III. 

abschlieflend  ausgebildet  haben;  die  Dogmatik,  die  sie  allein 
gelten  lafit,  ist  die  des  heiligen  Thomas  und  seiner  laxeren 
Nachfolger;  die  Wissenschaft,  die  sie  allein  brauchen  kann, 
ist  die  mittelalterliche.  Wohl  liebt  sie  es,  sich  durch  einige 
halbgelehrte  Leute  mit  agyptischen  und  assyrischen  Ent- 
deckungen  ausstatten  und  die  Steine  in  der  Weise  moderner 
Archaologie  fiir  sich  reden  zu  lassen,  auch  sich,  wo  es 
geht,  mit  neuester  Naturforschung  auszustafneren!  Sand 
in  die  Augen!  An  alien  wirklichen  Problemen  mufi  sio 
voriibergehen ,  und  das,  was  heute  Geschichte,  Kritik  und 
philosophische  Erkenntnis  heiBt,  darf  fiir  sie  nicht  existieren. 
Diese  Kirche  ist  noch  immer  das  Mittelalter,  ist  um  sechs- 
hundert  Jahre  zuriick  und  lebt  noch,  weil  die  Modernen 
Fehler  machen  und  nicht  alle  Bediirfnisse  zu  befriedigen 
verstehen.  Auch  alles  das,  was  wir  in  den  letzten  zwei- 
hundert  Jahren  iiber  die  Greschichte  der  Bibel  und  des 
Urchristentums  gelernt  haben,  ist  fiir  diese  Kirche  nicht 
vorhanden  oder  doch  nur  als  Spielzeug  oder  als  Mittel,  den 
Verstand  zu  uben  und  das,  was  der  geschichtliche  Sinn 
feststellt,  durch  die  Kunst  des  Geschichtsadvokaten  mit 
ihrer  eisernen  Geschichtsbetrachtung  zu  verklittern. 

Aber  wie  steht  es  bei  uns?  Sind  wir  nicht  seit  den 
Heaktionen  am  Anfange  unsers  Jahrhunderts ,  die  uns  so 
viel  Grutes  und  so  viel  Schlimmes  gebracht  haben,  in  Ge- 
fahr,  es  der  romischen  Kirche  nachzutun?  Steht  der  Pro- 
testantismus  im  Bunde  mit  alien  wirklichen  Erkenntnissen 
der  Zeit,  wie  einst  die  Apologeten  des  zweiten  Jahrhunderts, 
oder  schleicht  er  nicht  vielmehr  hinter  der  Zeit  mifitrauisch 
und  scheltend  einher?  Schmahen  nicht  viele  seiner  an- 
gesehensten  Vertreter  iiber  die  Wissenschaft,  wie  einst 
Epiphanius  iiber  Origenes?  Brauchen  sie  sie  nicht  ledig- 
lich  als  Dekoration,  alien  wirklichen  Problemen  aus  dem 
Wege  gehend,  Miicken  seihend  und  Kamele  verschluckend? 
IsTehmen  die  evangelischen  Kirchen  wirklich  das  in  ihren 
Pienst,  was  nachst  dem  Evangelium  unsre  besten  Giiter 


Was  wir  von  der  rOmisclien  Kirche  lernen  und  nicht  lernen  sollen.   261 

sind,  die  Ansbildung  des  geschichtlichen  Sinnes,  die  wir 
eiiebt  haben,  und  die  sichere  Methode  der  Wissenschaft 
auf  jedem  Grebiet,  die  uns  geschenkt  ist?  Richten  die 
Kirclien  ihren  Unterricht  em  nach  den  geschichtlichen  und 
den  allgemeinen  Erkenntnissen,  von  denen  sich  heute  nur 
der  Religioiislehrer  emanzipiert,  und  auch  der  nur  so  lange, 
als  er  Religion  lehrt?  Ist's  denn  nicht  schon  so,  dafl  Tau- 
sende  unsre  offentliche  Weise,  Religion  zu  lehren,  als  eine 
Superstition  empfmden  und  die  Ernstesten  sich  abwenden, 
weil  sie  ihr  intellektuelles  Grewissen  verletzt  fuhlen?  Sollen 
auch  die  evangelischen  Kirchen  zu  Petrefakten  werden? 
Man  mifiachtet  die  ^natiirlichen"  Wahrheiten  ebensowenig 
ungestraffc  wie  die  ?,naturlichen"  Ordnungen.  In  beiden 
Fallen  ist  ein  Monchtum  schlimmster  Art  die  Folge.  Es 
lebt  im  Rafnnement  des  Kontrastes  und  verschiittet  die 
gesunde  Quelle  heller  und  freudiger  Frommigkeit.  Schon 
die  Unterscheidung  natiirlicher  und  ubernaturlicher  Wahr 
heiten  ist  ein  bedenklicher  mittelalterlicher  Irrtum.  Jede 
Erkenntnis  der  "Wahrheit  ist  aus  der  Q-ewissenhaftigkeit 
und  Selbstveiieugnung  geboren  und  dient  dem  Herrn 
der  Wahrheit.  Ubernatuiiich  ist  das  Leben  in  Gott;  die 
Wahrheiten  sind  ,,naturiich".  Sie  miBachten,  heifit  un- 
fromm  und  unwahrhaftig  werden.  Was  aber  ist  der  Pro- 
testantismus ,  wenn  er  unwahrhaftig  wird,  er,  der  iiber- 
haupt  nur  ein  Charisma  besitzt,  den  ,,verniinftigen  Q-ottes- 
dienst"  auf  Grrund  der  gewissen  Erkenntnis  Grottes.  Wenn 
der  evangelische  Christ  nicht  jeder  Wahrheit  frei,  froh- 
lich  und  dankbar  ins  Auge  schauen  kann,  wenn  seine 
Lehre  nicht  so  eingerichtet  ist,  daB  er  es  darf,  so  ist  er 
arm,  bettelarm!  Aber  wahrend  sonst  auf  alien  Grebieten 
der  Erkenntnis  die  Frage:  Was  ist  Wahrheit?  heute  die 
regierende  ist  und  ein  unsaglich.es  Mafi  von  ernster  Arbeit 
an  sie  gesetzt  wird,  sieht  man  diese  Frage  innerhalb  der 
evangelischen  Kirchen  langsam  von  der  Tagesordnung  ver- 
schwinden,  weil  sie  im  Zeitalter  der  kirchlichen  ^Aktua- 


262  Z  welter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  III. 

litat"  nicht  opportun  1st.  Man  halt  es  fur  richtiger,  Land- 
und  Kirchenpfleger  zu  sein  im  Sinne  der  Pilatusfrage :  Was 
1st  Wahrheit?  Die  so  tun,  wissen  oft  nicht,  was  sie  tun, 
und  haben  den  gewichtigen  Schild  fur  sich,  dafl  man  Kirchen 
nicht  beunruhigen  diirfe.  Aber  um  Zehn  nicht  zu  be- 
unruhigen,  werden  Hunderte  abgestofien,  und  um  die 
flSchwachen",  die  sich  doch  die  Starken  diinken,  zu  scho- 
nen,  treibt  man  die  Starken  in  die  Wiiste  oder  zwingt 
schliefilich  einen  kleinen  Teil  von  ihnen  zur  Unterwerfung. 
In  der  romischen  Kirche  ist  das  alles  wohl  verstandlich. 
Sie  hat  angeblich  ein  eisernes  Gesetz  von  Gott  empfangen 
und  setzt  sich  auf  Grund  desselben  iiber  Geschichte  und 
Wissenschaft ,  Individualitat  und  Gewissen  hinweg.  Aber 
wir  haben  nichts  dergleichen  empfangen  und  wollen  auch 
nichts  andres,  als  die  Verkiindigung  des  Evangeliums  Gottes 
in  Christo.  Wer  zwingt  und  notigt  uns  denn,  uns  an  ein 
Gesetz  zu  verkaufen,  statt  es  zu  reformieren,  wo  es  in  un- 
sern  Tagen  der  Reform  bedarf? 

Damit  bin  ich  schon  auf  ein  Zweites  gekomnien,  was 
wir  von  der  romischen  Kirche  nicht  lernen  sollen:  uns  zu 
begniigen  mit  der  Unterwerfung  unter  das  Kirchentum, 
mit  dem  blofien  G-ehorsam,  mit  dem,  was  der  Kunstaus- 
druck  fides  implicita  nennt.  Einst  gab  es  eine  Zeit,  wo 
man  im  Protestantismus  vor  diesem  Gift  nicht  zu  warnen 
brauchte;  aber  es  ist  lange  her.  Wo  in  religiosen  Dingen 
der  absolute  Gehorsam  regiert,  da  gibt  es  kein  individuelles 
Gewissen  mehr.  Das  haben  uns  alle  jene  Bischofe  gezeigt, 
die  nach  der  Proklamation  der  Unfehlbarkeit  sich  fiir  sie 
entschieden,  obgleich  sie  ihr  vorher  heftig  widersprochen 
hatten.  Im  Sinne  der  katholischen  Religion  brachten  sie 
das  groJSte  Opfer,  und  ich  wurde  mich  nicht  wundern,  wenn 
man  sie  allesamt  selig  sprache.  Im  Sinne  der  Religion, 
die  mit  dem  Gewissen  steht  und  fallt,  haben  sie  eine  schwere 
Schuld  auf  sich  geladen.  Das  ist  ein  drastisches  Beispiel. 
Aber  minder  drastisch  wiederholt  sich  dasselbe  hundertmal 


"Was  wir  von  der  rttmischen  Kirche  lernen  nnd  nicht  lernen  soil  en.   263 

for  jede  Seele,  die  sich  ihrenWeg  blind  durch  Autoritaten 
vorschreiben  lafit.  Mcht  die  Abhangigkeit  ist  das  schlimmste, 
sondern  die  Selbsttauschung,  in  der  man  an  die  Stelle  der 
Frommigkeit,  d.  h.  eines  Lebens,  die  Beobachtung  von  Vor- 
schriften  setzt.  Ob  man  nun  in  Weise  Ludwigs  XIV.  und 
Voltaires  diese  Unterwerfung  aus  einer  unbestimmten  Angst 
iibt,  die  sich  mit  Frivolitat  wohl  vertragt,  oder  ob  aus  Sorge 
fur  das  Gemeinwesen  und  den  ,,gemeinen  groben  Manna 
oder  aus  Unruhe  und  wirklicher  Verzagtheit  des  Herzens, 
ist  freilich  ein  sehr  groBer  Uiiterschied.  Aber  in  dem  ne- 
gativen  Ergebnis  kommen  alle  diese  Motive  auf  eins  heraus 
—  die  Furcht  bleibt  iibrig  und  die  Friedelosigkeit.  Diese 
,,Kirchlichkeit"  wollen  wir  der  romischen  Kirche  iiberlassen, 
die  sie  nicht  missen  kann;  denn  wie  klein  ware  die  Zahl 
ihrer  Q-laubigen,  wenn  man  ihr  alle  die  entzoge,  die  bloB 
mittun! 

Aber  noch  ein  Drittes  mochte  ich  hier  anschliefien, 
was  wir  von  der  romischen  Kirche  nicht  lernen  sollen:  nur 
aufierlich  angeeignete  Ideale  machen  fanatisch,  und  eine 
Kirche,  die  auch  ein  Staat  sein  will,  braucht  den  Egoismus 
und  Fanatismus  des  Staates.  Wir  aber  konnen  diesen 
Fanatismus  nicht  brauchen;  er  ist  ein  fremdes  Grewachs 
auf  unserm  Boden.  Wenn  es  richtig  ist,  dafi  das  evan- 
gelische  Christentum  die  hochste  Stufe  in  der  kirchlichen 
Ausbildung  des  Christentums  ist,  so  haben  wir  diesen 
unsern  Standort  dadurch  zu  bezeugen,  daB  wir  die  untern 
Stufen  in  ihrer  Bildung  verstehen,  verstandig  wiirdigen 
und  in  diesem  Sinne  tolerant  sind.  Toleranz  ist  freilich 
selbst  schon  ein  schlimmes  Wort.  Wir  haben  mehr  zu 
iiben  als  Toleranz,  namlich  Anerkennung.  Auch  ist  es 
eine  ganz  iible  Maxime,  zu  sagen,  man  miisse  gegen  alle 
tolerant  sein,  nur  nicht  gegen  die  Intoleranten.  Wodurch 
will  man  sie  denn  sonst  gewinnen?  Und  auf  das  Gewinnen 
kommt  es  doch  an,  nicht  auf  das  Niederschlagen.  Mag 
uns  die  romische  Kirche  wie  immer  begegnen  —  so  lange 


264  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  III. 

sie  nicht  eingreiffc  in  die  Sphare  des  Rechts,  das  wir  zu 
schiitzen  haben,  soil  sie  unsrer  Achtung  und  ihre  GHieder 
unsrer  Liebe  sicher  sein.  Wir  konnen  doch  unsre  eigne 
Geschichte  niclit  verleugnen  oder  ummachen !  Die  Gre- 
schichte  der  katholischen  Kirche  aber  bis  zum  sechzehnten 
Jahrhundert  ist  unsre  G-eschichte,  und  es  steht  uns  iibel  an, 
niitzt  auch  nichts,  die  Zuriickgebliebenen  zu  schelten.  Wir 
treten  aber  auf  eine  niedere  Stufe,  namlich  auf  die  Stufe 
der  romischen  Kirche,  wenn  wir  sie  mit  ihren  Waffen  be- 
kampfen  wollten.  Eben  diese  Waffen  haben  wir  nieder- 
gelegt,  als  wir  sie  verliefien,  und  trat  das  auch  niclit  am 
Anfang  zutage,  so  mufi  es  heute  jedeni  offenbar  sein. 
Denn  dafi  die  Kirche  der  Reformation  verbesserlich,  perfek- 
tibel  ist  und  seit  Luther  sehr  viel  zugelernt  hat,  das  mufi 
auch  das  blodeste  Auge  erkennen,  und  dafi  wir  imstande 
sind,  zuzulernen,  das  ist  unser  Stolz  und  unsre  Freude. 

Noch  ware  vieles  zu  sagen  uber  das,  was  wir  von 
Rom  nicht  lernen  sollen.  Ich  konnte  zusammenfassend 
sagen,  dafi  unsre  Kirche  kein  Staat,  keine  Schule  fur  ewig 
Unmiindige  und  keine  sakramentale  Versicherungsanstalt 
werden  soil.  Ich  konnte  den  Finger  auf  den  Unterschiecl 
von  Klerus  und  Laien  legen  und  fragen,  ob  uns  die  G-e- 
fahr  so  fern  liegt,  von  den  Greistlichen  und  Theologen  ein 
andres  Christentum  zu  fordern  als  von  den  Laien.  Aber 
ich  will  diesen  Punkt  nicht  anders  beriihren,  als  indem 
ich  ihn  positiv  wende:  moge  sich  aus  alien  Grarungen 
unsrer  Zeit  eine  evangelische  Kirche  herausgestalten  mit 
einem  festen,  aber  weiten  Bekenntnisse ;  moge  sie  es  besser 
lernen,  das  Evangelium  unserrn  Greschlechte  zu  verkiinden 
und  mit  jeder  Wahrheit  im  Bunde  zu  stehen,  und  moge 
sie  sich  dann  entfalten  zu  einem  Bruderbunde  inmitteii 
dieser  gespaltenen  Menschheit,  zu  einem  Bunde,  so  um- 
fassend,  wie  das  menschliche  Leben,  und  so  tief,  wie  die 
menschliche  Not. 


ADOLF  HARNACK  •  REDEN  UND  AUFSATZE 
2^  ZWEITER  BAND  •  ZWEITE  ABTEILUNG 


AUFSATZE:  IV 
DAS  TESTAMENT  LEGS  XIII. 

DAS  PAPSTLICHE  RUNDSOHREIBEN  AN  DIE  FUE-STEN 
UND  VOLKEB  DES  ERDKREISES  VOM  20.  JUOT  1894 


Erschienen  in  den  PreuBischen  Jahrbtichern,  Band  77  (1894)  Heft  2. 


Na.ch  dem  Evangelium  Johannis  hat  der  scheidende 
Heiland  in  der  Nacht,  da  er  verraten  ward,  Abschiedsreden 
an  seine  Jiinger  gerichtet.  Sie  miinden  aus  in  das  hohe- 
priesterliche  G-ebet:  ut  omnes  unum.  ,,Da  Wir  Stellvertreter 
des  allmachtigen  Grottes  tier  auf  Erden  sind,  und  Tins  an- 
dererseits  das  hohe  und  sorgengebeugte  Alter  mahnt,  dafi 
das  Ende  der  Zeitlichkeit  fur  Uns  unauf  halts  am  herannahe, 
so  haben  Wir  geglaubt,  das  Beispiel  Unseres  Erlosers  und 
Lehrmeisters  Jesus  Christus  nachahmen  zu  sollen,  der  kurz 
vor  seiner  Hiickkehr  in  den  Himmel  in  heiOem  G-ebete  vom 
ewigen  Vater  erflehte,  dafi  seine  Anhanger  und  Jiinger 
Eines  Sinnes,  Eines  Herzens  seien:  «Ich  bitte  .  .  ,  .  dafi 
alle  Eins  seien.  >a 

Also  niehts  Qeringeres  hat  der  gegenwartige  Papst 
mit  diesem  Rundschreiben  beabsichtigt,  als  ein  Seitenstiick 
zu  der  letzten  Rede,  die  der  vierte  Evangelist  Jesus  in  den 
Mund  gelegt  hat ,  zu  liefern  -  -  eine  hohepriesterliche  Gre- 
betsrede,  wie  sie  der  Sohn  Q-ottes  halten  wlirde,  wenn  er 
heute  sichtbar  in  der  Mitte  seiner  Kirche  stiinde,  um  von 
ihr  auf  Erden  Abschied  zu  nehmen.  Den  Erloser  in  neuen 
Worten  sprechen  zu  lassen,  hat  schon  manche  fromme 
Seele  und  mancher  Dichter  versucht,  und  wir  horten  ihneii 
mit  Teilnahme  zu.  Aber  wenn  der  Versuch  von  einem  ge- 
macht  wird,  der  sich  selbst  ,,den  Stellvertreter  des  allmach 
tigen  Gottes  auf  Erden"  nennt,  so  regt  sich  im  Grrunde 
unserer  Seele  etwas  wie  ein  Schauder.  Nur  weil  wir  durch 
die  haufige  Wiederholung  gegen  die  Anmafiung  schon  ab- 
gestumpft  sind,  bricht  dieser  Schauder  nicht  mehr  kraftig 


268  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Anfsatze:  IV. 

hervor.  Ob  es  dem,  der  sie  sich  erlaubt,  selbst  anders 
geht?  oder  ob  ih.ni  wirklich  niemals  mehr  bei  seiner  Grott- 
ahnlichkeit  bange  wird?  wer  kann  das  wissen!  So  frucht- 
los  es  ist,  dariiber  nachzusinnen ,  so  interessant  und  lehr- 
reich  ist  es  aber,  die  Knndgebung  selbst  zu  betrachten 
nach  der  religiosen  und  nach  der  von  ihr  nicht  zu  trennen- 
den  kirchenpolitisclien  Bedeutung.  Was  hat  der  scheidende 
Hohepriester  der  romischen  Kirche  dieser  seiner  Kirche,  was 
hat  er  ,,den  Fiirsten  und  Volkern  des  Erdkreises"  zu  sagen? 
Unzweifelhaft  haben  wir  in  dieser  Enzyklika  vom  20.  Juni 
sein  Testament  zu  erkennen,  zwar  nur  sein  offentliches 
Testament  ohne  die  ,,Ausfuhrungsbestimmungen",  die  nicht 
vor  das  forum  publicum  gehoren,  aber  doch  seinen  letzten 
Willen,  besser  seine  letzten  Wiinsche  und  Ratschlage;  denn 
ein  eigentliches  Testament  kann  kein  Papst  seinem  Nach- 
folger  oder  der  Kirche  hinterlassen. 

Der  Papst  beginnt  mit  der  Erinnerung  an  sein  Jubi- 
laum.  Es  hat  seinen  Mut  und  seine  Freudigkeit  gestarkt; 
denn  ,,in  jenen  Tagen  schien  es,  die  ganze  katholische  Welt 
habe  gleichsam  alles  andere  vergessen  und  den  Blick  ihrer 
Augen  und  die  Gredanken  ihrer  Seele  nur  auf  den  Vatikan 
geheftet".  Ein  sehr  optimistischer  Zug  geht  infolgedessen 
durch  das  ganze  Rundschreiben:  ,,Unsere  Zeiten  sind  der 
Wiederherstellung  der  Eintracht  und  der  weiteren  Verbrei- 
tung  der  Wohltat  des  christlichen  Grlaubens  aufierst  giinstig; 
denn  niemals  hat  das  Greftihl  der  allgemeinen  menschlichen 
Briiderlichkeit  die  Q-eister  so  tief  bewegt,  und  zu  keiner 
Zeit  sah  man  die  Menschen  sich  eifriger  aufsuchen,  um 
sich  gegenseitig  kennen  zu  lernen  und  sich  zu  niitzen." 
Dieser  optimistische  Zug  der  Greschichtsbetrachtung  ist  den 
grofien  Kundgebungen  der  katholischen  Kirche  seit  den 
Tagen  der  Kontrareformation  eigentiimlich.  Nur  voriiber- 
gehend,  wenn  die  Zeitlaufe  zu  schlimm  erschienen,  ist  er 
in  den  Hintergrund  getreten.  Durch  ihn  unterscheidet  sich 
der  Katholizismus  sehr  scharf  von  dem  orthodox-pietistischen 


Das  Testament  Leos  XIII.  269 

Protestantismus,  dessen  Vertreter  haufig  nach  der  Schablone 
arbeiten,  dafi  es  von  Tag  zu  Tag  in  der  Welt  schlimmer 
werde,  und  durch  Jammern  und  Wehgeschrei  Eindruck  zu 
machen  suchen.  Dieser  Kundgebung  dagegen  ist  die  hoff- 
nungsvolle  Stimmnng  so  scharf  aufgepragt,  dafi  der  Papst 
sich  am  Schlnsse  des  Schreibens  selbst  genotigt  sieht,  sie 
etwas  zu  dampfen;  aber  wie  es  geschieht,  1st  hochst  merk- 
wiirdig:  ,,M6glich,  dafi  dem  einen  oder  anderen  Unsere 
Hoffnungen  als  allzu  rosig  erscheinen,  da  sie  sich.  auf  Dingo 
beziehen,  die  viel  mehr  zu  wiinschen  als  zu  erwarten  sind. 
Aber  wir  setzen  all  Unsere  Hoffnung,  all  Unser  Vertrauen 
auf  den  Erloser  des  Menschengeschlechts  Jesus  Cliristus 
und  ermutigen  Uns  durch  den  Q-edanken,  wie  vieles  und 
wie  grofies  einstmals  vollbracht  ist  durch  die  Torheit  des 
Kreuzes  und  die  Predigt  vom  Kreuze  zum  Staunen  der 
Welt  und  zur  Beschamung  ihrer  Weisheit." 

Jeden  evangelischen  Christen  werden  diese  Worte,  in 
denen  sowohl  die  Jungfrau  Maria,  als  auch  die  Heiligen  und 
die  Macht  der  Kirche  aus  dem  Spiel  gelassen  ist,  erfreuen. 
Sie  stehen  aber  in  dem  Schreiben  nicht  isoliert,  vielmehr 
—  und  damit  hebe  ich  ein  zweites  wichtiges  Merkmal  an 
diesem  Rundschreiben  hervor  -  beobachtet  man  durcli- 
gehends,  dafi  der  Papst  bestrebt  ist,  in  der  religiosen  Aus- 
sprache  lediglich  die  okumenisch-christlichen  Gredanken  zum 
Ausdruck  zu  bringen  unter  Absehen  von  alien  strittigen 
Sonderlehren  und  romisch-katholischen  Eigentumlichkeiten. 
Nur  die  Erwahnung  des  7,rechtmaJBigen  Lehramts,  das  dem 
Petrus  und  seinen  Nachfolgern  ubertragen  ist",  bildet 
natiirlich  eine  Ausnahme.  Aber  die  Konsequenzen  des- 
selben  werden  mehr  angedeutet,  als  ausgesprochen.  Selbst 
von  der  Unfehlbarkeit  ist  nirgends  in  dem  weitschichtigen 
Aktenstiick  die  Rede,  und  alle  Ziige  spezifisch-katholischer 
Frommigkeit  fehlen  vollstandig.  Man  darf  darum  ohne 
Ubertreibung  sagen,  dafi  sich  Leo  XIII.  in  diesem  Schsei- 
ben  so  6'kumenisch  und  nevangelisch"  ausgedruokt  hat,  als 


270  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IY. 

es  die  Uberlieferung  seiner  Kirche  irgend  zulaflt  —  in  welch 
hohem  Mafie  sie  es  wirklich  zulafit,  das  zeigen  uns  eben 
diese  Ausfuhrungen,  die  z.  B.  in  dem  fiir  die  Protestanten 
bestimmten  Abschnitt  mit  den  Worten  schliefien:  ndamit 
Ihr  Gott  mit  Uns  in  Heiligkeit  dient,  mit  Uns  in  voll- 
kommener  Liebe  vereint  durch  das  Bekenntnis  Eines 
Evangeliums,  Eines  Grlaubens,  Einer  Hoffnung."  Dafl  das 
flEvangelium"  hier  besonders  genannt  und  dem  Grlauben 
und  der  Hoffnung  vorangestellt  ist,  erscheint  wie  eine  Ak- 
komodation  an  die  protestantische  Ausdrucks weise ,  natiir- 
lich  ohne  dafi  deshalb  der  katholischen  Lehre  irgend  etwas 
vergeben  ware.  Aber  zufallig  ist  es  gewifi  nicht,  zumal 
wenn  man  die  Kundgebungen  Pius  IX.  vergleicht,  daB  wir 
von  der  allerseligsten  Jungfrau,  von  den  Anrufungen  der 
Heiligen,  von  der  Macht  des  Beichtstuhls ,  von  Ablassen 
und  dergleichen  nichts  horen. 

Ein  drittes  charakteristisches  Merkmal  dieses  Rund- 
schreibens  endlich  ist  der  freundliche  Ton  gegeniiber  den 
,,Ketzernu.  Zu  alien  Zeiten  freilich  hat  die  romische 
Kirche  neben  dem  Stab  ,,Wehe"  den  Stab  ,,Sanft"  zur 
Verfugung  gehabt  und  je  nach  den  Verhaltnissen  zwischen 
den  beiden  Staben  abgewechselt,  auch  eine  Grruppe  von 
Polemikern  streng  und  fanatisch,  eine  andere  gleichzeitig 
mild  und  einladend  schreiben  lassen,  dort  mit  der  Holle 
gedroht,  hier  die  ^Verirrten"  freundlich  angerufen.  Aber 
so  durchweg  milde,  so  entgegenkommend,  so  bestrickend 
ist  selten  von  einem  Papste  geschrieben  worden.  Man 
darf  noch  mehr  sagen  —  der  Papst  fordert,  wie  wir  sehen 
werden,  geradezu  auf,  das  Vergangene  vergangen  sein  zu 
lassen;  er  raumt,  wenn  wir  ihn  recht  verstehen,  gegeniiber 
den  Protestanten  sogar  ein,  daJS  in  der  Zeit  der  Trennung 
der  Kirchen  einige  dunkle  Punkte  liegen,  die  nicht  ledig- 
lich  Schuld  der  Ketzer  sind:  dariiber  moge  man  sich  hin- 
wegsetzen  und  rein  sachlich  und  von  neuem  die  Frage  der 
Wahrheit  erwagen.  Nur  an  einer  Stelle  wird  das  Schreiben 


Das  Testament  Leos  XIII.  271 

streng,  namlich  dort,  wo  es  sich  um  die  Freimaurer  handelt, 
aber  das  betrifft  nicht  die  fremden  Konfessionen ,  sondern 
den  innern  Zustand  der  romanischen  rein  katholischen 
Lander.  Davon  abgesehen  hat  der  Papst  seine  Feder  nur 
in  Wohlwollen,  Liebe  und  Sehnsucht  getaucht.  Hit  diesem 
Tone  halte  man  das  Verfahren  zusammen,  welches  Je- 
suiten  noch  heute  gegen  die  Ketzer  als  notwendig  und 
heilsam  empfehlen  und  durchfiihren  wiirden,  wenn  sie  die 
Macht  hatten.  Soil  auch  die  Todesstrafe  nicht  in  Anwen- 
dung  kommen,  so  doch  Kerker,  Entziehung  der  Nahrung, 
Stockschlage  und  dergleichen.  ,,Sie  behandeln,"  sagte  der 
Graf  Montalembert  kurz  vor  seinem  Tode  von  der  Civilta 
cattolica  und  der  Kurie,*)  ,,die  Kirche  wie  eine  jener  wilden 
Bestien,  welche  man  in  den  Menagerien  herumfuhrt.  Be- 
trachtet  sie  wohl,  scheinen  sie  zu  sagen,  und  versteht,  was 
sie  will,  und  was  zum  Wesen  Hirer  Natur  gehort.  Heute 
ist  sie  im  Kang,  gebandigt  und  gezahmt  durch  die  G-ewalt 
der  Umstande;  aber  bedenket  wohl,  dafi  sie  Klauen  und 
Krallen  hat,  und  wenn  sie  jemals  losgelassen  wird,  dann 
wird  man  es  euch  wohl  zeigen.a  Wie  ist  damit  der  freund- 
liche  Ton  Leos  zu  vereinigen?  Zu  vereinigen  ist  er  wohl; 
denn  auch  der  Erlkonig  im  Goetheschen  Liede  singt:  ,,Ich 
liebe  Dich,  mich  reizt  Deine  schone  Gestalt  —  und  bist 
Du  nicht  willig,  so  brauch1  ich  Gewalt."  Dieser  letzte  Akt 
aber  ist  in  dem  E/undschreiben  Leos  aus  guten  Griinden 
verschwiegen;  denn  die  Zeiten  sind  der  Anwendung  von 
Gewalt  nicht  giinstig,  wahrend  der  Papst  Grund  zu  der 
Vermutung  zu  haben  glaubt,  dafi  die  Friedensschalmeien 
und  freundlichen  Einladungen  hier  oder  dort  willige  Horer 
finden  werden. 

Blicken  wir  nach  diesen  allgemeinen  Bemerkungen  auf 
das  Einzelne.  Der  Papst  beginnt  mit  der  Anfeuerung  zur 
Heidenmission.  ,,Da  alles  Heil  von  Jesus  Christus  kommt, 


*)  Zitiert  nach  DOllinger,  Yortrage  HI  (1891)  S.  293. 


272  Z  welter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

und  kein  anderer  Name  unter  dem  Himmel  den  Menschen 
gegeben  1st,  durch  den  wir  selig  werden  sollen,  so  haben 
Wir  keinen  sehnlicheren  Wunsch,  als  dafi  dieser  hochheilige 
Name  Jesus  recht  bald  in  alien  heidnischen  Landern  be- 
kannt  nnd  anerkannt  werde."  Er  belobt  die  Kirche  dann 
dafiir,  dafi  sie  wallezeit"  das  anvertraute  Amt  der  Mission 
gewissenhaffc  zu  erfiillen  gesucht  habe,  bittet,  dafi  die  Zahl 
der  treuen  Arbeiter  gemehrt  wiirde,  und  schliefit  mit  einer 
befremdlichen  Apostrophe  an  Jesus  Christus,  wie  solche 
aber  ofters  in  papstliehen  Bullen  vorkommen,  z.  B.  auch 
in  der  Bulle  7,Exsurge  domine",  durch  die  Luther  verdammt 
worden  ist: 

,,Du  aber  Erloser  und  Vater  des  menschlichen  Gre- 
schlechts,  Jesus  Christus,  eile  und  saume  nicht,  das  zu 
vollbringen,  was  Du  einst  zu  tun  verheifien  hast,  indem 
Du  sagtest,  Du  wiirdest,  wenn  Du  von  der  Erde  erhohet 
warest,  Alle  an  Dich  ziehen.  Steige  also  endlich  (!)  herab 
in  die  Herzen  und  zeige  Dich  all  den  Unzahligen,  die 
noch  bis  zur  Stuiide  der  grofiten  Wohltaten  beraubt  sind, 
welche  Du  mit  Deinem  Blute  der  Menschheit  erworben 
hast,"  usw. 

Hierauf  wendet  sich  der  Papst  den  morgenlandischen 
Kirchen  zu.  In  der  Presse  ist  dieser  Abschnitt  als  der 
eigentliche  Kern  des  Rundschreibens  betrachtet  worden, 
alles  iibrige  nur  als  Umrahmung.  Grewifi  liegt  auf  ihm  ein 
besonderer  Nachdruck,  und  er  ist  mit  grofiter  Sorgfalt  aus- 
gefuhrt;  aber  dafi  er  allein  den  Kern  des  Riindschreibens 
und  seine  wahre  Absicht  darstellen  soil,  kann  ich  nicht 
finden. 

Der  Papst  beginnt  damit,  dafi  er  alle  morgenlandischen 
Kirchen  ohne  Unterschied  der  Nation  und  des  Partikular- 
bekenntnisses  streng  zusammenfafit;  erst  in  dem  letzten 
kurzen  Abschnitt  dieses  Teiles  wendet  er  sich  speziell  an 
die  slavischen  Volker.  j^on  dem  Morgenlande  ist  zu  An- 
fang  das  Heil  ausgegangen  und  hat  sich  uber  den  ganzen 


Das  Testament  Leos  XIII.  273 

Erdkreis  verbreitet."  Diese  captatio  benevolentiae  stellt  er 
voran,  und  nun  wird  alles  aus  der  Kirchengeschichte  auf- 
geboten,  was  irgend  imstande  ist  auf  die  Orientalen  Ein- 
druck  zu  machen.  Ausdriicklich  wird  ihnen  die  Recht- 
glaubigkeit  bescheinigt:  ^Trennt  Uns  ja  doch  auch  nicht 
eine  unendliche  Kluft,  wissen  wir  Uns  ja  sogar,  wenn  wir 
von  einigem  "Wenigen  absehen"  —  so  geringschatzig  spricht 
der  Papst  von  der  Differenz  in  der  trinitarischen  Lehre  —  ,,so 
vollkommen  Eins  mit  ihnen,  daft  Wir  Selbst  bei  der  Ver- 
teidigung  des  katholischen  Dogmas  nicht  selten  aus  der 
Lehre,  aus  den  Sitten  und  Gebrauchen,  wie  sie  bei  den 
Morgenlandern  ublich  sind,  Zeugnisse  und  Beweise  ent- 
nehmen.  Den  wesentlichen  Streitpunkt  bildet  nur  der 
Primat  des  romischen  Papstes."  Indem  der  Papst  auf 
diesen  Punkt  naher  eingeht,  vermeidet  er  die  Unfehlbar- 
keit  zu  beriihren  und  spricht  nur  von  der  obersten  Re- 
gierungsgewalt  der  romischen  Papste,  die  in  alterer  Zeit 
von  den  Griechen  anerkannt  worden  sei,  resp.  von  der 
,,Einheit  der  Regierung",  die  zur  Einheit  des  Glaubens 
hinzukommen  miisse,  damit  die  von  Christus  gewollte  wahre 
Yereinigung  der  Christglaubigen  sich  verwirkliche.  Hier- 
bei  ist  aber  folgendes  noch  von  Wichtigkeit.  Erstlich  deutet 
der  Papst,  wohl  nicht  ohne  Absicht,  darauf  hin,  dafi  in  der 
altesten  Zeit  nicht  wenige  Morgenlander  auf  dem  Stuhl 
Petri  gesessen  haben  —  was  einst  war,  kann  sich  wieder- 
holen,  wenn  nur  die  Einheit  wiederhergestellt  ist;  auch  ein 
Grieche  kann  dann  einmal  wieder  Regierer  der  Kirche  wer- 
den.  Zweitens  widerspricht  er  ausfuhrlich  dem  G-edanken, 
die  romischen  und  die  griechischen  Kirchen  konnten  bereits 
auf  Grund  ihrer  fast  vollstandigen  Glaubens einheit  in  eine 
Art  Konfoderation  treten  —  nein,  ,,Wir  meinen  die  voll- 
kommene,  riickhaltslose  Vereinigung.  Das  kann  aber  nicht 
jene  sein,  die  in  nichts  anderem  besteht,  als  in  jeder  be- 
liebigen  Gemeinschaft  von  Glaubenslehren  und  in  einer 
gewissen  gegenseitigen  briiderlichen  Liebe.  u  Es  muJS  ,,die 

Harnaok,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Aufl.    n.  18 


274  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Anfsatze:  IV. 

Einheit  der  Regierung"  sein.  Diese  Ausfuhrung  gibt  zu 
denken.  Denn  sie  deutet  darauf  hin,  dafi  irgend  welche 
Plane  zu  einer  naheren  Verbindung  der  Kirchen  bei  voller 
Grleichordnung  derselben  an  irgend  einer  Stelle  aufgetaucht 
sein  miissen.  Wie  kame  der  Papst  sonst  dazu,  dergleichen 
ausdriicklich  abzulehnen?  Nun,  zwischen  den  katholischen 
und  den  griechischen  Slaven  gibt  es  heute  ,,Vermittler" 
genug,  und  manche  mogen  im  Interesse  des  anderen  Drei- 
bundes  davon  traumen,  es  sei  eine  Konfoderation  zwischen 
dem  Zaren  und  dem  Papst  und  damit  auch  zwischen  den 
beiden  katholischen  Kirchen,  deren  Haupter  sie  sind,  mog- 
lich.  Diesen  Traumen  begegnet  der  Papst:  iiber  die  Heine 
Grlaubensdifferenz  will  er  hinwegsehen,  die  Rechte  und  Pri- 
vilegien  der  orientalischen  Patriarchen  wird  er  nicht  schma- 
lern;  die  Riten  und  Grebrauche  der  einzelnen  Kirchen  wird 
er  nicht  beschranken  —  ausdriicklich  wird  das  zugesichert: 
,,wir  werden  gebiihrende  Rechnung  tragen  ohne  alle  Eng- 
herzigkeit"  — ,  aber  7,die  Einheit  der  Hegierung"  ist  con- 
ditio  sine  qua  non;  man  soil  daher  von  jedem  Q-edanken 
absehen,  auf  Grlaube  und  Liebe  allein  ein  innigeres  Ver- 
haltnis  zu  begriinden  oder  den  Bund  zwischen  dem  Papst- 
tum  und  den  griechischen  Kirchen  als  ein  Kartell  zu  ge- 
stalten.  Nun  folgt  der  besondere  Appell  an  die  slavischen 
Volker  (das  Wert  ,,russischu  ist  vermieden): 

,,Hier  mochten  Wir  Uns  noch  in  besonderer  Weise  an  Euch 
wenden,  Ihr  slavischen  Volker  alle,  von  deren  Ruhme  uns 
die  Q-eschichtswerke  so  Mannigfaches  erzahlen  (?).  Ihrwisset, 
was  die  Slaven  dem  h.  Cyrillus  und  Methodius  verdanken, 
diesen  Vatern  Eures  Q-laubens,  deren  Andenken  Wir  selbst 
vor  einigen  Jahren  mit  neuem  Grlanze  umgaben.  Sie  sind 
es,  die  durch  ihre  Tugend  und  ihre  Arbeiten  den  meisten 
Volkern  Eures  Stammes  (?)  die  Wohltaten  der  allgemeinen 
Bildung  und  der  Erlosung  zuganglich  gemacht.  So  ge- 
schah  es,  daC  zwischen  den  Slaven  und  den  Romischen 
Papsten  lange  Zeit  die  schonste  Wechselseitigkeit  bestand  (?), 


Das  Testament  Leos  XIIL  275 

von  Wohltaten  auf  der  einen,  von  treuester  Hingebung  auf 
der  anderen  Seite.  Wenn  nun  eine  ungliickselige  Zeit  Eure 
Vater  zum  grofien  Teile  dem  Romischen  Grlauben,  den  sie 
einst  bekannten  (?),  entfremdet  hat,  so  bedenket  wohl, 
welchen  Segen  es  Euch  bringen  wird,  wenn  Ihr  zur  Ein- 
heit  des  Grlaubens  zuriickkehret.  Auch  Euch  laflt  die  Kirche 
nicht  ab,  in  ihre  Arme  zuriickzurufen,  um  Euch  mancher- 
lei  Hilfsmittel  zu  bieten  zur  Forderung  Eures  Heils,  Eurer 
irdischen  Wohlfahrt  und  Eurer  GrroBe." 

Faflt  der  Papst  ernsthaft  die  Moglichkeit  der  ^Ruck- 
kehr"  der  Griechen,  Orientalen  und  der  griechischen  Slaven, 
bez.  eines  Teils  derselben,  ins  Auge  oder  spricht  er  nur  die 
konventionelle  Sprache  des  romischen  Stuhls  ?  Ich  glaube,  man 
darf  nicht  verkennen,  dafi  er  wirkliche  Hoifnungen  hegt. 

,,Wir  haben  die  Bemerkung  gemacht,  dafi  sich  die 
Morgenlander  in  unseren  Tagen  viel  versohnlicher  gegen  die 
Katholiken  zeigen,  ja  sogar  ein  gewisses  Entgegenkommen 
und  Wohlwollen  an  den  Tag  legen." 

Haben  diese  Hoffnungen  eine  tatsachliche  Unterlage? 
Erinnert  man  sich  der  Ausfuhrungen  eines  Fallmerayers 
iiber  den  uniiberbriickbaren  Gregensatz  des  ,,Q-enius  von 
Rom  und  des  Grenius  vonByzanz",  denkt  man  an  die  starke 
Antipathie  der  Griechen  gegen  den  Papst,  die  sich  auch 
oifenblich  haufig  genug  noch  kundgibt,  iiberschlagt  man, 
dafi  der  echte  Grrieche  die  ,,kleinen"  Abweichungen  Roms 
anders  beurteilen  mufi,  als  Rom  selbst  sie  beurteilt  —  sie 
sind  ihm  Abfall  von  dem  kirchlichen  Altertum  — ,  so  mochte 
man  die  Frage  verneinen;  aber  die  Ausfuhrungen  Fallme 
rayers,  so  viel  Wahres  sie  enthalten,  sind  doch  sehr  ab- 
strakt  und  rechnen  zu  wenig  mit  den  Verwicklungen  der 
tatsachlichen  Verhaltnisse.  Sieht  man  zunachst  von  der 
grofien  russischen  Kirche  ab,  so  leuchten  dem  Papste  wirk- 
lich  im  Osten  einige  Hoffnungssterne. 

Erstlich  sind  es  die  unierten  Kirchen,  mit  denen  be- 
reits  das  ganze  Grebiet  des  orient alischen  Kirchentums  be- 

18* 


276  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

setzt  1st.  Es  gibt  unierte  slavische,  griecliische,  armenische, 
syrische  und  koptische  Kirclien,  und  sie  sind  zum  Teil  zahl- 
reich.  Auffallend  1st,  dafi  der  Papst  in  dem  Rundschreiben 
von  ihnen  schweigt,  daU  er  den  vorhandenen  bedeutenden 
Besitz  Roms  im  Orient  nicht  erwahnt.  Wir  werden  sehen, 
dafi  er  dem  Protestantismus  gegeniiber  anders  verfahrt,  dafi 
er  sich  hier  ausdriicklich  auf  die  bereits  Konvertierten  be- 
ruft.  "Wenn  das  gegeniiber  den  Orientalen  nicht  geschieht, 
so  laflt  sich  vielleicht  annehmen,  dafi  er  in  den  nnierten 
Kirchen  die  Briicke  nicht  erkennt,  auf  der  er  das  Granze 
heruberfuhren  will.  Diese  nnierten  Kirchen  haben  fiir  be- 
sehranktere  G-ebiete  ihre  besondere  Mission  —  aber,  wenn 
es  sich  um  die  Aussicht  handelt,  das  Granze  zu  gewinnen, 
wird  man  bei  ihnen  nicht  anzukniipfen  haben;  denn  sie 
haben  sich  durch  ihre  vorzeitige  Union  in  eine  schiefe 
Stelhmg  zu  ihrer  Nation  gebracht  und  geniefien  dort  kein 
Ansehen. 

Zweitens  kommt  die  Tatsache  in  Betracht,  daB  der 
Patriarchat  von  Konstantinopel  immer  mehr  abbrockelt  und 
besonders  in  den  letzten  Jahrzehnten  sehr  viel  verloren  hat. 
Was  er  verliert,  kommt  der  Ausgestaltung  nationaler  orien- 
talischer  Staats-  und  Volkskirchen  zugut.  Entspricht  dieser 
Prozefi  auch  in  einer  Hinsicht  der  Eigenart  des  orienta- 
lischen  Kirchentums,  so  kann  dieses  doch  als  katholisches 
niemals  das  Ideal  der  Selbstandigkeit  und  Okumenizitat 
der  Kirche  ganz  vergessen,  ja  dieses  Ideal  wird  sich  in 
steigendem  Mafie  geltend  machen,  je  kleiner  das  Gebiet 
ist,  auf  das  sich  die  einzelnen  j,selbstandigenu  Kirchen  des 
Orients  beschranken  mussen  und  je  starker  der  Staat  die 
betreffende  Kirche  beherrscht.  Heute  mussen  sich  die  zahl- 
reichen  orthodoxen  orientalischen  Kirchen  mit  der  blofien 
flldee"  behelfen,  dafl  sie  alle  zusammen  um  der  Einheit  des 
Grlaubens  willen  die  eine  orthodoxe  Kirche  bilden  und 
,,geistig"  mit  dem  Patriarchate  von  Konstantinopel  ver- 
bunden  sind.  Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  daU  auf  die 


Das  Testament  Leos  XIII.  277 

Dauer  diese  ?,Idee"  geniigen  wird;  clenn  sie  sind  eben  ;,ka- 
tholische"  Kirchen,  und  deshalb  mufi  jede  Erstarkung  nnd 
religiose  Vertiefung,  die  sie  erfahren  —  auch  die  durch 
eine  hohere  Bildnng,  falls  sie  nicht  zu  einer  Art  von  Pro- 
testantismus  fiihrt  — ,  dem  Bestreben  zugut  kommen,  die 
Selbstandigkeit  und  aufiere  Einheit  der  Kirche  wirksamer 
darzustellen.  Hier  nun  vermag  Rom  einzusetzen.  Es  kann 
den  national  gespaltenen  und  staatlich  bevormundeten  Kir 
chen  das  BewuBtsein  und  die  Form  einer  tatsachlichen  Ein 
heit  geben.  Jlingst  las  man  in  den  Zeitungen,  in  Rom 
denke  man  daran,  einen  romisch-katholischen  Patriarchen 
von  Konstantinopel  fiir  den  Orient  zu  ernennen.  Ein  Schritt 
von  der  hochsten  Bedeutung,  aber  auch  von  der  hochsten 
G-efahr;  denn,  zur  Unzeit  gemacht,  kann  er  den  entgegen- 
gesetzten  Erfolg  haben.  Man  wird  sich  daher  wohl  noch 
besinnen,  ihn  zu  tun;  aber,  zur  rechten  Zeit  gemacht,  kann 
er  aufierordentliche  Erfolge  haben,  zumal  wenn  der  Papst 
diesen  Patriarchen  in  besonderer  Weise  ^in  partem  sollici- 
tudinis"  beruft,  ihm  gewisse  Regierungsrechte  iiber  die 
Kirche  des  Orients  ,,abtrittu  und  sich  selbst  zuiiachst  sozu- 
sagen  nur  im  Hintergrunde  halt. 

Drittens  ist  zu  erwagen,  daB  die  Stellung  eines  Teils 
der  orientalischen  Yolker  zu  Rufiland  eine  ganz  andere 
geworden  ist  als  friiher.  Solange  der  Zar-Befreier  nicht 
befreite,  war  er  die  Hoffnung,  auch  die  HofFnung  der 
Q-laubigen;  nachdem  er  zu  ,,befreien"  begonnen,  ist  er  der 
Schrecken  geworden.  Rumanen  und  Bulgaren,  selbst 
Griechen  und  Armenier  wollen  von  ihm  nichts  wissen. 
Ein  patriotischer  Armenier  sagte  mir,  trotz  aller  Schrecken, 
die  die  tiirkische  Herrschaft  bereite,  sei  man  lieber  tiirkisch 
als  russisch.  Rumanen  und  Bulgaren  wissen,  wo  ihr  eigent- 
licher  Feind  sitzt,  und  der  Grieche  zittert  davor,  Konstan 
tinopel  konnte  eines  Tages  russisch  werden.  Dazu:  die 
Bildung,  welche  diese  alten  und  doch  jungen  Volker  auf- 
nehmen,  ist  die  abendlandische;  in  Rumanien  und  Bui- 


278  Z welter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

garien  sitzen  abendlandische ,  katholische  Fiirsten;  das 
katholische  Osterreich  reicht  bis  tief  in  das  Herz  der  Bal- 
kanhalbinsel  hinein;  deutsche  und  italienische  Monche 
arbeiten  zahlreich  und  mit  grofiem  Erfolge  im  Nordwesten 
der  Halbinsel,  und  die  Bahn,  die  nach  Saloniki  fiihrt, 
zieht  die  Nordkiiste  des  agaischen  Meeres  an  die  oster- 
reichische  Monarchic  heran.  Diese  Neugestaltung  der  Ver- 
haltnisse  koramt  liberal!  der  romischen  Kirche  zu  statten; 
auch  hat  sie  in  jenen  Landern  nicht  nnr  ,,unierteu  Grlaubige, 
sondern  es  bestehen  dort  von  altersher  grofie  Gruppen 
romisch-katholischer  Bosnier,  Serben  und  Albanesen.  Wie 
sollte  sie  nicht  hoffen,  daB  ihr  dort  noch  eine  grofie  Ernte 
erwachsen  werde,  zumal  da  sie  einen  Agitator  von  solcher 
Kraft  und  solchem  Ansehen  bei  den  Slaven  besitzt,  wie 
den  Bischof  Strofimayer? 

Allein,  wendet  man  ein,  das  sind  schliefilich  doch  alles 
nur  untergeordnete  Komplikationen.  Die  griechische  Kirche 
ist  Hufiland,  und  R-ufiland  ist  die  griechische  Kirche.  So- 
lange  der  Papst  Rufiland  nicht  hat,  hat  er  nichts,  und 
Rufiland  wird  er  niemals  bekommen.  Wird  doch  erzahlt, 
die  russische  Regierung  habe  dieses  papstliche  Rund- 
schreiben  verbreiten  lassen,  weil  es  ihr  nicht  nur  ungefahr- 
lich,  sondern  sogar  willkommen  gewesen  —  zu  dem  ent- 
gegengesetzten  Zweck,  den  der  Papst  im  Auge  hatte.  Ich 
weifi  nicht,  ob  daran  etwas  wahres  ist,  sonderlich  glaub- 
wiirdig  klingt  mir  die  Nachricht  nicht.  R/ufiland  wird  in 
dem  Rundschreiben  iiberhaupt  nicht  erwahnt  (wahrend 
z.  B.  Frankreich  und  Italien  ausdriicklich  genannt  sind); 
es  wird  aber  auch  nicht  vor  den  Kopf  gestofien  —  denn 
das  eine,  was  der  Papst  veiiangt,  hat  er  immer  verlangt  — , 
im  Gregenteil,  es  wird  ihm  durch  die  Zuerkennung  der 
vollen  Orthodoxie  geschmeichelt.  Mehr  kann  dem  offiziellen 
Rufiland  gegeniiber  der  Papst  heute  iiberhaupt  nicht  tun; 
aber  das  offizielle  RuBland  ist  nicht  das  ganze  Rufiland. 
Die  Kenner  der  russischen  Zustande  wissen,  dafi  es  im 


Das  Testament  Leos  XIII.  279 

Herzen  Rufllands,  in  Moskau,  und  in  dem  gebildetsten  Teil 
der  russischen  Gesellschaft  eine  patriotisch-russische  Partci 
(vielleicht  besser  ,,Richtung")  gibt,  die  eine  Neugeburt  der 
heimischen  Kirche  im  Sinne  der  abendlandischen  Kirche 
(und  zwar  der  romischen,  nicht  der  evangelischen)  ersehnt, 
vorbereitet  und  in  ihr  das  einzige  Heil  fur  die  russische 
Kirche  erkennt.  Sie  ist  auch  literarisch,  soweit  es  die 
russischen  Zustande  zulassen,  mit  hinreichender  Deutlich- 
keit  hervorgetreten  und  hat  bewiesen,  dafl  Manner  von 
ungewohnlichen  Talenten,  unerschiitterlicher  Vaterlands- 
liebe  und  warmer  Anhanglichkeit  an  die  griechische  Kirche 
in  ihrer  Mitte  sind.  Sie  hat  auch  dariiber  nachgedacht, 
wie  sich  die  Weltstellung  Rufllands  und  seine  Traditionen 
mit  einer  Veranderung  des  Kirchenwesens  im  romischen 
Sinne  vereinigen  lassen,  und  glaubt  an  diese  Moglichkeit. 
In  Westeuropa  viel  weniger  bekannt  als  die  ,,Stundisten"  — 
die  evangelisch  -  abendlandische  Bichtung  in  Rufiland  — , 
weil  sie  keine  Sekte  bildet  und  sich  auf  die  Kreise  der 
hoheren  Bildung  beschrankt,  darf  diese  Richtung  als  ein 
Faktor  der  inneren  Spannungen  Rufilands  doch  nicht  ge- 
ring  geschatzt  werden.  DaB  man  sie  in  Rom  kennt  und 
wiirdigt,  dariiber  kann  angesichts  der  Beziehungen,  die  sie 
zum  Abendland  hat,  kein  Zweifel  sein.  Dafi  man  von  ihr 
nicht  spricht,  ist  wohl  verstandlich.  Eine  politische  Be- 
deutung  kann  sie  zurzeit  nur  auf  indirektem  Wege  ge- 
winnen;  aber  wenn  einmal  das  starre  Staatskirchentum 
RuBlands  nicht  mehr  zu  halten  ist  —  und  wer  darf  sagen, 
dafi  es  ewige  Dauer  in  sich  tragt?  — ,  so  hat  diese  Partei 
eine  Zukunft,  und  man  versteht  es,  dafi  Rom  schon  jetzt 
mit  ihr  rechnet.  Graiiz  anderer  Art,  aber  auch  nicht  zu 
unterschatzen,  sind  die  Hoffnungen,  die  man  in  Rom  auf 
die  Kleinrussen  und  ihren  G-egensatz  zu  den  Groflrussen 
setzt.  Die  Kleinrussen  stehen  durch  ihre  Greschichte  dem 
Abendland  naher  als  die  Grrofirussen  und  fuhlen  sich  ge- 
driickt  —  freilich  auch  durch  die  romisch-katholischen 


280  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

Polen.     Immerhin   liegen   hier   Spannangen   vor,    die   eine 
Rom  giinstige  Losung  als  moglich  erscheinen  lassen. 

Aber  mogen  dem  Papsttum  zurzeit  noch  so  giinstige 
Sterne  im  Orient  leuchten,  mag  der  Abscheu  des  offiziellen 
RuBlands  vor  dem  Protestantismus  und  dem  iiberwiegend 
protestantisclien  Deutschland  noch  so  grofi  sein,  mag  die 
politische  Konstellation  „  Rutland  -  -  Frankreich  -  -  der 
Papst"  den  letzteren  zu  Hoffnungen  berechtigen :  Rom 
selbst  hat  seit  dem  Jahre  1870  seine  Expansionskraft  durch 
die  formliche  Proklamierung  des  Unfehlbarkeitsdogmas  aufier- 
ordentlich  geschwacht.  Diese  Proklamierung  mag  um  der 
inneren  Lage  der  romischen  Kirche  willen  eine  Notwendig- 
keit  gewesen  sein  und  sie  hat  unzweifelhaft  die  Einheit 
der  Kirche  im  Innern  gestarkt;  aber  fur  die  ,,Wieder- 
bringung"  der  verirrten  Volker  bedeutet  sie  ein  schweres 
Hemmnis.  Man  wird  sich  dessen  gewiJS  in  Rom  bewufit 
gewesen  sein;  aber  man  scheint  den  Grewinn  hoher  ver- 
anschlagt  zu  haben  als  die  Gefahr  der  Verengung,  in  die 
man  sich  --  notgedrungen  —  hineinbegeben  hat.  Solange 
die  Unfehlbarkeit  des  Papstes  nicht  definiert  war,  waren 
wEinheit  der  Regierung  der  Kirche",  ,,0berstes  Lehramt", 
,,Apostolischer  Stuhl",  ,,Primat"  immer  noch  sehr  dehn- 
bare  Begriffe.  Gralt  und  gilt  doch  auch  in  alien  Kirchen 
des  Orients  der  Bischof  von  Rom  als  der  erste  Bischof 
der  Christenheit ,  und  haben  doch  selbst  Reformatoren  er- 
klart,  man  konne  sich  den  Papst  gefallen  lassen,  wenn  er 
das  Evangelium  zuliefie!  Welch  einen  Spielraum  besafl 
Rom,  welche  Konzessionen  konnte  es  an  die  Landeskirchen, 
Bischofe  und  Fiirsten  zeitweilig  und  dauernd  machen,  wie 
konnte  es  die  Begriffe  ,,Primat"  und  ,,Regierungsgewalt" 
dehnen  und  abmessen,  wie  konnte  es  die  alten  Konzilien 
betonen,  solange  es  kein  Infallibilitatsdogma  und  keine 
unzweideutige  Lehre  gab,  dafi  der  Papst  in  alien  Diozesen 
die  ordentlichen  bischof lichen  Grewalten  besitze!  Das  ist 
heute  anders,  und  an  diesem  Zustand  vermag  der  Papst 


Das  Testament  Leos  XIII.  281 

durch  Verschweigen  des  Unfehlbarkeitsdogmas ,  wie  er  es 
tut,  nichts  zu  andern.  In  der  Tat,  jenes  neueste  Dogma 
ist  nicht  das  einzige,  aber  es  1st  das  schwerste  Hemmnis 
bei  der  Verwirklichung  der  hochfliegenden  Hoffnungen 
R,oms.  Es  ist  nicht  abzusehen,  wie  sie  sich  jetzt  noch 
erfiillen  konnten.  Oder  kann  auch  dieses  Dogma  ,,elastisch 
behandelt  werden?  Ich  sehe  nicht  ab,  wie  das  moglich  ist. 
Ideen  kann  man  beliebig  verdichten  oder  verdiinnen;  von 
Dogmen  lafit  sich  mit  geringerer  oder  groBerer  Offenheit 
behaupten,  daB  sie  einen  liturgisch-dekorativen  Charakter 
haben  und  keinen  Einsichtigen  zu  genieren  brauchen;  aber 
personliche  Kompetenzen,  als  Qlaubenssatze  formuliert, 
sind  starr.  Auch  die  Versicherung ,  dafi  man  keinen  oder 
einen  mafiigen  Grebrauch  von  ihnen  machen  werde,  ver- 
bessert  nichts;  sie  bleiben  dennoch  bestehen.  ETicht  in  der 
nationalen  Eigenart  der  griechischen  und  slavischen  Volker, 
nicht  in  ihrer  unzweifelhaft  vorhandenen  Antipathie  gegen 
den  Westen,  nicht  in  dem  Stolze  der  Griechen,  die  alte 
Kirche  zu  besitzen,  nicht  in  der  Unveranderlichkeit  des 
russischen  Staatswesens ,  sondern  in  der  Formulierung  der 
Unfehlbarkeit  und  des  Episcopus  universalis  liegt  das 
starkste  Hemmnis  der  Propaganda  Roms  im  Orient  und  die 
sicherste  Biirgschaft  der  Selbstandigkeit  der  orient alischen 
Kirchen  —  wenigstens  fur  einige  Generationen  noch;  weiter 
hinaus  reicht  iiberhaupt  keine  menschliche  Berechnung. 

Yon  den  orientalischen  Kirchen  wendet  sich  der  Papst 
zu  den  protestantischen :  7,Mit  nicht  geringerer  Liebe  weilt 
Unser  Blick  auf  jenen  Volkern,  welche  in  neuerer  Zeit  eine 
ganz  ungewohnliche  Umwalzung  aller  Zustande  und  Ver- 
haltnisse  von  der  Romischen  Kirche  getrennt  hat.  Mogen 
sie  die  verschiedenen  Wechselfalle  vergangener  Zeiten  ver- 
gessen,  ihren  Blick  iiber  alles  Irdische  erheben  und  einzig 
von  dem  Wunsche  beseelt,  die  Wahrheit  und  mit  ihr  das 
Heil  zu  finden,  die  von  Jesus  Christus  gegriindete  Kirche 


282  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

bei  sich  betrachten.  Wenn  sie  ihre  Religionsgesellschaften 
mit  der  Kirche  vergleichen  und  erwagen  wollen,  wie  es  in 
denselben  mit  der  Religion  steht,  so  werden  sie  leicht  ein- 
raumen,  daC  sie,  des  alten  Q-laubens  uneingedenk,  sich 
durch  mannigfachen  Irrtum  in  vielen  mid  hochwichtigen 
Stiicken  zu  Neuerungen  haben  hinreifien  lassen." 

Auf  den  merkwiirdigen  Ausdruck:  ,,Mogen  sie  die  ver- 
schiedenen  Wechselfalle  vergangener  Zeiten  vergessen", 
habe  ich  oben  bereits  hingedeutet.  In  einem  Zusammen- 
hang,  in  dem  wir  sonst  Schmahworte  iiber  Luther  und 
iiber  die  Reformatoren  als  Aufriihrern  und  unsittlichen 
Menschen,  die  das  ganze  Elend  der  Gegenwart  verschuldet 
haben,  zu  horen  gewohnt  sind,  werden  wir  diesmal  aufge- 
fordert,  aus  der  Lethe  zu  trinken  und  das  Vergangene 
vergessen  sein  zu  lassen.  Der  Papst  scheint  zuzugestehen, 
dafi  wirklich  manches  nur  durch  Vergessen  beseitigt  werden 
kann.  Das  Motiv,  die  Wahrheit  und  mit  ihr  das  Heil  zu 
finden,  moge  uns  —  das  wiinscht  der  Papst  —  einzig  be- 
stimmen.  Aber  in  echt  katholischer  Weise,  gegen  die 
freilich  in  alter  Zeit  selbst  noch  ein  Tertullian  und  Cyprian 
protestiert  haben  („  Chris tus  se  veritatem,  non  consuetudi- 
nem  nominavit"),  wird  dann  sofort  das  Alte  und  die  Wahr 
heit  identifiziert :  die  ,7Religionsgesellschaften"  haben  sich 
in  vielen  und  hochwichtigen  Stiicken  zu  ?,N~euerungen" 
hinreifien  lassen.  1st  schon  dieser  Appell  wenig  iiberzeugend; 
denn  er  fordert  uns  dazu  auf,  an  die  ISTeuerungen  der 
romischen  Kirche  zu  denken,  so  ist  die  allgemeine  Auf- 
forderung,  zu  erwagen,  wie  es  in  unseren  Kirchen  ,,mit 
der  Religion  steht",  vollends  unvorsichtig ;  denn  wie  steht 
es  in  der  romischen  Kirche  z.  B.  Italiens  oder  Frankreichs 
mit  der  Religion?  Allein  dies  alles  ist  nur  ein  Vorlaufiges; 
das  Wichtigste  folgt  in  der  nachsten  Satzgruppe: 

,,Ebenso wenig  werden  sie  leugnen,  dafi  ihnen  von  dem 
Erbteil  der  Wahrheit,  welches  die  Urheber  der  Neuerungen 
bei  ihrer  Lossagung  von  der  Kirche  mit  sich  genommen, 


Das  Testament  Leos  XIII.  283 

kaum  eine  sichere  und  verbiirgte  Grlaubensformel  iibrig  ge- 
blieben  1st.  Ja,  so  weit  1st  es  schon  gekommen,  dafi  viele 
sich  nicht  entbloden,  das  Fundament  selbst,  anf  welchem 
die  ganze  Religion  und  alle  Hoffnung  der  Menschenkinder 
ruht  und  welches  kern  anderes  1st,  als  die  gottliche  Natur 
des  Erlosers  Jesus  Christus,  dieses  Fundament  anzugreifen. 
Ebenso  sprechen  sie  den  Buchern  des  alten  und  neuen 
Testaments,  welche  sie  ehedem  als  vom  heiligen  Geiste 
inspiriert  annahmen,  nunmehr  alles  gottliche  Ansehen  ab. 
Freilich  dahin  mufite  es  unbedingt  kommen,  nachdem  ein- 
mal  einem  jeden  das  Recht  zugestanden  war,  die  Schrift 
nach  eigenem  Qutdiinken  und  Ermessen  zu  erklaren.  Daher 
auch  die  Erscheinung,  dafi  unter  Zuriickweisung  jeder 
anderen  Lebensregel  das  Grewissen  des  Einzelnen  als  alleinige 
Norm,  als  einzige  Richtschnur  ihrer  Handlungen  aufgestellt 
wird.  Daher  die  vielen  sich  einander  widersprechenden 
Meinungen  und  Sekten,  die  schliefilich  in  den  erklarten 
Naturalismus  und  Rationalismus  ausarten.  Aus  diesem 
Grrunde  verzweifeln  sie  an  einer  Einigung  in  den  Lehr- 
meinungen  und  predigen  und  empfehlen  nur  noch  eine 
Vereinigung,  deren  Band  die  briiderliche  Liebe  ist.  An 
diesem  letzteren  tun  sie  nun  allerdings  gut;  denn  wir  alle 
miissen  durch  gegenseitige  Liebe  miteinander  verbunden 
sein.  Hat  ja  doch  auch  Jesus  Christus  dieses  vor  allem 
anderen  anbefohlen  und  gewollt,  daB  eben  diese  gegen 
seitige  Liebe  das  Kennzeichen  seiner  Jiinger  sei.  Aber 
wie  kann  die  vollkommene  Liebe  die  Gremiiter  verbinden, 
wenn  die  Greister  nicht  durch  den  Glauben  geeinigt  sind?" 
Diese  Satzgruppe  ist  ein  Meisterstiick  kurialer  Schrift- 
stellerei,  und  der  Papst  hat  mit  ihr  wirklich  eine  Richtung 
im  Protestantismus  in  Verlegenheit  gesetzt,  wie  die  Haltung 
einer  angesehenen  konservativen  Zeitung  den  papstlichen 
"Worten  gegeniiber  beweist.  Sehr  geschickt  setzt  er  bei  der 
modernen  Entwickelung  des  Protestantismus  ein.  Indem  er 
die  beiden  Richtungen  in  ihm  zu  trennen  sucht,  spricht  er 


284  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IY. 

der  einen  das  Erbteil  der  Wahrheit,  wenn  auch  das  ge- 
schmalerte,  der  anderen  die  protestantische  Konsequenz  zu. 
Aber  sofern  sie  noch  zusammenhalten,  sind  auch  die  Alt- 
glaubigen  fur  die  Neuglaubigen  verantwortlich :  die  evan- 
gelische  Kirche  ist  das  nicht  mehr,  was  sie  im  16.  Jahr- 
hundert  gewesen  ist;  sie  hat  den  G-lauben  an  die  gottliche 
Natur  des  Erlosers  und  an  die  Inspiration  der  h.  Schriften 
aufgegeben.  Sie  konnte  freilich  nicht  anders;  denn  diese 
Preisgabe  ist  erne  notwendige  Konsequenz  des  Prinzips  der 
freien  Forschung  und  des  souveranen  Grewissens.  Also  sind 
diese  Prinzipien  gerichtet;  denn  sie  fuhren  zum  Naturalis- 
mus  und  Rationalismus. 

Leider  irrt  sich  der  Papst  nicht  in  der  Annahme,  dafi 
diese  Argumentation  in  gewissen  Kreisen  der  evangelischen 
Kirche  Eindruck  machen  wird;  denn  sie  selbst  argumen- 
tieren  so;  aber  er  irrt  sich,  wenn  er  meint,  dafi  sie  deshalb 
zum  romischen  Katholizismus  iibergehen  werden.  Davon 
kann  -  -  soviel  ich  sehe  —  keine  Rede  sein;  denn  der  Ab- 
scheu  vor  dem,  was  man  alles  mit  in  den  Kauf  nehmen 
muB,  wenn  man  das  alte  Dogma  ungeschmalert  aus  der 
Hand  Roms  wieder  enipfangt,  ist  iiberall  in  dem  prote- 
stantischen  Grebiete  zu  grofi.  Nur  einzelne  konnen,  wie 
schon  friiher,  in  Betracht  kommen.  Aber  von  besonderem 
Interesse  ist,  dafi  selbst  der  Papst  bei  dem  blofien  Verdikt 
des  modernen  Protestantismus  als  in  den  Naturalismus 
und  Rationalismus  ausartend  nicht  stehen  bleiben  kann. 
Augenscheinlich  bemerkt  er  oder  der,  der  ihm  hier  die 
Feder  gefuhrt,  dafi  trotz  der  Auflosung  der  dogmatischen 
Einheit  Krafte  der  Liebe  im  Protestantismus  vorhanden 
sind,  und  dafi  sie  ein  Gremeinschaftsband  bilden,  dafi  also 
nicht  ein  allgemeiner  Verfall  die  Folge  der  theologischen 
Zersplitterung  ist,  sondern  dafi  positive  Krafte  vorhanden 
sind.  Dieser  Beobachtung  gegeniiber  bemuht  er  sich  mit 
der  dogmatischenExklamation:  ,,Wie  kann  die  vollkommene 
Liebe  die  Gremiiter  verbinden,  wenn  die  Greister  nicht  durch 


Das  Testament  Leos  XHL  285 

den  Grlauben  geeinigt  sind?"  Es  bedarf  wenig  Aufmerk- 
samkeit,  nm  den  Doppelsinn  des  Wortes  „  Grlauben"  hier  zu 
erkennen.  Grewifi  —  eine  Verbindung  in  der  Liebe  mufi 
durch  eine  Einheit  der  Gresinnung  getragen  sein;  aber  diese 
mit  dem  romisch-katholischen  Dogma  oder  sonst  einem  aus- 
gefiihrten  theologischen  Grlauben  zu  identifizieren ,  ist  ein 
alter  theologischer  Irrtum. 

Der  Verfasser  verweist  nun  auf  die  herrlichen  Bei- 
spiele  protestantischer  Konvertiten,  die  nach  ihrem  Uber- 
tritt  die  katholischen  Wahrheiten  aufs  Treffliehste  auch 
durch  Schriften  bewiesen  hatten.  Er  meint  Manner  wie 
Manning,  Newman  und  wohl  auch  manchen  Deutschen: 

wAngesichts  dieses  herrlichen  Beispiels  so  vieler  Manner 
redet  vielmehr  Unser  Herz  als  Unser  Mund  zu  Euch,  teu- 
erste  Briider,  die  Ihr  nun  schon  dreihundert  Jahre  von 
uns  im  Grlauben  getrennt  seid,  und  zu  Euch,  die  Ihr  Euch 
in  der  Folge  aus  irgend  einem  Grrunde  von  uns  losgesagt: 
Finden  wir  uns  alle  zusammen  in  der  Einheit  des  Glau- 
bens  und  der  Erkenntnis  Jesu  Christi." 

Die  Sehnsucht  des  Papstes,  die  Gretrennten  als  "Wieder- 
gewonnene  begriifien  zu  konnen,  ist  gewifi  eine  ungeheu- 
chelte,  und  die  Ausdrucks weise :  ,,Teuerste  Briider"  und 
j,finden  wir  uns  alle  zusammen  in  der  Einheit  des  Grlau- 
bens  und  der  Erkenntnis  Christi",  ist  so  freundlich  und 
konziliant  wie  moglich.  Allein  —  was  freilich  selbstver- 
standlich  —  iiber  den  freundlichen  Ton  hinaus  fehlt  jede 
tatsachliche  Konzession.  Allerdings  von  der  Unfehlbarkeit 
wird  auch  hier  nicht  gesprochen,  obgleich  bei  denen,  die 
sich  in  der  Folge  ,,aus  irgend  einem  Grrunde"  von  uns  los 
gesagt  (die  Altkatholiken),  die  Erwahnung  besonders  nahe 
lag  und  mit  Befremden  vermifit  wird.  Aber  was  hilffc  das 
Verschweigen?  Man  kann  vielmehr  umgekehrt  fragen:  Ist 
das  Verschweigen  hier  so  verstandlich,  wie  gegeniiber  den 
griechischen  Kirchen? 

Ich  mochte  diese  Frage  nicht  unbedingt  bej  alien.     So 


286  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IY. 

paradox  es  in  dem  ersten  Moment  klingen  mag  und  so 
unerfreulich  es  an  sich  1st  —  die  Unfehlbarkeit  ist  gegen- 
iiber  einem  Teile  der  ,,Protestanten"  kein  so  starkes  Hemm- 
nis  fiir  die  romische  Propaganda  wie  gegeniiber  den  Grie- 
chen.  Die  griechische  Kirche  ist  selbst  eine  Autoritats- 
kirche;  aber  die  Autoritat,  d.  h.  die  Unfehlbarkeit  der 
Kirche,  ist  den  Grieehen  ein  Stiick  Altertum  oder  vielmehr 
als  der  Inbegriff  des  Altertums  die  Gewahr  fiir  den  "Wahr- 
heitsbesitz  der  Kirche.  Daruber  hinaus  hat  sie  keine  Be- 
deutung.  In  bezug  auf  die  Frage  der  personlichen  Heils- 
gewiflheit  kommt  sie  wenig  in  Betracht,  einfach  deshalb, 
weil  diese  Frage  in  den  griechischen  Kirchen  keine  Rolle 
spielt.  Die  Folge  hiervon  ist,  dafi  nur  die  Autoritat  dort 
ein  Recht  hat,  die  das  unveranderte  Altertum  reprasentiert. 
Den  Trager  der  Autoritat  andern  heifit  die  Autoritat  selbst 
abtun.  Der  Grieche  empnndet  die  Unfehlbarkeit  eines  Ein- 
zelnen  an  Stelle  der  G-esamtkirche  als  Revolution,  weil  sie 
die  starkste  Neuerung  ist.  Nun  hat  freilich  der  Protestant 
ihr  gegeniiber  noch  ganz  andere,  viel  tiefer  liegende  Be- 
denken.  Er  lehnt  im  Nameii  des  Evangeliums  den  Ge- 
danken  der  Unfehlbarkeit  der  Kirche  iiberhaupt  ab,  und 
damit  fallt  die  Frage,  wer  der  Trager  derselben  ist,  einfach 
fort.  Aber  der  Protestant  ist  nicht  immer  der  Protestant. 
Wer  gewohnt  ist,  konservativ-kirchliche  Zeitungen  zu  lesen, 
der  weiO,  dafi  mit  dem  Gedanken  der  Autoritat  der  Kirche 
heute  ein  begehrliches  und  hochst  bedenkliches  Spiel  ge- 
spielt  wird.  Man  mochte  die  Kirche  womoglich  als  abso 
lute  Autoritat  hinstellen,  ja  tut  manchesmal  so,  als  ware 
sie  es.  Der  Versuch  will  freilich  niemals  recht  gliickeri; 
denn  die  kleine  und  hochst  kompliziert  verfafite  Landes- 
kirche,  der  man  angehort,  kann  man  doch  nicht  ernsthaft 
mit  dem  Schimmer  absoluter  Autoritat  bekleiden  wollen. 
Man  sieht  sich  also  genotigt,  auf  einen  idealen  Faktor  in 
ihr  zu  verweisen,  sei  es  auf  das  7,Bekenntnis",  das  man  so 
auszubeuten  sucht,  wie  der  Katholik  die  Tradition,  sei  es 


Das  Testament  Leos  XIII.  287 

auf  die  heilige  Schrift.  Aber  das  Bekenntnis  1st  auch  bei 
den  Strengsten  nicht  mehr  einhellig  und  unerschuttert,  und 
dafi  die  heilige  Schrift  der  geschichtlichen  Kritik  unter- 
liegt,  wagen  wenigstens  in  thesi  wenige  mehr  zu  bestreiten. 
Solange  sich  aus  diesem  Zustande  nur  kirchenpolitische 
Schwierigkeiten  entwickeln,  ist  die  Q-efahr  fur  den  Prote- 
stantismus  noch  nicht  brennend:  solche  Schwierigkeiten 
lassen  sich  immer  noch  durch  halbe  Gedanken  und  halbe 
Mafiregeln  beschwichtigen.  Aber  brennend  wird  die  Ge- 
fahr,  wenn  das  alte  evangelische  Hauptinteresse,  die  Frage 
nach  dem  Grunde  der  personlichen  Heilsgewiflheit,  ins 
Spiel  kommt.  Fahrt  man  in  den  evangelischen  Kirchen 
fort,  die  Fragenden  auf  eine  aufiere  formale  Autoritat  zu 
verweisen,  wahrend  doch  die  Autoritaten,  die  man  nennen 
kann,  samtlich  unzureichend  sind,  so  darf  man  sich  nicht 
wundern,  dafi  schliefilich  der  unfehlbare  Papst  als  die  Ret- 
tung  erscheint.  Hier  und  hier  allein  geschieht  dem  aufieren 
religiosen  Autoritatsbediirfnis  ein  vollkommenes  Geniige. 
Diese  Autoritat  allein  laBt  keine  Zweifel  mehr  iibrig,  wie 
sie  eine  geschriebene  Urkunde  oder  eine  ideale  Autoritat 
wie  die  ,,Kirche"  immer  iibrig  lassen  mufi.  Der  Fromme, 
der  heute  den  Protestantismus  verlaBt  und  zur  romischen 
Kirche  iibertritt,  tut  das  nicht  trotz  der  Lehre  von  der 
Unfehlbarkeit  des  Papstes,  sondern  eben  diese  Lehre  ist 
es,  die  ihn  anzieht.  Fur  den  ungeheuren  Halt,  den  sie 
ihm  gewahrt,  bringt  er  das  Opfer  des  Intellekts.  Gewifi, 
das  Dogma  von  der  Unfehlbarkeit  des  Papstes  ist  nicht 
aufgestellt  worden,  um  denen,  die  in  heifiern  Bingen  nach 
dem  Grunde  der  Heilsgewifiheit  suchen,  einen  festen  Boden 
zu  gewahren  —  so  tief  hat  man  weder  in  Rom  noch  ini 
Jesuitenorden  jemals  gedacht  — ,  aber  es  erweist  sich  tat- 
sachlich  als  diejenige  Fixierung  der  Autoritat,  welche  allein 
alien  Zweifel  ausschliefit,  sofern  man  sie  selbst  nur  nicht 
bezweifelt.  Darum  sehen  wir  auch,  dafi  die  beriihmten  eng- 
lischen  und  deutschen  Konvertiten  unserer  Tage  mit  we- 


288  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IY. 

nigen  Ausnahmen  iiberzeugte  Infallibilisten  waren  und  sind. 
Wer  eine  protestantische  Frage,  die  nach  der  Heilsgewifi- 
heit,  katholisch,  d.  h.  mit  Beziehung  auf  eine  aufiere  for- 
male  Autoritat,  und  zugleich  konsequent  beantwortet,  der 
kann  weder  bei  der  Unfehlbarkeit  der  heiligen  Schrift  nocli 
des  Bekenntnisses  noch  der  wKirche"  stehen  bleiben:  er 
mufi  Infallibilist  werden. 

Auf  G-rund  dieser  Erwagungen  darf  man  behaupten, 
dafi  das  Dogma  von  der  papstlichen  Unfehlbarkeit  —  min- 
destens  in  einer  Hinsicht  —  der  romischen  Propaganda 
nnter  den  Protestanten  nicht  so  hinderlich  ist  wie  unter 
den  Griechen.  Allerdings  gehort  diese  Erwagung  mehr 
der  Zukunffc  an,  wenn  sich  die  grofie  innere  Auseinander- 
setzung  des  Protestantismus  mit  seiner  eigenen  Greschichte 
und  mit  seinen  Grrundlagen,  in  deren  Anfangen  wir  stehen, 
scharfer  vollziehen  wird.  Auch.  diirfen  wir  hoffen,  dafi 
dann  nicht  nur  die  Indifferenz  oder  die  vertiefte  geschicht- 
liche  Bildung,  sondern  auch  das  geklarte  evangelische  Be- 
wuBtsein  den  romischen  Lockrufen  Widerstand  leisten  wird ; 
aber  immer  werden  wir  gut  tun,  uns  daran  zu  erinnern, 
dafi  die  monstrose  Lehre  von  der  Unfehlbarkeit  des  Papstes 
eine  Seite  hat,  durch  die  sie  sich  einem  zarten,  aber  ge- 
bundenen  und  unruhigen  Q-ewissen  empfiehlt.  Wer  die 
Verantwortung  fur  die  eigene  Seele  nicht  tragen  will  oder 
kann,  auf  wen  sollte  er  sie  lieber  abladen  als  auf  den  un- 
fehlbaren  Statthalter  Christi?  DaJJ  es  einen  solchen  gibt, 
ist  freilich  ein  harter  Grlaube;  aber  was  glaubt  der  Mensch 
nicht,  wenn  er  in  wirklicher  innerer  Not  istl 

Die  zweite  Halfte  des  Rundschreibens  bezieht  sich  aus- 
schliefilich  auf  die  katholische  Kirche.  Wir  konnen  uns 
uber  sie  kiirzer  fassen;  denn  diese  Halfte  steht  nicht  auf 
der  Hohe  der  ersten.  Hier  wird  man  vielmehr  aufs  kraf- 
tigste  daran  erinnert,  dafi  der  romischen  Kirche  die  kirchen- 
politischen  Dinge  im  Vordergrunde  stehen  und  die  E/eligion 


Das  Testament  Leos  XIII.  289 

ihnen  tmtergeordnet  1st.  Der  Papst  behauptete  im  Ein- 
gang,  er  wolle  in  Nachahmung  des  hohenpriesterlichen  Q-e- 
bets  Jesu  reden;  aber  nur  gegeniiber  den  Schafen  waus 
dem  anderen  Stalle"  hat  er  den  Ton  des  Hirten  getroffen; 
sobald  er  sich  der  eigenen  Kirche  zuwendet,  spricht  weniger 
der  Hirte  als  der  Herrscher.  Um  so  bemerkenswerter  ist, 
dafi,  wie  in  der  ersten  Halfte  die  Unfehlbarkeit  fehlt,  so 
in  dieser  zweiten  die  Forderung  der  Wiederherstellung  des 
Kirchenstaates.  Das  ist  gewiB  kein  Zufall,  zumal  da  der 
Papst  indirekt  die  Frage  beriikrt  und  auch  den  allgemeinen 
Ausdruck  braucht,  man  habe  wdie  Kirche  ihrer  Giiter  be- 
raubt  und  ihre  Freiheit  aufs  auflerste  beschrankt".  Jeden- 
falls  ist  anch  hier  das  Bestreben,  dieses  B/undschreiben  an 
die  Fiirsten  so  konziliant  wie  moglich  zu  gestalten,  wirk- 
sam  gewesen.  Es  wird  immer  denkwiirdig  bleiben,  dafi 
Leo  Xin.  in  diesem  seinem  Testamente  davon  abgesehen 
hat,  rand  die  Zuriickgabe  des  Kirchenstaates  zu  verlangen. 
Zwei  Q-egner  bekampft  der  Papst  in  dieser  zweiten 
Halfte  und  nennt  sie  anch  bei  Namen:  den  Febronianismus 
und  die  Freimaurerei;  sie  erscheinen  ihm  im  SchoBe  des 
Katholizismus  als  die  schlimmsten  Feinde.  Der  dritte  alte 
Gregner,  der  Gallikanismus,  ist  augenscheinlich  nicht  mehr 
zu  furchten.  Unter  dem  Namen  nfebronianische  Grund- 
satzeu  fafit  der  Papst  alle  Bestrebungen  zusammen,  die 
wir  als  wstaatskatholischeu  zu  bezeichnen  pnegen:  die  Be- 
schrankung  der  Freiheit  der  Kirche  durch  den  Staat,  das 
Mifitrauen  gegen  die  Kirche  als  eine  politische  Q-emein- 
schaffc,  die  einseitig  staatliche  Q-esetzgebung  usw.  Neues 
oder  durch  die  Formulierung  Bemerkenswertes  wird  nicht 
vorgetragen.  Der  Papst  kampft  hier  gegen  die  ,,Tragheit 
und  Fahrlassigkeit" ,  die  7,Engherzigkeit  und  das  Mifi- 
trauen"  nicht  der  Ketzer,  sondern  der  Katholiken.  Hieran 
schliefit  sich  die  Polemik  gegen  die  Freimaurerei,  vor- 
nehmlich  in  Italien  und  Frankreich.  Leider  bin  ich  aufier- 
stande  anzugeben,  wie  es  mit  den  tatsachlichen  Unterlagen 

Harnack,  Reden  und  Aufsiitze.    2.  Ann.    n.  19 


290  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.    Aufsatze:  IT. 

dieser  Polemik  steht.  Wir  liier  diesseits  der  Alpen  nnd  des 
Rheins  wnndern  nns  sowohl  dariiber,  daB  den  Freimanrern 
eine  so  ungehenre  Bedentung  beigelegt  wird,  als  anch 
dariiber,  dafi  sie  so  grundschlecht  sein  sollen.  Jedenfalls 
irrt  sich  der  Papst,  wenn  er  schreibt,  dafl  wdie  verwerf- 
lichen  Grnndsatze  dieser  Sekte,  Hire  gottlosen  Plane,  aller 
Welt  bekannt  sind".  Anch  werden  es  nicht  wenige  mit 
Erstannen  lesen,  dafi  wdie  Sekte  lehrt,  der  Mensch  miisse 
die  Natnr  verehren  nnd  allein  ans  ihren  Grundsatzen  Mafi 
nnd  Richtschnnr  fiir  alle  "Wahrheit,  Sittlichkeit  nnd  Ge- 
rechtigkeit  nelnnen";  ferner:  7,nnd  was  das  Tranrigste  bei 
der  Sache  ist;  wohin  tmmer  sie  den  Fnfi  setzt,  dringt  sie 
in  alle  Schichten  des  Volkes  ein,  misclit  sie  sich.  in  alle 
Einrichtungen  des  Staates,  nm  schliefilich  alles  nnd  jedes 
in  ihrer  Hand  zn  haben  .  .  .  .a  ,,Anf  diese  Weise  mnfi 
der  Mensch  mehr  oder  weniger  in  heidnische  Sitten  nnd 
Grewohnheiten  znriickfallen,  die  bei  den  so  vervielfaltigten 
Reizmitteln  nnr  noch  nm  so  nngebnndener  sein  werden." 
Sind  die  romanischen  Freimanrer  wirklich  so  schlimm,  wie 
der  Papst  sie  s child ert  —  in  bezug  anf  ihre  Bekampfnng 
spricht  er  das  etwas  brenzliche  Wort:  ,,wir  scharfen  wieder 
nnd  wieder  ein,  daft  bei  so  grower  G-efahr  keine  Mafiregel 
wirksam  genug  ist,  nm  eine  andere  noch  wirksamere  iiber- 
fliissig  zu  machen"  — ,  so  diirfen  wir  mit  Genngtunng 
darauf  hinweisen,  dafi  sie  in  dieser  Grestalt  nach  dem  eige- 
nen  Urteile  des  Papstes  eine  spezinsche  Erscheinnng  katho- 
lischer  Lander  sind. 

Wahrhaft  iiberrascht  ist  man  nach  dieser  Bekampfnng 
des  Febronianismns  nnd  der  Freimanrerei  folgendes  zn  lesen : 
?5Wenn  so  die  zwei  Grefahren  beseitigt  nnd  die  Reiche  und 
Staaten  wieder  znr  Einheit  des  Gf-lanbens  znrnckgekehrt  sind, 
welch  wirksames  Heilmittel  gcgen  alle  TJbel,  welch  wunder- 
barer  UbernnG  an  alien  Giitern  ware  damit  der  Welt  ge- 
geben!  Wir  wollen  die  hanptsachlichsten  wenigstens  be- 
rlihren."  Man  sieht,  das  Rnndschreiben  nimmt  von  hier 


Das  Testament  Leos  XIII.  291 

ab,  indem  es  sich  zum  Schlufl  neigt,  eine  rhetorische  Wen- 
dung.  Aber  dafi  ein  wahrhaft  paradiesischer  Zustand  sich 
einstellen  werde ,  sobald  nur  die  Kircheneinheit  wieder 
hergestellt  ist  und  Febronianismus  und  Freimaurerei  be- 
seitigt  sind,  ist  dock  eine  wunderbar  obernachliche  Behaup- 
tung,  die  auf  einer  volligen  Verkennung  der  christlicheii 
Religion  und  einer  ebenso  starken  Verkennung  ihrer  eigent- 
lichen  Gegner  beruht.  An  diesem  einen  Satze,  der  iibrigens 
aus  den  mittelalterlichen  Zustanden  sofort  widerlegt  wer- 
den  kann,  vermag  man  sich  den  ganzen  Unterschied  zwischen 
Katholizismus  und  Protestantismus  klar  zu  machen.  Und 
welche  Griiter  nennt  der  Papst  als  die  hauptsachlichsten? 
Erstlich  die  Wiederherstellung  des  gebiihrenden  Rangs  der 
Kirche  und  ihrer  Freiheit  zum  Segen  und  Heile  der  V61- 
ker,  zweitens  die  wesentliche  Forderung  der  gegenseitigeu 
Annaherung  der  ISTationen  —  der  bewaffnete  Friede  wiirde 
aufhoren;  ,,die  unerfahrene  Jugend  wiirde  nicht  mehr  mit 
Grewalt  auf  die  gefahrliche  Militarlaufbahn  gedrangt  (!)"; 
die  Erschopfung  des  Staatsschatzes  durch  die  ungeheuren 
Ausgaben  und  die  schwere  Schadigung  des  Yermogens  der 
Einzelnen  wiirde  ein  Ende  nehmen  (dies  ist  wohl  mit  be- 
sonderer  Beziehung  auf  Italien  gesagt)  — ,  drittens  die  heil- 
same  Beschleunigung  der  Losung  der  sozialen  und,  wie  es 
in  dem  Schreiben  heifit,  der  politischen  Frage  (d.  h.  der 
Frage  des  Verhaltnisses  von  Freiheit  und  Autoritat).  In 
Hinsicht  auf  die  soziale  Frage  findet  sich  eine  sehr  treffende, 
freilich  nicht  neue  Erwagung:  wWie  viel  mehr  als  durch 
alles  andere  wiirde  die  Losung  der  sozialen  Frage  beschleu- 
nigt,  wenn  die  Menschen  allgemein  angeleitet  wiirden,  von 
innen  heraus  durch  die  Grand satze  des  christlichen  G-lau- 
bens  ihren  Sinn  fur  Recht  und  Pflicht  auszubilden. u  Was 
die  politische  Frage  betrifft,  so  bringt  der  Papst  ein,  wie 
man  furchten  mufi,  zu  einfaches,  ich  mochte  sagen  salo- 
monisches  Rezept  waus  der  christlichen  Philosophic":  ,,Wenn 
man  davon  ausgeht,  was  alle  zugeben  (?),  dafi  namlich  die 

19* 


292  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  IV. 

Autoritat  von  Q-ott  komme,  gleichviel,  welches  die  Re- 
gierungsform  1st,  so  sieht  die  Vernunffc  sofort,  dafi  bei  den 
einen  das  Recht  zu  befehlen  durchaus  gesetzlich,  bei  den 
andern  die  Pflicht  zn  gehorchen  ganz  ordnungsmafiig  sei. 
Durch  den  G-ehorsam  wird  auch  keineswegs  der  mensch- 
lichen  Wiirde  zu  nahe  getreten;  denn  schliefilich  wird  doch 
viel  mehr  Gott  als  den  Menschen  der  G-ehorsam  geleistet. 
Andererseits  wird  denjenigen,  welche  befehlen,  von  Gott 
das  strengste  G-ericht  angekiindigt ,  wofern  sie  ihn  nicht 
vertreten,  wie  sie  sollen,  als  Forderer  des  Rechts  und  der 
Gerechtigkeit.  Die  Freiheit  der  Einzelnen  kann  aber  nie- 
mandem  verhafit,  niernandem  verdachtig  sein;  denn  ohne 
jemandem  zn  schaden,  entfaltet  sie  sich  nnr  in  dem  (?),  was 
wahr,  was  recht,  was  in  vollem  Einklange  mit  der  offent- 
lichen  R/tihe  steht." 

Indem  der  Papst  die  herrlichen  Giiter  weiter  iiber- 
schlagt,  die  der  wiederhergestellten  Kjrcheneinheit  und 
Kirchenfreiheit  folgen  werden,  erhebt  er  sich  zu  einer  pro- 
phetischen  Schilderung:  ^Wir  sehen  in  der  Feme,  welch 
gliickhche  Ordnung  der  Dinge  dann  auf  Erden  sich  an- 
heben  wurde,  und  Wir  kennen  nichts  Angenehmeres ,  als 
die  Betrachtung  der  Giiter,  die  daraus  erfolgen.  Man  kann 
sich  kaum  vorstellen,  welchen  Aufschwung,  G-roJJe  und 
Wohlstand  (hier  ist  die  Ubersetzung  nicht  in  Ordnung) 
plotzlich  auf  der  ganzen  Welt  nehmen  wiirden,  wenn  Ruhe 
und  Frieden  der  Erde  wiedergegeben ,  wenn  die  Wissen- 
schaft  auf  alle  Weise  gefordert,  wenn  iiberdies  nach  Unserer 
Anweisung  auf  christlicher  Grundlage  Vereine  von  Landwirten, 
Handwerkern,  Geschaftsleuten  gegriindet  und  vervielfaltigt 
wiirden,  mit  deren  Hilfe  der  alles  verschlingende  Wucher 
aus  der  Welt  geschafft  und  heilsamen  Arbeiten  ein  weites 
Feld  geofFnet  ware."  Auch  auf  die  jetzt  noch  nicht  christ- 
lichen  Volker  wiirde  sich  der  Segen  erstrecken  • —  damit 
kehrt  das  Schreiben  nach  strengem  Stile  wieder  zu  seinem 
Anfang  zuriick,  um  mit  einer  Bitte  an  die  Fiirsten,  die 


Das  Testament  Leos  Xill.  293 

Ratschlage  vomrteilsfrei  in  Erwagung  zu  ziehen,  und  dem 
Votum  zu  schliefien:  ,,DaB  sich  die  VerheiBung  Christi  bald 
erfiillen  moge:  Es  wird  nur  Ein  Schafstall  und  Ein  Hirte 
sein." 

Diese  letzten  Ausfuhrungen  des  papstlichen  Schrei- 
bens  lassen  sich  nicht  kritisieren ;  denn  Prophezeiungen  und 
Zukunftshoffnungen  sind  nicht  zu  diskutieren.  Offenbar  liegt 
aber  iiberhaupt  der  Schwerpunkt  der  ganzen  Kundgebung 
nicht  in  diesen  Abschnitten,  sondern  in  der  ersten  Halfte. 
Tiefe  und  warme  Worte  an  die  Herzen  seiner  Grlaubigen 
hat  der  Papst  in  diesem  seinem  Testamente  nicht  zu  finden 
gewuBt.  Augenscheinlich  hat  er  die  Religion  sozusagen 
,,vorausgesetzt"  und  es  nicht  fur  notig  gehalten,  von  ihr 
zu  handeln  und  sich  in  ihr  wie  ein  Seelsorger  zu  bewegen. 
Der  schlichteste  evangelische  Pfarrer,  der  seiner  Gremeinde 
ein  Testament  hinteiiafit,  wiirde  anders  zu  ihr  sprechen, 
als  dieser  Statthalter  Christi.  Er  wiirde  die  Religion  nicht 
einfach  ,,voraussetzen",  sondern  er  wiirde  von  dem  Einen 
handeln,  was  not  tut.  Den  ganzen  Unterschied  des  evan- 
gelischen  Wesens  und  dieses  Katholizismus  kann  man 
an  dieser  Unteiiassung  erkennen,  und  alle  freundlichen 
Lockungen,  die  im  ersten  Teile  aufgeboten  sind,  konnen 
den  Eindruck  nicht  verwischen,  dafi  die  Religion  in  diesem 
Testamente  zu  kurz  gekommen  ist. 


ADOLF  HARNACK  .  REDEN  UND  AUFSATZE 
ZWEITER  BAND  -  ZWEITE  ABTEILUNG 


AUFSATZE: V 

DIE  BEDEUTUNG  DER  REFORMATION  INNERHALB 
DER  ALLGEMEINEN  RELIGIONSGESCHICHTE 


Erschienen  in  der:   wChristlichen  Welt"  1899  Nrn.  1—6 
(5.  Jan.  bis  9.  Febr.) 


Was  die  Reformation  innerhalb  der  Kirchengeschichte 
bedeutet,  ist  seit  dem  sechzehnten  Jahrhundert  G-egenstand 
des  Nachdenkens  bei  Freund  und  Feind  gewesen,  und  ihr 
Wesen  gegeniiber  dem  Katholizismus  ins  Licht  zu  setzen, 
ist  auch  heute  noch  eine  Hauptaufgabe  der  historischen  und 
der  systematischen  Theologie.  Dafi  bei  diesen  Bemiihungen 
die  Q-rundfragen  der  Religion  iiberhaupt  gestreift  werden, 
ist  unvermeidlich ;  aber,  so  viel  ich  sehe,  ist  die  Frage,  ob 
und  inwiefern  durch  die  Reformation  ein  neuer  Religions- 
begriff  zum  Durchbruch  gekommen  ist,  noch  nirgendwo 
mit  der  gebiihrenden  Aufmerksamkeit  untersucht  worden, 
oder  —  wo  es  geschehen  ist  -  -  hat  man  das  Problem  in 
einen  zu  engen  Rahmen  gespannt.  Wohl  hat  Ritschl  fast 
alle  Beobachtungen  in  bezug  auf  die  Reformation  angestellt, 
die  ihn  zu  einer  umfassenden  Beantwortung  der  Frage  be- 
fahigt  hatten;  aber  bei  der  grundsatzlichen  Beschrankung 
auf  die  Kirchengeschichte ,  die  sich  dieser  grofie  Theolog 
auferlegt  hat,  sah  er  davon  ab,  seine  Erkenntnisse  auf  den 
weiten  Plan  der  allgemeinen  Religionsgeschichte  zu  stellen. 
Man  muB  katholischen  Historikern  den  Ruhm  lassen,  dafi 
sie  sicherer  als  die  protestantischen  liber  die  willkiirlichen 
Schranken  hinausbhcken ,  die  dem  vollen  Verstandnis  der 
Reformation  durch  den  Namen  „ Reformation"  gezogen  sind. 
Dollinger  sagt  (Akad.  Vortrage,  3.  Band,  S.  58):  ^Luther 
miissen  wir  unzweifelhaft  zu  den  Religionsstiffcern  rechnen, 
wenn  er  auch  selbst  diese  Bezeichnung  entschieden  zuriick- 
gewiesen  haben  wiirde  —  nur  Reformator  wollte  er  sein. 
Aber  so  ist  es  ja  von  jeher  gegangen,  dafi  Reform versuche 


298  Z welter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsfttze:  V. 

zur  Bildung  eigner  Religionssysteme  ausgeschlagen  sind 
oder  im  Lauf  der  Zeit  sich  dazu  entwickelt  haben.  Die 
Grenossenschaft,  die  die  Wittenberger  Lehre  zu  der  ihrigen 
machte,  hat  das  auch  riclitig  erkannt  und  unbedenklich 
von  der  ,,lutherischen  Religion"  in  Biichern  und  im  Leben 
gesprochen.  Die  Q-abe  der  sozialen  Organisation  ging  dem 
Wittenberger  Reformator  freilich  ab;  er  vermochte,  mochte 
man  sagen,  eine  Religion,  aber  keine  Kirche  zu  griinden." 

Dies  Urteil  Dollingers  wird  protestantischen  Ohren 
empfLndlich  sein  —  auch  ich  mochte  es  nicht  ohne  Vorbe- 
halt  unterschreiben  — ,  aber  es  ist  doch  tiefer,  freier  und 
darum  wertvoller  als  die  meisten  Schlagworte,  in  denen 
man  Luthers  Bedeutung  zusammenzufassen  pnegt.  Vor 
allem  dadurch,  dafi  es  Luther  von  der  ,,Kirche"  abriickt 
und  zur  „  Religion"  stellt,  eroffnet  es  die  richtige  Perspek- 
tive.  Aber  leider  hat  Dollinger  nicht  angedeutet,  worin  er 
die  religionsgeschichtliche  Bedeutung  Luthers  erkennt,  ja 
er  hat  die  ganze  Frage  vollstandig  verdunkelt,  indem  er 
Heinrich  VIII.  von  England,  Cromwell  und  Calvin  ebenfalls 
zu  den  nReligionsstiftern"  zahlt.  Bereits  diese  Zusammen- 
stellung  lehrt,  dafi  der  Begriff  7,Religionsstifter",  wie  er  ihn 
fafit,  weder  den  allgemeinen  Sprachgebrauch  fur  sich  hat, 
noch  aufklarend  ist,  vielmehr  notwendig  Verwirrung  an- 
richtet.  Wir  lassen  daher  die  Frage  nach  den  Religions- 
stiftern  aus  dem  Spiel  und  setzen  dafur  die  andre  ein  nach 
dem  Religionsbegriff.  Wer  den  wesentlichen  Begriff  der 
Religion,  wie  er  ihn  vorfand,  durchgreifend  geandert  hat 
—  nicht  in  Biichern,  sondern  im  wirklidhen  Leben  — ,  der 
kommt  gewifi  den  Religionsstiftern  sehr  nahe,  aber  ob  er 
zu  ihnen  gerechnet  werden  darf,  ist  eine  zweite  Frage, 
deren  Beantwortung  von  mehr  als  einer  Erwagung  abhangt. 

Hat  Luther  den  wesentlichen  Begriff  der  Religion,  wie 
er  ihn  vorfand,  umgebildet  und  zwar  so  umgebildet,  dafi 
die  Modifikation  nicht  nur  den  Katholizismus  betrifft,  son 
dern  die  Religion  iiberhaupt?  —  das  ist  die  entscheidende 


Bedeutung  der  Reformation  innerhalb  der  allg.  Religionsgeschichte.    299 

Frage.     Ich  stelle  die  Antwort  an   die  Spitze   und  werde 
sie  dann  zu  erlautern  und  zu  rechtfertigen  versuchen. 


Die  Reformation  bedeutet  einen  epochemachen- 
den  Umschwung  in  der  Religionsgeschichte  iiber- 
haupt;  denn  Luther  hat  das,  was  man  bisher  fiir 
das  Wesen  der  Religion  hielt,  als  voriibergehende 
oder  sekundare  oder  gar  als  bedenkliche  Ersehei- 
nung  betrachtet,  und  er  hat  das,  was  bisher  als 
abgeleitete  Wirkung  der  Religion  gait,  als  ihr 
Wesen  beurteilt,  oder  doch  den  Anstofl  zu  solchen 
Beurteilungen  gegeben. 

Das  Wesen  der  Religion  kommt  in  der  direkten  per- 
sonlichen  Inspiration*)  und  der  ihr  entsprechenden  Heilig- 
keit  des  Lebens  zum  Ausdruck  —  das  ist  die  allgemeine 
Uberzeugung  der  katholischen  Kirchen,  in  denen  nur  die 
Heiligen  und  die  Monche  als  die  eigentlich  ,,Religiosen" 
gelten.  Die  Kirchen  mogen  sich  diese  Uberzeugung  selbst 
verdunkeln,  es  bleibt  doch  dabei,  dafi  in  ihnen  Inspiration 
und  weltfLuchtige  Heiligkeit  die  Religion  konstituieren. 
Indem  die  katholischen  Kirchen  diesen  Begriff  festhalten, 
bejahen  sie  einen  Religionsbegriff,  den  sie  nicht  geschaffen, 
sondern  ubernommen  haben,**)  und  der  zugleich  der  hochste 
zu  sein  scheint;  denn  er  fafit  den  Einzelnen  als  selbstandige 
und  selbst  verantwortliche  Personlichkeit,  bezeichnet  die 
Beziehung  auf  Qott  als  reale  Einwohnung  der  Q-ottheit 
und  unterwirft  ihr  das  ganze  Leben.  Neben  der  so  ge- 
fafiten  Religion  konnen  andre  Auspragungen  derselben  nur 
eine  Religion  zweiter  Ordnung  darstellen,  und  so  ist  es 


*)  Ich  brauche  das  Wort  nlnspiration"  in  seinem  urspriingliclien, 
weitern  Sinne,  nach  dem  es  die  wirkliche  Einwohnung  G-ottes  (des 
Geistes  Gottes)  bedeutet,  die  sich  in  mannigfaltigen  ubernatiirlichen 
Wirkungen  bekundet. 

**)  Davon  wird  spater  noch  die  Kede  sein. 


300  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  V. 

tatsachlich  im  Katholizismus :  das  Gefuge  von  Religion, 
das  in  ihm  dureh  die  Sakramente  und  die  Bufiordnungen 
einerseits,  durch  den  Vorsehungs- ,  Vergeltungs-  und  Er- 
losungsglauben  andrerseits  zustande  kommt,  gilt  zwar  als 
das  eben  noch  zureichende  Minimum  von  Religion,  scheint 
aber  qualitativ  von  der  Religion  verschieden  zu  sein.  Doch 
ist  die  qualitative  Verschiedenheit  nicht  so  stark  zu  betonen 
wie  die  Abstufung.  Man  kann  das  zwischen  ihnen  be- 
stehende  Verhaltnis  am  besten  so  ausdriicken:  Die  Religion 
stellt  sich  als  ein  engerer  und  als  ein  weiterer  Kreis  dar. 
Der  engere  Kreis  ist  bestimmt  durch  die  Einwohnung  des 
Gottesgeistes  (Christusgeistes)  und  das  engelgleiche  Leben; 
der  weitere  Kreis  ist  bestimmt  durch  die  Sakramente,  durch 
den  Q-lauben  an  das,  was  jene  andern  tatsachlich  erfahren, 
und  durch  moglichste  Annaherung  an  das  engelgleiche 
Leben  innerhalb  des  natiirlichen  weltlichen  Lebens.  Die 
christliche  Religion  ist  eben  deshalb  die  absolute  und  zu- 
gleich  die  Offenbarung  der  vollkommenen  Barmherzigkeit 
Gottes,  weil  sie  aufier  und  neb  en  ihrer  wahrhaffcen  Art  und 
Erscheinung,  die  sich  nicht  alle  aneignen  konnen,  in  Heils- 
mitteln,  Glauben  und  Werken  eine  zweite  abgeleitete  Form 
darbietet,  auf  die  jedermann  einzugehen  vermag. 

Diese  Grundanschauung,  die  der  Katholizismus  mit 
dem  Buddhismus  sowohl  als  auch  mit  der  philosophischen 
Religion  der  untergehenden  Antike  teilt,  ist  von  Luther 
umgestiirzt  worden.  In  den  Heilsmitteln  (Wort  und 
Sakrament)  und  dem  Glauben  erkannte  er  die  Religion, 
neben  der  es  keine  andere,  also  gewifi  auch  keine  hohere 
gibt.  Der  gottliche  Akt  ist  die  Schenkung  des  Glaubens 
(durch  Wort  und  Sakrament),  und  die  Betatigung  der 
Religion  ist  der  Erlosungs-  und  Vorsehungsglaube.  Daneben 
hat  weder  die  Inspiration,  noch  die  Heiligkeit,  wenn  sie 
etwas  andres  sein  will  als  die  Lebensfuhrung  im  kindlichen 
Vertrauen  zu  Gott,  irgend  welchen  wesentlichen  Spielraum. 
Sie  konnen  bei  diesem  oder  jenem  als  individuelle  Zuge 


Bedeutung  der  Keformation  innerhalb  der  allg.  Keligionsgeschichte.   301 

ertraglich  sein;  sie  konnen  bei  Andern  besondre  und  for 
ihren  eigentiimlichen  Beruf  notwendige  Begabungen  dar- 
stellen  —  in  der  Regel  werden  sie  aber  als  Anmafiungen 
,,stolzer  Heiliger"  und  darum  als  irreligiose  Erscheinungen 
zu  beurteilen  sein;  denn  Religion  haben  ist  nichts  andres 
als  an  Gott  glauben,  das  heiUt  sich  in  die  Hande  des  ver- 
sohnten  Gottes  mit  Leib  und  Seele  beschliefien.  Der  Ei- 
losungs-  nnd  Vorsehungsglaube  ist  die  Religion;  die  wln- 
spiration"  und  die  ,,Heiligkeit"  sind  daneben  nichts. 

Eine  griindlichere  Umkehrung  des  alten  Religions - 
begriffs  ist  nickt  denkbar!  Die  letzten  scheinen  die  ersten 
geworden  zn  sein,  und  die  ersten  miissen  zufrieden  sein, 
wenn  sie  unter  jenen  iiberhaupt  noch  einen  Platz  find  en! 
Eine  Fiille  von  Fragen  drangt  auf  uns  ein,  wenn  wir  iiber 
diesen  Wechsel  nachzusinnen  uns  anschicken.  Ist  diese 
Vertauschung  nicht  vielmehr  eine  Unifizierung ,  d.  h.  eine 
Zusammenziehung  des  doppelten  Religionsbegriffs  zu  einem 
einzigen?  Oder  ist  sie  vielleicht  gar  eine  Sakularisierung 
der  Religion?  Entzieht  sie  nicht  der  Religion  ihr  eigen- 
tumliches  Leben?  Weiter,  bedeutet  sie  nicht  eine  furcht- 
bare  Verstarkung  des  autoritativen  Elements  in  der  Religion, 
das  sie  an  die  Stelle  eignen  Erlebens  setzt?  Das  ist  die 
eine  Reihe  der  Fragen;  aber  auch  eine  andre  taucht  auf. 
Hat  nicht  schon  Augustin  oder  doch  sicherlich  Paulus  den 
neuen  Religionsbegriff?  Wie  steht  es  mit  dem  ganzen 
altesten  Christentum?  Gelten  im  Katholizismus  wirklich 
Inspiration  und  Heiligkeit  allein  als  die  konstituierenden 
Faktoren  der  Religion?  Ist  nicht  schon  in  ihm  eine 
kompliziertere  Auffassung  vorhanden?  Diese  Fragen  sollen 
uns  in  den  folgenden  Artikeln  beschaftigen.  Hier  moge 
zum  Schlusse  eine  geschichtliche  Parallele  stehen. 

Nicht  durch  die  Reformation  sind  zum  erstenmal  in 
der  Religionsgeschichte  die  letzten  die  ersten  geworden. 
Im  ersten  Jahrhundert  der  Kirchengeschichte  hat  sich 
schon  einmal  ein  ahnlicher  ProzeB  abgespielt.  Um  die 


302  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  V. 

zahlreichen  Synagogen  im  romischen  Reiche  fanden  sich 
iiberall  heidnische  Proselyten  gesch.art,  sie  hielten  das  Ge- 
setz  nicht,  sondern  nnr  einige  wenige  G-ebote  desselben, 
aber  sie  glaubten  an  den  einen  geistigen  Gott,  an  seine 
Vorsehung  und  an  sein  Gericht;  sie  suchten  ein  tugend- 
haftes  Leben  zu  fiiliren  und  fafiten  alle  Erzahlungen  des 
Alten  Testaments  geistig.  Sie  galten  nicht  als  voile  Juden, 
nicht  als  wirkliche  Sohne  Abrahams;  aber  man  sagte  ihnen, 
dafi  sie  als  Juden  zweiter  Ordnung  auch  Aussichten  auf 
ein  bescheidnes  Erbe  hatten.  Da  kamen  die  christlichen 
Missionare  und  verkiindigten  ihnen,  dafi  gerade  sie  die 
rechten  Kinder  Israels  seien,  dafi  unter  der  Bedingung 
des  Glaubens  an  Christus  ihr  Verhalten  dem  Gesetz  und 
dem  Alten  Testamente  gegeniiber  das  richtige  und  gott- 
gewollte  sei,  ja  dafi  es  geradezu  Siinde  sei,  Zeremonial- 
gesetze  zu  beobachten.  Das,  was  bisher  fur  Religion  erster 
Ordnung  gegolten  —  das  punktliche  Halten  ernes  Zere- 
monial-  und  Kultusgesetzes  — ,  wurde  gestiirzt,  und  die 
Religion  zweiter  Ordnung  —  eine  Vergeistigung,  aber  in 
gewissem  Sinne  auch  eine  Sakularisierung  supranaturaler 
Grofien  —  riickte  mit  souveraner  Kraft  in  den  Mittelpunkt. 

n. 

Wir  haben  in  dem  ersten  Artikel  das  Problem  scharf 
zu  bestimmen  versucht,  indem  wir  es  also  formulierten: 

Die  Reformation  bedeutet  einen  epochemachenden  Um- 
schwung  in  der  Religionsgeschichteiiberhaupt;  denn  Luther 
hat  das,  was  man  bisher  fur  das  Wesen  der  Religion  hielt, 
als  voriibergehende  oder  sekundare  oder  gar  als  bedenk- 
liche  Erscheinung  betrachtet,  und  er  hat  das,  was  bisher 
als  abgeleitete  Wirkung  der  Religion  gait,  als  ihr  Wesen 
beurteilt,  oder  doch  den  Anstofi  zu  solchen  Beurteilungen 
gegeben. 

Als  das,  was  man  bisher  fur  das  Wesen  der  Religion  ge- 
halten  hatte,  bezeichneten  wir  die  Inspiration  und  das  engel- 


Bedeutung  der  Eeformation  innerhalb  der  allg.  Eeligionsgescliiclite.  303 

gleiche  Leben;  als  das,  was  Lntlier  dafur  eingesetzt,  den 
Erlosungs-  und  Vorsehungsglauben. 

Bevor  wir  die  Fragen  erortern,  die  die  Erkenntnis 
dieses  Umschwungs  hervorruft,  wollen  wir  uns  die  Ver- 
schiedenheit  der  Frommigkeit,  wie  sie  sich  hier  und  dort 
darstellt,  vergegenwartigen.  Auf  beiden  Seiten  schildern 
wir  ihre  klassische  Gestalt: 

Dort  ist  es  das  Innewerden  der  Gottheit,  das  alles  be- 
herrscht;  nicht  nur  der  Geist  und  die  Seele,  sondern  auch 
die  geheiligten  Sinne  nehmen  sie  wahr:  Gott  wird  gefiihlt, 
gehort,  geschaut  und  geschmeckt.  Diese  iiberwaltigenden 
Erfahrungen  reifien  den  Frommen  aus  der  Welt  heraus  und 
fiihren  ilin  hock  uber  sie.  Er  kann  gar  nicht  mehr  in  und 
mit  der  Welt  leben  oder  vielmehr  —  nur  die  irdischen 
Dinge  bleiben  ihm  ubrig,  die  Gott  als  Mittel  erwahlt  hat, 
urn  sich  ihm  erkennbar  zu  machen:  die  heilige  Speise,  das 
Kruzifix,  der  Geifielstrick,  der  arme  Bruder.  Aber  wer  Gott 
nur  in  der  Einsamkeit  vernehmen  kann,  der  muB  in  die 
Wuste  ziehen.  Ein  Unterschied  der  Begabungen  zeigt  sich 
hier:  der  heilige  Antonius,  der  ihn  nur  dort  findet,  und  der 
heilige  Franziskus,  der  ihn  an  der  Sonne,  den  Blumen  und 
den  Fischen,  im  Elend,  in  der  Krankheit  und  im  Hunger 
sich  offenbaren  sieht.  In  der  Sache  ist  kein  Unterschied, 
und  darum  auch  nicht  in  der  Lebensfiihrung.  Sie  beide 
sind  jedem  weltlichen  Beruf  und  jeder  irdischen  Aufgabe 
entriickt:  der  Franziskaner,  der  dem  Hungernden  ein  Siipp- 
lein  erarbeitet,  dem  Miitterchen  das  Holz  abnimmt  und  den 
Pestkranken  pflegt,  sieht  Christus  in  ihnen  und  dient  Christo, 
das  heifit  Gott.  Das  Irdische  ist  \lnrr\  nur  ein  leichter 
Schleier,  hinter  dem  ihn  iiberall  die  Gottheit  selbst  an- 
blickt;  je  tiefer  die  Not  und  Armseligkeit,  um  so  heller 
und  tiefer  ihr  grofies  Auge.  Wie  ein  Traumender  schaut, 
handelt  und  hilft  er.  AuBere  Gefahren  und  Hemmungen 
von  Menschen  gibt  es  eigentlich  nicht  mehr;  aber  zwei 
machtige  Feinde  lauern:  der  Teufel  und  das  Fleisch.  Je 


304  Z welter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze;  V. 

lebendiger  sich  die  Grottheit  zu  erkennen  gibt,  desto  hef tiger 
werden  die  Anlaufe  jener.  Sie  suchen  die  Seele  aus  der 
Gremeinschaft  mit  Grott  zu  reifien;  sie  verdunkeln  seinen 
Lichtglanz  und  stiirzen  den  Greist  in  Finsternis.  Ein  fort- 
wahrender  Kampf  ist  die  Folge,  und  das  Schrecldichste 
ist:  die  Gottheit  scheint  sich  selbst  manchmal  zuriickzu- 
zielien: 

Willst  du  mich  sogleich  verlassen, 

Warst  im  Augenblick  so  nah, 

Dich  umfinstern  Wolkenmassen, 

Und  nun  bist  du  gar  nicht  da. 

Im  Augenblick  noch.  unter  Choren  von  Engeln,  und 
vielleicht  schon  im  nachsten  Moment  unter  Teufeln;  eben 
noch  geborgen  im  Schofie  Grottes,  und  gleich  darauf  ge- 
peitscht  vom  bosen  Feind;  eben  noch  auf  Wolken  schwe- 
bend  als  Seher  und  Prophet  —  ein  Sturz,  und  am  Boden 
kriimmt  sich  ein  zertretner  Wurm. 

In  diesen  Kontrasten  spielt  sich,  aufregend  und  zer- 
marternd,  das  innere  Leben  ab,  und  es  gibt  nur  noch  ein 
inneres.  Aber  all  die  Not  und  Qual  wird  immer  wieder 
ausgeloscht  durch  einen  Moment  wirklichen  Gottesgefiihls. 
In  ihm  erscheinen  auch  die  erlittnen  Anfechtungen  als  ge- 
rechte  Strafen  des  heiligen  G-ottes,  und  man  erkennt,  dafi 
sie  nicht  ausbleiben  konnten. 

Und  nun  vergleichen  wir  damit  den  Frommen  im  Sinne 
Luthers.  Er  hat  die  G-ottheit  nie  geschaut,  und  wenn  er 
sie  gefuhlt  hat,  will  er  sich  auf  dies  Q-efuhl  nicht  verlassen. 
Worauf  er  sich  verlaUt,  das  ist  das  Wort  G-ottes,  das  Evan- 
gelium,  das  ihm  verkiindigt  ist.  Weil  er  dem  Worte  glaubt, 
glaubt  er  an  G-ott,  und  das  Wort  wandelt  seine  unsichern 
oder  schrecklichen  Grottgefuhle  in  ein  trostliches  Wissen 
und  in  eine  lebendige  GrewiGheit.  Zu  wissen  braucht  er 
nur  Eines :  dafi  das  dunkle  und  heilige  Wesen,  dem  gegen- 
uber  er  sich  verantwortlich  und  schuldig  ftihlt,  fur  ihn 
nicht  mehr  der  schreckliche  Richter  ist,  sondern  der  Vater. 


Bedeutung  der  Eefonnation  innerhalb  der  allg.  Keligionsgeschiclite.   305 

Im  Worte,  d.  h.  in,  mit  nnd  unter  Christus,  1st  er  davon 
iiberzeugt  word  en.  Die  Erweckung  dieser  Uberzeugung  ist 
das  grundlegende  und  alles  bestimmende  Erlebnis.  Es  wirkt 
sich  aus  in  dem  kindlichen  Grebet  und  in  der  Zuversicht, 
fortab  bei  Grott  geborgen  zu  sein.  wLafi  dir  an  meiner 
G-nade  geniigen"  nnd  ,,Wir  wissen,  dafi  denen,  die  Grott 
lieben,  alle  Dinge  zum  Besten  dienen"  —  diese  beiden 
Worte  bezeichnen  die  Eigenart  des  innern  Lebens,  das 
nun  entstanden  ist.  In  der  Breite  und  Peripherie  des  ir- 
dischen  Lebens  andert  sich  gar  nichts,  und  auch  nach 
,,hohen  Offenbarungen"  schaut  ein  solcher  Mensch  nicht 
aus.  Es  gibt  nur  eine  Bitte:  ,,Herr,  starke  mir  den  Grlau- 
ben."  Wohl  tritt  die  ganze  Welt  und  der  Weltlauf  in  das 
Licht  des  vaterlichen  Grottes,  ohne  dessen  Willen  kein  Sper 
ling  vom  Dache  fallt;  aber  nichts  Einzelnes  -  -  weder  im 
Sittlichen  noch  im  Physischen  —  erhalt  an  sich  eine  be- 
sondre  Bedeutung;  ja,  grofier  als  die  Sorge,  Grottes  Walten 
iiberall  zu  erkennen,  ist  die  Scheu,  die  G-nade,  die  das  Herz 
fest  macht,  nicht  mit  andern  Eindriicken  und  Erlebnissen 
zu  vermischen:  nFreuet  euch  nicht,  daC  euch  die  Greister 
untertan  sind;  freuet  euch  aber,  dafi  eure  Namen  im 
Himmel  angeschrieben  sind."  Der  Seher,  der  Heilige,  der 
Asket  —  sie  sind  verschwunden;  sie  haben  dem  Grlaubigen 
Platz  gemacht. 

Die  Wirkungen  dieses  Umschwungs  umfassen  den 
ganzen  Bereich  der  Erscheinungen  des  religiosen  Lebens. 
An  die  Stelle  fortwahrender  Erregungen  eines  psychischen 
Reizzustandes  ist  eine  stetige  Stimmung  getreten;  man 
vergleiche  die  Meditationen  und  G-esange  katholischer  My- 
stiker  mit  den  Kreuz-  und  Trostliedern  Paul  Gerhardts! 
Aber  auch  das  Weltbild,  das  dort  und  hier  entsteht,  ist 
ein  ganz  verschiednes :  in  eine  Welt,  die  des  Teufels  ist, 
greift  Grott  hinein  mit  Wundern  und  Zeichen,  offenbart  an 
diesem  und  jenem  seine  leibhaftige  Gregenwart  und  schafft 
mitten  in  der  Welt  der  Siinde  und  des  Todes  eine  z\veite 

H  a  r  n  a  c  k ,  Eeden  nnd  Auf  satze.    2.  Aufl.    H.  20 


306  Z welter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  V. 

Welt  des  Heiligen  —  so  1st  es  dort;  nein,  er  leitet  diese 
Welt  rait  ihrer  Not  und  ikrem  Elend  zu  seinem  Ziele  — 
so  1st  es  Mer. 

Der  ungeheure  Wechsel,  der  bier  entstanden  1st,  mufi 
zunachst  mit  der  ganzen  Starke  des  Kontrastes  empfunden 
werden,  wenn  man  beiden  Teilen  gerecht  werden  will.  Erst 
dann  darf  man  nach  den  geschichtliclien  und  sachlichen  Ver- 
mittlungen  fragen  und  nach  dem  Rechte,  das  jeder  der  beiden 
Auffassungen  gebiihrt.  Wie  fremd  aber  den  evangelischen 
Christen  der  friihere  Religionsbegriff  ge  word  en  1st,  davon 
kann  man  sich  gerade  in  unsern  Tagen  leicht  iiberzeugen. 
Da  alle  geschichtlichen  Erscheinungen  heutzutage  vorur- 
teilsloser,  ich  mochte  sagen  positiver  studiert  werden,  als 
in  dem  Zeitalter  der  philosophischen  Konstruktionen ,  so 
kam  man  auch  dazu,  die  altern  Erscheinungsformen  der 
Religion  sicherer  zu  beobachten  und  genauer  wiederzu- 
geben  als  friiher.  Man  begniigte  sich  z.  B.  nicht  mehr 
damit,  die  Unterschiede  des  Protestantismus  und  Katho- 
lizismus  nach  den  Katechismen  darzustellen  und  das,  was 
nicht  im  Katechisnius  der  katholischen  Kirche  steht,  als 
unerhebliches  Beiwerk  zu  betrachten,  sondern  man  suchte 
die  wirkliche  Lebensgestalt  der  Frommigkeit  zu  ermitteln 
und  sich  klar  zu  machen.  Man  wollte  auch  das  alte  Christen- 
tum  nicht  mehr  nur  an  seiner  Dogmengeschichte  studieren, 
sondern  in  alien  seinen  Erscheinungen  und  an  alien  seinen 
Kundgebungen.  Diese  Versuche  hatten  fur  die,  die  sie  an- 
stellten,  ein  unerwartetes  Resultat.  Es  wurde  uns  mit- 
geteilt,  daB  nun  erst  das  Wesen  der  Religion  entdeckt  sei, 
und  daft  es  mit  der  Religion  eine  ganz  andre  Bewandtnis 
habe,  als  wir  bisher  geglaubt  hatten.  Die  einen  erzahlten 
uns,  dort,  wo  die  Religion  wirklich  lebendig  sei,  sei  sie 
eine  mit  Zauberei  verbundene  Art  von  Manie,  und  man 
miisse  sie  studieren,  wie  man  psychische  Ekstasen  und 
Alchemie  studiert;  sie  lebe  im  Absurden,  gefalle  sich  in 
tausend  seltsamen  Hervorbringungen,  und  wo  sie  anfange 


Bedeutung  der  Reformation  innerhalb  der  allg.  Religionsgeschichte.   307 

verniinftig  zu  werden,  da  sei  ihr  bereits  Fremdes  beige- 
mischt.  Die  andern  aber  berichteten  noch  Uberraschenderes 
von  ihrem  Streifzug  in  das  Land  der  Religion.  Sie  brachten 
im  Unterschied  von  jenen  die  Religion  als  ein  Ghit  nach 
Hanse,  aber  als  ein  Gut,  vor  dem  der  evangelische  Glaube 
nicht  mehr  bestehen  konne.  Sie  teilten  uns  mit,  dafi  Re 
ligion  Inspiration  und  asketische  "Weltnucht  sei.  Es  war 
der  alte  Religionsbegriff  und  die  katholische  Religion,  die 
sie  entdeckt  batten;  aber  sie  wufiten  das  nicht.  So  fremd 
waren  sie  innerlich  dieser  Art  von  Religion  geworden,  dafi 
sie  sie  nicht  einmal  zu  identifizieren  vermochten.  Aber  frei- 
lich,  noch  fremder  standen  sie  der  evangelischen  Religion 
gegenuber;  denn  jene,  wenn  sie  sie  auch  bisher  nicht  ge- 
kannt  hatten,  begriifiten  sie  nun  wie  eine  Offenbarung, 
diese  aber  verblaBte  ihnen  augenblicks  und  schien  iiber- 
haupt  nichts  mehr  zu  sein  als  ein  wesenloser  Schein  oder 
als  ein  verfehltes  geschichtliches  Experiment. 

Unter  der  OberfLache  der  Ereignisse  und  geistigen  Ent- 
wicklungen  bereitet  sich,  soweit  iiberhaupt  die  Religion 
unter  uns  noch  lebend  ist,  eine  erschiitternde  Krisis  vor. 
Es  gilt  dem  Protestantismus ,  es  gilt  dem  evangelischen 
Christentum  in  dem  Grundprinzip  seines  Daseins.  Man  sagt 
uns,  der  Protestantismus  habe  mit  dem  Ultramontanismus 
zu  kampfen  und  es  drohe  ihm  von  diesem  grofie  Gefahr. 
Das  ist  wahr,  aber  diese  Gefahr  ist  nicht  die  hochste.  Viel 
ernster  ist  die  Krisis,  die  iiber  den  evangelischen  Religions 
begriff  selbst  hereinbrechen  wird,  ja  schon  hereingebrochen 
ist.  Es  handelt  sich  zum  zweitenmal  um  eine  Auseinander- 
setzung  mit  dem  Katholizismus ;  denn  der  ?,neue"  Religions 
begriff  ist  in  Wahrheit  der  katholische.  Wie  viele  die  Krisis 
bereits  empnnden,  tut  nichts  zur  Sache.  Um  ihren  An- 
bruch  zu  verkiindigen,  bedarf  es  keines  Propheten  mehr. 
Um  welche  Gegensatze  es  sich  handelt,  haben  wir  in  den 
beiden  Artikeln  kurz  darzustellen  versucht,  in  den  folgen- 
den  soil  sich  die  Beurteilung  anschliefien. 

20* 


308  Z welter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  V. 

in. 

,,Eure  Kurfurstliche  G-naden  weifi  oder  weiJB  niclit,  so 
lasse  Sie  es  Ihr  hiemit  kund  sein,  dafi  ich  das  Evangelium 
nicht  von  Mensehen,  sondern  allein  vom  Himmel  durch 
unsern  Herrn  Jesum  Christum  liabe,  dafi  ich  mich  wohl 
hatte  mogen,  wie  ich.  denn  hinfort  tun  will,  einen  Knecht 
und  Evangelisten  riihmen  und  schreiben." 

So  hat  Luther,  als  er  von  der  Wartburg  zuruckkehrte, 
an  den  Kurfursten  geschrieben.  Selten  und  nur  auf  den 
Hohepunkten  seines  Lebens  hob  sich  sein  reformatorisches 
Bewufitsein  zu  dieser  Hohe;  aber  die  G-ewiGheit  seiner 
christlichen  Erfahrung  und  seines  Berufs,  die  aus  diesen 
"Worten  spricht,  war  doch  das  Fundament  seines  ganzen 
Wirkens.  Die  Kirche,  die  nach  ilim  genannt  worden  ist, 
hat  diese  Uberzeugung  bis  zur  Zeit  der  Aufklarung  fest- 
gehalten.  Man  braucht  nur  an  den  bekannten  Spruch  zu 
erinnern:  ^Grottes  Wort  und  Luthers  Lehr  vergehen  nun 
und  nimmermehr"  und  an  den  Abschnitt  ,,Von  Luthers 
Berufung"  in  lutherischen  Dogmatiken.  Ja  noch  im  acht- 
zehnten  Jahrhundert  hat  der  Grofivater  Jung  Stillings, 
iibrigens  ein  Eeformierter,  seine  Sehnsucht  nach  dem 
Himmel  in  die  Worte  gekleidet: 

,,Ich  erwarte  ohne  Furcht  den  wichtigen  Augenblick, 
wo  ich  von  diesem  schweren,  alten  und  starren  Leib  be- 
freit  werden  soil,  um  mit  den  Seelen  meiner  Yoreltern  und 
andrer  heiliger  Manner  in  eine  ewige  Ruhe  eingehen  zu 
konnen.  Da  werd  ich  finden:  Doktor  Luther,  Calvinus, 
Okolampadius ,  Bucerus  und  andre  mehr,  die  mir  unser 
seliger  Pastor,  Herr  Winterberg,  so  oft  geriihmt  und  ge- 
sagt  hatte,  dafi  sie  nachst  den  Aposteln  die  frommsten 
Manner  gewesen." 

Der  Mafistab,  nach  dem  die  Frommigkeit  und  die  Be- 
deutung  dieser  Reformatoren  hier  gemessen  ist,  war  nicht 
die  Inspiration  oder  die  asketische  Heiligkeit,  sondern  ihr 


Bedeutung  der  Eeformation  innerhalb  der  allg.  Religionsgeschichte.   309 

G-laube.  Weil  sie  den  rechten  G-lauben  auf  den  Leuchter 
gestellt  nnd  den  Weg  zu  ihm  gewiesen  haben,  danun 
haben  sie  ein  apostelgleiches  Ansehen. 

Der  alte  Stilling  hatte  ganz  richtig  empfunden.  Es 
war  durch  jene  Manner  im  sechzehnten  Jahrhundert  wirk- 
lich  etwas  geschehen,  dem  sich  kein  Vorgang  aus  der  frii- 
heren  Geschichte  der  Kirche  an  die  Seite  setzen  liefi.  Ent- 
weder  waren  sie  Verstorer  oder  trotz  aller  personlichen 
Schwachen  Manner,  denen  ein  Platz  neben  Paulus  gebiihrte. 
Aber  waren  sie  nicht  Verstorer?  Das  ist  eine  ernste  Frage. 
Je  nnd  je  sind  im  Q-ebiet  des  Katholizismus  Manner  auf- 
getreten,  die  den  doppelten  Religionsbegriff,  wie  er  dort 
herrscht,  unertraglich  fanden  und  zu  einem  einzigen  zu- 
sammenzielien  wollten.  Aber  dann  war  es  stets  der  monchi- 
sche,  den  sie  allein  gelten  lieflen,  und  dem  die  Religion 
der  in  der  Welt  stehenden  Christen,  die  G-laubensreligion, 
als  eine  halbschlachtige  und  unwerte  weichen  sollte.  So  offc 
sich  solche  Propheten  erheben,  zuletzt  noch  Tolstoi  und  vor 
ihm  der  Protestant  Kierkegaard,  geht  ein  Zittern  durch 
die  ganze  Christenheit.  Wo  nur  immer  ernstere  Christen 
sind,  da  regt  jene  Verkiindigung  alle  Tiefen  der  Religion 
auf,  erschiittert  die  Grewissen  und  entfesselt  Sturme  in  den 
Abgriinden  der  Seele.  Jene  Manner  aber  des  sechzehnten 
Jahrhunderts  suchten  die  Einheit  zu  schaffen,  indem  sie 
die  G-laubensreligion  zur  einzigen  erhoben.  G-ewifi,  darin 
liegt  eine  Art  von  Sakularisierung  der  Religion  mit  den 
schwersten  Grefahren.  Haben  sie  alle  die  lebendigen,  sinn- 
lich-iibersinnlichen  Empfindungen  der  Frommigkeit  fur 
gleichgiiltig  oder  nebensachlich  oder  bedenklich  erklart, 
haben  sie  das  Opfer  abgelehnt,  das  in  der  Darbringung 
des  ganzen  weltlichen  Lebens  besteht,  so  haben  sie  un- 
zweifelhaft  ein  gewagtes  Spiel  gespielt.  Wo  ist  dann  noch 
die  Religion?  Ist  ihr  nicht  ihr  eigentiimliches  Leben  ent- 
zogen?  Ist  es  nicht  sehr  bequem,  Religion  zu  haben,  wenn 
sie  nichts  andres  ist  als  die  Weiterfiihrung  des  taglichen 


310  Zweiter  Band,  zweite  Abteiluiig.     Aufsatze:  Y. 

Lebens,  wie  man  es  lebt,  nur  begleitet  von  einem  ratsel- 
haften  Glauben,  der  selbst  nur  auf  Treue  und  Glauben 
hingenommen  wird  —  ohne  Feuer  in  der  Seele,  ohne  Furcht 
nnd  Zittern  im  Gewissen,  ohne  Energie  in  der  Tat? 

Ja,  das  ist  die  G-efahr!  Aber  Gefahren  entscheiden 
nicht  iiber  das  Recht  und  die  Wahrheit  einer  Sache.  Mit 
„  Gefahren"  konnen  wir  auch  von  der  andern  Seite  reich- 
lich  aufwarten;  denn  Religion  ist,  wie  man  sie  auch  nimmt, 
immer  ,,gefahrlich".  Oder  sind  die  Saulenheiligen ,  die 
G eifilerbruderschaften ,  die  Ertotung  des  Lebens,  die  Yer- 
6'dung  der  ganzen  Schopfung  und  wiederum  die  Ausbriiche 
ekstatischer  Leidenschaffc ,  die  Raserei  der  Seele,  die  Blen- 
dung  des  Verstandes,  die  Verkehrung  aller  Vernunft  — 
sind  das  alles  keine  Gefahren?  Von  den  Gefahren  wollen 
wir  daher  absehen.  Dagegen  bietet  sich  sofort  ein  andrer 
Mafistab  der  Beurteilung  an.  Wie  steht  es  mit  den  Friich- 
ten  dort  und  hier?  Nun,  man  darf  wohl,  ohne  sich  dem 
Vorwurf  der  Parteilichkeit  auszusetzen,  behaupten,  daJS  es 
mit  ihnen  bei  den  protestantischen  Yolkern  mindestens 
nicht  schlimmer  steht  als  bei  den  katholischen.  Allein 
dieser  MaCstab  ist  doch  nicht  ohne  weiteres  brauchbar; 
denn  man  kann  ihm  entgegenhalten,  es  miisse  zuvor  unter- 
sucht  werden,  was  bei  jenen  wirklich  aus  ihrem  evangeli- 
schen  und  bei  diesen  aus  ihrem  katholischen  Christentum 
geflossen  ist.  Das  ist  eine  schwierige,  wenn  auch  nicht 
aussichtslose  Untersuchung,  und  da-rum  mufi  sie  hier  bei- 
seite  bleiben.  Es  fragt  sich,  ob  nicht  die  richtige  Beur 
teilung  aus  der  Sache  selbst  gewonnen  werden  kann. 

,,Mihi  adhaerere  Deo  bonum  est"  (Q-ott  anhangen,  das 
ist  mein  Grut)  —  in  diesem  Satze  liegt  doch  wohl  das  G-e- 
meinsame,  was  die  beiden  Standpunkte  verbindet,  sofern 
sie  wirklich  Religion  sind  und  nicht  leere  Ekstase  oder 
toter  ,,Glaube".  Wo  aber  der  Gredanke  des  von  der  Welt 
unterschiednen ,  lebendigen  Gottes  sich  der  Seele  bemach- 
tigt  hat  und  als  Wirklichkeit  festgehalten  wird,  da  ist 


Bedeutung  der  Reformation  innerhalb  der  allg.  Keligionsgeschichte.   311 

immer  Inspiration,  und  zugleich  spaltet  sich  in  dem  Be- 
wuJBtsein  der  natiirliche  und  der  geistliche,  der  alte  Tind 
der  neue  Mensch.  In  dieser  Erfahrung,  die  durch  das  Gre- 
bet  bejaht  und  gekraftigt  wird,  ist  zwischen  dem  Eksta- 
tiker,  wenn  anders  er  in  Grott  lebt,  und  dem  schlichtesten 
evangelischen  Christen  kein  Unterschied.  7,Wir  haben  nicht 
empfangen  den  Greist  der  Welt,  sondern  den  Greist  aus 
G-ott,  dafi  wir  wissen  konnen,  was  uns  von  Grott  gegeben 
ist"  —  der  niichternste  Lutheraner  mufi  in  diesem  Be- 
kenntnis  sein  eignes  sehen,  oder  seine  Heligion  ist  iiber- 
haupt  keine.  Und  nicht  anders  ist  es  in  bezug  auf  die 
Lebensfuhrung:  in  der  Bitte  um  ein  reines  Herz  und  in 
dem  kraftigen  Streben  nach  Freiheit  von  der  Welt  treffen 
sich  die  Standpunkte. 

Aber  doch  ist  der  Unterschied  noch  ein  sehr  grower. 
Dort  bleibt  der  innere  Sinn  scheinbar  lebendiger  und  inni- 
ger  an  der  Wirklichkeit  Grottes  haffcen,  und  darum  stofit 
er  die  Welt  ab  als  einen  eklen  Schein  oder  als  die  Beute 
des  Todes.  Hier  dagegen  scheint  die  Kraftigkeit  des  Er- 
lebnisses  schwacher  zu  sein;  denn  jene  Energie  offenbart 
sich  nicht  so  sinnenfallig.  Nein  —  sie  ist  nicht  schwacher, 
sondern  starker;  denn  sie  ist  mit  dem  klarsten  Bewufitseir 
bezogen  auf  einen  Punkt:  Frieden  in  Q-ott,  der  die  Schuld 
vergibt  und  die  Seele  bewahrt.  Alles  ubrige  fallt  ab  und 
wird  bedeutungslos  gegenuber  diesem  Herzstiick.  Selbst 
die  ,,hohen  Offenbarungen"  stiirzen  zusammen  und  werden 
gleichgiiltig  fur  einen  Menschen,  dem  Grott  aufgegangen 
ist  als  die  gnadige  Macht,  die  den  innern  Zwiespalt  auf- 
hebt,  und  als  der,  der  seine  Fliigel  breitet  iiber  sein  Kind. 

Einst  offenbarte  sich  die  Grottheit  den  Menschen  an 
heiligen  Zeichen,  an  Zeremonien  und  an  einer  Kultusord- 
nung.  Fiirwitz  und  Torheit  ware  es,  zu  leugnen,  dafi  sie 
nicht  wirklich  an  ihnen  empfunden  wurde.  Aber  als  die 
Zeit  erfullt  war,  wurden  dieselben  Zeremonien  und  dieselbe 
Kultusordnung  als  Grotzendienst  erkannt.  Einst  offenbarte 


312  Z-w«iter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  V. 

sich  die  Gottheit  den  Menschen  in  einer  Fiille  erhabner 
G-efiihle,  in  iiberschwenglichen  Erlebnissen,  und  in  der 
Wiiste  der  Askese  leuchtete  ihr  Feuer.  Fiirwitz  nnd  Tor- 
heit  ware  es  zu  lengnen,  daB  sie  nicht  wirklich  in  ihnen 
empfunden  wurde,  ja  noch  empfunden  wird.  Aber  als  die 
Zeit  erfiillt  war,  wurden  dieselben  erhabnen  G-efiihle  und 
uberschwenglichen  Erlebnisse  eine  geringe  Sache  gegeniiber 
dem  schlichten  Bekenntnis :  ,,Ich  glaube  an  Gott,  der  Siinde 
vergibt,  und  ich  befehle  mich  in  seine  Hande." 

1st  Luther  wirklich  im  absoluten  Sinn  der  Erste  ge- 
wesen,  der  der  Religion  diese  Wendung  gegeben  und  ihren 
Bereich  und  ihre  Form  durchgreifend  korrigiert  hat?  Dann 
ware  er  Religionsstifter  im  vollen  Sinne  des  Worts.  Das 
ist  er  nicht  gewesen;  denn  das,  was  er  in  der  Kirchen- 
geschichte  vollzogen  hat,  ist  nur  die  Enthullung  dessen, 
was  in  der  Weltgeschichte  langst  aufgeleuchtet,  aber  wieder 
verdunkelt  war. 


IV. 

Vor  bald  zwei  Jahren  schrieb  ich  in  einer  wissen- 
schaftlich-theologischen  Zeitschrift : 

,,Wenn  nicht  alles  triigt,  gehen  wir  in  bezug  auf  die 
Erklarung  und  geistige  Vermittlung  des  Urchristentums 
und  der  altesten  Kirchengeschichte  einer  Epoche  entgegen, 
die  man  als  altertumelnde  bezeichnen  darf.  Im  G-egensatz 
zu  jener  Betrachtung,  die  die  geistigen  Hohepunkte  einer 
geschichtlichen  Erscheinung  hervorhebt,  werden  wir  an- 
gewiesen,  vielmehr  ihre  breite  Basis  und  substanzielle 
Natur  zu  studieren.  Aus  dem  "Wurzelgenecht,  aus  Stamm 
und  Rinde  sollen  wir  Bliite  und  Frucht  bestimmen.  Wir 
werden  gewiO  viel  dabei  lernen;  aber  mogen  die  Zukunf- 
tigen  besonnene  Lehrer  bleiben,  sonst  gibt  es  einen  vor- 
zeitigen  Riickschlag.  Die  teleologische  Betrachtung  der 
geschichtlichen  Erscheinungen  ist  die  entscheidende.  Nur 


Bedeutung  der  Eeformation  innerhalb  der  allg.  Religionsgeschiclite.   313 

sofern  sich  etwas  aus  seinen  Urspriingen  losgerungen  hat, 
1st  es  eine  Macht  geworden." 

Der  Unfug,  der  auch  sonst  in  der  modernsten  Gre- 
schiclitsclireibung  mit  dem  ^Milieu"  getrieben  wird  —  die 
Sache  1st  so  wenig  anziehend  wie  das  Wort  — ,  dringt 
auch.  in  die  Kirchengeschichte  ein  und  wird  uns  dort  als 
die  7,reKgionsgeschichtliche  Betrachtung"  empfohlen.  In 
dem  ^Milieu"  werden  dann  nock  die  barocken  Ziige  mit 
besonderm  Eifer  aufgesucht  und  so  erklart,  als  hatte  in 
ihnen  das  eigentliche  Leben  pulsiert.  Wie  ware  es,  wenn 
heute  einer  in  unsre  Kirchen  trate  und  daselbst  dekorative 
Frachtguirlanden,  spielende  Engel  u.  dergl.  ins  Auge  fafite, 
punktlich  nachwiese,  woher  diese  Dinge  kommen,  und  nun 
behauptete,  die  G-emeinde  huldige  noch  einem  heimlichen 
Naturdienst?  Oder  wenn  er  die  religiosen  Bilder,  die  wir 
brauchen,  mit  vieler  Q-elehrsamkeit  auf  ihre  Urspriinge 
zuruckfuhrte,  um  dann  zu  erklaren,  die  babylonisch-assy- 
rische  Eeligion  sei  unter  uns  noch  nicht  ausgestorben? 
Nicht  wesentlich  anders  mutet  uns  manches  an,  was  wir 
heute  iiber  Religionsgeschichte  und  naher  uber  das  Ur- 
christentum  zu  lesen  bekommen,  oder  was  uns  angekiindigt 
wird.  Wer  sich  dagegen  einen  Sinn  fur  das  Produktive 
und  Fortwirkende  in  der  Q-eschichte  bewahrt  hat,  der  wird 
bei  allem  Interesse  fur  die  Formen  Schale  und  Kern  nie 
verwechseln  konnen.  — 

Wir  haben  den  vorigen  Artikel  mit  der  Behauptung 
geschlossen,  Luther  sei  nicht  der  erste  gewesen,  der  jene 
Wendung  in  der  Religionsgeschichte  herbeigefiihrt  habe, 
die  durch  das  Bekenntnis  kurz  bezeichnet  ist:  wlch  glaube 
an  Q-ott,  der  Siinde  vergibt,  und  ich  befehle  mich  in  seine 
Hande";  wohl  habe  er  zuerst  in  der  Kirchengeschichte  die 
christliche  G-emeinde  ausschliefilich  auf  dies  Bekenntnis 
gestellt,  aber  er  habe  damit  nur  etwas  enthullt  und  in 
Kraft  gesetzt,  was  lange  vor  ihm  bereits  vorhanden  ge 
wesen  sei. 


314  Z welter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  V. 

Auf  wen  wir  damit  abzielten,  konnte  wohl  niclit 
zweifelhaffc  sein.  Der  Herr  selbst  hat  diese  Religion  ver- 
kiindigt.  Q-ewifi,  er  hat  nichts  aufgelost  von  der  vater- 
lichen  Religion,  und  so  mogen  uns  jiidische  und  christliche 
Rabbiner  belehren,  daB  er  eben  nur  ein  Jude  gewesen  sei. 
Oder  es  mogen  andre  kommen  und  uns  sagen,  seine  Ver- 
kiindigung  sei  nichts  andres  gewesen  als  eine  erschiitternde 
Predigt  von  dem  Grericht  und  dem  zukiinftigen  Q-ottesreich, 
in  dem  man  mit  Abraham,  Isaak  und  Jakob  zu  Tische 
sitzen  werde.  Oder  es  mogen  die  Dritten  erklaren,  die 
Botschaft  von  der  bessern  G-erechtigkeit,  d.  h.  von  dem 
neuen  Q-esetze,  sei  der  eigentliche  Inhalt  seiner  Predigt. 
Diese  sind  der  Wahrheit  schon  nahe  gekommen,  aber 
verfehlt  haben  sie  sie  auch;  denn  das  Hauptstiick  seiner 
Predigt  ist  der  Grott,  der  Siinde  vergibt  und  die  Haare 
auf  dem  Haupte  gezahlt  hat.  Darum  sind  der  Zollner  im 
Grleichnis  vom  Pharisaer  und  Zollner  und  ,,der  verlorne 
Sohn"  die  grofien  Paradigmen  seiner  Religion. 

Wie  kann  man  das  beweisen?  Nun,  aus  der  Sache 
selbst  und  aus  der  Entwicklung,  die  sie  in  den  achtzehn 
Jahrhunderten  genommen  hat.  Aus  der  Sache  selbst; 
denn  es  ist  unmoglich,  dafi  jene  Verkiindigung  ein  neben- 
sachliches  Element  darstellt.  Mag  sie  von  noch  so  ver- 
schiednen  Momenten  begleitet  und  in  sie  verflochten  ge 
wesen  sein:  wo  sie  iiberhaupt  ist,  ist  sie  das  Hauptstiick; 
denn  alle  iibrigen  haben  neben  ihr  etwas  Fragmentarisch.es 
und  Unstetiges.  Aber  sie  tritt  auch  in  der  Predigt  Jesu 
mit  souveraner  Kraft  hervor.  Jiingst  ist  ein  herrliches 
Buch  erschienen:  Jiilicher,  Die  Grleichnisreden  Jesu 
(Freiburg,  1899).  Dreiundfunfzig  G-leichnisse  und  Parabeln 
sind  hier  ihrem  urspriinglichen  Sinn  zuriickgegeben,  gegen- 
iiber  jener  Exegese,  die  viele  Kiinste  treibt  und  nur  weiter 
vom  Ziele  kommt.  Dieses  Buch  sollte  in  den  nachsten 
Monaten  von  alien  Theologen  gelesen  werden;  denn  besser 
als  irgend  ein  andres  ruft  es  zur  Erkenntnis  des  Wesent- 


Bedeutung  der  Eeformation  innerhalb  der  allg.  Religionsgesehichte.   315 

lichen.  Es  wird  die  Zuversicht  zu  dem  wevangelischenu 
Glauben  beleben  und  starken,  zu  jener  Uberzeugung,  dafl 
der  demiitige  Kindessinn  gegeniiber  dem  Vater  im  Himmel 
in  der  Gewifiheit  seiner  G-nade  und  seines  Schutzes  das 
G-eheimnis  der  christlichen  Religion  ist,  das  den  Weisen 
und  Klugen  verborgen,  aber  den  Unmiindigen  geoffenbart 
ist.  Und  die  Geschichte  dieser  Religion  —  was  lehrt  sie 
anderes  vom  Urchristentum  an  bis  zu  Augustin,  von  Augu- 
stin  zu  Franziskus,  von  Franziskus  zu  Luther,  als  die 
Enthiillung  dieses  Evangeliums  ?  Gewifi,  man  kann  in  der 
Geschichte  sehr  verschiedne  Linien  konstruieren  mit  ganz 
verschiednen  Effekten.  Aber  nach  mlihsamen  Experimenten 
kehrt  man  zuletzt  zu  der  Lime  zuriick,  die  die  Geschichte 
selbst  mit  ehernen  Ziigen  auf  ihre  Tafeln  eingegraben  hat. 
Sie  schreibt  auch  allerlei  daneben,  und  die  Gelehrten  solleii 
es  lesen;  aber  sie  fuhrt  nicht  irre. 

Im  Urchristentum  entwickelte  sich  mit  einem  Schlage 
alles  zur  hochsten  Kraft,  was  irgendwie  Religion  des 
Heiligen  war.  Die  apokalyptischen  und  eschatologischen 
und  wiederum  die  weltfliichtigen  und  sittlichen  Elemente 
strebten  empor;  ein  jedes  suchte  an  dem  neuen  Eiiebnis 
Halt  zu  gewinnen  und  den  ganzen  Bereich  des  Religiosen 
allein  auszufiillen.  Aber  mitten  aus  dieser  unruhigen  und 
sturmischen  Bewegung  heraus  vernehmen  wir  den  sichern 
Glockenton:  ,,Wir  wissen,  dafi  denen,  die  Gott  lieben,  alle 
Dinge  zum  Besten  dienen."  ,,~Wer  will  uns  scheiden  von 
der  Liebe  Gottes?"  und  in  dem  hohen  Liede  der  Liebe 
(1.  Kor.  13)  schwingt  sich  der  grofie  Apostel  uber  alle 
Propheten  und  iiber  alle  Virtuosen  der  Selbstaufopferung. 

In  der  ?,Kirche"  hat  man  das  nicht  uberhort,  aber 
nicht  so  gehort,  wie  sich's  gebiihrt.  Sie  stellte  sich  bald, 
ja  eigentlich  von  Anfang  an,  auf  andre  Grundlagen.  Eine 
kompliziertere  Struktur,  als  diese  Kirche  schon  nach  drei 
Menschenaltern  aufweist,  hat  niemals  eine  religiose  G-e- 
meinde  empfangen,  freilich  ein  Beweis  ihrer  Universalitat 


316  Z welter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  V. 

nnd  der  ungeheuern  positiven  Kraft,  mit  der  sie  alles 
Positive  an  sich  zog.  Was  seit  den  Tagen  des  Moses 
und  des  Plato  an  der  Religion  erlebt  nnd  iiber  sie  gedacht 
worden  war,  das  zog  die  Kirche  in  ihren  Organisnms 
hinein,  bildete  es  als  eines  ihrer  Organe  aus  und  benutzte 
es,  sei  es  als  Waffe,  sei  es  als  Klammer.  Das  Zollner- 
bekenntnis,  Rom.  8,  nnd  1.  Kor.  13  waren  dabei  wahrlich 
nicht  vergessen,  aber  die  heilige  Einfalt  und  Schliclitheit 
der  Gresinnung,  von  der  sie  zeugen,  der  sichere  Trost,  den 
sie  gewahren,  und  die  Tatkraffc,  mit  der  sie  das  Herz  er- 
fullen,  waren  niedergehalten. 

Aber  nun  begannen  die  Reduktionen.  Man  kann  nicht 
nur,  man  soil  und  mufi  die  ganze  innere  Religionsgeschichte 
der  christlichen  Kirchen  bis  auf  Luther  beschreiben  als 
eine  Qeschichte,  in  der  sich  das  Evangelium  herausarbeitet 
aus  Apokalyptik,  Eschatologie ,  asketischer  Weltflucht  und 
wiederum  aus  Metaphysik,  Pradestinationslehre,  Kirchen- 
dogmatik,  um  das  innere  Leben  allein  zu  bestimmen.  An 
dem  Bilde  Christi  und  an  seinen  Worten  arbeitete  es  sich 
heraus:  Mittel  und  Zweck  fallen  hier  zusammen.  Soil  ich 
erzahlen,  wie  ein  Clemens  Alexandrinus  innere  Freiheit 
gewinnt  am  Evangelium,  und  wie  sein  dem  Evangelium 
scheinbar  so  fremdes  Ideal  ,,der  wahre  Grnostiker"  ihm 
in  "Wahrheit  so  nahe  gekommen  ist?  Soil  ich  an  Augu- 
stins  ,,Konfessionen"  erinnern,  daran  erinnern,  wie  dieser 
tiefsinnigste  und  gefahrlichste  Spekulant  doch  nahe  daran 
gewesen  ist,  alle  Spekulation  zu  verabschieden :  ,,~Wer  Grlaube, 
Liebe  und  Hoffnung  hat,  hat  alles,  hat  Qott  selbst  und 
bedarf  nichts  anderes,  keine  »0ffenbarungen«,  kein  Monch- 
tum,  kein  Gresetz."  Soil  ich  der  grofien  Wendungen  im 
Monchtum  gedenken,  als  der  Weltschmerz  in  die  G-ottes- 
freude,  das  beschauliche  Leben  in  das  tatige  iiberging,  bis 
zuletzt  Martin  Luther  kam  und  der  Christenheit  den 
Grrund  und  das  Ziel  dieser  ganzen  Entwicklung  enthullte 
und  deutete?  Er  hat  vieles  stehen  gelassen  und  trug,  wie 


Bedeutung  der  Keformation  innerhalb  der  allg.  Beligionsgeschiclite.   317 

wir  alle,  das  Q-ewand  seiner  Zeit.  Aber  er  hat  in  einer 
Q-emeinschaft  von  Millionen  die  Uberzeugung  erweckt,  dafi 
Qott  mit  uns  nicht  anders  handelt  als  durch  den  G-lauben, 
daft  G-ott  das  "Wesen  ist,  auf  das  man  sich  verlassen  kann, 
und  dafi  er  grower  und  giitiger  ist  als  unser  Herz.  Auf 
dieser  Uberzeugung,  mit  Ablehnung  alles  Enthusiasmus7 
und  aller  selbstgewahlten  "Werke,  hat  vor  ihm  niemals  eine 
religiose  G-emeinschaft,  eine  Kirche,  gestanden.  Langst 
war  sie  aufgeleuchtet  —  in  der  Verkiindigung  Jesu  selbst  — , 
darum  ist  Luther  kein  Religionsstifter;  aber  in  der  Kirehen- 
geschichte,  als  die  Grundlage  einer  G-emeinschaffc,  hat  er 
sie  durchgesetzt,  und  in  diesem  Sinn  gebiihrt  ihm  auch 
eine  Stelle  in  der  allgemeinen  Religionsgeschichte. 


V. 

,,Den  einzelnen  Verkehrtheiten  des  Tags,"  sagt  Groethe 
einmal,  7,sollte  man  immer  nur  grofie  weltgeschichtliche 
Massen  entgegensetzen. "  Die  Eorchenhistoriker,  die  zum 
G-liick  noch  nicht  Historiker  eines  Jahrhunderts  sind,  sollen 
das  universalgeschichtliche  Material,  das  ihnen  zu  Gebote 
steht,  brauchen,  um  den  Verkehrtheiten  zu  begegnen,  die 
aus  der  Uberspannung  einzelner  Beobachtungen  und  aus 
der  Tagesmode  entspringen.  Falsche  Querschnitte ,  die  in 
der  Geschichte  gemacht  werden,  werden  als  solche  durch 
richtige  Langendurchschnitte  erwiesen.  In  diesen  taucht 
oft  gar  nicht  oder  an  ganz  untergeordneter  Stelle  auf,  was 
im  willkiirlich  gemachten  Querdurchschnitt  sehr  bedeutend 
erscheint.  Ein  Beispiel:  es  ist  nicht  schwer,  an  einer  be- 
stimmten  Stelle  der  Kirchengeschichte  einen  Querschnitt 
so  durchzulegen,  dafi  der  Engelglaube  als  eines  der  wich- 
tigsten  Stiicke  in  Lehre,  Kultus  und  Leben  hervortritt; 
aber  jeder  Langendurchschnitt,  den  man  an  der  Kirchen 
geschichte  vollzieht,  wird  beweisen,  dafi  jener  Grlaube  ein 
hochst  untergeordnetes  Moment  gewesen  ist.  Das  Produk- 


318  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  V. 

tive,  Fortwirkende  nnd  darum  Wesentliche  in  der  Gre- 
schichte  lafit  sich  immer  nur  an  ihrem  Verlaufe  ermitteln 
und  studieren;  in  der  groBen  Frage,  die  uns  hier  beschaf- 
tigt,  legt  dieser  Verlauf  Zeugnis  dafiir  ab,  dafl  das,  was  in 
der  Predigt  des  Herrn  die  Hauptsache  war,  auch  das  sich 
durchringende  Hauptstuck  geblieben  ist,  aber  erst  durch 
Lnther  das  ausschliefiliche  Fundament  einer  religiosen  Gre- 
meinde  wurde. 

Ist  das  geschichtliche  Urteil  an  der  Erkenntnis  des 
Verlaufs  der  Greschichte  gereiffc,  so  wird  es  auch  Sich.erh.eit 
gewinnen  in  der  Abstaining  und  Wiirdigung  der  charakte- 
ristischen  Momente  eines  bestimmten  Zeitalters.  Ich  wahle 
wiederum  ein  Beispiel.  Nichts  scheint  sicherer  zu  sein  als 
die  Tatsache,  dafi  die  Christen  des  zweiten  Jahrhunderts 
von  einem  massiven  ,,G-eistes"-,  Geister-  und  Damonen- 
glauben  so  beherrscht  waren  und  so  sehr  in  einer  Welt 
von  Visionen,  Wundern  und  Mirakeln  lebten,  daJB  daneben 
alles  andre  unkraftig  war,  oder  doch  nur  ein  streng  auto- 
ritatives  Kirchentum,  das  die  Enthusiasten  in  Schranken 
hielt,  aufzukomnien  vermochte.  Sieht  man  aber  naher  zu, 
so  gewahrt  man  erstens,  daB  jene  Welt  der  Ekstase  und 
der  Wunder  den  Christen  damals  keineswegs  eigentumlich 
gewesen  ist,  sondern  ein  gemeinsames  Merkmal  des  Zeit 
alters  gebildet  hat,  zweitens,  dafi  sich  die  ernsteren  Christen 

—  und  uberall  diirfen  nur  sie  in  Betracht  gezogen  werden 

—  nicht  unbedingt  auf  jene  Erscheinungen  verlassen  haben, 
und  drittens,  daU  das  Erlebnis,  durch  die  Grottesoffenbarung 
Siindenvergebung,    sichere  Freudigkeit   und   die   Kraft   zu 
einem  sittlichen  Leben  gewonnen  zu  haben,  das  eigentliche 
Hauptstiick   ihres    neuen  Bewufitseins    gewesen  ist.     Diese 
Erkenntnis  getraue  ich  mir  gegen  jedermann  streng  histo- 
risch  zu  erweisen.     Ist  dem  aber  so,   dann  legt  auch  das 
zweite  Jahrhundert  Zeugnis  dafur   ab,    dafl  Luther  etwas 
zum  Fundament  der  G-emeinde  gemacht  hat,  was  schon  in 
den  friihern  Jahrhunderten  die  hinter  den  Ekstasen  einer- 


Bedeutung  der  Eeformation  innerhalb  der  allg.  Eeligionsgeschichte.    319 

seits  and  deii  Kirchenlehren  andrerseits  ruhcnde  Kraft  ge- 
wesen  und  aus  der  Predigt  Jesu  Christi  geflossen  1st. 

Aber,  wendet  man  ein,  es  mag  mit  dem  Religions- 
begriff  Luthers  oder  selbst  des  Herrn  wie  immer  stehen  — 
entsprungen  sei  er  schliefllich  doch  aus  jener  primitiven 
Religion  des  Pathos  und  des  Enthusiasmus ;  daher  miisse 
er  entweder  diese  Zuge  noch  tragen  oder  sei,  wenn  sie  ihm 
fast  ganz  fehlen,  als  ein  schwachlich.es  Endprodukt  zu  be- 
urteilen.  Dieser  Einwand  verlangt  eine  besondre  Beaeh- 
tung;  denn  in  ihm  steckt  der  Grundfehler  der  entwick- 
lungsgeschichtlichen  Methode  in  ihrer  Anwendung  auf  die 
Greschichte. 

Wir  leugnen  das  Recht  der  entwicklungsgeschicht- 
lichen  Methode  nicht,  aber  wir  fordern,  dafi,  wer  sie  an- 
wendet,  seinen  Blick  scharfe  und  befreie  und  sich  nicht 
bei  einfaltigen  Betrachtungen  beruhige.  Die  Entwicklung 
verlauft  doch  nicht  nur  in  auf-  oder  absteigenden  konti- 
nuieiiichen  Linien,  sondern  sie  steigert  sich  an  den  Knoten- 
punkten  zu  Metamorphosen.  In  der  Naturgeschichte  1st 
uns  diese  Tatsache  ganz  gelaufig:  aus  der  Raupe  wird  der 
Schmetterling,  der  unter  vollig  andern  Lebensbedingungen 
steht  wie  die  Raupe.  Kame  heute  jemand  und  teilte  uns 
als  neuste  und  tiefste  Weisheit  mit,  der  Schmetterling 
konne  gar  nicht  fliegen,  da  ja  die  Raupe  nur  gekrochen 
sei,  man  miisse  deshalb  den  Mug  des  Sommervogels  wider 
den  Augenschein  als  eine  Art  gesteigerten  Kriechens  be- 
urteilen,  so  wiirden  wir  seine  ,,entwicklungsgeschichtliche 
Betrachtung"  fur  Unsinn  erklaren  und  ihn  auslachen.  1st 
es  in  der  Geschichte  anders?  Dennoch  lachen  dort  nur 
wenige,  wenn  ihnen  als  das  Ergebnis  ,,entwicklungsge- 
schichtlicher  Studien"  mitgeteilt  wird,  es  gebe  keinen  freien 
Willen,  denn  einst  habe  es  nur  einen  unfreien  gegeben,  es 
gebe  keine  Religion  ruhiger  und  stetiger  Zuversicht,  denn 
einst  habe  es  nur  eine  pathetische  gegeben,  die  Religion 
habe  nichts  mit  dem  Sittlichen  zu  tun,  denn  einst  sei  sie 


320  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  V. 

von  ihm  ganz  getrennt  gewesen.  Solange  sich  die  Ent- 
wicklungshistoriker  noch  nicht  davon  iiberzeugt  haben,  dafl 
die  Dinge  innerhalb  der  Entwicklung  anders  werden,  dafi 
Bewufltsein  und  Willenskraft  sich  transformieren,  ja  dafi 
ein  nenes  psychologisch.es  Vermogen  sich  entwickelt,  das  so 
sicher  funktionieren  kann  wie  eine  primitive  Naturkraffc  — 
solange  wirken  sie  verwirrend  und  gemeinschadlich.  Dem 
heutigen,  durch  die  Greschichte,  d.  h.  durch  die  christliche 
Religion  wirklich  erzognen  Menschen  ist  das  Sittengesetz 
als  natiirliches  Gresetz  in  das  Herz  geschrieben;  es  ist  zur 
Natur  seiner  verniinftigen  Seele  ge  word  en,  und  er  kann  es 
schlechterdings  nicht  los  werden.  DaB  das  fruher  nicht  so 
war,  liegt  am  Tage,  aber  deshalb  den  heutigen  Tatbestand 
leugnen  wollen,  ist  ein  verkehrtes  Unterfangen.  Die  dilet- 
tantische  Rede  vom  7,"Ubermenschen"  hat  ihr  gutes  Eecht, 
nur  sucht  sie  ihn  am  falschen  Ort.  Der  ^Ubermensch"  ist 
langst  da:  die  Greschichte  des  sittlichen  Menschen  ist  seine 
Entwicklungsgeschichte  —  die  Greschichte  des  sittlichen 
Menschen  im  Bunde  mit  dem  Q-ott,  der  sich  ihm  nicht 
mehr  als  geheimnisvoll  sturmische  Macht,  sondern  als 
Norm,  Kraft  und  Schutz  seines  sittlichen,  iiberweltlichen 
Daseins  offenbart. 

In  dieser  Betrachtung  sind  wir  zum  Kern  der  Frage 
gelangt,  die  uns  hier  beschaftigt;  denn  das,  was  durch 
Luther  zum  ausschliefilichen  Fundament  einer  religiosen 
Q-emeinde  gemacht  worden  ist,  was  in  der  friihern  Periode 
der  Kirchengeschichte  sich  durchzuringen  strebte,  was  das 
Hauptstiick  in  der  Verkiindigung  Jesu  gebildet  hat  —  es 
ist  die  exklusive,  das  ganze  Grebiet  des  Religiosen  beherr- 
schende  Verbindung  der  Religion  mit  dem  Sittlichen.  Man 
schwacht  sie  aber  bereits  ab,  ja  zerstort  sie,  wenn  man  ihr 
den  Charakter  des  ,,Naturlichen"  nimmt.  So  tritt  sie  in 
den  Reden  Jesu  hervor;  man  schlage  ein  beliebiges  Q-leich- 
nis  auf.  Die  Voraussetzung  ist  immer  die,  dafi  jeder  Mensch 
sittliche  Pei'son  ist,  und  dafi  daher  das,  was  er,  Jesus,  sagt, 


Bed.eutu.ng  der  Eeformation  innerhalb  der  allg.  Religionsgeschichte.   321 

auGerhalb  jeder  Kontroverse  liege  nnd  zugleich  das  natiir- 
liche  Verhalten  bezeichne.  Der  Einwurf,  dafi  man  einst  so 
nicht  zu  den  Menschen  sprechen  konnte,  verschlagt  nicht: 
jetzt  konnte  man  so  zu  ihnen  sprechen,  und  von  jetzt  an 
soil  man  so  zu  ihnen  reden.  Die  ganze  gewaltige  Predigt 
von  der  Gottheit  fallt  jetzt  nicht  rnehr  wie  eine  rein  aufier- 
weltliche,  fremde  Kraft  iiber  das  armselige  Menschenleben 
her,  urn  es  zu  zerbrechen  oder  zu  entsetzen,  sondern  sie 
gehort  als  die  Predigt  von  dem  allmachtigen  und  heiligen 
Vater-Gott  in  den  Ring  seines  eignen  Daseins  hinein. 

Darum  mufiten  die  Ekstasen  und  die  Mirakel  auf  horen 
und  muBte  die  alte  Religion  einer  neuen  weichen,  in  der 
das  Supranaturale  ein  Stetiges,  ja  ein  Natiirliches  geworden 
ist.  Man  wird  mich  nicht  miG verstehen :  nichts  andres 
meine  ich  als  jenen  gut  lutherischen  Satz,  dafi  wir  fur 
diese  Religion  geschaffen  sind,  dafi  sie  nicht  irgendwie  nur 
eine  Zugabe  zu  unserm  Leben  ist,  sondern  die  Sphare 
unsres  Daseins.  Und  nicht  furchten  sollen  wir  uns  vor 
den  ^Entwicklungshistorikern",  als  konnten  sie  uns  in  die- 
ser  tiberzeugung  beunruhigen:  der  Schmetterling  hat  sich 
nicht  nur  aus  der  Raupe  entwickelt  —  es  war  auch  ihre 
Bestimmung,  nicht  immer  am  Boden  zu  kriechen,  sondern 
einst  im  neuen  Sonnental  die  Fliigel  rasch  und  freudig 
zu  entfalten. 

VI. 

Die  These,  die  es  zu  beweisen  gait,  ist  in  den  voran- 
gehenden  Artikeln  gerechtfertigt  worden: 

Die  Reformation  bedeutet  einen  epochemachenden  Um- 
schwung  in  der  Religionsgeschichte  iiberhaupt;  denn  Luther 
hat  das,  was  man  bisher  fur  das  Wesen  der  Religion  hielfc, 
als  voriibergehende  oder  sekundare  oder  gar  als  bedenkliclie 
Erscheinung  betrachtet,  und  er  hat  das,  was  bisher  als  ab- 
geleitete  Wirkung  der  Religion  gait,  als  ihr  Wesen  beurteilt 
oder  doch  den  Anstofi  zu  solchen  Beurteilungen  gegeben. 

Harnack,  Reden  und  Aufaatze.    2.  Aufl.    H.  21 


322  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  V. 

So  wollten  wir  diesen  Satz  verstanden  wissen:  Luther 
hat  den  Religionsbegriif,  der  das  Hauptstiick  in  der  Ver- 
kiindigung  Jesu  gebildet  hat,  der  aber  in  der  Kirchenge- 
schichte  vor  ihm  sich  vergeblich  durchzuringen  snchte,  in 
den  Mittelpunkt  geriickt,  nachdem  er  ihn  aus  der  Verbin- 
dung  mit  dem  altern  gelost  hat.  Dieser  Religionsbegriff 
aber  wurzelt  in  der  Uberzeugung,  dafi  Q-ott  mit  uns  nicht 
anders  handeln  will  als  durch  den  G-lauben.  Der  Grlaube 
aber  ist  die  sichere  und  stetige  Zuversicht  auf  den  Gott, 
der  Siinde  vergibt  und  uns  an  seiner  Hand  halt.  So  zu 
Q-ott  aufzublicken  ist  dem  ^naturliehen"  Menschen  fremd; 
aber  es  ist  doch  das  ^Naturliche"  in  hoherm  Sinne;  denn 
fur  dieses  Verhaltnis  zu  Grott  sind  wir  geschaffen. 

Es  eriibrigt  noch  einige  hier  auftauchende  Probleme 
wenigstens  kurz  zu  beriihren.  Sie  zu  erschopfen  ist  un- 
moglich,  aber  sie  mogen  zur  Sprache  kommen,  um  zum 
weitern  Nachdenken  anzuregen.  Zugleich  werden  dabei 
einige  Einwiirfe  beseitigt  werden,  denen  unsre  Betrachtung 
ausgesetzt  sein  kann. 

Erstens,  dafi  der  evangelische  Religionsbegriff,  so  ein- 
fach  er  erscheint,  psychologisch  und  historisch  am  schwie- 
rigsten  zu  fassen  ist,  liegt  in  der  Natur  der  Sache.  Er  ist 
innerhalb  der  geschichtlichen  Entwicklung  geworden,  was 
er  ist  —  nicht  durch  blofie  Evolution,  sondern  immer  durch 
ein  Zusammenwirken  von  Evolution  und  Personlichkeit  — ; 
er  kann  daher  nur  durch  Riickgang  auf  seine  Vorstufen 
verstanden  werden.  In  diesem  Sinne  ist  die  Arbeit  der 
Eeligionshistoriker  nicht  nur  berechtigt,  sondern  schlechthin 
notwendig;  gerade  das  innerlichste  Element  der  E/eligion, 
das  Bewufitsein  einer  iiberweltlichen  Kraft  und  eines  iiber- 
weltlichen  Verhaltnisses ,  wird  nur  so  in  ein  helles  Licht 
geriickt  werden  konnen  (vgl.  oben  S.  308  if.).  Diese  Uber- 
weltlichkeit  ist  freilich  hier  anders  bestimmt  als  auf  den 
fruhern  Stufen,  tragt  psychologisch  ein  andres  Q-eprage 
und  offenbart  sich  in  andern  Ausdrucksformen  —  das  darf 


Bedeutung  der  Eeformation  innerhalb  der  allg.  Eeligionsgescliiclite.   323 

nicht  iiberselien  werden  — ;  aber  der  Gegensatz  ,,Geist  Got- 
tes"  und  wGeist  der  Welt"  wird  nicht  schwacher  empfunden 
als  friilier.  Dankbar  haben  wir  jede  psychologische  Analyse 
der  Religion  entgegenzunehmen,  die  uns  ihren  paradoxen 
Charakter  enthullt;  aber  urn  so  sicherer  miissen  wir  unsern 
Blick  auf  das  Ende  der  Entwicklung  richten,  in  dem  jener 
paradoxe  Charakter  nicht  untergegangen,  wohl  aber  mit  der 
gesamten  geistig-sittlichen  Lebensbewegung  in  eine  Einheit 
gesetzt  1st. 

Durch  den  evangelischen  Religionsbegriff  ist  zweitens 
der  Unterschied  einer  Religion  erster  und  zweiter  Ordnung 
—  Religion  der  Ekstatiker  und  Religion  der  Laien  —  auf- 
gehoben.  Dennoch  besteht  dieser  Unterschied  in  der  Form 
individueller  Nuancen  fort,  nicht  nur  weil  die  altere  Stufe 
niemals  in  der  G-eschichte  durch  die  folgende  ganz  beseitigt 
wird,  sondern  auch  weil  Temperament,  sittliche  Disziplinie- 
rung  des  eignen  Lebens  und  besondrer  Beruf  fur  diesen 
und  jenen  bestimmtere  und  strengere  religiose  Ausdrucks- 
formen  fordern.  Alles,  was  wir  in  der  Geschichte  des  Pro- 
testantismus  ^Pietismus"  nennen,  gehort  hierher,  und  weit 
entfernt  ihn  zu  verurteilen,  wiinschen  wir  vielmehr,  er  ware 
kraftiger  unter  uns,  vorausgesetzt,  dafi  er  die  G-rundlage 
des  evangelischen  Religionsbegriffs  nicht  wieder  in  Frage 
stellt.  Einen  Antonius,  einen  Franziskus,  einen  Franz 
Xavier,  ja  selbst  einen  Doctor  seraphicus  oder  angelicus*) 
kann  und  soil  es  im  Gebiet  des  Protestantismus  so  gut 
geben  wie  im  Katholizismus ;  aber  nicht  der  hohen  Offen- 
barungen  oder  des  armen  Lebens  soil  er  sich  ruhmen, 
sondern  des  Herrn,  und  die  Gemeinde  soil  seine  Wirksam- 
keit  lediglich  nach  der  Kraft  des  Glaubens  beurteilen,  die 
ihn  tragt  und  die  er  entzundet.  So  leicht  ist  es  freilich 


*)  Mit  diesem  Beinamen  zeicluiet  die  katholische  Kirche  ihren 
groBen  Normaltheologen  Thomas  von  Aquino,  mit  jenem  den  mystischen 
und  gelehrten  Franziskaner  Bonaventura  aus. 

21* 


324  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  V. 

den  flVirtuosen  der  Religion"  nicht  mehr  gemacht  wie  im 
Katholizismus ,  emporzustreben  und  sich  eine  Wirksamkeit 
zu  schaffen,  in  einer  G-emeinde,  in  der  die  Regel  gilt:  ,,Es 
gibt  kein  christlicheres  Werk,  als  dafi  die  Ehlichen  ihre 
Kinder  erziehen";  aber  ein  Spielranm  for  ihre  Tatigkeit 
fehlt  wahrlich  nicht;  wollte  Grott,  sie  waren  zahlreicher! 
Umgekehrt  freilich  soil  man  nicht  die  Schwachlichkeit,  die 
in  religiosen  Besonderheiten  schwelgt  oder  gar  nur  so  weit 
kommt,  sie  zu  bewundern  und  andern  zu  empfehlen,  fur 
Starke  halten.  Wenn  wir  heute  die  Neigung  im  Protestan- 
tismus  wahrnehmen,  uns  altrer  Religionsformen  mit  tief- 
sinniger  Miene  zu  riihmen  und  nach  ihnen  die  evangelische 
zu  kritisieren,  so  1st  das  haufig  nur  ein  Beweis  fur  die 
Unsicherheit  und  Zerfahrenheit  des  Grlaubenslebens  und  die 
Uberschatzung  unbestimmter  Religionsgefiihle,  die  hier  zum 
Ausdruck  kommt.  Die  Ironie  Jesu:  ,,Korban,  wenn  ich's 
opfere,  so  ist's  viel  niitzer,"  gilt  nicht  nur  den  Virtuosen 
kultischer  Religionsiibung. 

Drittens  ist  das  autoritative  Element  im  evangelischen 
Religionsbegriff  in  der  Tat  starker  ausgepragt,  als  auf  den 
fruheren  Stufen.  An  das  Wort  Jesu  haben  seine  Jiinger 
geglaubt;  dieses  Wort  hat  sie  zu  Grott  gefiihrt,  und  auf 
das  Wort  haben  sie  sich  verlassen.  Mcht  anders  hat  es 
Luther  empfunden  und  gewufit.  Mcht  eignen  G-efuhlen 
oder  Offenbarungen  hat  er  getraut,  sondern  dem  Worte 
G-ottes.  Aber  Autoritat  kommt  diesem  Worte,  wie  es  in 
den  Evangelien  schimmert  und  leuchtet,  zu,  weil  es  kein 
fremdes  ist,  sondern  weil  es  die  Seele  selig  macht,  und 
weil  wir  fur  dieses  Wort  geschaffen  sind.  Als  ein  leben- 
diges  trifft  es  unser  Herz.  Das  braucht  nicht  immer  direkt 
das  in  das  Bild  des  lebendigen  Christus  gefafite  Wort  zu 
seiEL  —  ein  Christ  kann  dem  andern  ein  Christus  werden 
— ,  aber  immer  muB  uns  dies  Wort  in  dem  Feuer  einer 
lebendigen  Personlichkeit  treffen,  wenn  es  ziinden  soil.  In 
diesem  Sinne  nimmt  der  evangelische  Q-laube  die  ganze 


Bedenttmg  der  Eeformation  innerhalb  der  allg.  Beligionsgeschiehte.   325 

Kirchengeschichte,  ja  die  ganze  Religionsgeschichte  fur  sich 
in  Anspruch.  Er  weifi  sich.  befreit  vom  Zwang  und  Joch 
jeglicher  religiosen  Zumutung,  die  beangstigt  oder  verwirrt; 
er  braucht  die  Geschichte  nicht,  inn  zu  leben,  wohl  aber 
urn  sicli  Rechenschaft  zu  geben  von  seinem  Recht  und  es 
zu  behaupten. 


Luther  ist  kein  Religionsstifter  gewesen  —  was  er 
verkiindigt  hat,  ist  vor  ihm  verkiindigt  worden  — ,  aber 
dennoch  gebiihrt  ihm  in  der  ReKgionsgeschichte  ein  Platz, 
und  dieser  Platz  liegt  nicht  auf  einer  Linie,  die  abwarts 
fuhrt,  sondern  aufwarts.  Ich  darf  nicht  hoffen,  dafi  die 
Betrachtungen,  die  ich  vorgefdhrt  habe,  die  machtige  Stro- 
mung,  die  das  Bett  der  evangelischen  Religion  zu  verlassen 
droht,  korrigieren  werden;  aber  vielleicht  werden  sie  zeigen, 
dafi  man  wentwicklungsgeschichtlichu  denken  kann  und 
doch  nicht  zu  primitiven  Stufen  zuriickzukehren  braucht. 
Oder  soil  die  Theologie,  zur  Hohe  der  nReligionsgeschichtea 
erhoben,  den  Zeitgenossen  ihren  wissenschaftlichen  Charakter 
dadurch  bezeugen,  dafi  sie  gewissenhaft  alle  Irrtiimer  der 
wissenschaftlichen  Mode  mitmacht? 

Doch  nicht  mit  einer  Abweisung  will  ich  schliefien. 
Jungst  hat  eine  verehrte  Freundin  der  nChristlichen  Welt" 
die  schonen  Worte  geschrieben: 

nUnter  den  vielen  entgegengesetzten  Stromungen,  die 
unsre  Zeit  durchziehen,  macht  sich  ein  Moment  auf  alien 
G-ebieten  geltend:  man  begniigt  sich  nicht  mehr  dabei,  das 
Leben  in  der  Pragung  iiberkommner  Vorstellungen  hin- 
zunehmen;  der  Einzelne  will  seine  Mysterien  selbst  erleben. 
Und  das  gilt  von  alien  seinen  Erscheinungen  und  Mani- 
festationen.  "Was  wir  nicht  in  uns  selbst  erleben  konnen, 
besitzt  keine  Wahrheit,  noch  weniger  eine  Autoritat  fur 
nns.  Man  spricht  vom  Erlebnis  der  Liebe,  der  Freund- 


326  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  V. 

schaft,  der  Natur;  vom  Erleben  einer  Musik,  eines  Kunst- 
werks.  So  aucli  vom  religiosen  Erleben.  .  .  .  Hier  beruhren 
wir  uns  mit  den  Uranfangen  des  G-otterlebens  im  mensch- 
lichen  Q-emiit." 

Auch.  wir  begriifien  diese  Entwicklnng  als  einen  Fort- 
schritt  zur  innern  Wahrhaftigkeit  und  darum  zur  Wahrlieit; 
aber  fordern  wird  er  allein  dann,  wenn  uns  die  Religion 
nicht  nnr  die  Fackel  ist,  die  ziindet,  sondern  die  helle 
Sonne,  in  deren  Lichte  wir  leben. 


ADOLF  HARNACK  •  REDEN  UND  AUFSATZE 
m  ZWEITER  BAND  •  ZWEITE  ABTEILUNG 


AUFSATZE:  VI 

DER  EVANGELISCH-SOZIALE  KONGRESS 
ZU  BERLIN 


Erschienen  in  den  PreuBischen  Jahrbiiclieni,  Band  65  (1890)  Heft  5. 


Fur  den  28.  und  29.  Mai  sind  Einladungen  zr.  einem 
Evangelisch-sozialen  Kongrefi  in  Berlin  ergangen.  Die 
Tagesordnung  des  Kongresses  lautet: 

Die  Kirchengemeinde  in  ihrer  sozialen  Bedeutung  — 
Pfarrer  Lie.  Frh.  v.  Soden, 

Die  Frage  der  Streiks  —  Prof.  Dr.  Adolf  Wagner, 

Die  Arbeiterschutz-Gesetzgebung  —  Dr.  Kropatschek, 

Die  Arbeiterwohmings-Frage  —  Pastor  D.  von  Bodel- 
schwingh, 

Die  gemeimriitzigen  Bestrebungen  auf  dem  G-ebiete 
der  Sozialpolitik  —  Dr.  Stegemann, 

Die  evangelischen  Arbeitervereine,  ihre  Bedeutung  und 
weitere  Ausgestaltung  —  Pfarrer  Lie.  Weber, 

Unsere  Stellung  zur  Sozialdemokratie  —  Hofprediger 
Stocker. 

Der  Kongrefl  1st  mit  Bedacht  als  ,,evangelisch-sozial" 
bezeich.net  worden,  um  ihn  von  den  ,,christlich-sozialenu 
Unternehmungen  zu  unterscheiden,  und  die  Namen  der 
Einladenden,  die  den  verschiedensten  kirchlichen  und  theo- 
logischen  Richtungen  angehoren,  bur  gen  dafur,  dafi  der 
KongreB  keine  Parteiversammlung  sein  will.  Trotzdem 
hat  die  Ankiindigung  Bedenken  erregt,  und  zwar  nicht 
nur  bei  solchen,  die  sofort  unruhig  werden,  wenn  die 
Religion  irgendwo  an  das  Tageslicht  tritt,  sondern  auch 
in  Kreisen,  die  ein  Verstandnis  fur  die  Pflichten  und 
R/echte  derselben  besitzen.  Diese  Bedenken  haben  auch 
bei  einigen  von  denen  bestanden,  welche  sich  entschlossen 
haben,  die  Einladung  zu  unterzeichnen,  und  sie  werden 


330  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  VI. 

notwendig  fortbestehen,  bis  der  Kongrefi  sie  tatsachlich 
widerlegt  hat;  denn  grofie  Massenversaminlungen  zu  be- 
rufen  1st  immer  ein  Sprung  ins  Dunkle,  doppelt  gefahrlich 
in  Sachen  der  christlichen  Religion.  Hat  man  dock  schon 
im  zweiten  Jahrhundert  vor  unheiliger  G-eschaftigkeit  in 
Sachen  des  CHaubens  warnen  mussen,  nnd  neben  dem 
,,Christianos"  kannte  man  schon  damals  den  nChristem- 
porosa,  den,  welcher  aus  dem  Christentum  ein  Metier  macht. 

1st  der  Kongrefi  no  tig?  Was  kann  er  leisten?  Wo- 
vor  hat  er  sich  zu  hiiten?  NUT  kurz  sollen  die  Antworten 
auf  diese  Fragen  angedeutet  werden. 

Zunachst  soil  der  Kongrefi  der  Information  dienen. 
Der  sozialen  Frage  oder  vielmehr  dem  ganzen  Komplex 
von  Leiden  und  Fragen,  der  durch  diesen  Titel  bezeichnet 
wird,  vermag  sich  niemand  zu  entziehen,  und  wer  ein  Herz 
hat  fur  sein  Volk,  darf  sich  ihm  nicht  entziehen.  Den 
Christen  aber  sind  die  Kbtleidenden,  Schwachen  und  Ver- 
irrten  auf  die  Seele  gebunden  durch  die  bestimmtesten 
und  eindrucksvollsten  Anweisungen  Christi,  durch  sein  Bei- 
spiel  und  durch  die  Stiftung  der  Kirche,  die  als  ein  Bruder- 
bund  gedacht  ist  und  aufhort,  sie  selbst  zu  sein,  wenn  sie 
dieses  Ideal  preisgibt.  Wo  ist  zu  helfen  und  wie  ist  zu 
helfen,  wie  kann  mitten  in  dem  Kampf  widerstreitender 
Interessen  das  Friedenszeichen  einer  geistigen  und  inneren 
Gemeinschaft  aufgerichtet  werden,  die  starker  ist  als  die 
Machte  der  Zertrennung?  —  das  sind  Fragen,  die  keinem 
Christen  aus  dem  Sinn  kommen  durfen.  Der  christliche 
Grlaube  ist  nichts  mekr  wert,  der  an  ihrer  Ltfsung  ver- 
zweifelt.  Aber  urn  wirksam  in  ihnen  zu  arbeiten,  mufi 
man  die  Zustande  und  die  Mittel  kennen  lernen.  Hier  ge- 
schieht  bereits  viel,  aber  es  geschieht  noch  immer  zu  wenig. 
Information  von  sachkundiger  Seite  tut  not.  Daneben 
gibt  es  noch  eine  spezielle  Frage  von  hochster  Bedeutung, 
die  einen  evangelischen  Kongrefi  wiinschenswert  macht. 
In  ihrer  Jugendzeit  stand  die  Kirche  zwar  vor  einer  un- 


Der  evangelisch-soziale  Kongrefl  zu  Berlin.  331 

geheuren  sozialen  Aufgabe,  aber  diese  Aufgabe  war  nicht 
kompliziert,  sondern  eindeutig  und  daher  gar  nicht  zu  ver- 
kennen.  Sie  stand  einer  ihr  fremden  Welt  und  einem  ihr 
feindlichen  Staate  gegeniiber  und  hatte  —  mit  einem 
Wort  —  alles  selbst  zu  tun.  So  muBte  sie  notwendig  ein 
Staat  im  Staate  werden,  und  sie  war  das,  bis  sie  der  be- 
sorgte  Staat  zur  Staatskirche  machte.  Seit  Jahrhunderten 
und  vor  allem  in  unserem  Jahrhundert  liegen  jedoch  die 
Verhaltnisse  anders.  Unser  Staat  ist  nicht  der  Feind  der 
christlichen  Religion;  er  hat  sich  vielmehr  selbst  —  mag 
man  ihn  nun  einen  christlichen  und  protestantischen  nennen 
oder  nicht  —  christliche  Motive  und  Zwecke  angeeignet. 
Vor  dieser  Tatsache  verschlieBen  sich  zwar  viele  gern  die 
Augen,  sei  es,  weil  sie  nichts  vom  Christlichen,  sei  es  weil 
sie  nichts  vom  Staat  wissen  wollen;  aber  sie  bleibt  doch 
bestehen,  und  es  ist  auf  christlichem  Boden  einfach  eine 
Undankbarkeit  gegeniiber  dem,  was  uns  die  Q-eschichte 
geschenkt  hat,  sie  zu  verkennen.  Dariiber  kann  gar  kein 
Zweifel  bestehen,  dafi  es  nie  ein  Jahrhundert  gegeben  hat, 
in  welchem  der  Staat  und  die  burgerliche  G-esellschaft 
soviel  Sorge  fur  die  Notleidenden  und  Schwachen  gezeigt 
haben,  wie  in  unserem  Jahrhundert.  Allein  eben  deshalb 
erhebt  sich  die  Frage,  was  kann  die  Kirche  iiberhaupt  tun, 
wie  weit  hat  sie  sich  an  der  sozialen  Frage  als  Kirche 
neben  dem  Staat  und  der  G-esellschaft  zu  beteiligen? 
Innerhalb  der  evangelischen  Kirche  selbst  herrschen  hier- 
iiber  sehr  verschiedene  Anschauungen.  Auf  dem  einen 
Fliigel  stehen  diejenigen,  welche  sich  nach  altlutherischer 
Uberlieferung  lediglich  auf  die  Verkiindigung  des  Evan- 
geliums  beschranken  wollen.  Sie  sagen,  die  Kirche  habe  als 
Kirche  kein  anderes  Mittel  als  das  Wort  G-ottes:  es  gibt  keine 
spezifisch  christliche  soziale  Politik,  kein  christliches  sozial- 
politisches  Programm.  Die  Kirche  hat  keinen  Beruf,  irdischer 
Not  zu  steuern  und  irdische  Verhaltnisse  zu  verbessern;  sie 
verfiigt  nur  iiber  Mittel,  um  die  Not  und  das  Elend  des 


332  Zweiter  Band,  zweite  Abteilnng.     Anfsfttze:  VI. 

Lebens  ertragen  zu  lehren;  im  iibrigen  muJB  sie  den  Staat 
und  die  Gresellschaft  gewahren  lassen;  diese  allein  haben 
aus  ihrem  Interesse  heraus  zu  entscheiden,  ob  Bevormun- 
dung  walten  soil  oder  Freiheit,  Sozialismus  oder  Individualis- 
mus,  Arbeiterschutz  oder  Laisser  aller.  Auf  dem  anderen 
Fliigel  stehen  jene,  welche  im  Namen  des  evangelischen 
Christentums  der  ,,damonischen"  Sozialdemokratie  die  christ- 
liche  Sozialreform  entgegensetzen,  die  sich  zu  beweisen  ge- 
trauen,  ein  wahrhaftiger  Christ  miisse  in  unserem  Zeitalter 
Sozialist,  aber  christlicher  Sozialist  sein,  die  christliche 
"Weltordnung,  die  es  durehzusetzen  gelte,  sei  die  Sozial- 
monarchie,  usw.  Zwischen  diesen  Extremen  von  rechts 
und  links  gibt  es  mannigfache  Abstufungen,  und  dort  und 
nier  stehen  Manner  mit  ernstem  Sinn  und  warmem  Herzen. 
Eben  deshalb  ist  es  fur  die  evangelischen  Kirchen  eine 
wahrhaft  brennende  Aufgabe,  in  ihrer  eigenen  Mitte  hier 
Klarheit  zu  schaffen,  und  in  diesem  Sinne  ist  ein  Kongrefi 
wiinschenswert. 

Damit  ist  bereits  angedeutet,  was  der  Kongrefi  leisten 
kann.  Er  wird  seinen  Zweck  erfullen,  wenn  er  neben 
technischen  Informationen  die  prinzipielle  Erage  klart. 
Meines  Erachtens  kann  diese  Klarung  nur  in  der  Richtung 
erfolgen,  dafi  allem  zuvor  zum  deutlichsten  Ausdruck 
komnit,  dafi  die  evangelische  Kirche  nichts  anderes  ist  als 
die  Hiiterin  des  Evangeliums.  Das  Evangelium  aber  hat 
es  nicht  mit  irdischen  Dingen  zu  tun,  richtet  auch  kein 
,,weltlich  Reich"  auf,  sondern  treibt  die  Bufle,  den  G-lauben 
und  die  Liebe.  Sehr  beherzigenswerte  Worte  hat  Beyschlag 
jiingst  in  dem  Deutschen  Wochenblatt  (No.  16)  geschrieben: 
^Das  politische  Programm  des  Evangeliums  lautet:  Grebt 
dem  Kaiser,  was  des  Kaisers,  und  Grott,  was  Gottes  ist  — 
Jedermann  sei  untertan  der  Obrigkeit,  die  iiber  ihn  Macht 
hat  -  -  Tut  Ehre  jedermann,  habt  die  Briider  lieb,  furchtet 
Q-ott,  ehret  den  Konig.  Alles,  was  dariiber  hinaus  als  spe- 
zifisch  christliches  politisches  Prinzip,  als  spezifisch  christ- 


Der  evangelisch-soziale  KongrcB  zu  Berlin.  333 

liches  Parteiprogramm  geltend  gemaclit  wird,  1st  ans  purer 
Begriffsverwirrung  entstanden.  Man  kann  ein  christlicher 
Nationalliberaler  sein  und  ein  unchristlicher  Konservativer, 
und  nmgekehrt;  jede  politische  Partei  hat  irdische,  welt- 
liche  Interessen  und  Ziele,  die  man  christlich  und  unchrist- 
lich  verfolgen  kann;  das  Christentum  fiir  irgend  ein  po- 
litisches  Parteiprogramm  in  Beschlag  nehmen,  heifit  es  mit 
der  Selbstsucht  und  Siinde  belasten,  an  der  es  bei  keiner 
Partei  fehlt.  Ebensowenig  hat  das  Christentum  ein  spe- 
zinsches  Sozialprogramm.  Es  predigt  die  Achtung  der 
Personlichkeit,  die  briiderliche  Liebe  und  Erbarmung,  die 
Uberwindung  der  Mammonsknechtschaft  durch  das  Trachten 
nach  Q-ottes  Reich  und  Grerechtigkeit:  eine  Volkswirtschafts- 
lehre,  wie  Pastor  Todt  vor  zehn  Jahren  in  einem  wunder- 
lichen  Buch  meinte,  predigt  es  nicht.  Dem  Anspruch  der 
besitzlosen  Klassen  auf  eine  gerechtere  Yerteilung  des 
irdischen  Grutes  steht  Christus  noch  heute  gegeniiber  wie 
damals,  da  jener  Mensch  ihn  anging,  7,Sage  doch  meinem 
Bruder,  dafi  er  das  Erbe  mit  mir  teile":  ,,Mensch,  wer  hat 
mich  zum  Bichter  oder  Erbrichter  iiber  euch  gesetzt?"  Was 
er  beiden,  den  Enterbten  wie  den  Besitzenden,  Positives 
zu  sagen  hat,  fiigen  die  folgenden  Worte  hinzu:  Hiitet  euch 
vor  dem  G-eiz ;  denn  niemand  lebt  davon,  daB  er  viele  Griiter 
hat."  In  diesen  "Worten  ist  gewiO  die  Stellung  des  evan- 
gelischen  Grlaubens  und  darum  auch  der  evangelischen 
Kirche  richtig  bezeichnet,  und  es  scheint  daher,  als  miisse 
man  Uhlhorn  beistimmen,  wenn  er  (Katholizismus  und 
Protestantismus  gegeniiber  der  sozialen  Frage  1887  S.  58  f.) 
erklart:  wEs  bedarf  keiner  neuen  Mittel;  unsere  Kirche  hat 
auch  der  sozialen  Frage  gegeniiber  nichts  anderes  zu  tun 
als  das  Evangelium  zu  predigen,  die  im  Evangelium  liegen- 
den,  durch  die  Reformation  uns  erschlossenen  sittlichen 
Krafte  wirksam  zu  machen  und  damit  unserem  Volke  eben 
die  Krafte  darzureichen ,  deren  es  zur  Losung  der  sozialen 
Frage  bedarf." 


334  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  VL 

Allein  so  einfach,  wie  es  nach  den  eben  zitierten 
Worten  erscheint,  1st  die  soziale  Frage  fur  die  evangelische 
Kirche  doch  nicht.  Die  Kirclie  soil  das  Evangelium  pre- 
digen  —  aber  wenn  die,  welchen  es  gepredigt  werden  soil, 
nicht  zur  Kirche  kommen?  Da  wird  man  doch  nach  neuen 
Mitteln  und  Formen  suchen  miissen,  um  es  ihnen  nahe  zu 
bringen.  Ferner,  fur  die  Ausiibung  der  Liebe,  zu  welcher 
der  evangelische  Glaube  verpflichtet  und  fahig  macht, 
gibt  es  gewifi  kein  Gesetz.  Man  kann  nicht  genau  angeben 
• —  die  katholischen  Scholastiker  haben  es  freilich  versucht 
— ,  was  man  tun  mufi,  opfern  mufi,  leisten  mufi,  um  die 
Forderung:  Liebe  deinen  Nachsten  als  dich  selbst,  zu  er- 
fullen.  Allein  soil  man  deshalb  darauf  verzichten,  den 
Leuten  das  G-ewissen  zu  scharfen,  damit  sie  erkennen,  wer 
ihr  Nachster  ist?  soil  die  Kirche  allein  organisierte  Tatig- 
keit,  gemeinsames  Vorgehen,  planvolle  Arbeit  verbannen, 
wahrend  wir  sonst  sehr  wohl  wissen,  dafi  die  Ubung  aller 
Tugenden  durch  Gemeinsamkeit,  Ordnung  und  Organisation 
gefordert  wird?  Niemals  wird  man  freilich  diese  oder  jene 
bestimmte  Ordnung  und  Tatigkeit  auf  diesem  wie  auf 
irgend  einem  anderen  Gebiete  als  ^die  christliche"  ausgeben 
diirfen  —  schon  deshalb  nicht,  weil,  sobald  wir  planen, 
wir  uns  irren,  und  sobald  wir  handeln,  wir  uns  in  der 
Wahl  der  Mittel  vergreifen.  Aber  deshalb  diirfen  wir  uns 
doch  nicht  einreden,  dafi  das  evangelische  Christentum  es 
nicht  vertragt,  dafi  seine  Bekenner  sich  dariiber  beraten. 
was  sie  als  christliche  und  kirchliche  Manner  in  der  Not  der 
Zeit  tun  konnen,  um  auch  das  organisierte  Institut,  welches 
sie  in  ihrer  Mitte  haben,  die  Kirche,  zu  einer  wirksamen 
Macht  wider  die  soziale  Not  auszugestalten !  Ich  sage  ab- 
sichtlich,  das  organisierte  Institut,  die  Kirche.  Diese  Kirche 
ist  ja  nicht  die  Kirche,  welche  der  Glaube  bekennt,  nder 
ganze  Haufe  der  Kinder  Gottes,  die  unter  dem  Himmel 
sind",  sondern  sie  ist  ein  mehr  oder  weniger  zweckmafiiges 
irdisches  Institut,  bestimmt  den  hochsten  Zielen  zu  dienen, 


Der  evangelisch-soziale  Kongrefl  zu  Berlin.  335 

mangelhaft  und  schwerfallig,  aber  doch  elastisch  nnd  einer 
besseren  Ausgestaltung  wohl  fahig.  Dafi  evangelisclie 
Grrundsatze  es  verbieten  sollten,  diese  Institute  —  die 
Landeskirchen  — ,  welche  bis  zum  Beginn  der  Neuzeit  in 
wunderbarer  Weise  den  geschichtlichen  Verhaltnissen  ent- 
sprochen,  sich  ihnen  angepafit  nnd  der  christlichen  Kirche 
gedient  haben,  vollkommener  anszugestalten,  ist  nicht  ab- 
ausehen.  Man  wird  vielmehr  vom  evangelischen  Standpunkt 
nicht  anders  nrteilen  durfen,  dafi,  weil  wir  diese  Kirchen 
besitzen,  wir  die  Pflicht  haben,  sie  auch  in  den  Dienst 
aller  der  Aufgaben  zu  stellen,  welche  die  christliche  Liebe 
in  der  Gegenwart  zu  losen  hat.  Nur  rede  man  nicht,  wie 
einige  Christlich-Soziale  in  verhangnisvoller  Begriffsverwir- 
rung  tun,  von  ,,der  Kirche  Christi",  als  handle  es  sich 
darum,  nun  erst  das  Reich  Grottes  durchzusetzen  und  eine 
Theokratie  aufzurichten.  Es  handelt  sich  um  etwas  sehr 
viel  Profaneres  —  vor  jener  „ Theokratie"  bewahre  uns 
Groit  — ,  aber  sehr  Notiges  und  Segensreiches :  um  eine 
zweckmafiigere  Ausgestaltung  der  Landeskirchen  im  Dienste 
der  Liebe  zu  den  Briidern.  Diese  Landeskirchen  sind  aber 
um  nichts  heiliger  als  jeder  Stand  und  jede  Verbindung, 
die  in  Treue  ihres  Berufs  warten.  Sie  konnen  untergehen, 
wie  diese,  und  die  Bildungen,  die  an  ihre  Stelle  treten, 
mogen  sie  auch  den  Idealen  begeistertster  Freikirchler  ent- 
sprechen,  werden  nicht  hoheren  Wert  besitzen,  als  ihre 
Vorganger.  Nur  wer  mit  dieser  Niichternheit  die  Dinge 
betrachtet  und  zugleich  die  Gefahren  erwagt,  welche  eine 
energischere  Tatigkeit  der  Landeskirchen  mit  sich  bringt 
—  jede  energischere  Aktion  der  Kirche  wird  leicht  die 
Aktion  des  Staats  und  der  Kommunen  in  derselben  Eich- 
tung  lahmen;  konnen  wir  aber  so  leichten  Herzens  anf 
diese  Wirkungen  verzichten?  welch'  eine  Bedeutung  hat 
z.  B.  die  christliche  Volksschule!  —  nur  ein  solcher  hat  ein 
Recht,  in  dieser  schwierigen  Frage  mitzuraten.  Schwierig 
ist  sie;  aber  deshalb  ist  sie  nicht  zuriickzuschieben.  In 


336  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  VL 

den  angedeuteten  Grrenzen  mufi  sie  verhandelt  nnd  gelost 
werden;  denn  der  Zustand  1st  unertraglich,  dafi  Tausende 
und  aber  Tausende  heute  sagen  diirfen:  was  habe  ich  von 
der  Kirche?  sie  kommt  nicht  zu  mir  und  ich.  komme  nicht 
zu  ihr;  sie  vertrostet  mich  auf  den  Himmel  und  fordert 
mir  Steuern  ab.  Wenn  es  gewifi  ist,  dafi  die  soziale  Frage 
nicht  nur  eine  Magenfrage  ist,  sondern  auch  eine  Gremuts- 
und  Herzensfrage,  eine  Frage  aus  Herzen,  die  sich  nicht 
geachtet  fiihlen  und  nicht  geliebt  wissen,  so  erfullt  die 
Landeskirche ,  so  erfullt  die  einzelne  christliche  Gremeinde 
ihre  PfLicht  nicht,  wenn  sie  hier  nicht  Abhilfe  zu  schaffen 
sucht.  Sie  mufi,  wie  einst  im  zweiten  Jahrhundert,  wo 
man  doch  auch  wufite,  dafi  der  christliche  Grlaube  der 
Ewigkeit  gilt  und  nicht  der  Zeit,  wieder  als  ein  Bund  von 
Briidern  und  Schwestern  den  Armen  und  Notleidenden 
entgegentreten,  sie  mufl  den  Menschen  im  Menschen  auf- 
suchen  und  es  ihm  wieder  zu  fiihlen  geben,  dafi  er  ge 
liebt  und  geachtet  ist;  sie  mufi  den  Adel  jedweder  recht- 
schaffenen  Arbeit  nicht  nur  in  Worten  predigen,  sondern 
die  Anerkennung  dieses  Adels  im  Leben  des  Tages  zum 
Ausdruck  bringen.  Materiell  geht  es  dem  vierten  Stande 
heutzutage  wahrscheinlich  besser  als  zu  irgend  einer  Zeit; 
aber  er  fuhlt  sich  unbefriedigter  als  je.  Hier  kann  nur 
Liebe  und  Achtung  helfen.  Wo  aber  gibt  es  ein  Institut, 
welches  so  umfassend  und  zugleich  so  sehr  auf  die  Pflege 
dieser  Tugenden  angewiesen  ist,  wie  die  Kirche? 

Schwarmerei  —  ruft  man  uns  entgegen.  Aber  man 
wird  den  verkehrten  und  tauben  Idealismus  der  Sozialisten 
nur  zu  iiberwinden  vermogen  durch  den  wahrhaftigen 
Idealismus.  Wenn  einen  in  der  G-egenwart  etwas  mit 
bangen  Ahnungen  zu  erfullen  vermag,  so  ist  es  nicht  die 
Kraft  der  Sozialdemokratie  an  sich,  sondern  die  moralische 
Schwache  ihrer  Gregner.  Die  Welt  vegetiert  ohne  Ideale 
wohl  weiter,  aber  regiert  wird  sie  von  den  Idealen,  und 
die  Zukunft,  wenn  auch  nicht  die  nachste,  gehort  immer 


Der  evangelisch-soziale  KongreB  zu  Berlin.  337 

der  entschlossenen  TJberzeugung  und  der  Opferwilligkeit. 
Weil  man  zu  wenig  moralische  Kraft  hat,  darum  wird  man 
in  Zukunft  dem  Sozialisnms  eine  Abschlagszahlung  nach 
der  anderen  bringen.  Ich  bin  kein  Nationalokonom;  aber 
ich  fiirchte,  daB  man  bereits  im  Begrrff  1st,  zuviel  zu 
zahlen.  Wir  werden  unseren  Mangel  an  Wohlwollen, 
Achtung,  tatkraftiger  Liebe  von  Person  zu  Person  mit  der 
Bewilligung  teuerer  und  verhangnisvoller  7,Zwange"  ersetzen 
miissen.  Wie  weit  werden  wir  in  solchen  Zugestandnissen 
gehen?  Welche  Opfer  wird  die  individuelle  Freiheit  bringen 
miissen?  — 

Wenn  es  anerkannt  wird,  dafi  die  evangelische  Landes- 
kirche  hier  neben  dem  Staat  und  der  Kommune  eine  Auf- 
gabe  hat,  und  wenn  diese  Aufgabe  richtig  abgegrenzt  wird, 
so  fragt  es  sich,  mit  welchen  Mitteln  sie  zu  losen  ist.  Es 
gibt  deren  zwei:  das  freie  Vereinswesen  auf  dem  Boden 
christlicher  Gresinnung  und  die  den  Aufgaben  der  christ- 
lichen  Liebe  entsprechende  Ausgestaltung  der  Einzelge- 
meinde  zu  einem  lebendigen  Korper.  Wie  viel  wir  dem 
Vereinswesen,  namentlich  seit  Wicherns  und  Fliedners 
Tatigkeit,  zu  danken  haben,  braucht  nicht  ausgefuhrt  zu 
werden.  Wir  konnen  es  in  der  gegenwartigen  Zeit  am 
wenigsten  entbehren  und  miissen  es  noch  immer  zu  starken 
versuchen.  Aber  wir  konnen  uns  nicht  verhehlen,  dafi  alles 
das,  was  wir  Innere  Mission  nennen,  vielfach  ein  Nbtbehelf 
ist.  Wir  sind  von  christlichen  Vereinen  iibernutet,  ange- 
spannt  bis  an  die  Grenzen  des  Ertraglichen,  und  andererseits 
haben  sich  diese  Vereine  liber  bestimmte  Kreise  hinaus  un- 
bedingte  Anerkennung  selten  zu  verschaffen  verstanden. 
Sie  sind  niemals  ^popular"  geworden,  nicht  im  unedlen 
Sinne  des  Wortes,  aber  leider  auch  nicht  im  edlen.  Auch 
ist  es  nicht  jedermanns  Sache,  Objekt  eines  Vereins  zu 
werden;  der  Innern  Mission  entzieht  sich  vielfach  nicht 
nur  der  Hochmut,  der  Leichtsinn  und  die  Bosheit,  sondern 
auch  berechtigter  Stolz  und  Selbstachtung.  Dazu  ist  das 

Harnack,  Reden  und  Anfsatze.    2.  Anfl.    H  22 


338  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  VI. 

Verhaltnis  dieser  Art  von  Liebestatigkeit  zu  den  Kirchen 
bis  auf  den  heutigen  Tag  ein  unsicheres  nnd  undurchsich- 
tiges.  Kein  Wunder,  dafl  die  einen  sie  als  wdie  Kirche", 
die  anderen  als  eine  Art  von  zweiter  Kirche,  die  dritten 
als  unberufene,  mit  allerlei  Fremdem,  Aufdringlichem  und 
Zweideutigem  behaftete  Arbeiterin  betrachten.  Dafl  diese 
ganze  Arbeit  noch  eine  andere  G-estalt  gewinnen  mufi,  ist 
das  Urteil  erfahrener  und  erprobter  Sachverstandiger.  Aber 
wie  das  zu  geschehen  hat,  ist  eine  hochst  schwierige  Frage. 
Jiingst  sind  zwei  hervorragende  G-eistliche,  Pastor  Sulze 
in  Dresden  (in  der  Protest.  Kirchenzeitung)  und  Prediger 
von  So  den  (in  einer  Broschure:  ,,Und  was  tut  die  evan- 
gelische  Kirche"),  in  kraftigster  "Weise  dafiir  eingetreten, 
dafi  der  Hebel  der  kirchlichen  Tatigkeit  bei  der  Einzelge- 
meinde  anzusetzen  ist:  wir  miissen  verhaltnismafiig  kleine, 
geschlossene  G-emeinden  bilden,  die  ubersehbar  sind  und 
die  in  sich  alle  die  Funktionen  von  Gremeinde  wegen  voll- 
ziehen,  die  jetzt  in  Dutzenden  von  Vereinen  zersplittert 
sind.  GrewiJB  die  allein  richtige  Losung  —  aber  welch'  ein 
Weg  ist  zuriickzulegen,  bis  man  sich  ihr  nahert,  und  wie 
wird  man  aus  der  Gemeinde,  wie  sie  heute  ist,  die  lebendig 
tatige  Gemeinde  schaffen?  Dennoch  ist  diese  Losung  auch 
fur  die  grofien  Stadte,  und  vor  allem  fur  sie,  als  das  leitende 
Ziel  festzuhalten.  Moge  der  berufene  KongreB  besonders 
in  dieser  Richtung  Ratschlage  geben  und  Beschliisse  fassen. 
Die  evangelischen  Landeskirchen  werden  sich  entweder 
durch  eine  neue,  reichere  Ausgestaltung  der  Gemeinde- 
organisation  auf  der  Basis  kleiner,  geschlossener  Einzelge- 
meinden  an  der  sozialen  Arbeit  beteiligen,  oder  sie  werden 
sich  iiberhaupt  nicht  beteiligen  oder  ihre  besten  Anstren- 
gungen  werden  mit  Schwache  behaftet  bleiben  und  dem 
MiOtrauen  verfallen.  Solange  das  Vereinswesen  nicht  ge- 
tragen  ist  von  dem  Ansehen  und  der  Verantwortung  der 
ganzen  Gemeinde,  die  reich  und  arm,  hoch  und  niedrig 
umschliefit,  und  in  der  Bediirftige  und  Heifer  einander 


Der  evangelisch-soziale  KongreB  zu  Berlin.  339 


gleich  stehen,  solange  1st  auch  in  iTim  nur  ein  Notstand 
ausgedriickt.  Der  Einzelne  bedarf  der  Freiheit;  aber  jede 
gemeinsame  Tatigkeit,  jede  Versammlung,  jede  Verbindung 
bedarf  der  Autoritat  und  eines  unzweifelhaffcen  Mandats, 
wenn  ihre  "Wirkungen  nicht  vom  Zufall  abhangen  sollen. 
Wovor  hat  der  KongreC  sich  zu  huten?  Auch  diese 
Frage  1st  im  vorstehenden  bereits  beantwortet.  Aber  es 
gilt  noch  einiges  mit  voller  Deutlichkeit  hervorzuheben, 
anderes  hinzuzufugen.  Der  Kongrefi  soil  erstens  nicht  Be- 
schliisse  fassen  iiber  Fragen,  in  denen  nur  Sachverstandige 
und  Beteiligte  ihrllrteil  abzugeben  haben.  Ein  evangelisen- 
sozialer  Kongrefi  wird  sich  gern  informieren  lassen  liber 
die  Arbeiterschutz-Gesetzgebung,  die  Lohnfrage,  dieArbeits- 
zeit,  die  "Wohnungsfrage  usw.;  aber  er  ist  nicht  berufen, 
hier  als  Kongrefi  E-atschlage  zu  erteilen  und  Forderungen 
zu  stellen.  Nur  die  Frage  der  Sonntagsruhe  —  aber  auch 
nicht  im  Sinne  eines  gottlichen  Gesetzes,  sondern  einer 
christlich-humanen  Ordnung  —  gehort  mit  vor  sein  Forum. 
Selbst  zu  der  in  das  Familienleben  so  tief  einschneidenden 
Frage  der  Frauen-  und  Kinderarbeit  darf  er  nur  mit  grofier 
Behutsamkeit  Stellung  nehmen;  denn  diese  Frage  lafit  sieh 
schliefilich  so  wenig  durch  gute  Wiinsche  und  humane 
Forderungen  losen,  wie  die  Arbeiterfrage  selbst.  Zweitens 
soil  der  Kongrefl  sich  nicht  an  dem  Vorbilde  der  katho- 
lischen  Kirche  starken  und  meinen,  was  diese  Kirche  in 
der  sozialen  Frage  tut,  miisse  sofort  auch  die  evangelische 
Kirche  tun.  Die  katholische  Kirche  ist  ein  selbstandiges 
Reich  von  dieser  "Welt  neben  den  Staaten;  unsere  evange- 
lischen  Landeskirchen  sind  das  nicht.  Die  katholische 
Kirche  glaubt  —  vom  Mittelalter  her  —  ,  alle  Heilmittel 
fiir  die  Gesellschaft  im  Besitz  zu  haben;  wir  glauben  das 
nicht.  Die  katholische  Kirche  steht  dem  Staat  und  dem 
modernen  Leben  miCtrauisch  gegeniiber;  wir  haben  Grund, 
unserem  Staate  Vertrauen  zu  schenken.  Damit  komme  ich 
auf  das  Dritte.  Der  evangelische  Kongrefi  soil  nicht  iiber 


340  Z welter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  VI. 

den  Staat  jammern.  Eine  Dosis  Unzufriedenheit  mit  den 
herrschenden  Zustanden  1st  freilich  fur  uns  alle,  die  wir 
tins  gern  von  dem  Gresetz  der  Tragheit  regieren  lassenr 
eine  gate  Zugabe.  Auch  haben  wir  manche  berechtigte 
Wiinsche  gegeniiber  dem  Staat,  die  unerfullt  sind;  wir 
naben  ferner  iiber  manche  Abhangigkeit  zu  klagen,  wo 
eine  groBere  Freiheit  der  Landeskirche  znm  Vorteil  ge- 
reichen  wiirde.  Allein  so,  wie  diese  Landeskirchen  nun 
einmal  seit  dem  Zeitalter  der  Reformation  sind,  mit  all 
dem  offentlichen  Ansehen  und  den  Rechten,  die  sie  ge- 
niefien,  und  dem  Vertrauen,  das  ihnen  und  ihrer  Greistlichkeit 
im  Staatsleben  geschenkt  wird,  konnen  sie  nicht  verlangenr 
dafi  sie  wesentlich  selbstandiger  gestellt  werden.  Fur  die 
Kirchen,  wie  sie  gegenwartig  sind,  ware  dies  auch  kein 
Vorteil,  sondern,  wie  manche  Exempel  gezeigt  haben,  ein 
ITachteil.  Auch  haben  sie  bis  auf  den  heutigen  Tag  viel 
mehr  Q-rund,  dem  Staate  zu  danken  als  sich  zu  beklagen. 
Ob  die  Lage  der  Kirchen  besser  werden  wird,  wenn  es 
einmal  zu  vollkommenen  Freikirchen  kommen  sollte,  das 
ist  eine  Frage,  die  kein  Einsichtiger  unbedingt  bej  alien 
wird.  Jedenfalls  hat  sich  dieser  KongreB  nicht  mit  der 
^Selbstandigkeitsbewegung"  in  der  evangelischen  Kirche 
zu  befassen,  die  bisher  einer  Vergewaltigung  der  Volks- 
kirche  und  einer  kiinstlichen  Reaktion  ahnlicher  sieht  als 
einem  gesunden  Fortschritt,  der  mit  alien  guten  Elementen 
und  alien  hellen  Erkenntnissen  des  Jahrhunderts  im  Bunde 
steht.  Endlich  gilt  es,  noch  einen  Punkt  ins  Auge  zu 
fassen  und  vor  der  Beschaftigung  mit  ihm  zu  warnen: 
das  ist  die  Judenfrage.  Es  mag  eine  Judenfrage  im  natio- 
nalen  und  im  wirtschaftlichen  Sinn  geben  —  ich  weifi  das 
nicht  und  bin  dariiber  nicht  kompetent  — ,  das  aber  weiB 
ich,  dafi  den  Antisemitismus  auf  die  Fahnen  des  evan 
gelischen  Christentums  zu  schreiben,  ein  trauriger  Skandal 
ist.  Die,  welche  das  getan  haben,  haben  freilich  immer 
das  nationale  und  wirtschaftliche  Interesse  mithinein  ge- 


Der  evangelisch-soziale  KongreJ3  zu  Berlin.  341 

zogen,  well  sie  als  Christen  hatten  schamrot  werden  mussen, 
wenn  sie  einfach  im  Namen  des  Christentums  die  Parole 
des  Antisemitisrmis  ausgegeben  und  das  Evangelium  in 
einen  neuen  Islam  verwandelt  hatten.  Aber  wer  kann 
leugnen,  dafi  auch  das  geschehen  ist?  Das  heifit  aber,  die 
Macht,  welche  dazu  in  der  Welt  ist,  die  G-egensatze  der 
Rassen  und  Nationen  zu  mildern  und  Menschenliebe  selbst 
dem  Feinde  gegeniiber  zu  erwecken,  in  entgegengesetzter 
Bichtung  mi  Bbrauchen.  Wir  diirfen  voraussetzen,  dafi  auf 
dem  Kongrefi,  der  der  Verbriiderung  dienen  soil  und  nicht 
der  Vergiftung,  kein  Yersuch  gemacht  werden  wird,  die 
7,Judenfrage"  hineinzuziehen.  Sollte  er  gemacht  werden, 
so  wird  eine  kraftige  Abwehr  nicht  fehlen. 


Erwartungen,  Wiinsche  und  Bedenken  sind  hier  zum 
Ausdruck  gebracht.  Wie  konnen  Bedenken  fehlen  ange- 
sichts  der  herrschenden  Unklarheit  in  den  evangelischen 
Landeskirchen  und  der  Zerkluftung  und  Zersplitterung,  die 
im  voraus  ein  Urteil  dariiber  nicht  zulassen,  welche  Eich- 
tung  man  wahlen  und  welchen  Weg  man  einschlagen  wird? 
Das  schwerste  Bedenken  in  bezug  auf  die  Kraft  solcher 
Unternehmungen,  wie  sie  in  dem  geplanten  Kongresse  ver- 
sucht  werden,  habe  ich  noch  nicht  einmal  genannt.  Es 
liegt  in  der  Schwache  der  evangelischen  Kirchen  an  sich. 
Diese  Schwache  aber  hat  ihren  G-rund  nicht,  wie  einige 
sich  selber  tauschend  meinen,  in  der  Gebundenheit  der 
Kirchen,  sondern  darin,  dafi  die  grofie  Mehrzahl  der  Q-e- 
bildeten  und  Ungebildeten  dem  Glauben,  wie  ihn  die 
Kirchen  offiziell  bekennen,  entwachsen  ist.  Daran  hat 
nicht  nur  die  nSiinde"  ihren  Anteil,  wie  man,  wiederuiu 
sich  selber  tauschend,  behauptet,  sondern  in  hochstem  MaCe 
auch  die  Ehrlichkeit  und  der  Wahrheitssinn.  Die  Aufgaben, 
welche  die  Landeskirchen  auf  dem  sozialen  Gebiete  zu  losen 


342  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  VI. 

haben,  konnen  nur  gelost  werden  durch  die  Hervorbringung 
neuer  Formen.  Neue  Formen  erzeugt  aber  nur  ein  leben- 
diger  und  wahrhaftiger  Greist,  der  sich  seiner  Kraft  be- 
wuflt  1st,  im  Evangelium  wurzelt  und  zugleich  mit  alien 
Erkenntnissen  und  Kraften  der  Gregenwart  im  Bunde  steht. 
So  1st  es  zu  alien  produktiven  Zeiten  in  der  Greschichte 
des  Christentums  gewesen,  im  2.  Jahrhundert,  im  12.  nnd 
13.  Jahrhundert  und  im  Dezennium  der  Reformation.  Wo 
aber  ist  dieser  Greist  heute?  Wie  kann  er  vorhanden  sein, 
wenn  doch  die  Grrundbedingung  seiner  Existenz  nicht  vor 
handen  ist,  voile  Zustimmung  und  darum  voiles  Zutrauen 
zur  eigenen  Sache  in  dem  ganzen  Umfang  ihres  Bestandes? 
Man  kann  nicht  etwas  als  Stiitze  und  Trager  empfehlen, 
was  man  selbst  mit  vieler  Not,  Anstrengungen  und  Be- 
schwichtigungen  tragen  mufi.  Die  oberste  Aufgabe  fur 
die  evangelischen  Kirchen  ist  daher  zurzeit  nicht  die,  in 
immer  neuer  Greschaftigkeit  auf  Mittel  und  Mittelchen  za 
sinnen,  sondern  ein  solches  Yerstandnis  des  Evangeliums 
wiederherzustellen ,  dafi  es  in  keinem  Sinn  als  Last,  son 
dern  als  die  Macht  der  Befreiung  und  Erlosung  empfunden 
wird.  Das  ist  die  Frage  der  Fragen  und  die  Aufgabe  der 
Aufgaben,  vor  der  alles  andere  zuriicktreten  mufi.  Bevor 
man  sich  ihr  energisch  zuwendet,  ist  wirkliche  Besserung 
nicht  zu  erhoffen.  Aber  man  predigt  tauben  Ohren,  wenn 
man  diese  Aufgabe  stellt.  Die  einen  wollen  sie  nicht  horen, 
weil  sie  uberhaupt  bereits  an  der  Kirche  verzweifelt  haben 
und  meinen,  es  bliebe  nichts  iibrig,  als  sie  schonend  fortvege- 
tieren  zu  lassen  oder  sie  zu  zerstoren ;  die  anderen  wollen  die 
bequemen  Pfade,  die  sie  bisher  gewandelt  sind,  nicht  lassen, 
sie  wollen  nichts  lernen;  und  die  dritten,  die  Vorsichtigen, 
meinen,  dafi  man  an  dem,  was  man  besitze,  nicht  riitteln 
diirfe,  damit  nicht  alles  einstiirzt.  Dennoch  darf  man  nicht 
aufhoren,  die  evangelischen  Kirchen  vor  die  Forderung  zu 
stellen,  ihr  Bekenntnis,  ihre  Predigt  und  ihren  Unterricht 
nicht  nach  den  Wiinschen  des  Tages  —  daran  denkt  nie- 


Der  evangelisch-soziale  KongreB  zu  Berlin.  343 

mand  — ,  wohl  aber  nach  den  sicheren  Erkenntnissen,  die 
wir  gewonnen  haben,  zu  korrigieren,  damit  dem  evange- 
lischen  Christen  im  19.  Jahrlmndert  die  Kirche  wiedemm 
ein  Q-ut  werde  und  er  mit  Wahrheit  und  Ehrlichkeit  an 
ikrem  Leben  Anteil  zn  nehmen  vermag.  Im  anderen  Fall 
ist  alle  Arbeit  zwar  nicht  vollig  umsonst,  aber  ein  Not- 
behelf,  nur  vom  Tage  zum  Tage  reichend.  "Wem  die  Not 
der  Zeit  auf  der  Seele  brennt,  wird  sich  freilich  auch  an 
soldier  Arbeit  beteiligen,  aber  schweren  Herzens  und  mit 
unfreudigem  Mut. 


ADOLF  HARNACK  .  REDEN  UND  AUFSATZE 
S^  ZWEITER  BAND  -  ZWEITE  ABTEILUNG 


AUFSATZE:  VII 
RITSCHL  UND  SEINE  SCHULE 


1897  Nr.  37  und  38. 


GUSTAV  ECKE 

DIE    TKEOLOGISCHE    SCHULE    ALBRECHT    EITSCHLS    UND 
DIE  EVANGELISCHE  KIRCHE  DEE  GEGENWART.  I.  BD.  1897. 

I. 

Der  Verfasser  dieses  Baches  ist  Pastor  am  evangelischen 
Diakonissenhause  in  Bremen.  Kaum  in  einer  andern  Stadt 
unsres  Vaterlandes  fand  man  und  fmdet  man  noch  die  ver- 
schiednen  kirchlichen  und  theologischen  Bichtungen  so 
vollstandig  vertreten  wie  in  jener  Reichsstadt.  Vielleicht 
auch  an  diesen  Verhaltnissen  hat  Herr  Ecke  die  vornehmste 
Regel  gelernt,  die  sich  der  Historiker  zu  stellen  hat  —  un- 
besteehliche  Grerechtigkeit  und  Wahrheitsliebe ,  "Wahrheits- 
liebe  in  jenem  hohern  Sinne,  wie  sie  Groethe  denniert  hat: 
wdafi  man  iiberall  das  Grute  zu  finden  und  zu  schatzen 
wisse."  Die  Grerechtigkeit  hat  seinen  FleiJS  gespornt  und 
ihn  angeleitet,  an  keiner  Aufierung  voriiber  zu  gehen,  die 
den  Gregenstand  in  ein  helleres  Licht  zu  setzen  geeignet 
schien.  So  ist  ein  Buch  entstanden,  das  man  aus  verschied- 
nen  Grriinden  zu  den  erfreulichen  theologischen  Arbeiten 
der  letzten  Jahre  zahlen  darf.  Noch  mehr  —  man  darf 
dieses  Werk  als  ein  Friedenszeichen  im  Streit  der  Parteien 
begriiBen.  Mcht  dem  ehrlich  Kampfenden  predigt  es  Friede, 
wohl  aber  zwingt  ea  jene  giftigen  und  friedelosen  Streitig- 
keiten  nieder,  die  von  der  Ignoranz,  dem  Fanatismus  und 
der  Parteipolitik  gefuhrt  werden. 

n. 

Herr  Ecke  hat  dariiber  keinen  Zweifel  gelassen3  von 
welchem  Standort  aus  er  Ritschl  und  die  theologische 
Schule  E/itschls  ins  Auge  fafit  und  beurteilt.  Er  ist  vor 
allem  strenger  Biblizist.  An  sich  ist  damit  noch  nichts 


348  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  VII. 

gesagt;  denn  man  kann  Biblizist  in  vielfaltigem  Sinne  sein. 
Er  ist  es  in  dem  Sinne,  den  heute  ein  jecler  kennt,  der 
sich  mit  der  kirchlichen  Gregenwart  beschaftigt,  der  aber 
nicht  leicht  zu  definieren  ist  —  ein  milder  Pietisnms  ver- 
scliwistert  mit  einer  milden  Orthodoxie,  die  fest  auf  die 
flbiblischen  Vorstellungen"  halt,  aber  den  kirchlichen  Formu- 
lierungen  gegeniiber  weitherzig  ist.  Der  Komplex  von 
Grlaubenslehren,  der  sich.  am  Ende  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts  allmahlich  ergeben  hat,  wird  von  dem  Verfasser 
streng  festgehalten  und  als  ein  untriiglicher  Mafistab  jedem 
Urteil  zugrunde  gelegt. 

Das  ist  nichts  EigentumLich.es ;  dennoch  aber  ist  der 
Verfasser  unter  seinen  Gresinnungsgenossen  ein  Mann  von 
charaktervoller  Eigenart.  Er  gehort  zu  den  immer  seltener 
werdenden  orthodoxen  Theologen,  die  die  Abhangig- 
keit  der  theologischen  Aussagen  vom  innern  Leben  der 
Religion  noch  ins  Auge  fassen  und  daher  fiir  das  "Werden 
religioser  und  theologischer  Uberzeugungen  einen  Sinn  be- 
sitzen,  noch  mehr  —  er  wendet  diese  Erkenntnisse  auch 
an,  wo  es  sich  um  die  Deutung  der  theologischen  Satze 
der  Gregner  handelt.  Ob  ihm  diese  Methode,  die  seiner 
Darstellung  nnd  Kritik  Freiheit,  Farbe  und  Elastizitat  ver- 
leiht,  von  seinen  Freunden  nicht  bereits  als  ,,LiberalismTisu 
angerechnet  werden  wird,  weiC  ich  nicht,  furchte  es  aber. 
Sie  taten  ihm  freilich  bittres  Unrecht  damit;  denn  sie  haben 
keinen  bessern  nnd  wiirdigern  Kampfesgenossen  als  den 
Verfasser  dieses  Werkes,  und  er  gehort  vor  allem  deshalb 
ganz  zu  ihnen,  weil  ihm  iiber  die  geschichtliche  Richtigkeit 
und  Wahrheit  seines  7,biblisch-apostolischen  Grlaubens"  nie- 
mals  ein  Zweifel  kommt.  Der  sonst  so  freie  und  umsichtige 
Mann  ist  augenscheinlich  davon  iiberzeugt,  dafi  die  Frage, 
ob  es  iiberhaupt  ein  einheitliches  biblisches  Christentum 
in  dogmatischer  Auspragung  gibt,  hochst  iiberfliissig  sei. 
Er  ist  ebenso  davon  iiberzeugt,  dafi  die  milde,  pietistische 
Orthodoxie  sich  mit  dem  Inhalt  der  heiligen  Schriften  ein- 


Bitschl  und  seine  Schule.  349 

fach  decke.  Dennoch  hat  er  ein  trefflich.es  und  gerechtes 
theologisches  Buch  geschrieben,  und  man  fiihlt  sich  ihm 
innerlich  verwandt.  Wie  das  moglich  1st,  1st  schon  gesagt 

—  well  er  weifi,  was  religiose  Uberzeugungen  sind,  und 
wie  theologische  G-edanken  werden  und  wachsen. 

ni. 

Es  sind  hauptsachlich  zwei  Probleme,  um  deren  Unter- 
suchung  es  dem  Verfasser  zu  tun  gewesen  ist.  Erstlich 
die  theologische  Individualitat  Ritschls  zu  studieren  und 
aufzumerken ,  wo  etwas  von  ihm  zu  lernen  ist.  Zweitens 
festzustellen,  in  welchen  Bichtungen  sich  die  Schule  Bitschls 
bewegt,  in  welchen  Punkten  sie  von  dem  Meister  abweicht, 
und  wie  diese  Abweichungen  zu  beurteilen  sind.  Die  zweite 
Aufgabe  ist  meines  "Wissens  hier  zum  ersten  Male  gestellt 
und  bearbeitet;  denn  die  umfangreiche  Schmahschrift,  die 
Nippold  geschrieben  hat,  wird  vom  Yerfasser  mit  Recht 
der  Vergessenheit  uberlassen,  in  die  sie  gleich  nach  ihrem 
Erscheinen  verfallen  ist.  Er  hat  nur  die  Sache  und  ihre 
innere  Bewegung  im  Auge.  In  Wahrheit  aber  gestaltet  sich 

—  zwischen  den  Zeilen,  aber  deutlich  genug  —  seine  Arbeit 
zu  einer  Anklage  gegen  die  landlaungen  Gregner  der  von 
Ritschl  ausgegangnen  Bewegung,   also  gegen  seine  eignen 
theologischen    G-esinnungsgenossen :    sie    haben    sich    einen 
,,Bitschl"  konstruiert,  wie  sie  ihn  sich  wiinschten,  und  eine 
^Hitschlsche  Schule",  wie  sie  weder  je  existiert  hat,   noch 
existiert.     Sie   sehen   nicht    oder   wollen   nicht  sehen,    mit 
welcher  Freiheit   die   „ Schiller"    dem  Meister   von  Anfang 
an  zur  Seite  getreten,  wie  sie  bemiiht  gewesen  sind,  seine 
Satze  zu  korrigieren,  zu  erweitern  und  zu  erganzen,  und 
wie  es  —  wenigstens  unter  denen,  die  offentlich  aufgetreten 
sind  —  einen  Bitschlschen  Dogmatiker  strikter  Observanz 
niemals   gegeben  hat.     Man  kann  freilich  einwenden,   dafi 
die  Pietat  derer,  die  dankbar  bekennen,  von  Bitschl  gelernt 
zu  haben,  dem  gelehrten  und  dem  kirchenpolitischen  Pub- 


350  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  VII. 

likum  das  Urteil  iiber  ihr  Verhaltnis  zu  Kitsch!  erschwert 
hat.  Hat  doch  z.  B.  Herrmann  seinen  Dank  gegen  Ritschl 
stets  dort  am  warmsten  bekundet,  wo  er  sich  am  ent- 
schiedensten  von  ihm  entfernte.  Allein  man  schuldet  einem 
grofien  Denker  nicht  nur  die  Gedanken,  die  man  von  ihm 
iibernimmt,  sondern  vielleicht  noch  mehr  die  andern,  in 
denen  man  ilin  erganzt  oder  ikm  widerspricht;  denn  in  der 
geistigen  Arbeit  wie  in  der  mechanischen  kann  man  sich 
nur  auf  das  stiitzen,  was  Widerstand  leistet.  Auch  kommt 
es  denen,  die  weiter  arbeiten,  nicht  zu,  die  Summe  ihrer 
Arbeit  in  Vergleich  zu  setzen  mit  dem  Kapitale,  das  sie 
iiberliefert  erhalten  haben.  "Wer  das  beurteilen  will,  mufl 
die  Buchhalter  befragen,  die  freilich  bisher  unaufmerksam, 
liiderlich  und  tendenzios  die  Biicher  gefdhrt  haben.  Unser 
Verfasser  hat  es  besser  gemacht,  und  er  ist  daher  des  Danks 
aller  sicher,  denen  es  um  geschichtliche  Wahrheit  zu  tun  ist. 

In  seinen  Darlegungen  hat  sich  Ecke  lediglich  auf  das 
dogmatische,  ja  das  kirchlich-doginatische  Gebiet  beschrankt. 
"Was  Bitschl  dariiber  hinaus  als  Historiker  geleistet  hat, 
was  die,  die  zu  seinen  Schulern  gerechnet  werden,  wissen- 
schaftlich  erarbeitet  haben,  das  kiimmert  ihn  nicht.  Diese 
Beschrankung  war  gewiB  gestattet:  der  Verfasser  schreibt 
als  Diener  der  evangelischen  Kirche  und  in  ihrem  Interesse; 
er  will  seine  Grenzen  nicht  iiberschreiten.  Ein  vollstandiges 
Bild  von  der  Lebensarbeit  Ritschls  und  den  Arbeiten  seiner 
Schule  erhalt  man  freilich  so  nicht;  aber  es  war  auch  nicht 
beabsichtigt.  Es  handelt  sich  lediglich  um  das  Verhaltnis 
Ritschls  und  seiner  Schiller  zu  dem  ^kirchlichen"  Glauben 
der  Gegenwart. 

IV.  ' 

Der  Verfasser  hat  seinen  Stoff  in  fiinf  Kapitel  zerlegt. 
In  dem  ersten  sucht  er  Bitschl  nach  seiner  individuellen 
Eigenart  als  Dogmatiker  zu  verstehen  und  zu  wurdigen: 

Er  war  in  hohem  Mafle  befahigt,  Probleme  zu  ent- 
decken  und  in  anregender  Weise  neu  zu  bearbeiten  .  .  .  Er 


Bitschl  und  seine  Sclmle.  351 

ging  vom  Einzelnen  aus  und  verstand  es,  durch  sorgfaltige 
Bearbeitung  des  geschichtliclien  Stoffes  grofle  Gresichtspunkte 
zu  gewinnen.  .  .  .  Er  baute,  indem  er  kritisierte. 

Fiir  die  bedeutsamste  Kombination,  die  Ritschl  vollzogen 
hat,  erklart  der  Verfasser  die  energisclie  Verknupfung  der 
Tatsaclien  des  praktischen  G-eisteslebens  mit  der  geschicht- 
lichen  Offenbarung  in  der  Person  Christi  unter  scharfer 
Zuriickweisung  aller  unberechtigten  Anspriiche  der  theoreti- 
schen  Vernunft.  Mit  Recht  stellt  der  Verfasser  die  theologi- 
sche  Methode  Ritschls  sehr  hoch  und  behauptet,  Ritschl 
sei  in  seinen  Ausfiihrungen  iiber  Fragen  philosophischen 
Inhalts  weniger  glucklich.  gewesen  als  in  den  eigentlicli 
theologischen  Disziplinen.  Alles,  was  der  Verfasser  sonst 
noch  ausfiihrt,  namentlich  der  Nachweis,  wie  Ritschls  dog- 
matisches  System  in  geradezu  iiberraschender  Weise  den 
Stempel  seiner  scharf  gescnnittenen  geistigen  und  sittlichen 
Individualitat  tragt,  ist  vortrefflich.  beobacntet.  Ebenso  ist 
der  Hinweis  auf  das  Streben  Ritschls,  die  dogmatische 
Terminologie  zu  vereinfachen,  sehr  beachtenswert.  Endlich 
wird  der  Verfasser  das  Richtige  getroffen  haben,  wenn  er 
behauptet,  dafi  in  Ritschl  eine  aufierordentlich  kraftige 
und  in  sich  fest  geschlossene ,  aber  auch  sehr  einseitige 
Individualitat  unbewufit  die  Mafistabe  fur  die  Gruppierung 
und  Verwendung  der  biblischen  Aussagen  geliefert  hat. 
Hier  gedenkt  er  Ritschls  scharfer  Ablehnung  des  Pietismus 
in  jeder  Form  und  sucht  aus  ihr  die  Schranken  dieser 
,,mannlichena  Frommigkeit  zu  erklaren. 

Die  Kraft  dieser  Theologie  —  so  fafit  er  sein  Urteil 
zusammen  —  ruht  auf  ihrer  innern  Wahrheit,  auf  der  Uber- 
einstimmung  streng  wissenschaftlicher  Gredankenbildung  mit 
wirklich  vorhandner  praktischer  Frommigkeit;  ihre  Schranke 
liegt  in  der  nur  individuellen  Auffassung  des  Christentums, 
in  der  scharfen  Zuriickweisung  aller  Erganzung  und  Ver- 
tiefung  durch  anders  geartete,  in  der  christlichen  Gremeinda 
nicht  nur  heimatberechtigte,  sondern  auch  hervorragend  be- 


352  Zweiter  Band,  zweite  Abteilnng.     Aufsatze:  VII. 

wahrte  Frommigkeit.  Der  das  gesamte  theologische  Leben 
nnd  Wirken  Ritschls  ansfiillende  Kampf  gegen  den  Pietis- 
mus  hat  seiner  ganzen  Gredankenarbeit  ein  einseitiges  Qeprage 
gegeben,  hat  ihn  an  der  ruhigen  Entfaltung  seiner  prinzi- 
piellen  Grrundanschauungen  gehindert,  hat  die  Kraft  seiner 
guten  Methode  wesentlich  geschwacht  nnd  die  bedanerliche 
Folge  gehabt,  daB  die  unleugbaren  Verdienste,  welche  Kitschl 
zuerkannt  werden  miissen,  bis  jetzt  in  kirchlichen  Kreisen 
nur  geringe  Wiirdigung  gefunden  haben. 

,,Es  ist  Ritschl  gerade  das  begegnet,  was  er  durch 
seine  gate  Methode  vermeiden  wollte"  nnd,  wie  der  Ver- 
fasser  meint,  auch  vermeiden  konnte  —  statt  eines  all- 
gemein  giiltigen  Ausdrucks  bietet  er  „  individuelles  Christen- 
tum  mit  all  seinen  Schranken  nnd  Irrungen". 

Ich  vermag  dem  Meisten  von  dem  zuznstimmen,  was 
der  Verfasser  Tiber  Eitschls  Eigenart  in  vortrefflicher  Weise 
ansgefdhrt  hat,  nnd  glanbe  doch  nicht,  daB  sie  hier  voll- 
standig  in  ihrer  Tiefe  nnd  Einheitlichkeit,  in  ihren  Zielen 
und  Ansgangspnnkten  erfafit  ist.  Es  sind,  wenn  ich  recht 
sehe,  drei  Momente,  die  man  in  den  Vordergrnnd  zn  stellen 
hat,  die  aber  in  innigstem  Znsam  m  enhang  stehen.  Erstlich, 
Ritschl  wollte  keine  ,,Fragniententheologieu,  sondern  eine 
straffe,  einheitliche  und  geschlossene  Ansehannng;  was  sich 
in  diese  nicht  fiigte,  schlofl  er  riicksichtslos  ans,  zerbrach 
es  oder  erklarte  es  fur  ,,individuella.  Lebt  der  Grlaube  von 
hellen  und  klaren  Erkenntnissen  —  von  der  Erkenntnis 
Grottes  als  des  Vaters  Jesu  Christ!  — ,  hat  Jesus  Christus 
den  Vater  nicht  verhiillt  oder  in  ein  mystisches  Dunkel 
geschoben,  sondern  offenbar  gemacht,  so  mufi  es  moglich 
sein,  in  klarer  und  befreiender  Weise  von  ihm  zu  reden 
und  das  Los  und  die  Uberzeugung  der  Christenheit  unter 
einem  solchen  Grott  zur  Darstellung  zu  bringen.  Zweitens, 
Eitschl  wollte,  indein  er  eine  helle  Theologie,  d.  h.  deut- 
liche  Grlaubensaussagen,  verlangte,  in  keinem  Sinne  von  der 
^natiirlichen  Theologie"  etwas  wissen,  die  er  fur  ein  will- 


Kitsch!  und  seine  Schule.  353 

kiirlich  von  der  Philosophie  abstrahiertes  Kunstprodukt 
erklarte,  sondern  er  wollte  sich  ausschliefilich  an  die 
G-eschichte  halten.  Ihr  G-ebiet  als  Lehrmeisterin  der 
praktischen  Weltanschauung  suchte  er,  wie  gegen  die 
Philosophie,  so  gegen  die  isolierte  ,,innere  Erfahrung" 
abzugrenzen.  Er  dachte  dabei  nicht  ausschlieMch  an  die 
sogenannte  heilige  Greschichte,  sondern  neben  dieser  war 
ihm  der  ganze  Verlauf  der  Menschheitsgeschichte,  die  in 
ihrem  Kern  Religionsgeschichte  ist,  der  gegebne  Stoff, 
aus  dem  er  schopfte.  Endlich  drittens  —  und  das  scheint 
mir  der  Verfasser  vor  allem  ubersehen  zu  haben  —  Ritschl 
war  protestantischer,  d.  h.  antikatholischer  Theologe  von 
einer  Scharfe  und  Entschiedenheit,  wie  wir  solche  seit 
Flacius,  Chemnitz  und  den  Tagen  der  altprotestantischen 
Orthodoxie  nicht  mehr  eiiebt  haben.  Hier  liegt  das  eigent- 
liche  Q-eheimnis  seiner  Eigenart,  Anziehungskraft  und 
Grofie.  Sein  Kampf  gegen  den  Pietismus  war  nichts 
andres  als  ein  Kampf  gegen  den  Katholizismus ,  und  er 
fiihrte  diesen  Kampf  so  energisch,  weil  er  der  Uber- 
zeugung  lebte,  dafi  nicht  weniger  als  der  ganze  Protestan- 
tismus  auf  dem  Spiele  stehe.  Merkwiirdig,  wie  wenig  ihn 
seine  pietistischen  G-egner  im  Protestantismus  verstanden 
haben!  Sie  glaubten,  er  unterschatze  den  Pietismus;  im 
G-egenteil,  er  hielt  ihn  fur  den  einzigen  Q-egner,  mit  dem 
eine  Auseinandersetzung  kirchlich-theologischer  Art  not- 
wendig  sei,  weil  er  ihn  als  Katholizismus  in  evangelischer 
Drapierung  beurteilte.  Der  reformatorische  Kampf  des 
sechzehnten  Jahrhunderts  mufl  fortgesetzt  werden,  nicht 
um  einige  weitere  unbegreifliche  Dogmen  los  zu  werden  — 
an  solcher  Befreiung  lag  ihm  merkwiirdig  wenig  — ,  sondern 
um  in  der  evangelischen  Kirche  die  Haltung,  Stimmung 
und  G-esinnung  zur  Herrschaffc  zu  bringen,  die  ihm  die 
evangelische  schien,  und  die  der  katholischen  entgegen- 
gesetzt  sei.  Vor  dem  Katholizismus,  seiner  Weite,  Starke, 
seiner  in  der  Autoritat  gegebnen  Einheitlichkeit  und  der 

Harnaek,  Reden  und  Aufsatze.    2.  Anfl.    n.  23 


354  Z welter  Band,  zweite  Abteiltmg.     Aufsatze:  VH. 

Eigenart  seiner  Frommigkeit  hatte  er  den  hochsten  Re- 
spekt;  ihm  gegeniiber  erschien  ihm  der  Protestantismus, 
wie  er  heute  lebt,  fragmentarisch,  buntscheckig,  vielfach 
haltlos  und  ohne  sichere  Orientierung.  Aber  er  war  noch 
so  altmodisch,  an  Konfessionen  die  Mafistabe  wwahr  und 
falsch"  anzulegen.  Den  Katholizismus  hielt  er  fur  falsch; 
im  Protestantismus  sah  er  grundlegende  und  entscheidende 
Momente  der  Wahrheit  gegeben.  Diese  wollte  er  hervor- 
ziehen,  ihnen  eine  souverane  Q-eltung  verleihen  und  so 
dem  Protestantismus  eine  feste  religiose  G-esinnung  und 
Stimmung,  eine  helle  G-laubenslehre  und  einen  sichern 
Zusammenhang  mit  dem  aktiven  Leben  geben.  In  alien 
diesen  Beziehungen  sollte  er  sich  als  die  positive  und  ent- 
schiedne  Antithese  zum  Katholizismus  offenbaren  oder 
richtiger  als  die  scharf  abgegrenzte  hohere  Stufe  iiber  ihm. 
Die  autoritative  Einh.eitlich.keit  des  Katholizismus  soil  iiber- 
boten  werden  durch  die  innere  Einheit  des  protestantischen 
Systems;  die  asketisch-kontemplative  Frommigkeit  soil  ab- 
gelost  werden  durch  die  tatige,  und  in  der  Kombination 
des  Rechtfertigungsglaubens  mit  dem  Yorsehungsglauben 
und  der  ,,christlichen  Vollkommenheit  im  tatigen  Leben" 
soil  sich  die  Einheit  des  geschichtlichen  Grundes  der 
christlichen  Religion  mit  ihrem  fortwirkenden  Leben  dar- 
stellen.  In  alien  diesen  Beziehungen  erschien  ihm  der 
Pietismus  als  der  Feind.  Mochten  auch  personliche  Er- 
lebnisse  ihn  mit  zum  Kampfe  bestimmt  haben  —  die  letz- 
ten  Grriinde  lagen  tiefer.  Er  war  uberzeugt,  dafi  der  Pro 
testantismus  nur  zu  sich  selber  kommen  und  sich  behaupten 
werde,  wenn  er  alles  Katholische  iiberwinde.  Der  Pietis 
mus  aber  schien  ihm  als  Lehre  und  Leben  die  Macht  zu 
sein,  die  den  Protestantismus  niederzwingt,  ihn  zu  einer 
bloBen  Abart  des  Katholizismus  von  zweifelhaftem  Existenz- 
recht  stempelt  und  ihn  daran  hindert,  die  Keimblatter 
abzustofien  und  seine  Bliiten  zu  entfalten.  Eitschl  wollte 
eine  neue,  von  Katholizismus  und  Pietisnms  gereinigte, 


Bitschl  und  seine  Schule.  355 

stramme  protestantische  Orthodoxie.  Sie  sollte  wieder  in 
der  Sitte  leben,  aber  auch  in  der  Gesinnung  nnd  in  der 
Tat.  Dagegen  sollten  alle  unruhigen,  riihrenden  und 
schmelzenden  Elemente  ausgeschlossen  sein.  Er  glanbte, 
diese  Form  allgemein  giiltig  gefunden  zu  haben,  nnd  er 
hiitete  sie  wie  Flacius  die  seine. 

Welch  ein  holies  Ziel,  und  welch  ein  Idealismus!  Der 
feste  Glaube  an  die  Moglichkeit,  eine  streng  einheitliche 
Erkenntnis  Gottes  und  der  Welt  zu  gewinnen!  Der  Ver- 
zicht  auf  die  Philosophic  zu  gunsten  der  Geschichte!  Die 
Uberzeugung,  dafi  die  Reformation  des  sechzehnten  Jahr- 
hunderts  ein  positives,  unerschiitterliches  Gut  im  Reiche 
der  Religion  und  des  Gedankens  gewonnen  hat,  das  nur 
rein  entwickelt  zu  werden  braucht,  um  den  Katholizismus 
herabzudriicken  und  auf  ewig  ins  Unrecht  zu  setzen!  In 
dem  Gefiige  dieser  Gedanken  lebte  Ritschl,  das  waren 
seine  Ziele,  und  jedes  hohe  und  jedes  herbe  Wort,  das  er 
gesprochen,  ist  von  hier  aus  zu  verstehen.  Wer  unter  uns 
lebt  noch  der  vollen  Zuversicht,  die  diesen  grofien  Theo- 
logen  beseelte?  Wer  getraut  sich,  die  Gedanken  so  streng 
antithetisch  und  so  exklusiv  zu  entwickeln  wie  er?  Wir 
sind  alle  viel  skeptischer  und  darum  an  den  letzten  Punkten, 
wo  es  sich  um  das  Leben  der  Frommigkeit  selbst  handelt, 
viel  konservativer  als  er,  weil  wir  nicht  wie  er  sicher  sind, 
jeden  Abstrich  reichlich  ersetzen  zu  konnen.  Aber  wer 
diesen  theologischen  Denker  in  seinen  grundlegenden  Aus- 
fiihrungen  und  in  den  entscheidenden  Schlufifolgerungen 
verstanden  hat,  wie  sie  im  dritten  Bande  seines  Haupt- 
werks  und  in  der  Einleitung  zur  Geschichte  des  Pietismus 
enthalten  sind,  den  lafit  er  nicht  mehr  los.  In  der  Rich- 
tung,  die  Ritschl  gewiesen  hat,  liegt  die  Zukunft  des 
Protestantismus  als  Religion  und  als  geistige  Macht.  Auch 
das  vorstehende  Buch  ist  dafiir  ein  Beleg. 


23* 


356  Z  welter  Band,  zweite  Abteilung.    Aufsfttze:  VII. 

V. 

In  dem  zweiten  Kapitel  erortert  der  Verfasser  wfremd- 
artige  Elemente  in  Ritschls  Theologie".  Ich  halte  diese 
Unterscheidnng  fur  glncklich  gewahlt  nnd  frnchtbar.  Sie 
enthalt  als  Voranssetzung  die  Anerkennung,  dafl  die  Theo- 
logie  Ritschls  im  ganzen,  d.  h.  in  den  Motiven  nnd  Zielen, 
wirklich  eine  einheitliche  ist,  nnd  sie  ist  anch  dann  be- 
rechtigt,  wenn  sich  ergeben  sollte,  daJS  in  den  ^fremd- 
artigen  Elementen"  vorziigliche  Elemente  stecken.  Der 
Verfasser  ist  freilich  der  Meinnng,  daB  sie  samtlich  minder- 
wertig,  ja  haretisch  oder  doch  bedenklich  sind.  Anf  diese 
Kontroverse  ausfuhrlich  einzugehen,  ist  hier  nicht  der  Ort. 
Sieben  Gredankenreihen  werden  nns  vom  Verfasser  als  solche 
bezeich.net,  die  Ritschl  hatte  ansschliefien  miissen,  statt  sie 
aufzunehmen. 

Die  erste  ist  jener  Versnch,  den  christlichen  G-edanken 
von  Grott  als  wissenscnaftlich  notwendig  nacnznweisen,  den 
E/itschl  in  der  ersten  Auflage  nnternommen,  dann  aber 
selbst  zuriickgestellt  hat.  Die  zweite  sind  gewisse  Aus- 
fiihrungen  iiber  die  Personlichkeit  Gottes,  die  ans  spekula- 
tiven  Erwagungen  nnter  Anlehnung  an  Lotze  fliefien.  Als 
firemdartige  Elemente  werden  drittens  die  erkenntnistheo- 
retischen  Anfstellungen  betrachtet,  die  zum  Teil  Kant,  zum 
Teil  ebenfalls  Lotze  entlehnt  sind.  Besondres  G-ewicht  aber 
legt  Ecke  viertens  daranf,  dafi  Ritschl  in  entschiedner  Ab- 
weichung  von  seinen  eignen  offenbarungsglanbigen  Vorans- 
setzungen  den  biblischen  Begriff  des  Zorns  Q-ottes  nicht 
gelten  lasse,  beziehungsweise  nmdeute,  sich  stranbe,  Grottes 
Wesen  in  die  geschichtliche  Entwicklung  hineinzuziehen  nnd 
Grott  wechselnden  Stimmnngen  zn  nnterwerfen.  Hiermit  habe 
er  die  ,,snpranatnraleZuruckhaltnng  gegeniiber  der  metaphy- 
sischen  Spekulation"  verlengnet,  die  ihn  sonst  von  dem  Ra- 
tionalismns  nnterscheide.  Hier  hat  der  Verfasser  meines  Er- 
achtens  in  der  Tat  einen  Punkt  getroffen,  in  dem  sich  die 


Eitschl  und  seine  Schule.  357 

Unhaltbarkeit  des  ,,reinen  biblischen  Offenbarungsglaubens", 
wie  ihn  Ritschl  proklamiert  hat,  erweist;  allein  Ritschl  liat 
stets  eine  Bedingung  mit  in  den  Ansatz  gestellt,  die  er 
freilich  nicht  deutlich  genug  geltend  gemacht  hat  —  nam- 
lich  die  der  Einheitlichkeit  und  Widerspruchslosigkeit  der  zu 
gewinnenden  Vorstellungen,  aus  der  sich  die  Zuriickstellung 
der  niedern  und  ungefugen,  beziehungsweise  ihre  Verweisung 
aus  dem  Bereich  theoretischer  Vorstellungen  von  selbst  ergibt. 
Biblizist  im  strengen  Sinne  des  Worts  ist  er  nicht  gewesen, 
sondern  er  suchte  das  Neue  Testament  durch  das  Neue  Testa 
ment  zu  kritisieren  und  abzustufen.  Ob  er  dann  noch  ein 
Recht  hatte,  so  souveran  und  siegesgewiB  seinen  theolo- 
gischen  Standpunkt  von  dem  kritischen  Biedermanns  und 
anderer  abzugrenzen,  ist  eine  Frage,  die  ich  nicht  bejahen 
mochte.  Andrerseits  vermag  ich  nicht  einzusehen,  dafi 
eine  ,7dualistische"  Betrachtung  oder  eine  laxe  Auffassung 
entstehen  soil,  wenn  der  nZorn  Gottes"  als  von  Gott  ver- 
hangte  Strafempfindung  des  Sunders  aufgefaBt  wird,  namlich 
als  das  Gesetz  G-ottes  iiber  den  Sunder.  Getraut  sich  Ecke 
wirklich,  alles  das  in  die  Gotteslehre  im  strengen  Sinne 
des  Worts  aufzunehmen,  was  in  der  heiligen  Schrift  iiber 
den  zornigen  Gott  zu  lesen  steht?  Umgekehrt  aber  —  be- 
halten  diese  Stellen  nicht  ihren  Wert  als  notwendige  Aus- 
sagen  des  siindigenden  Menschen  iiber  Gott? 

Zu  den  fremdartigen  Elementen  in  Eitschls  Theologie 
rechnet  der  Verfasser  funftens  gewisse  christologische  Aus- 
fuhrungen,  namlich  alle  diejenigen,  in  denen  Bitschl  die 
Glaubigen  an  den  Pradikaten  Christi  teil  haben  lafit.  Doch 
hat  der  Verfasser  diesen  Punkt,  an  dem  Bitschl  nicht  ein- 
mal  den  Bibelbuchstaben  uberall  gegen  sich  hat,  so  kurz 
—  eigentlich  nur  mit  Befremden  —  behandelt,  dafi  er  hier 
auf  sich  beruhen  kann. 

Am  ausfuhrlichsten  sucht  Ecke  Bitschls  Zuriickhaltung 
in  bezug  auf  die  Frage  nach  der  personlichen  Gemeinschaft 
der  Glaubigen  mit  Christus  als  dem  erhohten  Herrn  der 


358  Z  welter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  ^7TI. 

Gemeinde  und  seine  eigentumlichen  Ausfuhrungen  uber  den 
heiligen  Geist  als  fremdartig  nachzuweisen.  Dort  scheint 
er  mir  zu  iibersehen,  daft  Kitsch!  die  Religionslehre  all- 
gemeingultig  ausbilden  wollte  —  ob  das  moglich  ist,  ist 
eine  andre  Frage;  aber  Ritschl  hat  jedenfalls  vieles  nicht 
nur  gelten  lassen,  sondern  anerkannt,  was  er  dock  von 
dem  „  System"  fern  hielt  — ;  hier  wird  man  dem  Verfasser 
in  weitesten  Kreisen  einraumen,  daft  Hitschls  Darlegungen 
nnbefriedigend  und,  auch  von  seinen  eignen  Pramissen  aus, 
iiberraschend  diirftig  gewesen  sind.  Den  Kanon  aber,  den 
der  Verfasser  am  Schluft  dieses  Kapitels  gel  tend  macht: 
7,Alle  Ansspriiche  Ritschls,  die  den  supranaturalen  Grund- 
iiberzeugungen  im  "Wege  stehen,  miissen  als  widerspruchs- 
volle  nnd  fremdartige  Elemente  in  seinem  System  angesehen 
und  dementsprechend  beseitigt  werden,"  mochte  ich  ihm 
nicht  abstreiten,  das  heiftt:  Ritschl  selbst  hat  ihm  das 
Recht  gegeben,  so  zu  folgern.  Allein  Ritschls  biblischer 
Standpunkt  war  nicht  geklart  —  hier  war  seine  Achilles- 
ferse  — ,  und  darum  ist  es  doch  nicht  richtig,  alles  das  als 
^fremdartig"  zu  bezeichnen,  was  sich  dem  Biblizismus  nicht 
fiigt.  Ritschl  war  heterodoxer,  als  es  nach  dem  prokla- 
mierten  Ausgangspunkt  seiner  Theologie  den  Anschein  hat. 
In  den  Ausfuhrungen  hat  er  selbst  daruber  keinen  Zweifel 
gelassen. 

VI. 

Der  Verfasser  unterbricht  in  dem  umfangreichen  dritten 
Kapitel  die  Darstellung  und  Kritik  der  Ritschlschen  Theo 
logie,  um  eine  ausfuhrliche  Schilderung  der  Entstehung  und 
des  Entwicklungsgangs  der  Ritschlschen  Schule  zu  geben 
(S.  67 — 130).  Er  unterscheidet  drei  Abschnitte,  deren  Gren- 
zen  die  Jahre  1880  und  1889  bilden.  Die  Gelehrten,  deren 
Auftreten  und  Eigentumlichkeit  er  schildert,  stehen  mir 
fast  samtlich  zu  nahe,  als  daft  ich  es  unternehmen  diirfte, 
iiber  diesen  Abschnitt  zu  berichten.  Soviel  aber  sei  gesagt, 


Eitschl  und  seine  Schule.  359 

dafi  der  Verfasser  auch  hier  lediglich  von  der  Absicht  ge- 
leitet  1st,  der  Wahrheit  zu  dienen  und  Verstandnis  zu  er- 
wecken.  Was  mich  selbst  anlangt,  so  1st  das,  was  der 
Verfasser  iiber  mein  Verhaltnis  zu  Bitschl  bemerkt  (iiber 
meine  von  Bitschl  abweichende  Stellung  zum  Neuen  Testa 
ment  und  iiber  die  Erweiterung  des  religionsgeschichtlichen 
und  deshalb  auch  des  systematischen  Feldes),  richtig.  Audi 
halte  ich  die  scharfe  Antithese  gegen  die  katholische 
Frommigkeit  und  Bitschls  Versuch,  die  evangelisch-pro- 
testantische  Frommigkeit  exklusiv  gegeniiber  der  katho- 
lischen  zu  formulieren,  in  der  von  Ritschl  gegebnen  Form 
nicht  fur  haltbar.  Eben  deshalb  teile  ich  auch  nicht  seine 
Beurteilung  des  evangelischen  Pietismus,  fLn.de  sie  vielmehr 
einseitig,  eng  und  parteiisch,  ohne  zu  verkennen,  dafi  Ritschl 
in  dem,  was  er  als  ,,christliche  Vollkommenheit"  formuliert, 
den  Nagel  auf  den  Kopf  getroifen  hat.  Aber  diese  ,,christ- 
liche  Vollkommenheit"  lafit  eine  Reihe  von  Elementen  zu, 
ja  fordert  sie,  die  Ritschl  als  ,,pietistische"  verworfen  hat. 
Dagegen  muB  ich  es  ablehnen,  ,,in  zielbewuBter  Aktionu 
den  Apostolikumstreit  heraufgefuhrt  zu  haben.  Ich  scheue 
mich  nicht  vor  dem  Kampf,  auch  nicht  vor  dem  kirchen- 
politischen;  aber  niemand  ist  durch  den  Apostolikumstreit 
mehr  iiberrascht  worden  als  ich  selber.  Nach  allem,  was 
ich  bereits  veroffentlicht  hatte,  konnte  ich  nicht  ahnen,  dafi 
eine  wohl  erwogne  und  mafivolle  Kritik  des  Apostolikums, 
iiber  die  niemand  sich  wundern  durfte,  der  meine  Schriften 
kannte,  als  Feuerzeichen  in  der  Kirche  aufgepflanzt  werden 
wiirde.  Es  ware  auch  schwerlich  geschehen,  wenn  nicht 
die  kirchenpolitische  Lage  - —  Ablehnung  des  Schulgesetzes 
—  der  von  Herrn  von  Hammerstein  geleiteten  Partei 
einen  Kampf  gegen  den  7,Liberalismus"  auf  offner  Szene 
damals  wiinschenswert  gemacht  hatte.  Dazu  sollte  es  mir 
vergolten  werden,  dafi  ich  iiberhaupt  nach  Berlin  gekommen 
war.  Endlich,  ich  selbst  war  auf  dem  Berliner  Boden  ein 
Neuling  und  wuOte  nicht,  auf  welcher  negativen  Hohe 


360  Z welter  Band,  zweite  Abteilung.    Aufsatze:  VII. 

ich  in  den  Augen  meiner  Qegner  stand,  und  wie  meine 
Aufierungen  belauert  wurden.  Wenn  ich  eine  ,,zielbewuOte 
Aktion"  hatte  unternehmen  wollen,  so  ware  ich  nicht  so 
unvorsichtig  und  so  geschmacklos  gewesen,  bei  der  Lehre  von 
der  Greburt  aus  der  Jungfrau  einzusetzen,  iiber  die  auf 
dem  Markte  zu  streiten  anstofiig  und  hafilich  ist.  Auch 
die  Behauptung  Eckes  mufi  ich  zuriickweisen,  ich  hatte 
wiederholt  durch  unvorsichtige  Formulierungen  den  Gegen- 
satz  zu  meinen  kirchlichen  Gregnern  verscharffc.  Formulie 
rungen,  die  in  ihren  Grenzen  betrachtet  sein  wollten,  wur 
den  vom  Reichsboten  und  andern  Blattern  zu  7,Pronuncia- 
mentos"  gestempelt,  in  denen  ich  angeblich  den  ganzeri 
christlichen  Glauben  hatte  aussprechen  wollen.  Ich  habe 
zu  diesen  aus  Unkenntnis  und  Furcht  gebornen,  immer 
neuen  Angriffen  bisher  stets  geschwiegen.  Einem  so  ach- 
tungswerten  Gregner  wie  dem  Verfasser  gegenuber  luhle 
ich  mich  aber  verpflichtet,  darauf  hinzuweisen,  dafi  meine 
theologische  Schriffcstellerei  so  umfangreich  ist,  dafi  ich  es 
mir  verbitten  darf,  nach  einzelnen  Satzen,  die  aus  einem 
Vortrage  herausgerissen  werden,  auf  Soil  und  Haben  be- 
urteilt  zu  werden.  Wir  wollen  unsre  theologischen  Kampfe 
doch  nicht  auf  der  Stufe  der  Journalistik  fuhren,  wo  nur 
das  gilt,  was  gestern  gesagt  worden  ist,  fur  die  keine 
Biicher  existieren,  sondern  nur  Vortrage  und  Ausspriiche, 
7,aus  denen  sich  etwas  machen  lafit".  Eben  weil  der  Ver 
fasser  diesen  Krebsschaden  kennt  und  an  seinem  Teile  ehr- 
lich  und  mit  Erfolg  bemuht  gewesen  ist,  ihn  auszuschneiden, 
darf  ich  ihn  bitten,  sich  noch  energischer  aus  den  Schlingen 
der  kirchlichen  Tagesmeinungen  zu  befreien.  Uber  unser 
aller  Haupten  schwebt  diese  unheimliche  Macht: 

Mich  angstet  das  Verfangliche 
Im  widrigen  G-eschwatz, 
Und  mich  befallt  das  bangliche, 
Das  grau  gestrickte  Netz. 


Ritschl  und  seine  Schule.  361 

VII. 

In  dem  vierten  Kapitel  (S.  131 — 241)  und  dem  funften, 
das  den  Schlufl  (S.  242—318)  bildet,  liegt  der  Schwerpunkt 
des  Buches.  In  jenem  untersucht  der  Verfasser  ,,den  Wahr- 
heitsgehalt  der  Ritschlschen  Theologie".  Es  ist  wirklich 
eine  kirchliche  Tat  des  Verfassers,  dafi  er  in  ausfiihrlicher 
Darstellung  seinen  Gesinnungsgenossen  einmal  vorgefohrt 
hat,  was  sie  Ritschl  verdanken.  Was  man  Gotts  chick, 
Herrmann  und  Kaftan  nicht  glauben  wollte,  wird  man 
vielleicht  dem  Prediger  am  evangelischen  Diakonissenhause 
in  Bremen  einraumen.  In  drei  grofien  Abschnitten  legt 
Ecke  den  ^Wahrheitsgehalt  der  Bitschlschen  Theologie" 
dar.  Er  handelt  erstlich  von  der  Bedeutung  der  neuen 
Methode  fur  die  wissenschaftliche  Behandlung  der  Glaubens- 
lehre,  sodann  von  der  :,erfolgreichen  Bekampfung  des  speku- 
lativen  Rationalismus"  durch  Ritschl,  endlich  -  -  und  das 
ist  das  hellste  Zeugnis  fur  die  Einsicht  des  Verfassers  — 
von  Bitschls  berechtigter  Kritik  ungesunder  Frommigkeit. 

Es  wiirde  zu  tief  in  theologische  Fragen  fiihren,  wollte 
ich  hier  ein  kritisches  Referat  geben  liber  die  Gredankeii- 
reihen,  in  denen  Ecke  eine  entscheidende  Forderung  der 
Behandlung  der  Grlaubenslehre  bei  Ritschl  erkennt.  Die 
Art,  wie  Ritschl  die  GrroCen  Jesus  Christus,  Siindenverge- 
bung,  Gremeinde  als  Ausgangspunkte  verwertet,  wird  vom 
Verfasser  anerkannt  und  als  ein  Fortschritt  geschatzt. 
Wenn  er  aber  (S.  147)  bemerkt,  es  mlisse  das  Charisma 
dieser  theologischen  Richtung  fur  die  Losung  der  apologe- 
tischen  Aufgaben  der  christlichen  Gemeinde  anerkannt 
werden,  so  furchte  ich,  dafi  die  Geschichte  der  Gregenwart 
und  Zukunft  ihm  nicht  recht  geben  wird.  Ritschl  hat 
seine  Theologie  ^vom  Standpunkt  der  Gemeinde"  entworfen 
und  deshalb  eine  groJBe  Anzahl  entscheidender  Vorfragen 
einfach  zur  Seite  geschoben.  Wer  sich  von  ihm  in  die 
Theologie  einfdhren  lafit,  der  wird  -  -  namontlich  wenn  er 


362  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  VIE. 

sich  schon  jahrelang  mit  der  Apologetik  abgemuht  liat  — 
zunachst  gewifi  den  befreienden  Eindruck  erhalten,  dafi  er 
einer  Fiille  lastender  Fragen  nun  gliicklich  entronnen  ist 
und  sich.  in  einem  eignen  Hause  heimisch  machen  darf. 
Aber  es  wird  nicht  lange  dauern,  so  wird  er  den  Grund 
nnd  Boden  untersuchen  miissen,  auf  dem  das  Haus  steht, 
und  den  Besitztitel  zu  prufen  anfangen.  Die  alien  apolo- 
getischen  Hauptfragen  werden  sich  wieder  einstellen,  die 
Ritschl  mundtot  gemacht  zu  haben  glaubte.  So  ist  es  schon 
manchem  ergangen,  wahrend  umgekehrt  von  einer  bedeuten- 
den  apologetischen  Wirkung  der  Eitschlschen  Theologie  in 
weitern  Kreisen  meines  Erachtens  wenig  zu  spiiren  ist. 
Diese  Theologie  hat  uberall  —  das  zeigt  die  G-eschichte 
ihrer  Verbreitung,  und  das  ist  auch  dem  Verfasser  nicht 
entgangen  -  -  die  Orthodoxie  der  fiinfziger  Jahre  unsers 
Jahrhunderts  zu  ihrer  Voraussetzung,  und  sie  hat  auf  solche 
entscheidend  gewirkt,  die  mit  der  Orthodoxie  in  der  An- 
erkennung  des  absoluten  Charakters  des  Christentums  einig 
waren  und  blieben,  aber  sonst  die  Fesseln  dieser  Denkweise 
driickend  empfanden.  Dennoch  will  ich  nicht  verkennen, 
dafl  uberall  dort,  wo  ein  gewisser  Skeptizismus  in  bezug 
auf  das  theoretische  Welterkennen  herrschend  geworden 
ist,  die  Ritschlsche  Theologie  als  das  geistige  Komplement 
zu  einer  gern  festgehaltenen  Kircnlichkeit  Dienste  leisten 
kann. 

Was  dann  Ecke  in  Hinsicht  auf  die  Uberlegenheit  des 
Hitschlschen  Standpunktes  gegeniiber  dem  modernen  Ratio- 
nalismus  ausfuhrt,  liest  man  mit  besonderm  Interesse. 
Endlich  einmal  erkennt  die  Orthodoxie  an,  was  einst  gewifi 
als  die  Hauptwirkung  der  Ritschlschen  Theologie  in  den 
Annalen  der  protestantischen  Kirchengeschichte  verzeicnnet 
stehen  wird:  Ritschl  hat  den  spekulativen  Rationalismus 
innerhalb  der  evangelischen  Theologie,  der  sich  als  das 
gelauterte  Christentum  gab,  besiegt  —  besiegt  zunachst 
in  dem  Sinne,  in  dem  in  der  Greschichte  vorlaufige  Siege 


Ritschl  und  seine  Schule.  363 

erstritten  werden:  er  hat  ihn  von  der  Biihne  verdrangt. 
An  sechs  Punkten  zeigt  der  Verfasser  sehr  geschickt  und 
eindrucksvoll  die  Uberlegenheit  der  Ritschlschen  Aus- 
fiilirungen  (Siindenvergebung,  Identitat  der  Person  Christi 
und  des  nlleilsprinzipsu,  christliche  G-emeinde,  Lehre  von 
der  Siinde  und  Schuld,  Wunderfrage,  Theismus).  Ich  wiirde 
aber  vor  allem  hervorheben,  dafi  die  Eitschlsche  Theologie 
durch  das  hohere  Mafi  geschichtlicher  Einsicht  den  spekula- 
tiven  Rationalismus ,  der  zogernd  auf  die  wirkliche  G-e- 
schichte  einging,  iiberwunden  hat.  Aber  man  darf  es  nicht 
verschweigen,  der  Zug  der  Zeit  kam  ihr  zu  Hilfe,  und  der 
spekulative  Rationalismus  ist  demgemafi  selbst  in  einer 
Umbildung  begrrffen.  "Wenn  er  sich  die  G-eschichte  ange- 
eignet  hat  —  in  einem  andern  Sinn,  als  Biedermann  es 
getan  — ,  wenn  er  zunachst  lauschend  und  lernend  den 
ganzen  Reichtuin  geschichtlicher  Wirklichkeit  und  indivi- 
dueller  Eigenart  in  sich  aufgenommen  hat,  dann  wird  er, 
das  steht  auGer  jedem  Zweifel,  mit  sieben  Geistern  zuriick- 
kehren,  und  es  werden  keine  Teufel  sein,  sondern  starke 
und  lichte  Greister.  Dann  wird  noch  einmal  ein  heiGer 
Kampf  beginnen,  und  wenn  sich  die  Ritschlsche  Betrachtung 
der  Dinge  bis  dahin  nicht  erweitert  und  nicht  ihren  ex- 
klusiven  Offenbarungsstandpunkt  okumenischer  gestaltet 
hat  —  auch  das  nur  Relative  ist  wertvoll,  und  unter  der- 
selben  Sonne  liegen  verschiedne  Zonen  — ,  wird  sie  einen 
schweren  Stand  haben.  Das,  was  man  mit  Ecke  ^spekula- 
tiven  Rationalismus"  nennen  kann,  mufi  doch  in  sich  wieder 
unterschieden  werden.  Als  zeitgeschichtliche  Erscheinung, 
die  G-eschichte  destillierend  und  ihr  bestes  Teil  wegdestillie- 
rend,  ist  er  abgetan.  Aber  wenn  wir  uber  die  G-eschichte 
in  ihren  grofien  Ziigen  nachdenken  und  aus  ihr  etwas  bauen 
wollen,  sind  wir,  offenbarungsglaubig  oder  nicht,  doch  alle 
spekulative  Rationalisten  —  kundige  oder  unkundige,  und 
wiederum  bescheidne,  verschamte  oder  unverschamte;  denn 
es  gibt  unter  den  Denkenden  keine  andern  Rassen.  In 


364  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  VII 

einem  aber  wird  BitscKl  siegreich  bleiben,  und  unvergessen 
wird  seine  Arbeit  gegeniiber  dem  spekulativen  Rationalis- 
mus  alter  Art  sein:  das  ist  sein  Theismus  oder,  urn  dies 
hafiliche  Fremdwort  gut  deutsch  zu  ersetzen,  sein  Zeugnis 
vom  lebendigen  Grott,  der  nicht  mit  der  Natur  verfLochten 
ist,  und  der  Greister  erschafft  und  befreit,  damit  sie  ihn 
erkennen  und  sich  zu  ihm  erhebeii.  Aber  auch  das  andre 
wird  bleiben,  dafi  es  keinen  Grattungsbegriff,  sei  es  der  des 
Reformators ,  Propheten,  Religions stifters  usw.  gibt,  unter 
den  man  Jesus  Christus  subsumieren  darf.  Es  gibt  vieler- 
lei  Offenbarungen,  aber  fur  uns  gibt  es  nur  einen  Meister 
und  Herrn. 

Dem,  was  der  Verfasser  endlich  iiber  Ritschls  berechtigte 
Kritik  ungesunder  Frommigkeit  ausfuhrt,  stimme  ich  ganz 
wesentlich  bei.  Die  Darlegungen  zeigen  so  viel  Mafi  und 
Urteil ,  dafi  ihre  Lektiire  besondere  Freude  erweckt. 
Auch  darin  hat  der  Verfasser  recht,  daB  Ritschl  manches 
als  ungesund  bezeichnet  hat,  was  eine  zuriickhalten- 
dere  Kritik  verdiente,  und  dafi  in  der  Hitze  des  Grefechts 
der  pietistischen  Orthodoxie  Frommigkeitsmethoden  und 
-anschauungen  aufgebiirdet  worden  sind,  die  hochstens  diesen 
oder  jenen  einzelnen  treffen.  Fines  aber  trifft  die  ganze 
groUe  Grruppe,  und  sie  kann  sich  dieser  Verantwortung 
nicht  entziehen  —  das  ist  die  niedrige,  schlechte,  dazu 
immer  noch  von  kirchenpolitischen  Absichten  beeinnufite, 
kenntnislose  journalistische  Vertretung,  die  sie  sich  gefallen 
laCt.  Dazu  kommt  speziell  in  Preufien  die  vollkommne 
Vernechtung  der  kirclilich-,,positiven"  Interessen  mit  denen 
einer  bestimmten  Grruppe  der  konservativen  Partei,  die  sich 
auch  freiere  Greister  aus  taktischen  Griinden  gefallen  lassen. 
Bevor  das  nicht  anders  wird,  ist  jeder  ehrliche  theologische 
Kampf  immer  schon  im  voraus  vergiftet,  und  die  Entkirch- 
lichung  wird  immer  grower  werden.  In  das  Kapitel  von 
der  ,,berechtigten  Kritik  ungesunder  Frommigkeit"  gehort 
dieser  Tatbestand  vor  allem;  aber  der  Verfasser  ist  in 


Bitschl  und  seine  Schule.  365 

Bremen  wohl  in  der  beneidenswerten  Lage,  ihn  nicht  oder 
doch  weniger  zu  empfmden. 

VIII. 

Im  Schluflkapitel  liegt  der  muhsamste  und  originellste 
Teil  der  Arbeit  des  Verfassers.  Er  hat  es  iiberschrieben : 
7,Beachtenswerte  Versuche  zu  einer  Umgestaltung  der  Theo- 
logie  Bitschls  in  Annaherung  an  das  unverkiirzte  biblisch- 
reformatorische  Bekenntnis".  Dafl  es  anch  eine  Ritschlsche 
Linke  und  unechte  „ Schiller"  gibt,  hat  der  Verfasser  be- 
reits  an  verschiednen  Stellen  der  fruhern  Kapitel  zum  Aus- 
druck  gebracht  und  die  Richtung  charakterisiert,  in  der 
sie  sich  bewegen.  In  diesem  Kapitel  ist  es  ihm  einzig 
darum  zu  tun,  zu  zeigen,  dafi  an  den  wichtigsten  dog- 
matischen  Punkten  innerhalb  der  Ritschlschen  Schule  Um- 
gestaltungen  hervorgetreten  sind,  die  als  bedeutende  An 
naherung  oder  sogar  als  E/iickkehr  zum  positiven  Bekennt- 
nis  betrachtet  werden  miissen.  Auf  Grund  einer  fast  liicken- 
losen  Kenntnis  der  Sache  weist  der  Verfasser  an  der  Lehre 
von  der  Siinde,  weiter  an  den  Lehren  vom  Werk  Christi 
(stellvertretendes  Strafleiden),  von  der  Grottheit  Christi  (Pra- 
existenz),  vom  heiligen  Greist  und  vom  Grebet  den  "Wan- 
del  der  Dinge  auf.  In  erster  Linie  steht  ihm  hier  uberall 
Haring,  der  in  den  Augen  des  Verfassers  die  Schranken 
Bitschls  geradezu  uberall  iiberwunden  und  die  Methode 
des  Meisters  mit  dem  ,5unverkiirzten  biblisch  -  reformato- 
rischen  Bekenntnis"  versohnt  hat.  Sehr  nahe  kommen  ihm 
Bornemann,  Kattenbusch,  Loofs.  Auch  Herrmann 
und  Kaftan  stehen  bei  dieser  Grruppe;  aber  der  Verfasser 
mufi  doch  urteilen,  dafi  ihre  Orthodoxie  der  Harings  nach- 
steht,  soviel  Sympathie  er  auch  diesen  Dogmatikern,  nament- 
lich  Herrmann,  entgegenbringt.  Heischle  steht  bereits  et- 
was  entfernter,  und  noch  mehr  Gottschick.  Aber  auch  bei 
ihnen  weist  der  Verfasser  bedeutende  Modifikationen  der 
Eitschlschen  Theologie  im  biblisch-positiven  Sinne  nach, 


366  Zweiter  Band,  zweite  Abteilung.     Aufsatze:  VII. 

ebenso  bei  Rade,  Lobstein,  Scholz  und  Drews.  In 
den  Schriften  des  Referenten  endlich  findet  er  ebenfalls 
einige  Merkinale  solcher. 

Vielleicht  halt  der  eine  oder  der  andre  Leser  eine 
solche  Priifung  fur  kleinlich  oder  gar  ungehorig.  Er  tate 
dem  Verfasser  damit  Unrecht.  Dieser  ist  nicht  nur  von 
seinem  Standpunkt  durchans  befagt  so  zu  untersuchen  und 
zu  urteilen  —  wer  einen  sichern  MaJSstab  zu  haben  glaubt, 
soil  ihn  anwenden  — ,  sondern  auch  die  Sache  selbst  for- 
dert  eine  solche  Priifung.  Noch  mehr:  Ecke  hat,  soviel 
ich  sehe,  auch  materiel!  wesentlich  Recht.  Ohne  in  den 
Fehler  zu  verfallen,  die  Entwicklung  der  Ritschlschen  Theo- 
logie  in  rosigem  Lichte  zu  sehen,  hat  er  nur  konstatiert, 
was  dem  Tatbestande  entspricht,  dafi  namlich  die  genann- 
ten  Theologen  wirklich  in  den  erorterten  wichtigen  Punkten 
der  gemein-kirchlichen  Lehre  naher  stehen  als  Ritschl  selbst 
und  ihn  zum  Teil  so  korrigiert  haben,  daJS  das  "Wort 
,,Korrekturu  viel  zu  schwach  ist. 

Wenn  dem  so  ist,  was  bedarf  es  noch  eines  Kampfes? 
Mufi  der  Yerfasser  nicht  mit  dem  Urteile  schliefien,  seine 
Freunde  sollten,  statt  sich  iiber  diese  E-itschlianer  zu  er- 
regen,  vielmehr  ruhig  abwarten;  denn  diese  seien  auf  dem 
besten  Wege,  langsam  aber  sicher  zu  ihnen  zuriickzukehren. 
Hat  er  nicht  Ursache,  mit  dem  trostreichen  Urteil  zu 
schliefien:  diese  Ritschlianer  haben  nicht  nur  religiose  Po- 
sitionen,  die  Ritschl  aufgegeben  hatte,  wieder  aufgenommen, 
sondern  sie  lassen  sogar  unter  der  Hand  scholastische 
Fragen  wieder  zu  und  sprengen  die  Mauer,  die  Ritschl  um 
das  gezogen  hat,  was  gewufit  werden  kann? 

Er  schlieflt  nicht  so,  und  er  hat  seine  guten  Q-riinde 
dafur.  Nicht  nur,  weil  neben  den  altern  Schulern  eine 
Grruppe  aufgetaucht  ist,  die  ihm  viel  unsympathischer  ist 
als  der  Meister,  und  gegen  die  sich  die  altere  doch  nicht 
sicher  abgrenzt,  sondern  vor  allem  weil  er  bei  alien  Ritschl 
schen  Schulern  (mit  Ausnahme  Harings?)  etwas  vermifit, 


Eitschl  und  seine  Schule.  367 

was  ihm  die  Hauptsache  1st.  Sie  alle  schatzen  wie  Ritschl 
die  Bibel  ,,nur"  um  ihrer  geschichtlichen  Urspriinglichkeit 
willen  als  Quelle  fur  die  christliclie  Glaubenslehre  und 
,,wollen  ilir  die  Autoritat  ans  Offenbarung  nicht  zuge- 
stehen".  ,5Fur  die  christliche  Gemeinde  aber",fiigt  er  hinzu, 
,,hat  das  Zeugnis  des  Christum  verklarenden  Parakleten 
Offenbarungswert."  Es  handelt  sich,  kurz  gesagt,  um  das 
Inspirationsdogma  und  demgemafl  um  die  Unterwerfung 
des  Dogmatikers  unter  jede  Schriftlehre,  oder,  wie  Ecke 
euphemistisch  sagt,  unter  das  apostolische  Bekenntnis  von 
Christus.  Gemeint  aber  ist  die  Bereitschaft  (s.  d.  Aus- 
fiihrung  S.  314),  alle  Schriftlehren  anzuerkennen ,  nirgend- 
wo  ein  Non  liquet  auszusprechen ,  zeitgeschichtliche  und 
relative  Betrachtungen  einfach.  auszuschlieJlen  und  die  histo- 
rische  Kritik  abzudanken. 

Mit  vollem  Recht  erkennt  der  Verfasser,  dafi  Ritschl 
trotz  seines  starken  Biblizismus  doch  so  nicht  gesonnen 
war,  und  daB  seine  Schuler,  auch  die  konservativsten,  so 
nicht  denken.  Ja  der  Verfasser  miifite  geradezu  das  Para- 
doxon  konstatieren  —  das  doch  keines  ist  — ,  dafi  der  Ein- 
fhifl  der  historisch-kritischen  und  religionsgeschichtlicheii 
Betrachtung  der  Bibel  iiber  E/itschl  hinaus  auch  bei  solcheii 
im  Steigen  begriffen  ist,  die  materiell  an  wichtigen  Lehr- 
punkten  der  iiberlieferten  Auf fas  sung  naher  stehen  oder 
ihr  doch  mehr  abzugewinnen  vermogen  als  Bitschl. 

Das  Dogma  vom  Neuen  Testament,  wie  es  nicht  ohne 
Grund  genannt  worden  ist,  wird  in  der  wissenschaftlichen 
Theologie  im  Sinne  der  exklusiven  Inspirationslehre  nicht 
mehr  wieder  aufleben,  im  Gegenteil,  es  wird  in  der  Zu- 
kunft  noch  sichrer  durch  die  geschichtliche  Betrachtung 
abgelost  werden.  "Wenn  der  Verfasser  hier  auf  allmahliches 
Entgegenkommen  hofft,  so  hofft  er,  wenn  nicht  alles  triigt, 
vergeblich.  Aber  das  schliefit  keineswegs  die  Zuversicht  aus, 
dafi  man,  in  der  Sache  fortschreitend,  den  neutestamentlichen 
Formen  und  Ausdrucksmitteln  des  christlichen  Glaubens  ein 


368  Zweiter  Band,  zweite  Abteihing.     Aufsatze:  VII. 

groBeres  Verstandnis  entgegenbringen  wird,  als  Bitschl  ein 
solches  moglich  war.  Vielleicht  wird  die  Weise,  in  der  das 
gesch.eh.en  wird,  den  Verfasser  nicht  ganz  befriedigen;  denn 
anders  nimmt  sich  das  aus,  was  sich  als  Darlegung  des  In- 
halts  einer  absoluten  Urknnde  gibt,  anders  was  der  wirk- 
lichen  Greschichte  als  nachzuempfindendes  Leben  nnd  wirk- 
same  Kraft  entstromt.  Aber  der  Verfasser  kennt  selbst 
diese  Quelle  sehr  wohl;  er  scheut  sich  nur,  sie  rein  fliefien 
zn  lassen,  iind  er  will  jene  andre  Methode  nicht  aufgeben, 
weil  nur  sie  direkt  aus  dem  Greschichtlichen  ins  Allgemein- 
gultige  nnd  Dogmatische  fiihrt,  d.  h.  zum  Grlaubensgesetz. 
—  Freuen  wir  uns  unterdessen,  dafi,  wie  der  Verfasser  ge- 
zeigt  hat,  es  doch  in  der  protestantischen  Theologie  so 
vieles  gibt,  in  dem  wir  uns  zusammenfinden.  Vielleicht 
diirfen  wir  auch  hoffen,  dafi  Ecke,  wenn  er  einst  die  Ar 
beit  der  neuern  historischen  Theologie  ebenso  unbefangen 
prlifen  wird  wie  die  der  systematischen,  auch  sein  Urteil 
iiber  die  ihm  jetzt  so  antipathischen  Bemiihungen  der  ge- 
schichtlich  arbeitenden  Theologen  modifizieren  wird.  Fehler, 
auch  schwere  Fehler,  werden  hier  gewifi  noch  gemacht, 
und  hin  und  her  werden  7,Erklarungen"  dargeboten,  die 
nur  verdunkeln;  aber  von  solchen  Schwankungen,  wie  sie 
die  systematische  Theologie  noch  immer  befallen,  wird  die 
historische  nicht  mehr  betroffen  werden. 


ADOLF  HARNACK  -  REDEN  UND  AUFSATZE 
ZWEITER  BAND  •  ZWEITE  ABTEILUNG 


AUFSATZE:  VIII 

UBER  WISSENSCHAFT  UND  RELIGION 
ANGEEIGNETES  UND  ERLEBTES 


Anonym  erschienen  in  der  ,,Christlichen  Welt"  1895  Nrn.  1  u.  3. 


Unser  Wissen  ist  Stiickwerk  —  das  helOt  nicht,  dafl 
wir  nicht  alles  wissen,  sondern  daB  sich  die  sichersten 
Erfahrungen  nicht  in  eine  Einheit  bringen  lassen. 

#  * 

* 

Es  ist  eine  paradoxe  Einrichtung,  daB  dem,  der  der 
Wissenschaft  dienen  soil,  zugleich  zugenmtet  wird,  den  je- 
weiligen  Zustand  der  Dinge  iiberall  zu  stiitzen  und  hoch- 
stens  auf  eine  schrittweise  Verbesserung  der  allgemeinen 
Ordnungen  bedaclit  zu  sein.  Wissenschaft  und  Kultur 
liegen  an  vielen  Stellen  weit  auseinander,  und  an  manchen 
wird  man  die  Briicken  erst  nach  Menschenaltern  schlagen. 
Die  Wissenschaft  kann  keine  Hucksichten  nehmen,  keine 
Kompromisse  schliefien;  sie  kann  vor  allem  nicht  davon 
lassen,  die  Entstehung  der  Dinge  und  der  Werte  zu  unter- 
suchen.  Die  Kultur  aber  hat  Rucksichten  und  Kompro 
misse  notig,  und  sie  darf  ihre  eignen  Urspriinge  nur  durch 
einen  Schleier  schauen  lassen.  Hatte  man  erst  heute  das 
Verhaltnis  beider  zu  ordnen,  so  wiirde  man  vielleicht  die 
Pflege  der  Kultur  hochgebildeten  Journalisten  zuweiseii, 
die  Wissenschaft  aber  ins  Kloster  stecken. 


Je  mehr  unsre  Einsicht  in  die  Relativitat  der  Dinge 
wachst,  desto  grofier  wird  unsre  Verantwortlichkeit. 


Ein   festes  Verhaltnis   zu   den  hochsten  Fragen  kann 
man    nur    durch    unablassige    Arbeit    an    sich    selber    ge- 

24* 


B72  Z welter  Band,  zweite  Abteihmg.     Aufsatze:  VIII. 

winnen   -    -    aber    im   heutigen   Betriebe    der   Wissenschaft 
spiegelt  sich  diese  Wahrheit  nur  selten. 


DaB  die  Wissenschaft  umkehren  soil,  1st  freilicli  ein 
Loses  Wort;  aber  wie  viele  Verkehrtheiten  setzen  sicli  in 
ihr  fest!  Ganze  Generationen  von  Gelehrten  krankeln  an 
ilmen  und  erzeugen  noch  schwachere  Nachkommen.  Sollte 
die  Wissenschaft  das  einzige  menschliche  Gebilde  sein,  das 
sich  einer  unverwiistlichen  Gesundheit  erfrent?  Nicht  wenige 
sinrl  so  gedankenlos,  das  zu  glauben. 


Die  Wissenschaft  kann  sich  nnr  selber  helfen,  das  ist 
gewifl;  ihr  aber  deshalb  ewige  Gesundheit  beizulegen,  ist 
eine  merkwiirdige  Verwechslung. 


Wer  die  Wissenschaft  lediglich  nach  Analogie,  wie 
ein  gi-ofier  Meister  es  vorgeniacht,  betreibt,  vermag  sie  zu 
fordern;  aber  sich  selbst  fordert  er  nicht,  nnd  bald  wird 
er  an  einen  Punkt  kommen,  wo  er  auch  der  Wissenschaft 
nicht  mehr  niitzt,  sondern  sie  schadigt. 


Dafi  die  Wissenschaft  heute  zur  Bildung  des  Charakters, 
zur  Erweckung  einer  edeln  Gesinnung  und  zur  Erzeugung 
einer  festen  Weltanschauung  so  wenig  geeignet  ist,  ist 
wohl  begreiflich.  Uberall  werden  nur  die  Anfange  der 
Dinge  studiert;  der  Naturforscher  bleibt  bei  den  Protozoen, 
der  Psychologe  bei  den  niedersten  psychischen  Vorgangen, 
der  Sprachforscher  bei  den  Lauten,  der  E tinker  bei  den 
primitivsten  Stufen  des  Sittlichen,  der  Heligionshistoriker 
bei  den  rohesten  Formen  des  Glaubens  stehen,  und  der 
Histoiiker  wird  wieder  zuni  Annalisten,  wenn  er  es  iiber- 
haupt  so  weit  bringt.  Der  Weg  von  dem,  was  jetzt  wissen- 


(Jber  Wissenschaft  und  Religion.  373 

schaftlich  behandelt  wird,  zu  dem,  was  dem  Leben  Halt 
und  Kraft  verleiht,  ist  so  weit,  dafi  die  Gelehrten  das  Zu- 
trauen,  ihn  bis  zum  Ende  schreiten  zu  konnen,  verlieren 
und  damit  das  Ziel  selbst  preisgeben. 


Soil  man  die  genetisehe  Methode  deswegen  verab- 
schieden?  Gewifi  nicht.  Aber  den  Mut  soil  man  wieder 
gewinnen,  neben  ihr  die  Dinge  und  Werte,  in  denen  und 
von  denen  wir  heute  leben,  bestimmt  ins  Auge  zu  fassen 
und  genau  zu  beschreiben.  Wer  diese  uns  deutlich  macht, 
leistet  uns  einen  groBern  Dienst  als  der,  der  uns  ihre  Aii- 
fange  werklart". 


Die  Entstehung  der  Dinge  Mart  uns  nicht  liber  unsre 
Giiter  und  unsre  Pflicliten  auf. 


Beschreiben  ist  schwerer  als  erklaren. 


Auch  die  Wissenschaft  hat  ihre  Stufen:  je  sicherer  sie 
zu  erklaren  vermag,  je  mindei*wertiger  ist  ihr  Objekt. 


Im  Altertume  zweifelte  man,  ob  die  ,,Spezialisten"  in 
die  Gelehrtenrepublik  gehoren;  heute  sind  sie  die  Meister, 
und  die  andern  mogen  zusehen,  wie  sie  ihren  Platz  be- 

haupten. 

*  * 

# 

Die  absolut  gewordne  Theorie  des  Geschichtschreibers 
nimmt  sich  alle  Fr^iheiten  der  Kunst. 


374  Z  welter  Band,  zweite  Abtoilung.     Aufsatze:  VIII. 

Die  Geschichte  vertragt  keine  Extrakte;   wer  aus   ihr 
etwas  lernen  will,  mufi  sie  bis  zum  letzten  Punkt  studieren. 


Wo  einer  versteht,  da  meistert  er  alsogleich. 

*  * 
* 

Jeder  Gedanke  hat  eine  physiologische ,  eine  patho- 
logische  und  eine  dialektische  Seite. 

*  * 
* 

Bildung  ist  wiedergewonnene  Naivitat.     Hort!     Hort! 

*  * 
* 

Das  Genie  ist  der  Fleifi,  sagt  der  eine;  das  Genie  ist 
die  Fahigkeit,  die  Dinge  zu  sehen,  wie  sie  sind,  sagt  der 
andre.  Sie  widersprechen  sich  nicht;  denn  wer  die  Dinge 
sieht,  wie  sie  sind,  der  hat  keine  Ruhe:  er  mufi  immer 
mehr  und  immer  tiefer  sehen. 


Eine  Theologie,  die  die  Geschafte  der  Philosophie  be- 
treibt,  verdirbt  damit  ihre  eigne  Aufgabe;  eine  Theologie, 
die  die  Philosophie  entbehren  zu  konnen  meint,  wird  zur 
Geheimwissenschaffc  und  also  eindruckslos. 


Die  Theologie  mufi  heute  die  Wissenschaffc  sein,    die 
die   christliche   Religion   von   der  Wissenschaft   befreit  - 
aus    der  Paradoxie   dieser  Aufgabe    entspringt   der    grofite 
Teil  der  Schwierigkeiten,  die  sie  belasten. 


Dem  Theologen  kommt  der  Sinn  fur  das  Einfache  und 
darum  fur  das  Wahre  leicht  abhanden,    weil  er  sich  erst 


tfber  Wissenschaft  und  Religion.  375 

durch  ein  Gestriipp  kimstlicher  Probleme  durchschlagen 
mufl,  bis  er  zur  einfachen  Fragestellung  vordringt.  Auf 
dem  langen  Wege  bis  dorthiii  sind  die  Knie  matt  und 
der  Kopf  ist  blutleer  geworden. 


In  jeder  geschichtlichen  Uberlieferung  ist  ein  Stuck 
Wahrheit  enthalten;  man  mufi  es  nur  finden  konnen;  es 
liegt  gewohnlich  nicht  dort,  wo  man  es  sucht,  sondern 

tiefer. 

*  # 

* 

Der  Theologe  hat  die  Aufgabe,  die  tiefen  Wahrheiten 
klar  zu  legen,  die  in  den  Wurzeln  allgemein  giiltiger 
Formeln  verborgen  ist;  aber  die  kleinen  und  die  groflen 
Kinder  greifen  nur  nach  den  Friichten. 


Bei  den  Theologen  stehen  immer  Q-laube,  Freiheit  und 
innere  Ehre  auf  dem  Spiel  —  mit  so  hohen  Einsatzen 
spielen  die  andern  nicht,  und  ich  rate  keinem,  es  mit 
ihnen  zu  wagen,  der  nicht  weifi,  dafi  er  ein  unzerstorbares 
Kapital  besitzt. 


Dafi  der  Protestantismus  zurzeit  aus  der  doktrinaren 
Epoche  heraustritt,  ist  offenbar.  Ihn  schauert  aber  noch 
vor  dem  Ernste  der  Aufgabe,  die  nun  seiner  wartet.  Um 
ihr  zu  entfliehen,  wird  er  vielleicht  eine  Art  Katholizismus 
werden,  ohne  den  Buchstaben  der  Augustana  zu  verletzen. 


Jede  Zumutung,  die  in  der  Uberlieferung  der  christ- 
lichen  Religion  ausschliefilich  an  den  Verstand  gestellt  wird, 


376  Z welter  Band,  zweite  Abteilung.     Anfyatze:  VIII. 

lahmt  die  ernsten  Forderungen,  die  diese  Religion  an  den 
Willen  und  die  Gesinnung  richtet.  Durch  das  Sacrificium 
intellectus  kaufen  sich  viele  von  dem  Gebote  frei,  ihr 
Fleisch  zu  kreuzigen  samt  den  Liisten  und  Begierden. 


Es  gibt  ganz  absurde  religiose  Lehren,  die  preiszugeben 
nicht  ohne  Gefahr  ist,  weil  sie  Gewissenhaftigkeit,  Demnt 
und  zarte  Empfindungen  hervorgerufen  haben  oder  diese 
Tugenden  sich  doch  an  ihnen  aufrankten  wie  die  Rebe 
am  Holze. 


Wenn  der  Mensch  auch  nicht  mehr  das  Bedurfnis  be- 
sitzt  zu  glauben,  so  hat  er  doch  das  Bediirfnis  bewahrt, 
so  zu  fiihlen,  wie  in  den  Zeiten,  da  er  glaubte  -  -  sagt  ein 
feinsinniger  Franzose;  aber  tiefer  und  freudiger  bekennt 
ein  Deutscher:  Trotz  aller  Zweifel  des  Verstandes  bleibe 
die  Religion  unverriickt  in  den  Herzen  der  Christen,  die 
ein  inneres  Gefuhl  von  dem  Wahrhaften  derselben  haben. 


Gar  mancher  glaubt  nicht  mehr,  und  weifi  es  doch 
selbst  nicht:  er  ist  nur  noch  der  Polterer  oder  der  Sophist 
seines  fruhern  Glaubens. 


,,Eiiosung"  ist  in  unsrer  heutigen  Gesellschaft  kein 
hoffahiges  Wort  mehr,  sie  will  hochstens  etwas  ,,Religios- 
Sittliches"  horen;  aber  im  stillen  trachtet  ein  jeder  nach 
Erlosung,  sei  es  auch  nur  durch  Betaubung. 


Das  ist  die  rechte  Erlosung,    die  uns  zerschlagt  und 
aufrichtet.     Der  Mensch   findet  sein  hoheres  Selbst  nur  in 


tlber  Wissenschaft  und  Eeligion.  377 

einem  Hoheren,  dem  er  sich  ganz  hingibt,  seine  Freiheit 
nur  in  dem  gebieterischen  Mufl  der  Liebe.  Amor  dei 
beata  necessitas  boni  —  damit  1st  alles  gesagt. 


*     * 


Krafte  und  Kriicken  kommen  aus  einer  Hand. 


Sobald  die  feierlichen  Fragen  des  Gewissens  und  der 
Religion  auf  dem  6'ffentlichen  Markte  auftauchen,  sammelt 
sich  noch  immer  alles  um  sie;  aber  dafl  man  sich  ihnen 
mit  reinen  Handen  nahen  mnfl,  daran  denken  die  wenigsten. 


Quieta  non  movere  1st,  wie  ein  grofier  Staatsmann  ge 
sagt  hat,  eine  wichtige  diplomatische  Maxime,  und  alle 
unsre  Kirchenpolitiker  handeln  nach  ihr.  Sie  sind  die  ge- 
borenen  Gegner  jeder  Reform;  sie  tun  recht  daran,  sie  sich 

abzwingeri  zu  lassen. 

*  * 

* 

Die  Zionswachter  fallen  zu  alien  Zeiten  ohne  Uber- 
gang  aus  dem  unendlich  Grofien  in  das  unendlich  Elleine, 
aus  der  Liebe  in  den  Hafi. 


Auch  in  dem  Fanatismus  und  selbst  in  der  Verleum- 
dung  soil  man  den  Eifer  um  ein  heiliges  Gut  zu  finden 
suchen.  Aber  es  ist  nicht  immer  leicht,  sich  mit  Liebe 
oder  doch  gutem  Humor  aus  dem  neunzehnten  ins  drei- 
zehnte  Jahrhundert  zu  versetzen  und  dem  Gegner  das  bene- 
ficium  traditionis  zuzuerkennen. 


378  Z welter  Band,  zweite  Abteilung.    Aufsfttze:  VIII. 

Aus  einem  erkannten  Irrtum  vermag  keine  Anstrengung 
des  Willens  Nahrung  zu  ziehen. 


Die  Dinge  haben  ihre  eigne  Logik  —  was  hilft  es 
dir,  rastlos  dem  Mittag  zuzuschreiten,  wenn  die  Scholle, 
die  du  ahnungslos  betreten  hast,  gen  Mitternacht  treibt? 


Historia  non  facit  saltum  —  darum  Geduld! 


Exsurge,  veritas,  exsurge  et  quasi  de  patientia  erumpe! 


\Ver  einen  unwahrhaftigen  Zustand  aufdeckt,  wird  von 
der  Menge  )5Lligneru  gescholten  und  offentlich  gebrand- 
markt.  Die  Martyrerkroiie  schmerzt  nicht,  dies  Brandmal 
schmerzt. 


Wie  viele  hohe  Ideen  konnten  der  Welt  nur  durcli 
eine  Idololatrie  begreiflich  gemacht  werden!  Solange  Saclie 
und  Symbol  nocli  ungetrennt  waren,  war  es  keine  Tau- 

schung. 

*  # 

* 

Viele  halten  sich  in  alien  Stiicken  fiir  stark,  nur  den 
Spruch,  dafi  man  den  Schwachen  kein  Argernis  geben  soil, 
beziehen  sie  auf  sich. 


Manche  suchen  die  Wahrheit  auf,  um  sie  dann  besser 
verstecken  zu  konnen. 


Uber  Wisscnschaft  und  Religion.  379 

Ein  G-elehrter  kann  oft  nicht  mehr  sein  als  ein  agent 
provocateur  der  Wahrheit  —  traurig  genug,  aber  die  Un- 
wahrheit  unterhalt  noch  viel  zahlreichere  Agenten. 

*  * 

* 

Non  aliunde  prodimur  quam  de  bono  nostro. 


Nicht-s  macht  so  miide  und  schliefilich  auch  so  schwach, 
als  immer  gerecht  zu  sein. 

#  * 

# 

Wer    keine   Uberzeugung    hat,    liigt    imraer,    er   mag 

sagen,  was  er  will. 

%  * 

:•: 

Reden  ist  Silber  und  Scliweigen  ist  Gold,  ein  wahres 
Sprichwort;  aber  wie  verworren  ist  eine  Welt,  in  der  so  oft 
Schweigen  das  beste  Teil  sein  muft! 


Das  Grewissen  und  die  Wahrscheinlichkeit  sind  nicht 
immer  sicnere  Fiihrer;  aber  sicher  stiirzt  der  in  Abgriiiide, 
der  sich  ihrer  entschlagt. 


.  .  .  Betriibtres  hab  ich  nicht  gesehn 
Als  jlingst  an  einem  Schmetterlinge: 
Der  wollt  aus  seiner  Pupp  entstehn 
Und  wufite  nicht,  wie  ers  vollbringe; 
Nicht  wollt  ihm  auseinandergehn 
Die  kriippelhaft  verschrumpfte  Schwinge. 

*  :•: 

* 

Ecce  labora  et  noli  contristari! 


BR  85  .H25  1906 
V.l-2  SMC 

HARNACK,  ADOLF  VON, 
1851-1930. 
REDEN  UND  AUFSDTZE  / 

BDI-1620  (MCAB)